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You keep me alive

von

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La mia cantante

Da ich mit dem Bella Kapitel noch lange nicht fertig bin, bekommt ihr ein EPOV.

Es ist eine Wiederholung aus seiner Sicht und ich sage schon jetzt, dass man hier nicht viel erfährt. Der detaillierte Plan erfahren wir aus Bellas Sicht... hoffentlich bald.

Viel Spaß.
 

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Kapitel 3: La mia cantante
 

Ich hatte schon viele Dinge in meinem langen Dasein erlebt.

Wirklich viele Dinge. Doch nichts hatte mich auf das hier vorbereiten können, absolut gar nichts, und diese Tatsache machte mich rasend, ging mir unter die Haut.

Wer zum Teufel war ich, wer war sie? Was gab diesem kleinen, jämmerlichen Geschöpf das Recht, das mit mir anzustellen? Ich war klüger, mächtiger, um so vieles stärker als sie müsste ich sein. Ich war stärker. Es war mir nur nicht erlaubt, Gebrauch von dieser Kraft zu machen.

Dieses kleine, schreckliche Ding, das mich in diese Situation gezwungen hatte stöhnte, die erstickte, raue, hohe weibliche Stimme hallte durch den gesamten Raum. Ich ballte meine Hand zur Faust, schlug mir gegen den Mund und versuchte mit aller Beherrschung, das Zittern in den Griff zu bekommen, das verfluchte Monster in mir hinter den Schranken zu behalten.
 

Dabei war alles so schön gewesen, so akzeptabel. Endlich hatten mein Körper und mein Bewusstsein sich damit abgefunden, hier zu leben, ein wichtiger Teil des mächtigsten Clans zu sein, den es gab auf dieser Welt. Endlich war ich in der Lage gewesen, die Vergangenheit zu verdrängen und eine Art Zerstreuung zu finden. Die wohl beste und akzeptabelste Ablenkung zu finden, die in meiner Welt möglich war. Zumindest hatte ich das bis vor 46 Stunden und fünfunddreißig Minuten noch geglaubt. Ich kniff die Augen zu, versuchte mich zu entspannen, was bei dem Geruch, der in diesem Raum hing, alles andere als einfach war.
 

Ich war gerade erst von einer Mission zurückgekehrt, mit erfreulichen Neuigkeiten, hatte angenommen, dass sich Aro über die Informationen, die ich ihm mitbrachte, freuen würde. Doch mein Eintreten war zugleich mit dem wohl schlimmsten Sekunden in meiner bisherigen Existenz beschert worden. Knappe siebenundzwanzig Sekunden, in denen meine Kehle Flammen gespürt hatte, wie ich sie seit meiner Verwandlung nicht für möglich gehalten hatte. Selbst nach vielen Wochen ohne Jagd hatte ich mich niemals so ausgeliefert, so durstig gefühlt wie vor 46 Stunden und ... siebenunddreißig Minuten.

Respekt war etwas, das mir jeder entgegen brachte, selbst Aro war aufrichtig und ehrlich zu mir, da er es nicht riskieren wollte, von mir hintergangen zu werden. Er wollte keinen Vertrauensbruch. Natürlich wäre ich derjenige, der dieses Spiel im Voraus verlieren würde, nichts und niemand kam gegen die Volturi an, doch der Gedanke, dass er mich auslöschen musste, war ihm alles andere als angenehm. Dieser König lag mir sozusagen zu Füßen, er vergötterte meine allgegenwärtige Fähigkeit, Gedanken von nah und fern, anders als er, ohne Körperkontakt, lesen zu können. Und bei alles in der Welt- ich hatte zwar alles gesehen und erlebt, was dieser trostlose Planet zu bieten hatte und war mehr als nur gelangweilt mit meinem Alltag, doch das bedeutete nicht, dass ich irgendwie darauf aus war, mein Dasein zu beenden.
 

Einen Blick auf dieses Mädchen, das mich in diese Lage versetzte, hatte ich nicht wirklich werfen können, ich hatte sie angeschaut, aber nicht wirklich gesehen. Einzig und allein der berauschende, hungrige Duft ihres Blutes waren mir in Erinnerung geblieben, zusammen mit zwei rehbraunen, großen Augen.

Energisch schüttelte ich den Kopf, versuchte mich auf ihre Atemzüge zu konzentrieren. Sie lag in der entgegengesetzten Richtung, am weitesten von mir entfernt. Heidi musste sie in den hintersten Winkel des kalten Raumes gelegt haben, wo sie seit fast zwei Tagen bewusstlos war.
 

Nach dem Vorfall im Saal hatte ich nicht begreifen können, was mit mir geschah, hatte rot gesehen. Aros Gedanken übermittelten mir sofort seine Ideen, seinen Plan, ich nahm die Informationen auf, während ich das Mädchen anstarrte, und dann bemerkte ich ihr süßes, verlockendes, dahin schmelzendes Blut. Erst nahm ich an, dass es allen so ging, dass sie eine Besonderheit war, und ich war sofort bereit für sie zu kämpfen, ich wollte sie haben. Ich war schneller und raffinierte als die meisten Kämpfer, ich sah Bewegungen und Angriffe voraus, ich würde gewinnen, dieser Mensch würde mein werden.
 

Das waren die ersten Gedanken, die mir kamen, als mich ihr Duft zum ersten Mal erreichte. Dann rang mein Verstand mit dem, was mir Aro im Stillen zuflüsterte, doch schnell beschloss ich, aus reinem Instinkt heraus, dass es egal war. Es zählte nämlich nur dieser Geschmack, der genauso, wenn nicht, so unglaublich es auch war, besser schmeckte als er duftete.

Letztendlich hatte mich doch ein kleiner Teil, von dem ich dachte, er wäre längst verstorben, einige Millisekunden daran gehindert, meinem Durst nicht zu verfallen. Diese Millisekunden waren lange genug gewesen, um aufgehalten zu werden. Aro war schneller bei mir, als ich es realisieren konnte und im nächsten Augenblick wurde ich von Demetri gepackt und zurückgehalten.

Ob das richtig war, kann ich nicht bestimmen. Diese ganze Angelegenheit konnte jemand wie ich, jemand, der in diesem Wesen seine Perfektion des Geschmacks gefunden hatte, nicht rational bewerten. Dieses Mädchen war zum sterben verdammt, so wie alle Menschen, die einen Fuß in diese Burg setzten. Sie würde sterben, so oder so, auf welchem Wege, stand noch nicht fest, es wurde in diesem Augenblick darüber verhandelt. Obwohl Aro mir angeboten hatte, daran teilzuhaben, hielt ich mich entschieden da raus, denn ich konnte nicht sagen, welcher Weg der richtige war für diesen Menschen, der das Unglück hatte, zur falschen Zeit am völlig falschen Ort zu sein.
 

Was überhaupt war denn richtig, was konnte ich mir für sie wünschen? Dass sie ein Vampir wurde, so wie wir alle? Konnte ich das ernsthaft wollen?

Nein. Sollte sie sterben? Nein, auch das wäre falsch. Allerdings, so durstete das Monster tief in mir, wäre das die Wende, die ich mich doch erhoffte. Ich wusste, dass wenn die Besprechung nicht nach Aros Vorstellungen laufen würde, dieses Mädchen für mich zur Verfügung stehen würde. Bei dem Gedanken fing meine Kehle neue Flammen.

Stöhnend vergrub ich meine Hände in den Haaren und schlug mit der Stirn gegen meine hochgezogenen Knie.
 

Das darf doch alles nicht wahr sein.
 

Ich war gerade erst vom Jagen zurück, hatte mich sofort nach dem Zwischenfall von hier fortgeschlichen, wohl wissend, dass Aro sie nicht ohne meine Anwesenheit umbringen würde. Jetzt, wo er gesehen hatte, wo alle gesehen hatten, was sie mit mir anstellte, stand sie mir zu. Ihr Blut sang für mich, einzig und allein für mich. Sie war la mia cantante und ich hasste sie dafür. Ich hasste diesen Menschen, den ich nicht einmal kannte einfach für das, was sie war.

Dass sie mich zwang, schwäche unter den Starken zu zeigen, dass sie das schaffte, was noch keiner vor ihr erreicht hatte. Dabei war sie nur ein Mensch, und es fiel mir zunehmend schwer in ihr etwas anderes als, im übertragenen Sinne, ein äußerst saftiges Stück Fleisch zu sehen.
 

Ich kniff mir an den Nasenrücken, in der Hoffnung, dadurch wieder zu mir selbst zu finden und machte den Fehler, tief durchzuatmen. Dabei durfte ich nicht durstig sein, ich war es auch nicht. Ich hatte mich aufgebläht, jedes Tier, das mir in den Weg kam getötet und ausgetrunken. Mehr als satt war ich, meine Augen mussten in ein helles, beinahe unnatürliches gelb angenommen haben. Es war der Appetit, ihr nahezu unwiderstehlicher Duft, der mich dazu brachte, dieses zum Tode verurteile Geschöpf zu hassen, statt in irgendeine Art und Weise Mitleid zu empfinden, wie ich es sonst getan hätte.
 

Sie lebte noch, das Mädchen hatte den Aufprall überstanden. Es wäre um einiges einfacher und schmerzloser, wenn sie in den vergangen Stunden an irgendwelchen inneren Blutungen und deren folgen gestorben wäre. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, was noch alles auf die zukommen würde, ganz egal, welche Entscheidung über ihr Schicksal gefällt wurde.
 

Aro war begeistert von diesem kleinen Geschöpf, er nannte sie ein Wunder, eine Überraschung, die nur alle hundert, oder sogar tausend Jahre einmal zum Vorschein kam. Nichts mochte unser Meister mehr als Sammelstücke, und jemand, der als Mensch bereits Immunität gegen die Fähigkeiten der Vampire aufwies, konnte unter Umständen großes Potenzial in sich tragen. Es kam nicht oft vor, dass wir, neben den normalen, außergewöhnliche Fähigkeiten mit in dieses untote Leben brachten.
 

Möglicherweise musste ich mich einfach nur richtig auf sie konzentrieren, sie anschauen, damit sich mir ihre Gedanken offenbaren konnten. Als Aro gesehen hatte, dass sie auch mir gegenüber Immun war, hatte sich seine Entscheidung gefestigt, er wollte dieses Mädchenmädchen in seiner Sammlung aufnehmen, aber davor wollte er etwas ausprobieren. Etwas, was meiner Meinung nach völlig absurd und überflüssig war- er sollte sie gefälligst verwandeln, wenn er es wollte. Doch er tat es nicht und außer ihm gab es hier soweit niemanden, der dazu in der Lage war. Deshalb war ich gezwungen, mich um sie zu kümmern. Aro wusste, dass ich eine schwache Ader hatte, wenn es um Menschen ging, dass sie mir etwas bedeuteten, dass ich sie nicht töten konnte.
 

Er sagte immer, ich hätte dieselbe Güte wie Carlisle, ich träge dasselbe Herz in der Brust, das sein langjähriger Freund und mein Erschaffer in sich trug. Allein schon, dass er mich mit ihm verglich, machte mich wütend. Ich war nicht wie Carlisle, er war nicht wie ich.

Er war um Welten besser, er war die Barmherzigkeit in Person. Von all dem hatte ich nichts aufzuweisen, mein Verhalten mochte den Volturi vielleicht so erscheinen, aber unter den Guten trug ich die Rolle des Bösen.

Dieses schwache Wesen hier konnte das bestätigen.
 

„Mum...“ murmelte das Mädchen und es dauerte kurz, bis ich begriff, dass englisch sprach. Die neuste Beute hatte Heidi aus den vereinigten Staaten mitgebracht.

Augenblicklich fühlte ich mich schlechter, alte, verschlossene Gefühle kämpfen sich nach oben, als ich mich an die Personen erinnerte, die ich einst als Eltern angesehen, die mich einst ihren Sohn genannt hatten. Dieses Mädchen dachte an ihre Eltern, an ihr Zuhause. Sie durfte nicht hier sein.

„...Fledermaus.“ stöhnte sie und brachte damit meine Gedanken zum kreiseln. Was hatte eine Fledermaus in ihren Träumen zu suchen?
 

Plötzlich erklang ein leiser, schriller Schrei und ihr Herzschlag beschleunigte sich, ich hörte, wie sie sich bewegte und heftiger zu atmen begann. Es war Stockfinster in diesem Raum, kein Lichtstrahl drang hinein, sodass auch ich nichts sehen konnte. Doch mein Gehör funktionierte einwandfrei, ihre Bewegungen nachzuvollziehen war ganz einfach. Nachdem sie ein paar mal gewinselt und gehustet hatte, verstummten die meisten Geräusche, ihr Herzschlag verlangsamte sich ein wenig. Dann ging ein kleines Licht an, ich erkannte trotz der Entfernung und der wenigen Helligkeit sofort und haargenau, dass sie ihre Armbanduhr bestätigt hatte. Sie lag auf dem Boden, ihre Sandalen befanden sich drei Meter weiter weg, sie mussten aus ihr heruntergefallen sein, als Heidi sie, wie ich vermutete, auf den Boden geschmissen hatte.
 

Es machte mich wütend, dass sie so unachtsam mit ihr umging, dass jeder sie wie einen gebrauchten Schuh, einen bedeutungslosen Gegenstand behandelte. Ich biss mir auf die Lippe als mir bewusste wurde, dass, wenn sie verletzt war, niemand anderer als ich dafür verantwortlich gemacht werden konnte, denn ich hatte sie zwei Meter in die Höhe geschleudert, wegen mir war sie schutzlos auf den Boden geknallt. Ich hatte ihr das angetan, die Schuld konnte ich keinem anderen Volturi zuschieben und das kränkte mich. Nie war ich der, der schuld hatte, ich hatte immer recht, ich wurde respektiert. Während sich meine ehemalige Familie für meine Gedanken schämen würde, schätzen es die Volturi. Sie fanden es bemerkenswert, dass ich sie nicht einfach tötete, dass ich sie, obwohl ihr Blut für mich sang und tanzte, am leben ließ.

Es war der reinste Zwiespalt, ich wusste nicht, welche Seite ich einschlagen sollte, durfte. Wenn ich ehrlich war, dann war es sowieso zu spät für mich. Alles war zu spät.

Edward Cullen war nicht länger Edward Cullen, sonder nur Edward.
 

Sie keuchte, ihre Finger ließen den Knopf los und das Licht erlosch. Was sie danach tat, begriff ich nicht. Es klang nach ersticken, oder weinen, zuordnen konnte ich es nicht. Erschreckend lange hielt sie die Luft an, nur um danach umso lauter zu röcheln.
 

Aufmerksamer wurde ich, als sie sich aufrichtete, es dauerte übertrieben lange, bis sie auf ihren Beinen zum stehen kam. Ihre leises tapsen führte die Wand entlang nach rechts.
 

Geräuschlos änderte ich meine Position, rutschte von der Mitte der Eisentüre nach links, da ihre Schritte unangenehmer Weise in meine Nähe führten. Ich hörte, wie sie das Eisen abtastete, daran schwach rüttelte und viele Male seufzte. Wäre sie näher gekommen, hätte ich sie an mich gerissen, soviel stand fest. Unbewusst leckte ich mir über die trockenen Lippen, das Gift sprudelte nur so aus seinen Poren. Doch dann stieß sie sich plötzlich mit einem Ächzen von der Wand ab und lief schnell zurück in die entgegengesetzte Richtung, ich vermutete, dass sie rannte, was in ihrer Situation allerdings völlig gedankenlos war, denn meine Vermutung bestätigte sich mit einem lauten Knall, als sie gegen die Wand knallte.
 

Menschliche Augen waren erbärmlich schwach, ihr Gehört ebenso, in der Dunkelheit in einem fremden Raum, dessen Ausstattung und Umfang man nicht kannte, stur darauf loszurennen war nicht nur leichtsinnig, es grenzte an Wahnsinn. Und das Letzte was ich wollte war, mich mit einem Wahnsinnigen Menschen abzugeben. Vielleicht konnte ich deshalb nicht ihre Gedanken lesen, vielleicht war sie einfach zu dumm. Obwohl mir die Gedankenwelt von geistlich behinderten und selbst schlafenden Menschen nicht unzugänglich war, konnte es doch sein, dass etwas mit ihrem Kopf nicht stimmte. Allerdings würde das dann nicht erklären, warum Jane ihre Folterkünste nicht bei ihr hatte anwenden können.
 

Was zum Teufel war mit diesem Mädchen los? Erst versuchte sie sich zu ersticken, dann zerschmetterte sie sich fast den Kopf an der Wand. Wenn ihr Todeswunsch so stark war, brauchte sie mich nur zu fragen. Ich war mir sicher, dass das Monster in mir diesem Wunsch mit größtem Vergnügen nachgehen würde.
 

Ihr rapider Herzschlag nahm sogar noch zu, als sie sich auf den Boden legte und zu schluchzen begann. Es war ein anderes schluchzen, sie weinte anders als zuvor. Sie weinte richtig, und es war herzzerreißend. Ich schloss die Augen, auch wenn das die Geräusche nicht abklingen ließ, eindeutig eine menschliche Reaktion.

Verflucht, ein paar Stunden in einem Raum mit einem halb bewusstlosen Geschöpf und ich wurde weich.
 

Fast eine Stunde hielt das zerreißende Weinen an, ich tat mein Bestes um es zu ignorieren, redete mir ein, dass nicht ich die Schuld dafür trug. Sie hatte einfach Pech, so war das leben nun einmal, es war nicht fair. Wenn das leben gerecht wäre, hätte ich ein langes, glückliches, menschliches leben gelebt, ich wäre nie zu dem geworden, der ich war, nie zu das, was ich sein musste. Wenn das Leben gerecht wäre, würde dieses Mädchen irgendwo dort, wo sie Zuhause war in die Schule gehen, unter ihren Mitmenschen, unter ihresgleichen leben.

Wäre das Leben fair, wäre sie nicht dazu verurteilt, vorzeitig und durch Vampire zu sterben.
 

Irgendwann hielt ich es nicht länger aus, das leise winseln ihres Schlafs störte mich zu sehr. Ich sprang auf, öffnete die Türe und verließ den Raum.

Tief atmete ich durch, denn hier roch es frisch, nicht blumig und verführerisch, es ließ sich wieder klar denken. Eine Weile lief ich in dem dunklen, durch ein paar Fackeln erhellten Flur umher und sortierte meinen ungeordneten Kopf. Ich lief die hundertzwanzig Treppen hinauf, den langen Flur entlang bis zum Haupttor, der in den Saal führte.

Wachen brauchte dieses Mädchen nicht, die Eisentüre war viel zu schwer für ihre schwachen, zerbrechlichen Arme.

Heidi lehnte locker gegen das Tor, hinter dem Aro mit dem vor kurzen wieder eingetroffenen Caius verhandelte. Ich machte mir gar nicht erst die Mühe, der Konversation zu folgen, der Ausgang war mir egal, mit großer Annahme würde ich ohnehin nicht das bekommen, was ich wollte. Caius war dagegen, Marcus hielt sich aus Desinteresse raus und Aro hatte für gewöhnlich das letzte Wort, er war der Mast, die Stütze, der König dieses Zirkels. Ich war gegen seinen Plan und eine Meinungsverschiedenheit war das Letzte, was ich in diesem Augenblick wollte.
 

„Lebt sie noch?“ fragte Heidi und versuchte dabei, verführerisch zu sein. Ich verdrehte die Augen, sie wusste nur zu gut, dass das Mädchen noch am leben war, denn wäre dies nicht der Fall, hätten meine Augen dieselbe Farbe wie ihre angenommen. Sie gehörte zu den Volturi, mit denen ich am wenigsten klar kam, hatte neuerdings Interesse an mir gefunden, was mir immer wieder finstere Blicke von Demetri einhandelte. Dabei war es mir wirklich völlig egal, was sie dachte oder wollte, an Intimität, auf die sie aus war, hatte ich nie Interesse verspürt.

Ich rollte mit den Augen, als ihre Gedanken eine absurde Vorstellung von uns formten und lief stur an ihr vorbei, wurde jedoch von Alec aufgehalten, der eines der Tore öffnete.
 

„Meister Aro lässt etwas ausrichten, Edward.“
 

Alec war der Zwillingsbruder von Jane, sie beide waren von Aro entdeckt und verwandelt worden, sie waren seine Schätze, seine Waffen. Wer klug war, wusste besseres als diese beiden zu verärgern, ihre Kräfte waren selbst für unsere Verhältnisse außergewöhnlich. Teuflisch.
 

„Spielst du den Boten?“ fragte ich, verblüfft weil er sich sonst nie die Mühe machte, mit mir zu sprechen.

Er überging meine Bemerkung, verrenkte unzufrieden die Augen.
 

„Fürs erste sollst du sie am leben lassen.“
 

„Was anderes hatte ich auch nicht vor.“
 

„Du sollst schauen, dass sie vorsichtshalber noch ein paar Tage durchkommt. Er fragt, ob sie ernsthafte Verletzungen hat, wenn ja, kümmere dich darum, das solltest du doch können.“

Allerdings, das sollte ich wirklich. Die Frage war nur, ob ich es wollte. Es war mir zuwider, mich diesem Mädchen zu nähern, sie erweckte Triebe in mir, von denen ich glaubte, sie längst unter Kontrolle zu haben. Selbstverständlich würde ich versuchen nachzusehen, ob sie in Ordnung war, auch wenn es mich nicht interessierte, doch allein schon deshalb, weil es ein Befehl war, konnte ich nichts ignorieren. Und ich führte jeden meiner Befehle aus, egal, wie außergewöhnlich sie waren.
 

Alec schloss die Türe wieder hinter sich zu, als seine Botschaft übermittelt war, eine dreizehntel Sekunde lang dachte ich über alles nach, dann machte ich mich auf den Weg. Jane und Alec bevorzugten es, in der großen Halle zu bleiben, am liebsten waren sie bei ihrem Meister. Das konnte ich nicht nachvollziehen, ich war ein Einzelgänger, war es schon immer gewesen. Mit meinen Brüdern hatte ich mich deswegen nicht selten gestritten, sie warfen mir vor, zu ignorant zu sein, immer das Schlechte zu sehen. Im Stillen fluchte ich vor mich hin, wann hatte ich denn begonnen, an die unbedeutende Vergangenheit zu denken?
 

Zufrieden atmete ich aus, als ich mein Zimmer betreten und die Türe hinter mir geschlossen hatte. Das hier war der einzige Ort, an dem mich niemand störte, niemand würde es wagen, mich hier zu belästigen, das hier war von beginn an ein verbotenes Territorium. Hier konnte niemand nachvollziehen, warum ich solche Gewohnheiten pflegte, wieso ich es bevorzugte, einen Teil meiner Zeit mit Büchern und Musik zu verbringen.

In Gedanken versunken öffnete ich den Kleiderschrank, der randvoll war mit Kleidung, die ich mir seltsamerweise nach meiner Ankunft hier besorgt und von denen ich das Meiste kein einziges mal getragen hatte. Doch es würde auffallen, wenn ich mit meinem schwarzen Umhang unter die Menschen treten und einkaufen gehen würde, ich brauchte etwas schlichtes, unauffälliges, normales. Schließlich griff ich noch in eine Schublade, nahm mir etwas Kleingeld und ein paar Hunderter aus der Schachtel, in der ich es derzeit aufbewahrte. Bislang war es jedoch nicht nötig gewesen, Geld mit sich zu tragen, normalerweise kaufte ich sehr selten ein, und wenn, dann handelte es sich nur um teure Anschaffungen, wie ein Auto, das ich dann aber mit der Kreditkarte bezahlte.
 

Ein Auto, seufzte ich. Das brauchte ich hier nicht mehr, solche Dinge gehörten ebenfalls der Vergangenheit an.
 

Es war kurz nach siebzehn Uhr, als ich mich aus dem vermeintlichen Kanalschacht an die Oberfläche schlich. Unsere Ausgänge waren immer an die Kanalisation gebunden, eine Vorsichtsmaßnahme, falls die Menschen aus irgendwelchem Problemen einmal gezwungen waren, sich die Wasserabfuhr genauer anzusehen. Unauffällig schloss ich den Deckel und schritt in gemächlicher Geschwindigkeit aus der dunklen Gasse. Wir hatten Ende September, der Sonnenuntergang setzte an und füllte die historische Stadt in warmes Licht. Ich mochte die Dämmerung, mit ihr konnte ich mich identifizieren. Diese Tageszeit war eines der wenigen Dinge, die ich mochte, bei dem sich meine Meinung über all die Jahre nicht verändert hatte. Niemand schenkte mir Beachtung, als ich durch den Lebensmittelmarkt lief, die Obst und Gemüseverkäufer waren gerade dabei, ihre Stände abzubauen. Es roh angenehm, die Früchte belebten meine Sinne.
 

„Fürs erste sollst du sie am leben lassen.“ Murmelte ich sarkastisch vor mich hin, verdrehte im Geiste die Augen, und schließlich betrat ich den Supermarkt, lief geradeaus zu den Getränken. Ich nahm mir vorsichtshalber vier Wasserflaschen und als ich an die Kasse laufen wollte, fiel mein Blick auf die belegten Brötchen. Ich zögerte, beschloss jedoch ziemlich schnell, dass es nicht schaden würde, wenn ich diesem Mädchen auch etwas zu essen brachte. Bei der Vorstellung, wieder zu ihr in den dunklen Raum zu gehen und ihrem Duft ausgesetzt zu sein, spannte sich mein Körper an, wehrte sich dagegen.
 

Als ich bezahlt und den Supermarkt verlassen hatte, gab es nichts mehr, was mich noch länger aufhielt. Resignierend ging ich meinen Weg, fand zurück in die Gasse und verschwand im verdeckten Durchgang. Das rascheln der weißen Tüte war das Einzige, was ein Geräusch verursachte.
 

Heidi hob eine Augenbraue und starrte ungläubig auf die Tüte, während ich an ihr vorbei lief. Sie hatte sich nicht gerührt, ihre Körperhaltung war dieselbe. Auch hier war ich eine Ausnahme, ich bewegte mich gerne, dadurch fühlte ich mich lebendiger.
 

Ebenso Geräuschlos, wie ich gegangen war, betrat ich auch wieder den Raum, indem das Mädchen lag. Vorsichtshalber und um mich zu schonen, hielt ich den Atem an, meine Kehle brannte auch ohne dass ich bewusst atmete. Die Tüte legte ich auf den Boden, griff nach einer der Mehrwegflaschen und horchte. Mein Eintreten war nicht aufgefallen, das Mädchen gab außer ihrem langsamen Atem und stetigen Herzschlägen keinen Laut von sich, so dass ich mich fragte, ob sie womöglich schlief.
 

Die Lippen fest aufeinander gepresst, lief ich ihr entgegen und stellte die Flasche etwa einen halben Meter neben ihr Ohr, es war besser, wenn ich ihr nicht näher kam. Ich wollte es auch gar nicht.

Ich wurde nicht vorgewarnt, ihr Herzschlag nahm innerhalb eines Augenblicks zu, sie schrie laut, sprang auf und blies mir ihren beißenden Duft entgegen. Nun musste ich zurückweichen, mein gesamter Körper stand in Flammen. Natürlich hatte sie mich nicht gesehen, sie konnte in der Dunkelheit nichts erkennen, auch ich sah unter diesen Umständen nichts.
 

„W- wer ist da?“ quietschte sie brüchig, ihre Stimme bebte mit ihrem Körper. Sie beugte sich nach vorne, ging auf die Knie und versuchte, dem Geräuschen ihrer Bewegungen nach zu urteilen, nach der Wasserflasche. Ich lief wieder zurück an meinen Platz, ließ mich vor der Türe und neben den eingekauften Sachen auf den Boden nieder.
 

Sie trank nicht sofort, was merkwürdig war, denn sie musste am verdursten Sein. Nach einer halben Minute endlich hörte ich, wie sie den Deckel drehte, sie schien mehrere Versuche zu brauchen, um es aufzubekommen. Anschließend trank sie alles runter, ohne auch nur einmal wirklich nach Luft zu schnappen, sie verschluckte sich, machte aber trotzdem weiter.
 

Sie schlief lange, sehr lange. Zwischendurch ging ich in mein Zimmer, erholte mich von der Anspannung, der ich in ihrer Gegenwart ununterbrochen ausgesetzt war und zog mir meinen Umhang über. Aus einem unbekannten Bedürfnis heraus griff ich nach der einzigen Decke, die ich hatte, ließ meine Finger um den dünnen Stoff kreiseln. Ich schaute zu der Couch, die vor dem Bücherregal stand, bis ich begriff, dass ich begann, Mitleid zu empfinden. Mitleid.

Hatte ich Mitleid mit ihr, war es das, was mich so zerriss? Oder lag es nur an ihrem Duft, dass ich mich komisch benahm? Ich vermutete das letztere, ersteres konnte ich allerdings nicht ganz ausschließen. Ich faltete die Decke zusammen, nahm eines der Sofakissen und schritt erneut zurück in den abgeschotteten Raum, ganz am Ende des Flur im dritten Untergeschoss. Man hatte sie nicht hier untergebracht, weil man einen Fluchtversuch befürchtete, es bestand nicht die geringste Möglichkeit für sie, von hier wegzukommen.
 

Aro hatte sie vorsichtshalber abgegrenzt und einschließen lassen, damit kein durstiger Vampir seine Pläne durchkreuzte. Es war besser so, für alle, außer für mich.

Wieder war ich gezwungen, die Luft anzuhalten. Seit zwei Tagen nun setzte ich mich dem Duft aus, und es wurde nur ganz langsam etwas erträglicher. Ob ich stärker wurde, oder ob mein Körper nur genug davon hatte, sich ununterbrochen anzuspannen, ließ sich nicht sagen, ich war einfach nur froh, dass wenigstens ein wenig Besserung in Sicht war.
 

Ich nahm an, dass sie schlief, als ich mich ihr näherte, um das Mitgebrachte auf den Boden zu legen. Schließlich gab ich mich damit nicht zufrieden, denn wahrscheinlich würde sie nicht einmal bemerken, was neben ihr lag, dafür war es viel zu dunkel und die Wahrscheinlichkeit, dass sie ausgerechnet über diesen Punkt lief, war auch gering. Ich entfaltete die Decke, wollte sie damit zudecken, doch kaum dass der Stoff ihre Haut berührte, schrie sie auf. Es war ein ängstlicher, besorgter Schrei.
 

„Wer ist da?“ flüsterte sie leise, zittrig, ich konnte spüren, dass ihr gesamter Körper bebte.
 

„Ich wollte dich nicht erschrecken.“ Bevor ich mir vornahm zu antworten, hatten die Worte meinen Mund bereits verlassen. Sie zuckte noch mehr zurück, machte sich ganz klein. Ich hatte mich ihr eben zum ersten Mal bewusst gezeigt.
 

„Wer b- bist du?“ stotterte sie.
 

Ob sie Todesangst hatte? Hatte sie mich womöglich wiedererkannt? Was ging nur in dem Kopf dieses kleinen Monsters vor? Ich hielt es nicht länger aus, ich wollte ihre Gedanken endlich entschlüsseln, mir beweisen, dass ich an dieser kleinen Kreatur nicht scheiterte.

Schnell zückte ich die kleine Taschenlampe aus meiner Tasche hervor, hielt ihr das Licht direkt ins Gesicht, ich wollte ihre Augen sehen, das musste der Schlüssel zu ihren Gedanken sein. Es war der letzte und einzige Weg, der mir noch einfiel.
 

Sie blinzelte sieben mal, ihre Augen waren angeschwollen, rot und müde. Dunkel Blutergüsse streckten sich unter ihren braunen Augen. Braun. Ihre Augen waren wirklich braun. Ein kräftiges schokoladenbraun, eine warme, freundliche Farbe. Ihr blinzeln ließ nah, ihre Augen fixierten die Decke und das Kissen in meinen Händen, ihr blasses Gesicht nahm einen erschrockenen Ausdruck an. Eine dicke, blaue Schwellung zierte ihre Stirn, es musste entstanden sein, als sie gegen die Wand gerannt war.
 

„RAUS, VERSCHWINDE, GEH WEG, FASS MICH BLOß NICHT AN!“ kreischte sie schrill, geschockt und fassungslos weitete ich die Augen.

Nie hätte ich gedacht, dass sie noch solche Kraft in sich hatte, ihre Stimme hatte bislang so gebrochen geklungen. Nun schaute ich sie genauer an.

Ihr Tanktop klebte an dem verschwitzen Körper, sie machte den Eindruck, als würde sie in ihren kurzen schwarzen Shorts verloren gehen. Sie sah übel zugerichtet aus, dabei war alles, was ihr bislang durch uns widerfahren war, noch nicht einmal beabsichtigt gewesen. Ich hob die Hand, versuchte sie zu beruhigen, sie durfte nicht laut sein, ich war nicht der Einzige hier, Felix bewachte den Flur, er war in einem Zimmer ganz in der Nähe, für den Fall, dass etwas unerwartetes geschehen sollte.
 

Er wurde leicht ungeduldig, und unser Gehör war so fein, dass jeder Schrei beinahe überall zu hören sein würde. Niemand würde sich um die bevorstehende Bestrafung scheren, denn dieses Mädchen duftete nicht nur verführerisch, sie benahm sich auch gegen unsere Regeln. Wenn sie Lärm machte, würde das möglicherweise die aufrührerischen, erbarmungslosesten und, was die Geduld anging, schwächsten unter den Volturi anlocken, und dann wäre ich nicht mehr in der Lage, sie zu beschützen.

Sofort verneinte ich diesen Gedanken, natürlich würde ich sie beschützen. Wenn schon, dann gehörte sie mir, sie war mein, ihr Blut stand mir zu.
 

Das Mädchen nahm tief Luft, legte zum schreien an, ich reagierte unmittelbar.

„Sei leise.“ Zu hart wollte ich nicht klingen, aber sie musste mich ernst nehmen. Das hier war kein Spaß, es war todernst. Trotzdem hörte sie nicht auf mich, dabei sollte ihr mittlerweile klar geworden sein, dass ich um das tausendfache stärker war als sie- in allen Bereichen.
 

„GEH WEG DU MONSTER! LASS MICH ALLEIN!“
 

„Sssch! Keinen mucks mehr!“

Ich wusste nicht, was mich mehr aufregte. Die Tatsache, dass sie nicht auf mich hörte und hier herumschrie und uns beide ins Verderben stürzte, oder dass sie mich als Monster bezeichnete und dadurch unerhörter weise völlig ins Schwarze traf.

Ehe sie noch lauter werden konnte, legte ich meine Hand auf ihren Mund, hielt mich mit meiner Kraft sehr zurück, ich konnte kaum noch einschätzen, wie ich mit Menschen umzugehen hatte.
 

„Du musst leise sein, sonst werden sie dich töten.“ Drohte ich.

Spätestens jetzt musste sie mich verstanden haben.
 

Meine Hand erstarrte, als ich in ihre Augen schaute und bemerkte, wie sie zurück rollten. Der zierliche Körper erschlaffte unter meiner Hand, fiel zurück auf den Boden, ihr Kopf schlug leicht auf.

Fünf Sekunden kniete ich bewegungslos und unschlüssig auf dem Boden, starrte auf die bewusstlose, zerbrechliche Gestalt vor meinen Füßen, die Lampe in meiner Handfläche sorgte für genug Helligkeit.

Schließlich zwang ich mich, etwas zu tun, auch wenn ich es nicht wollte. Widerwillig griff ich nach der Decke, breitete sie aus und legte das Kissen ebenfalls hin, dann starrte ich wieder zu dem Mädchen, überlegte, ob es eine Möglichkeit gab, sie auf die ausgebreitete dünne Stoffdecke zu legen, ohne sie anzufassen.
 

Nur zögernd, und als ich begann, mir dumm vorzukommen, berührte ich ihre Schulter, zuckte augenblicklich zusammen, denn sie war nicht so warm, wie ich erwartete hatte. Für ihre normalen Verhältnisse war sie unterkühlt. Sehr Vorsichtig und unter höchster Konzentration schob ich meine Hand unter ihren Rücken, dasselbe tat ich mit der anderen, in dem ich ihre Beine anhob. Ich bemerkte sie kaum auf meine Armen, der Unterschied zwischen der Decke, die ich eben getragen hatte und dem Mädchen, das ich jetzt in den Armen hielt, war nicht groß für mich. Ich hatte mich während meiner Zeit hier so sehr daran gewöhnt, unachtsam und kraftvoll mit Gegenständen und meinesgleichen umzugehen, dass ich mich erst wieder an diesen Art von Umgang gewöhnen musste.

Nachdem ich sie auf die Decke gelegt hatte, schob ich ihren Kopf zurecht, damit er auch gerade auf dem Kissen lang. Zu lange verweilte mein Blick an ihrem Nacken, unter deren Adern dieses süße Blut floss. Ich schüttelte den Kopf.
 

Die nächsten Stunden verbrachte ich in ihrer unmittelbarer Nähe und folterte mich selbst.

Es war eine Qual und in der Zeit wünschte ich mir nichts anderes, als diese ganze Angelegenheit möglichst bald hinter mich zu bringen. Sie atmete stetig und ruhig, ihre Stirn nahm eine dunklere, ungesunde Farbe an, die Beule erreichte ihren Höhepunkt. Wenn die naheliegende Apotheke nicht schon geschlossen gewesen wäre, hätte ich ihr eine Salbe und Schmerzmittel besorgen können. Doch es gab noch einen anderen Grund, der mich hier festhielt. Wenn sie weiterhin so unachtsam mit sich umging und sich selbst verletzte, so war ich mir sicher, würde sie früher oder später eine offene Wunde verursachen, eine Verletzung, bei der ihr Blut fließen würde- und dann wäre ich gewiss nicht mehr der Einzige, den sie mit ihrem sonderbaren Duft auf die Knie zwang.

Sollte so etwas geschehen, dann würde sie keine drei Sekunden überleben, meine Instinkte würden alles niederschlagen. Scharf zog ich die Luft an, als ein Teil meines Verstandes begann, darauf zu hoffen, dass sie sich verletzte, richtig verletzte, blutend oder nicht, denn wenn die Situation nur ernst genug war, wenn ihr Leben nicht mehr gerettet werden konnte, auch dann würde ich das bekommen, was ich so sehr ersehnte.
 

Seufzend drehte ich die Taschenlampe mit meinen Fingern herum, beleuchtete nebenbei abwechselnd jeden Winkel des Raumes. Alles hier war so kahl und trostlos, da war es wirklich besser, wenn es dunkel blieb. Wir waren hier im dritten Untergeschoss, das einzige Stockwerk, dessen Räume nicht beleuchtet waren. Für gewöhnlich benutzen die Volturi diese Räume nicht, sie waren einfach nur da, eine Konstruktion vieler Jahrhunderte zuvor.
 

Das Mädchen schlief fast bis zur Morgendämmerung, das jedenfalls zählte meine innere Uhr. Als sie begann, sich erstmals wieder zu regen, schaltete ich die Lampe aus. Ich hatte mir vorgenommen, nicht mehr so streng zu sein, hatte die letzten Stunden darüber nachgedacht, warum sie bewusstlos geworden war. Die Kombination aus Angst und Hunger, Stress und Verwirrung, so vermutete ich. Das Ausschlaggebende allerdings musste die Angst sein, ich hatte sie so sehr erschreckt, dass sie unter meiner Hand ohnmächtig geworden war. Abneigend tastete ich mit meinen linken Fingern über meine rechte Handfläche, ihr Mund war so weich gewesen, seit einer Ewigkeit hatte ich so etwas weiches nicht mehr gespürt.
 

Ich fixierte meinen Blick, auch wenn ich nichts erkennen konnte, dorthin, wo ihr Kopf war, hörte leises Schluchzen und Weinen, ihre Atmung stolperte. Nach drei Minuten verstummten die Geräusche, ich konnte ich sagen, ob sie eingeschlafen war und fragte mich, ob ich das Licht wieder einschalten sollte. Erneut seufzte ich, beschloss, laut genug zu sein, damit sie mich langsam bemerkte, damit sie sich auf mich einstellen konnte.

Unnötigerweise raschelte ich, es war laut genug, um von ihr gehört zu werden.

Ich wusste nicht, was ich getan hatte, denn ich hatte sie nicht erschreckt, ich hatte sie weder böse angeschaut, noch etwas gesagt. Dennoch, sie schrie laut auf, stürzte sich von mir weg und als ich begann mich zu fragen, was sie überhaupt bezweckte, kollidierte sie ein weiteres Mal mit der Wand. Spätestens jetzt war ich mir ziemlich sicher, dass sie nicht in Ordnung war, dass sie versuchte, sich selbst Schaden zuzufügen.
 

Ich achtete darauf, was ich tat, als ich die Lampe anknipste. Ich hielt sie gegen meine Handfläche gedrückt, um nicht denselben Fehler noch einmal zu machen, indem ich ihr das Licht direkt in die Augen strahlen ließ und sie versehentlich blendete. Menschliche Augen waren um so vieles empfindlicher als meine. Sie starrte mich mit demselben Blick an, den sie in dem Moment, bevor sie bewusstlos geworden war, gehabt hatte, ich hielt das nicht aus. Ich hielt es nicht aus, dass ich der Grund für ihre Angst war, auch wenn ich sie hasste, nicht ich wollte für diese Verzweiflung verantwortlich sein.
 

Verflucht noch mal, es war nicht meine Schuld, dass sie in diese Situation geraden war, ich gab mein Bestes, versuchte, sie nicht zu töten, ihr zu helfen, doch alles was ich unternahm schien alles nur noch schlimmer, noch komplizierter zu machen.

Sie musste mich verstehen, sie musste begreifen, dass ich ebenso am leiden war, das alles machte ich nicht freiwillig, sie ließ meinen Körper brennen, zerrte an meiner Selbstbeherrschung, erweckte wilde, tödliche Instinkte.
 

„Ich wollte dich nicht erschrecken.“ Sagte ich leise und mit so für Mitgefühl, wie ich im Moment nur aufbringen konnte.

„Deshalb habe ich versucht, Geräusche zu verursachen, aber wie es aussieht bin ich doch zu leise gewesen. Entschuldige.“
 

Ihre Haltung veränderte sich nicht, ich glaubte zu sehen, dass sie noch blasser wurde, doch durch die Umstände war sie beinahe so blass wie ich, es war schwierig auszumachen. Sie sah schon jetzt halbtot aus, ihre Lippen perlweiß, die Augen noch röter als bis vor wenigen Stunden. Ihre Lieder wurden schwer, die müden Augen rollten zurück, ich stellte fest, dass sie seit 32 Sekunden keinen Atemzug mehr genommen hatte und reagierte sogleich.

„Du solltest atmen, sonst wirst du wieder bewusstlos.“

Sie hörte auf mich. Endlich. Ein seltsames Gefühl machte sich in mir breit, das war das erste Mal, das ich mich mit diesem Wesen über etwas einig war, das erste Mal, dass die Situation nicht in einem Chaos endete.
 

Im Schein der Lampe konnte ich einen Blick auf ihre Hand werfen, die sie zitternd auf ihrem Schoß liegen hatte. Die Nägel ihrer drei letzten Finger waren violett angeschwollen, der kleine Finger hatte eine seltsame Haltung, auf den ersten Blick sah ich, dass er gebrochen war. Um sicher zu gehen, streckte ich meine Hand aus, wollte nachschauen, ob sie auch wirklich gebrochen war, denn ich wusste, dass das höllische Schmerzen verursachen musste, doch als mein Zeigefinger ihre Haut berührte, durchzuckte mich ein seltsamer Stromschlag, gleichzeitig wichen wir voneinander zurück, sie schlug ihren Hinterkopf wieder an, fluchte unverständliche Worte.
 

„Hast du vor, dich selbst du verletzen?“ fragte ich und versuchte meine Aufruhr zurückzuhalten, denn wenn das wirklich ihre Absicht war, dann machte sie einen gewaltigen Fehler. Wieso setzte ich mich hier mit diesen Strapazen aus, wenn sie ohnehin nicht an ihrem kurzen Leben hing?
 

„Wie lange willst du mich hier festhalten?“ fragte sie leise und vermied Augenkontakt.

Sie schien Angst vor meiner Antwort zu haben, schaute unentwegt auf die rote Decke und das Licht in meinen Händen. Es erstaunte mich, dass sie glaubte, ich würde sie festhalten- ich war doch der Letzte hier, der sie nicht gehen lassen würde.

Da realisierte ich, dass sie von nichts eine Ahnung hatte, dass man ihr nichts gesagt hatte. Sie kam hier her, um eine Führung durchs Schloss anzuhören, nicht um mitzuerleben, wie ihre Gruppe von Vampiren getötet wurde, sie war nicht nach Italien gereist, um in einem unterirdischen Kerker zu enden und von mir, ausgerechnet von mir, getötet zu werden.
 

Aro hatte nicht gesagt, dass ich ihr nichts sagen durfte. Er nahm nicht an, dass ich mich, mehr als aufgegeben, um diesen Menschen kümmern würde. Allerdings hatte ich mich eben mit ihr Verstanden, vielleicht würden wir mit einem Gespräch weiterkommen, ich musste meinen Durst zurückhalten, sie ihre laute Stimme, von der allerdings kaum noch etwas übrig geblieben zu sein schien.
 

„Ich halte dich nicht fest, ich bin beauftragt worden auf dich aufzupassen, bis sie eine Entscheidung fällen.“
 

Sie begriff nicht, was ich sagte, oder reagierte absichtlich nicht. Wieder rollten ihre Augen zurück, ihre Atmung setzte aus.

„Atme! Atme! Warum tust du das?!“
 

Sie nahm nur kurz einen Atemzug, hustete, es klang nach einer schleichenden Erkältung.
 

„Bis wer eine Entscheidung fällt?“ murmelte sie.
 

„Kannst du dich an die drei Männer auf den Thronen erinnern?“ Ich sprach langsam, eindringlich, wollte sie kein weiteres Mal verschrecken. Doch letztendlich gelang es mir nicht, in einem kurzen Augenblick, den ich mir nahm um mich zusammenzureisen, vermasselte ich mir meine mühselig aufgebaute innere Ruhe.

„Aro war der, der dich während dem Mahl vor den anderen geschützt hat, weil du sein Interesse geweckt hast. Er möchte mit dir etwas neues ausprobieren und das ist ihm nur möglich, weil ich hier bin. Solange bin ich leider gezwungen in deiner Nähe zu sein, damit sich niemand über dich hermacht... Welch eine Ironie, dass ausgerechnet ich diese Aufgabe übernommen habe. Ich hätte dich, nachdem was im Saal geschehen ist, auch in die Obhut von jemand anderem geben können, aber Aro glaubt, ich wäre der geübteste darin, mit Menschen umzugehen und unter anderen Umständen würde ich ihm recht geben, aber du...“

Ich hatte sie wirklich nicht erschrecken wollen- aber dennoch, was ich vorhatte oder plante, spielte keine Rolle. Der Gedanke an ihren Duft brachte mich automatisch dazu, einen zusätzlichen, besonders innigen Atemzug zu nehmen, was in meiner Situation mehr als nur unangebracht war.

Erneut wich sie zurück, erkannte die Gefahr, die sich vor ihr befand, schütze ihr Gesicht mit den Armen, als würde sie dadurch irgendetwas bewirken können. Betreten schloss ich den Mund, fluchte in Gedanken darüber, dass ich überhaupt versucht hatte, diesem... Ding etwas zu erklären.
 

Jegliches Mitgefühl, das sie in den vergangenen Stunden seltsamerweise in mir erweckt hatte, löste sich auf, ich kam wieder zur Besinnung und Begriff, was ich getan hatte. Ich hatte tatsächlich versucht, einen Kompromiss zu schließen, ihr zu zeigen, dass sie mich nicht zu fürchten brauchte. Aus welchem Grund auch immer mir dieser schwachsinniger Einfall gekommen war, im Nachhinein fühlte ich mich deswegen reinweg töricht. Sie musste mich fürchten, sie sollte mich fürchten, ich war der Jäger, sie die Beute. Und dieses Spiel wollte ich gewinnen. Ich würde gewinnen, so oder so, früher oder später.
 

Während mir diese Sachen durch den Kopf gingen, ließ ich die Lampe fallen, sie brauchte das Licht mehr als ich, stand auf und begab mich wieder an meinen Platz an der Türe. Das Licht beleuchtete den kleinen Winkel des Raumes, in dem sie sich befand, alles andere, auch ich, war in völlige Dunkelheit umhüllt. Ein paar Minuten lag sie unschlüssig da, rieb sich die Arme, als versuchte sie sich dadurch aufzuwärmen, zog die Knie an den Körper und schaukelte. Schließlich richtete sie sich wackelig auf, griff nach der Taschenlampe und stand, an der Wand stützend, vollständig auf.

Ihre schwarzen Shorts rutschen ihr an der linken Seite leicht über die Hüfte, ihre Beine zitterten pausenlos. Es war eine dumme Idee, aufzustehen, noch absurder, sich aufzumachen, denn sie konnte hier nicht raus, sie würde nie wieder raus kommen.
 

„Bleib wo du bist.“ Rief ich ihr laut zu, zuckte zusammen, als ich deswegen Gezwungen war, einen Atemzug zu nehmen und das Brennen setzte erneut an. Sie blinzelte, ihr Herzschlag nahm zu, ihre Atmung stoppte. Zweifellos war sie nicht davon ausgegangen, mich so rasch wiederzusehen.

Es gab mehrere Gründe, warum ich aufstand und zu ihr lief.

Erstens, ich wollte nicht wieder der Verursacher sein, wenn sie jetzt bewusstlos wurde, denn dann wäre ich wohl oder übel gezwungen, sie wieder auf die Decke zu legen, es sei denn, ich zog in Betracht, dass sie an Unterkühlung langsam ablebte.

Zweitens, ich wollte sie wissen lassen, dass ich hier der wohl Einzige war, der sich halbwegs um sie scherte, von Aro natürlich abgesehen. Ich wollte wenigstens etwas Verbundenheit, eine Entschuldigung von ihr, weil sie mich in diese Lage versetze.

Und drittens, es war wichtig, dass ich wenigstens versuchte, sie in Schach zu halten, um mir später keinen zusätzlichen Ärger von Aro einzuhandeln. Ich hatte versucht, ihr zu helfen, mir ihre Verletzung anzusehen, bei Gott- ich hatte mich wegen ihr in einen Supermarkt begeben und eingekauft- ich hatte seit guten dreiundvierzig Jahren nichts mehr in einem einfachen Lebensmittelmarkt gekauft.
 

Als ich an ihrer Seite stand, wurde sie von einer seltsamen Atemnot gepackt, ihr blasses Gesicht lief blau an. Ich wollte das irgendwie verhindern, denn sie sah wirklich schrecklich aus, am Tiefpunkt, und auch wenn ihre braunen Augen, in denen sich klare, dicke Tränen sammelten, auf die Lampe in ihren kleinen Händen gerichtet war, ließ sich eindeutig erkennen, wie verängstigt sie war.
 

„Verschwinde, i- ich kann auf mich selbst aufpassen, i- ich, ich brauch nicht, l- lass mich, du- du Monster.“
 

„Ich bin nicht das einzige Monster hier, Mädchen. Wenn du nicht auf mich hörst kann ich nicht garantieren, dass du keinen Besuch von jemanden bekommst, der dich nicht sofort tötet. Du bist besser still, damit machst du es uns beiden nicht schwerer als es schon ist.“

Es kränkte mich auf kranke Weise, als Monster bezeichnet zu werden. Ich selbst konnte mich so nennen, aber von anderen wollte ich es nicht gehört bekommen.
 

„Wirst du mich denn nicht töten?“ fragte sie schluchzend, bebend, das zwang mich, den Blick zu senken. Es war falsch, dass mich diese Frage überraschte, doch nun konnte ich ihre Angst besser nachvollziehen, sie glaubte, ich wäre hier um ihr etwas anzutun.
 

„Ich hoffe nicht.“ Sagte ich zu mir, denn ich hoffte es wirklich.
 

Dann begriff ich endlich, was mich so sehr an der ganzen Situation störte.

Ich schämte mich. Ich schämte mich für mein Verhalten, für meine Schwäche, für das, was aus mir geworden war. Während die Volturi meinen Kontrollverlust beglückwünschten und es sie amüsierte, dass ich endlich auch gefallen an ihrer Lebensweise zu finden schien, ekelte es mich an. Deswegen war ich nicht hier hergekommen, deswegen hatte ich meine Vergangenheit nicht hinter mir gelassen. Wo hatte ich mein altes Selbst, meine Persönlichkeit gelassen, wann war ich zu dem geworden, der ich war? Doch war dies nicht das, was ich ersterbt hatte, hatte ich nicht deswegen meine Familie verlassen?

Als wären sie Magnete, die mir diese Antwort vorenthielten, starrte ich in die braunen, ängstlichen Augen, von denen ich wusste, dass sie die Lösung waren. Ich war zutiefst verwirrt.

Vielleicht war es einfach zu lange her, dass ich unter Menschen gewesen war, möglicherweise hatte ich vergessen, wie es sich anfühlte, unter den Lebenden zu sein. Aro hatte unrecht, nur weil ich Tiere jagte und unter normalen Umständen um das hundertfache mehr Selbstbeherrschung hatte, bedeutete das nicht, dass ich auch der Beste darin war, mich um dieses Mädchen zu kümmern. Ich mochte vielleicht viele Jahre unter den Menschen gelebt, mit ihnen Schulbänke gedrückt und studiert haben, doch das bedeutete nicht, dass ich jetzt auch dazu in der Lage war, dieses kleine riesige Problem zu versorgen.

Sie war selbst schuld, ihr Schicksal hatte es so gewollt. Meine Sicht wurde wieder rot, als ich das pulsieren in ihrem Nacken erblickte, unter der dünnen, klaren Haut wartete das warme Blut nur darauf, von mir beansprucht zu werden.
 

„Ich will hier weg, ich will nach hause! Du scheinst nicht so wahnsinnig zu sein wie man auf den ersten Blick glaubt, bitte hilft mir, hier rauszukommen. Ich... ich werde dich bezahlen und keinem Menschen je etwas erzählen, ich werde alles was ich gesehen habe mit ins Grab nehmen, aber bitte hilf mir!“
 

Wie konnte ich nur so ein Egoist sein. Wie konnte ich meine Bedürfnisse vor ihren stillen wollen? Aus ihrer Sicht war ich hier der Böse- sie war das Opfer, nicht andersherum.

Auch aus meiner Sicht sollte das so sein. Es war so. Mit meiner Auffassung belog ich nur mich selbst, spielte mir falsche Tatsachen vor, versuchte, die Schuld der Situation auf sie zu schieben, sie für alles Verantwortlich zu machen.

Das war so falsch...

Stark presste ich die Zähne aufeinander, schluckte das Gift hinunter, sann mich an die Gedanken zurück, die mir eben durch den Kopf gegangen waren. So ähnlich musste sich ein Geistesblitz anfühlen, ich hatte es so oft gelesen, doch nie selbst die Erfahrung gemacht. Das braune Augenpaar schimmerte tränennass und ich sah etwas anderes, fremdes, neues in ihnen.

Hoffnung. Das Mädchen hatte noch Hoffnung.

Die Hoffnung stirbt zuletzt. Wie wahr. Die Hoffnung würde das letzte in ihrem Leben sein, oder die Angst. Eines von beiden würde überragen.
 

Zu viel konnte ich nicht erwidern, meine Lungen brannten, ich sprach leise, schnell.

„Du kannst hier nicht weg.“ Dann war ich doch gezwungen zu Atmen, schnell nahm ich einen Zug durch den Mund, selbst die Luft schmeckte schmerzhaft süß.
 

„Ich weiß, du bist verwirrt. Aber ich werde dir etwas sagen und das solltest du gut in Erinnerung behalten, wenn du überleben willst: Sei so leise wie du nur sein kannst, provoziere Niemanden, absolut niemanden! Und sprich keinen Fremden an. Noch dürfen sie dir nichts tun, aber sie werden sofort einschreiten, wenn du respektlos bist, oder...“
 

„... oder was? Wenn ich mich, im Gegensatz zu eurer Sekte, menschlich benehme? Warum bringst du es nicht einfach hier und jetzt zu ende und erspart uns beiden alles, was noch bevorsteht?!“
 

Sie schwieg, ich verarbeitete ihre Worte.

Weil ich, wenn ich es doch tue, selbst bestraft werde.

Weil ich nicht das Monster sein will, für das du mich hältst.

Weil ich dich in Wirklichkeit gar nicht töten will.
 

Genau, ich wollte ihr helfen, begriff ich. Helfen, wie es zu mir passte, da sein, wie ich es für jeden in der Not sein würde. Ich wollte ich sein. Aber das war einfacher gesagt als getan. Diese Zeiten lagen so lange zurück.
 

„Das ist verflucht noch mal gegen jedes Recht! Glaubst du, ihr könnt eure abartigen Neigungen für immer hier ausleben?! Nach mir wird jemand kommen, der das alles hier aufdeckt und dann werdet ihr alle verhaftet. Wenn du mir nicht sofort sagst, warum ich hier bin und was hier los ist, werde ich schreien, das schwör ich dir! Ob ich hier vor mich hin vegetiere, von dir oder von anderen Wahnsinnigen da draußen getötet werde spielt auch keine Rolle mehr. Du hast gesagt ich darf nicht raus, und ich bin mir sicher, dass ich hier, wenn überhaupt, niemals lebend rauskommen werde.“
 

Am liebsten hätte ich ihr gesagt, wie sehr ich sie gerade bewunderte, sie fragen, woher sie den Mut und diese Ausdauer her nahm. Und ich wollte sie anschreien, sie auslachen, weil sie so dumm war und tatsächlich noch immer davon ausging, es mit Menschen zu tun zu haben.

Es entging mir nicht, dass sie mich die ganze Zeit über musterte und beobachtete, verängstigt und dennoch seltsam tapfer.

Nochmals war ich gezwungen, den Blick abzuwenden, ihre braunen, nach Verständnis flehenden Augen halfen mir nicht gerade, einen kühlen Kopf zu bewahren.

Ich seufzte.

„Ich würde dich sofort befreien, wenn ich könnte...“ meine Stimme war zu leise, um gehört zu werden.

Etwas lauter fügte ich hinzu: „Leg dich wieder hin, du brauchst ruhe,“ und begab mich rasch wieder an meinen Platz zurück.
 

Und ja, sie hörte auf mich. Sie tapste mühevoll auf das Lacken, ließ sich darauf fallen und krümmte sich in Fötusposition. Kaum hatte sie den Kopf auf das Kissen gelegt, nickte sie weg.
 

Nach drei Stunden stand ich auf, lief in die erste Etage und nahm eines der Öllaternen, welche überflüssigerweise die Wände hier oben beleuchteten. Zwei Stockwerke tiefer gab es jemanden, der es dringender benötigte als alle hier zusammen. Wenn ich schon dabei war, unten für Licht zu sorgen, dann musste ich auch Rücksicht auf ihre schwachen Augen nehmen. Mit zwei Laternen in der rechten und einen in der linken Hand machte ich mich wieder auf nach Unten und warf dabei Heidi, der ich im zweiten Stock begegnete und die mich belustigt musterte, finstere Blicke zu.
 

Als ich den Raum betrat, schlummerte sie noch in einem tiefen Albtraum. Geräuschlos legte ich die drei Laternen im Halbkreis neben das Lacken, dadurch würde sie sich vielleicht, wenn sie aufwachte, etwas besser fühlen. Ich nahm mir die Freiheit, einen genaueren Blick auf ihre Hand zu werfen. Sachte streckte ich ihren linken Arm etwas zu mir, tastete die schmalen, kleinen und äußerst weichen Finger nach, die beinahe dieselbe Temperatur hatten wie meine. Der kleine Finger war gebrochen, der daneben schien verstaucht. Die starken Schmerzen musste inzwischen abgeklungen sein, oder aber sie waren einfach von der Angst übermannt worden. Ich riss etwas von meinem Mantel ab, es war harter, gefilzter Stoff, das etwas Halt bieten würde, bis ich etwas richtiges besorgt hatte. Es gelang mir nicht, die Finger optimal zu positionieren, aber der Stoff sorgte vorerst für Abhilfe. Nachdem ich noch ein Stück meines Hemdes entnommen und um ihre Hand gebunden hatte, damit der härtere Stoff nicht abfiel, richtete ich mich auf und lief seufzend zur Türe. Gerade als ich hinaustreten wollte, hörte ich sie murmeln, stöhnen, sie wachte endlich auf.
 

Nach vier Minuten und zwanzig Sekunden, in denen sie sich kaum geregt hatte, bemerkte ich, dass meine Hand noch immer am Türgriff war und löste sie. Ich hörte, wie sie beginnen wollte, sich aufzurichten.

„Beweg dich nicht, du musst dich schonen.“
 

Natürlich hatte ich geglaubt, dass sie nicht mehr so überrascht reagieren würde, mittlerweile hatte sie mich über drei mal hier gesehen, nachdem sie aufgewacht war. Verwirrt rieb ich mir die Stirn, versuchte nachzuvollziehen, was in ihren verschlüsselten Gedanken vor sich ging, doch Spekulieren brachte mich keinen Schritt weiter.
 

Ich bekam keine Antwort, kein Weinen, keinen beschleunigten Herzschlag zu hören. Aus meiner Stelle aus sah ich, wie sie sich ein paar Mal den Kopf und die Augen rieb, während sie ihre Zähne fest zusammenpresste. Als ihre Hände von einem Moment auf den anderen unnatürlich erschlafften und zur Seite fielen, begab ich mich zu ihr. Sie schien nicht eingeschlafen zu sein, etwas anderes musste sie in die Bewusstlosigkeit gezogen haben. Obwohl ich mir sicher war, dass sie schlief, zuckten ihre Lider, alle fünf bis sechs Sekunden nahm ihr Körper einen tiefen, aber brüchigen Atemzug.
 

Ich schloss die Augen, musste mich zusammenreisen. Etwas war definitiv nicht in Ordnung mit ihr, ihr Zustand um einiges schlimmer, als ich bislang angenommen hatte. Rasch ging ich Augenblicke durch, die sie seit ihrer Ankunft hier erlebt haben musste und zuckte bei einigen Erinnerungen leicht zusammen. Das Mädchen hatte nicht nur ein traumatisches Erlebnis hinter sich, sie war auch verletzt worden, auch wenn man keine direkten Wunden sehen konnte, so vermutete ich innere Verletzungen, die um einiges schlimmer sein konnten. Angespannt überlegte ich, welche Maßnahmen deswegen unternommen werden mussten. Sterben lassen konnte ich sie nicht, nicht auf diese Weise, nicht schon jetzt. Ein Krankenhaus kam natürlich auch nicht in Frage, mittlerweile glaubte die Außenwelt, sie wäre in den Flammen ihres Reisebusses, der auf der Autobahn einen Unfall gehabt hatte, ums leben gekommen.

Medizin, sie brauchte die richtige Medizin. Sie brauchte einen Arzt.
 

Instinktiv griff ich an meine Hosentasche, erstarrte noch in der Bewegung, meine Hand kam Millimeter über meiner Jeans zum halt. Schon lange trug ich kein Mobiltelefon mit mir herum, hatte es in eine Schublade gesteckt und seitdem nicht einmal benutzt. Aus Gewohnheit, vielleicht auch einer Art Sehnsucht hatte ich das Handy nehmen wollen, hatte den einzigen Vampir anrufen wollen, der als Arzt in Frage kam.

Bitter lachte ich auf.

Was für eine billige Ausrede. Du suchst doch nur nach einem Grund, anzurufen, weil du dich sonst nicht traust.

Meine Situation war nicht zum lachen, ich tat es aber trotzdem. Ich konnte noch nicht einmal sagen, ob Carlisle mir helfen würde. Wahrscheinlich würde sein Mitgefühl dafür sorgen, dass er kam, denn mit Sicherheit würde er das Mädchen nicht im Stich lassen, wenn er von ihrem Zustand erfuhr. Wegen mir würde niemand kommen und was war auch gut so. Schließlich hatte ich es so gewollt.
 

Lange und ausführlich betastete ich ihre angeschwollene Stirn, ihren Hinterkopf, schob ihre Augenlider, um mir einen Eindruck zu verschaffen. Ich musste sie soweit wieder Gesund bekommen, sie irgendwie am leben erhalten.

Nach einer Stunde stieg ihre Körpertemperatur um beinahe ein Grad, ich rollte ihren Körper zur Seite, als sie ernstzunehmende Schwierigkeiten bekam, in der Rückenlage zu atmen. Ich vermutete stark, dass sie erstickt wäre, wenn ich mich nicht in ihrer Nähe befunden hätte, um ihr zu helfen.

Das Fieber nahm zu, ihre Pulszahl sank.
 

Es ließ sich nicht länger verleugnen, ich wurde nervös. Verdammt nervös. Ich wurde panisch. Und eines war sicher, dieses Gefühl hatte mich seit Jahren nicht mehr heimgesucht. Mein Körper fühlte sich gelähmt an, alles stand seltsam unter Strom. Glücklicherweise konnte sich mein Verstand von solchen Dingen nicht beeinflussen lassen. Ein rascher Blick auf ihre Armbanduhr verriet mir, es war kurz vor Mittag. Ehe ich alles, was ich unternehmen konnte, in Gedanken durchdacht hatte, sprang ich auf und eilte zur Türe. Viel Zeit blieb mir nicht, eigentlich hatte ich gar keine Zeit.
 

Den Umhang zog ich aus und legte ihn beiseite, glücklicherweise hatte ich noch die Alltagskleidung an, die ich sonst so selten Anzog, denn es hätte zusätzlich Zeit gekostet, sich noch umzuziehen, und Zeit hatte ich nicht.
 

Innerhalb einer Minute war ich auf dem Marktplatz, reiste mich zusammen, um nicht über die Straßen zu rennen. Es war ein bewölkter, kühler Tag.

Dem Mädchen würde schon nichts passieren, während ich in der Apotheke endlich die Dinge kaufte, die ich schon viel eher hätte besorgen müssen.

Der Apotheker war ein alter, grauhaariger Mann, er erschrak aus einem leichten Mittagsschlaf, als ich die Türe mit zu viel Kraft aufriss. Ich hatte mich definitiv nicht mehr richtig unter Kontrolle.
 

„Ich brauche jeweils eine Packung Efferalgan und Voltaren.“
 

„Einen Augenblick.“

Du liebe Zeit, sieht der in Eile aus! Die Jugend heutzutage. Und dann auch noch so unhöflich. Ich lasse ihn warten, in seinem Altern muss er lernen, sich in Geduld zu üben.
 

„Beeilen sie sich, ich habe nicht viel Zeit.“
 

Ich verdrehte die Augen, als sich der alte Mann langsam umdrehte und in die hinteren Reihen schlenderte, um nach den gewünschten Medikamenten zu schauen. Währenddessen griff ich nach zwei Packungen Arnika Salbe, Vaseline, große und kleine Pflaster, Gips- und Mullbinden, die auf den Regalen zu Kauf ausgelegt waren.

Nach siebenundachtzig Sekunden kehrte der Apotheker mit der gewünschten Medizin zurück, stellte es neben der Salbe und Binde, die ich an die Kasse gelegt hatte.

„Kann es sonst noch was sein?“
 

„Geben sie mir noch eine Tube von diesem Dessinfiktionsspray. Führen sie Valoron?“ fragte ich, etwas bedächtiger und überlegte, dass ich darauf nicht verzichten konnte, wenn ihre Schmerzen schlimmer wurden. Ihr ging es jetzt schon so schlecht, dass ich bezweifelte, mit den schwachen Schmerzmitteln irgendetwas zu erreichen. Ich brauchte wirklich medizinische Unterstützung.
 

„Haben sie ein Rezept? Das ist verschreibungspflichtig, ich kann Ihnen leider nichts ohne eine ärztliche Verordnung geben.“

Was für eine Unverschämtheit. Für wen hält der sich! Seit vierzig Jahren schon übe ich diesen Beruf hier aus und nie hat mir jemand ein Handel angeboten. Es reicht, wenn die Kinder die Taschentücher und Süßigkeiten mitgehen lassen, aber so was...
 

„Ich habe Geld. Die 50-4 Milligramm Retardtabletten reichen aus.“
 

Das gute an kleinen Städten und engstirnigen Menschen war, dass sie leicht zu bestechen waren. Gewisse Dinge ändern sich nie, ganz egal wo auf der Welt du dich befindest. In so einer Gegend fragt niemand nach, nichts wird kontrolliert oder steht unter Beobachtung. Außer von den Volturi, und ich zählte mich zu ihnen, also war ich eines der Aufseher.

Jetzt hatte ich jemanden, um den ich mich kümmern musste.
 

Vierzig Sekunden brauchte ich, um den alten Mann zu überreden, als er die Hunderter in meinen Händen sah, die ich ihm anbot, gab er sich schließlich geschlagen. Auf solche Mittel hätte ich nicht zurückgreifen brauchen, schließlich konnte ich nachts, wenn die Geschäfte geschlossen hatten, unbemerkt eindringen und mir das nehmen, was ich wollte. Das, was ich wollte, bekam ich immer. So oder so.

Schnell ging ich noch in den Supermarkt, besorgte mir einen Plastikeimer und noch eine Flasche Wasser, das nicht gekühlt war, dann eilte ich genauso schnell wie ich gekommen war auch wieder hinaus.
 

Die Realität holte mich ein, sobald die wirren Gedanken und Geräusche der Menschen außer Hörweite kamen und ich die vertrauten Gänge betrat. Eilig sprintete ich in den dritten Untergeschoss, vergaß alles um mich herum. In diesem Augenblick wollte ich nichts mehr, als sie noch am lebe zu sehen.

Sieben Meter vor der schweren Türe hörte ich ihren Herzschlag, das regelmäßige, lebendige Klopfen und eine Tonnenschwere Last fiel von meinem Körper. Natürlich war sie deswegen nicht in Sicherheit, im Gegenteil, die Gefahr war wieder bei ihr. Doch ich würde ihr nichts tun, nicht mehr. Nie würde ich mir so einen Fehler verzeihen können. Sie konnte mich noch so sehr reizen und quälen mit ihrem Blut, mir würde sich ein Weg zeigen.
 

Sofort ging ich in den Raum, verriegelte die Türe hinter mir, dann wandte ich mich an das Mädchen. Sie zitterte am ganzen Körper und Schwitze, trotzdem war ihre Haut eiskalt.

Nervös kniete ich mich zu ihr, betrachtete ihre nachlässig eingewickelten verletzten Finger und öffnete noch im selben Augenblick die Salbe und die Mullbinden. Der Bruch, so winzig er auch war, bereitete mir ungeahnte Schwierigkeiten. Zum einen musste ich darauf achten, den kleinen, weichen Finger nicht zu zerdrücken, zum anderen musste ich den Knochen in die geeignete Lage bringen und dafür sorgen, dass er nicht verrutschte. Ich rieb beide Finger leicht mit Vaseline ein, damit der Gips nicht zu fest klebte. Den Eimer füllte ich mit dem stillen Wasser, riss die Gipsstreifen zu dünnen Streifen auseinander und tauchte sie in die Flüssigkeit. Ich ließ es abtropfen und wickelte es vorsichtig um den kleinen Finger, nach drei Schichten war es endlich stabil genug.

Anschließend rieb ich den anderen Finger mit der Salbe ein, wickelte alle beide mit der Mullbinde fest.

Dann betrachtete ich mein Werk. Es sah in Ordnung aus. Es musste halten, vor allem musste es helfen.
 

Als ich wieder in ihr Gesicht blickte, erstarrte ich. Sie war wach und starrte mich ausdruckslos an. Fünfundzwanzig Sekunden regte sie sich nicht, blinzelte jede zweite Sekunde. Schließlich schloss sie die halb geöffneten Augen. Unsicher darüber, was in ihr vorging und weshalb sie so still war, beschloss ich, langsam und so sanft wie möglich zu sprechen.

Sie hatte noch immer Fieber und ich wollte sie dazu bringen, die Tablette einzunehmen. Deshalb fragte ich das Wichtigste, das, was jetzt an höchster Priorität war.
 

„Hast du schmerzen?“
 

Die tiefbraunen Augen öffneten sich, sie seufzte ganz leise und deutete ein kraftloses Nicken an.
 

„Wo?“ fragte ich weiter, beruhigt, dass sie wenigstens mit mir sprach und keiner weiteren Panikattacke ausgesetzt war. Mit ihrer Antwort zögerte sie, ich konnte nicht einmal ahnen, woran sie dachte, ihr Ausdruck war einfach nur leer. Dann kniff sie die Augen leicht zusammen und verzog das Gesicht, zog schleppend die Knie an ihren Körper.
 

„Überall.“ Antwortete sie hauchdünn und weinerlich.
 

Ich öffnete eine der neuen Wasserflaschen, nahm mit der anderen ein Schmerzmittel und hielt ihr beides entgegen.

„Das wird helfen. Es ist nur Efferalgan.“
 

Sie starrte auf die kleine Tablette in meiner Handfläche, dann zu mir. Ein fragender Ausdruck lag auf ihrem Gesicht. Ich konnte mich selbst für meine Unwissenheit ohrfeigen. Eine Bezeichnung, die in den USA gängig war, würde sie verstehen.

„Es ist dasselbe wie Tylenol.“ Erklärte ich, sie nickte zögern.
 

Langsam streckte sie ihre verletzte Hand aus und zuckte zusammen, als sie mit den Fingern zuckte.

„Der kleine Finger ist angebrochen, ich habe ihn eingegipst. Die Schmerzen werden bald nachlassen. Hier, nimm.“
 

Sie machte nicht mehr den trotzigen, starrsinnigen Eindruck, sie wirkte ruhiger, kränklicher. Das war gut und schlecht zugleich. Doch so, wie sie jetzt war, würde sie uns beiden das leben leichter machen. Ich führte die Tablette an ihren Mund, sie öffnete zögernd die Lippen, sie sah so müde aus, als würde sie jeden Augenblick wegtreten. Ich hatte recht, ihre Augen fielen zu, sie war kurz vor dem Einschlafen und nichts, nicht einmal meine Anwesenheit schien sie davon abhalten zu können.
 

„Trink, dann werden die Schmerzen aufhören.“

Sie antwortete mit einem murmeln und öffnete die Lippen, ich zerdrückte die Tablette mit zwei Fingern und sorgte dafür, dass sie es mit einem Schluck Wasser schluckte.
 

Starr vor Schock lehnte ich mich anschließend zurück, sie war eingeschlafen und ich hatte ihr tatsächlich Medizin geben. Ich hatte Wunden behandelt und mit ihr gesprochen, ohne einen Anfall zu kriegen. Das war ein riesiger Fortschritt. Vor vierzig Stunden noch hatte ich so etwas für unmöglich gehalten.

Etwa eine Stunde blieb ich noch an ihrer Seite, das Fieber sank glücklicherweise. Teilnahmslos schaute ich mich in dem trostlosen, leeren Raum um, mein Blick fiel auf den Umhang, den ich neben die Türe geschmissen hatte und mir kam ein Einfall. Sofort sprang ich auf, lief hin, hob es auf. Es war eiskalt, so kalt wie ich und ein dicker, fester Stoff.

Das würde sie, so hoffte ich, warm halten.
 

Irgendwie schaffte ich es, sie unversehrt in meinen Umhang hineinzubekommen. Es war um Längen zu groß, und sie zuckte mehrmals zusammen, wahrscheinlich wegen der Kälte. Ich machte mir nicht die Umstände, ihre Arme in den Mantel zu legen, sondern ließ sie so schlafen, wie sie wollte, knöpfte aber den größten Teil zu, damit sich Wärme darin sammelte.

Als ich sicher war, dass sie soweit außer Lebensgefahr war, verließ ich den Raum.
 

Auf dem Flur nahm ich erst einmal tiefe, entspannende Atemzüge und genoss die Luft, die mir keine Schmerzen verursachte. Nach ein paar Minuten beschloss ich, nach oben zu gehen, mittlerweile musste Aro sein kleines Problem gelöst haben.
 

„Edward.“ sagte Alec sogleich, ich hatte gerade die letzte Treppenstufe betreten. Er stand vor dem Tor, hielt seine Zwillingsschwester an der Hand. Ich seufzte hörbar laut, mit ihm, so sehr mich seine Art auch missfiel, konnte ich es aushalten, doch sobald Jane ins Spiel kam, wurde ich nervös. Bislang hatte ich das Glück gehabt, keine Bekanntschaft mit ihren Teufelsaugen zu machen und obwohl ich mir sicher war, dass sie nie einen Grund haben würde, mir diese Erfahrung zu geben, fühlte ich mich in ihrer Anwesenheit nicht wohl. Vor einigen Jahren hatte sie eine gute Freundin, eine Schwester damit belästigt und seither hatte ich eine natürliche Abneigung gegen sie.
 

Heidi stand noch immer an ihrem Platz, sah gelangweilt aus. Normalerweise fand man Demetri um sie herum, wenn sie da war, veränderte sich seine Stimmung, seine Gedanken zeigten Dinge, die ich nicht sehen wollte. Demetri wiederum hatte eine Abneigung gegen mich, weil ich, laut ihm, das Problem zwischen ihm und seinem Liebesabenteuer war.
 

Ob das Miststück noch lebt? Ich hoffe doch. Ich werde ihr noch zeigen was es heißt, sich zu widersetzen. Meister Aro begeht einen Fehler, wenn er sie am leben lässt. Bei der nächsten Gelegenheit lasse ich sie ordentlich bluten. Er wird schon nicht böse auf mich sein... Außerdem habe ich gesehen, dass Edward eine Schwäche für sie hat. Sobald ich sie verletzte, wird er sie anfallen.., das wird amüsant.
 

„Allerdings.“ Erwiderte ich auf Janes Gedanken und schaute finster zu ihr, sie wusste sofort, dass ich ihre Gedanken belauscht hatte und schnaubte, Alec musterte mich unzufrieden.

Ohne ein weiteres Wort zu verschwenden öffnete ich eine Seite des Tors und trat in den Hauptsaal. Aro stand nicht weit Weg, er schien mich erwartet zu haben. Ich nickte als Begrüßung, seine Gedanken vermittelten mir innerhalb weniger Sekunden alles, was ich wissen wollte.
 

„Bist du dir auch wirklich ganz sicher?“ fragte ich schließlich, nachdem ich ihm meine Bedenken mitgeteilt hatte. Aro freute sich nicht über ihren gesundheitlichen Zustand, er machte sie sorgen, dass sie sich eine ernsthafte Verletzung zugezogen haben könnte. Ich versicherte ihm, dass es ihr soweit wieder gut ging, dass sie stabil war und wegen den Zwischenfällen nicht mehr in Lebensgefahr schwebte. Nur erschöpft war sie, verletzt und entkräftet. Außerdem, und das beschäftigte mich im Augenblick am Meisten, fragte ich ihn, wie er sich die nächsten Monate vorstellte, wie ich es bewerkstelligen sollte, sie unversehrt zu behalten, wo es hier so viele gab, die gegen diesen... Einfall waren. Es war mehr ein Projekt als ein Einfall.
 

„Kannst du dir denn vorstellen, konsequent durchzuhalten? Sie macht es dir nicht leicht. Du kannst es an ihr rauslassen, wenn sie eine von uns ist.“
 

Ich lachte bitter. Natürlich konnte ich es mir nicht vorstellen, noch länger an ihrer Seite zu sein und ihr zu... helfen, oder was auch immer ich tat. Aus ihrer Sicht war ich wahrscheinlich der Böse. Auch konnte ich sie mir nicht als das vorstellen, was sie womöglich, wenn alles gut lief, werden würde. Das Bild des zerbrechlichen Menschenmädchen hatte sich in mich eingebrannt. Als Neugeborene wäre sie so stark, so unberechenbar. Und ich wollte mir nicht vorstellen was wäre, wenn sie auf mich losgehen und mir das, was ich ihr angetan hatte, heimzahlen würde. Doch der Gedanke, sie so stark und mächtig zu sehen brachte mich zum lächeln. Alles wäre so viel einfacher, wenn Aro nicht so kompliziert und erwartungsvoll wäre.
 

Bei den Worten, die ich spontan für ihn gewählt hatte, lachte er auf und klopfte mir auf die Schulter. Ich seufzte, denn wir beide wussten, dass ich dabei war. Von Anfang an war ich dabei gewesen, selbst dann, als ich noch nach einem Weg gesucht hatte, sie zu töten. Ich realisierte, dass ich mir ihren Tod nicht mehr wünschte, und falls es passierte, wollte ich nicht derjenige sein, der es tat. Ich war mit der Bedingung beigetreten, nicht an dem, was die Volturi mit Menschen machten, teilzuhaben.

Das hier allerdings war eine ganz andere Situation. Es war das erste Mal in der Jahrtausendlangen Geschichte dieses Zirkels, das sie einen Menschen aufnahmen und diesen gezielt am leben ließen, ihm nicht nur ein falsches Versprechen gaben, eines Tages aufgenommen zu werden.
 

„Aro, wie lange willst du sie behalten? Es wird umständlich, sehr umständlich und problematisch. Ich möchte wissen, was auf mich zukommt, wie viel ich mit ihr machen darf, was erlaubt ist und was nicht.“
 

„Gewiss, gewiss. Ich werde sogleich alle zusammenrufen und sie auf die Situation aufmerksam machen. Wie schade, dass unsere kleine Freundin im Augenblick nicht in der Lage ist, mir Gesellschaft zu leisten, zu gerne würde ich ihre Meinung hören.“
 

„Ich bezweifle, dass wir ihr in den nächsten Wochen eine derartige Konfrontation zumuten können. Von den körperlichen Schäden abgesehen hat sie ein Trauma hinter sich, und das hat nichts mit der Gehirnerschütterung zu tun. Der Schock, der Moment, in dem sie alles versteht, wird sie wieder an den Anfang bringen. Ich würde einen zusätzlichen Monat einkalkulieren, bis sie, körperlich und seelisch wieder fit ist. Es könnte auch sein, dass sie überhaupt nicht mehr zur Besinnung findet. Falls das auftreten sollte, wirst du sie immer noch aufnehmen? Wenn du deinen Einfall nicht durchsetzen kannst, falls sie unzurechnungsfähig wird?“
 

„Edward, ich weiß, warum ich dich für diese Aufgabe gewählt habe! Du bist ein Wunder. Wenn man bedenkt, wie sehr du sie verabscheust, und dennoch bist du in der Lage, dich in sie hineinzuversetzen... in diesen Menschen. Du hast mehr von Carlisle, als du glauben magst. Nun, ich denke nicht, dass sie schnell zu sich selbst findet, Menschen sind einfach zu manipulieren, sie würden alles für die Unsterblichkeit tun. Du wirst sehen, dass sie bald mit mir einer Meinung sein wird. Doch wie du fragtest, wenn es zu ernst um ihre Gesundheit wird, werden wir sie vorzeitig verwandeln. Ein Talent ist ein Talent, mit oder ohne vorzeitige Entfaltung. Wenn nötig werden wir ihre Ausbildung in ihrem neuen Leben weiterführen. Allerdings möchte ich, dass du alles in deiner Macht stehende tust, um sie soweit am Leben zu erhalten.“
 

„Dann solltest du dafür sorgen, dass jeder hier gewissen Respekt aufbaut. Wenn du wirklich vorhast, sie zu einer von uns zu machen, muss die Garde sie jetzt akzeptieren und nicht nach ihrem Leben trachten. Ich werde sie von allen fernhalten, aber ich kann nicht immer an ihrer Seite sein und deshalb muss ich sicher gehen, dass niemand etwas leichtfertiges unternimmt, wenn sie allein ist.“
 

„Natürlich, niemand wird ihr zu nahe kommen, der solche Absichten trägt. Ist soweit alles geklärt?“
 

„Nein.“ Ich seufzte, denn das eigentliche Probleme begann gerade jetzt.

„Ich brauche eine passende Einrichtung für sie. Essen, Trinken, ein Bett, Licht, Wärme, Kleidung, die wiederum regelmäßig gereinigt werden muss. Eine Toilette, ein Bad. Wir haben im gesamten Schloss nichts ähnliches. Wenn sie in den nächsten Stunden aufwacht und austreten muss, kann ich sie nach draußen bringen, aber das ist keine Lösung auf Dauer.“
 

Er stutzte, erkannte mein Problem. „Ich wüsste einen Ort, der passt.“ Sagte er und stellte sich mein Zimmer vor. Betreten hatte er es nie, dennoch war ihm jedes Detail aus meinen Erinnerungen bestens bekannt. Erneut seufzte ich, heute schien ich das nicht abstellen zu können. Mein Zimmer war im zweiten Untergeschoss, abgeschieden, geschützt. Sie würde dort ihre Ruhe haben, ich nicht mehr.

Widersprechen konnte ich nicht, denn es gab tatsächlich keinen anderen Weg, um sie irgendwo halbwegs gut unterzubringen.

Ich hatte eine große Couch, einen Kleiderschrank, Schubladen, viele Bücher und sehr viel Musik. Sie würde schon überleben. Ich stellte mir vor, wie sie durch meine Bücher wühlte und meine Musiksammlung durcheinander brachte und zuckte zusammen. Der Gedanke gefiel mir nicht. Resignierend gab ich es auf, weiter darüber nachzudenken, jedes Problem zu seiner Zeit.
 

Aro lachte, als er, die Hand noch immer an meiner Schulter, meine Gedanken mitverfolgte.
 

„Gehst du wieder zu ihr?“ fragte er mit einem belustigten Schimmer in den Augen und wusste die Antwort natürlich schon bevor ich sie ausgesprochen hatte.
 

„Ich werde mitkommen.“
 

Es war ein schneller, flotter Weg bis zu dem Raum, in dem sie lag. Mir war nicht wohl dabei, jemanden an ihrer Seite zu sehen, obwohl Aro wohl der Sicherste hier in der gesamten Burg war. Er hatte sich soviel besser im Griff als ich.
 

„Wie fühlst du dich?“ fragte er, als wir neben der Türe zum stehen kamen, ich zog sie hinter mir zu, wollte nicht, dass ihr Duft in den Gängen hing.

Auf seine Frage hin verzog ich das Gesicht, ihr Blut brannte nach wie vor in meiner Kehle. Aro beobachtete mich aufmerksam, dann schaute er auf das schlafende Mädchen. Sie atmete regelmäßig, hatte sich ganz in meinem Mantel eingewickelt, ihr Gesicht war größtenteils im Kragen versteckt, nur ihre Stirn, die ein dunkles blau angenommen hatte, lugte hervor. Später, wenn ich allein mit ihr war, würde ich es verarzten müssen.
 

„Ich habe mich unter Kontrolle, denke ich.“
 

„Bemerkenswert. An deiner Stelle hätte ich sie genommen. Du weißt, dass du nicht zur Rechenschaft gezogen werden wirst?“
 

Ich hob eine Augenbraue, starrte ihn ungläubig an. Er lächelte, seine Gedanken zeigten keinen Hinterhalt.

„Du kannst sie hier und jetzt haben, wenn du möchtest. Ich weiß, wie quälend das sein kann. Als mir das passierte, habe ich keine Sekunde gezögert. Jeder Tropfen war es wert.“
 

Hätte er vor ein paar Stunden die Schranken für mich geöffnet, wäre ich ohne Zögern hindurchgegangen. Doch das ging jetzt nicht mehr, ich hatte mich entschieden. Meinen Entschluss zu ändern und das Leben dieses Menschen zu beenden würde mich nur mehr und mehr von mir entfernen, würde mich noch mehr zu dem Monster machen, das ich nicht sein wollte.
 

Ich verneinte ohne Reue. Der körperliche Schmerz war nicht halb so schlimm wie die Gewissensbisse, die mir bevorstehen würden, wenn ich den falschen Weg wählte. Mir blieb keine andere Wahl, ich konnte nicht länger so tun, als wäre ich jemand anderes, als würde mir dieses Leben nichts bedeuten. Und Aro wusste das, er war unverbesserlich, wusste mehr über mich als ich selbst tat, er hatte all seine Leute im Griff, mich eingeschlossen.

Deshalb musste ich mich um dieses Mädchen kümmern, nicht nur weil ich geübt war im Umgang mit Menschen, sondern auch, weil sie mir etwas bedeuteten, weil ich ihr Leben schätze, bewunderte, sie darum beneidete. Weil ich sie nicht als Futter, sondern als ein besseres, beneidenswertes Wesen ansah. Weil ich, verdammt noch mal, tief im inneren ein Cullen war, und wir Cullens waren anders.
 

„Tu was du nicht lassen kannst, ich will sie nicht mehr in Lebensgefahr. Komm, sobald sie geheilt ist. Bis dahin kannst du mit ihr machen, was du willst, aber behalte sie die meiste Zeit in der Burg oder Umgebung. Sie soll sich an uns gewöhnen.“

Er lachte und ich verzog das Gesicht, denn das, was er da eben gesagt hatte, war pure Unvernunft und er wusste das. Nie würde sie sich an so etwas wie uns gewöhnen, dafür waren wir zu verschieden. Menschen waren anpassungsfähig, fügsam, manipulierbar, aber vor allem waren sie leicht zu brechen. Ihre Entschlossenheit hielt nie lange an, man konnte sie mit den einfachsten Mitteln in den Abgrund treiben. Wahrscheinlich würde ich, indem ich sie an das Mahl im Saal erinnerte, an diesen Abgrund führen. Es war so lächerlich einfach. Mir stand eine schwierige Aufgabe bevor, mit allem was ich sagte musste ich äußerst vorsichtig sein.
 

Ich verbeugte mich leicht, als der Meister zur Tür schritt und ging, dann seufzte ich leise und begab mich wieder zu dem Mädchen. Nicht einmal ihren Namen wusste ich. Die nächsten Minuten verbrachte ich damit, mir zu überlegen, welchen Namen sie wohl hatte, welcher zu ihr passte.
 

Ich desinfizierte die dicke Stirn und rieb etwas von der Arnikasalbe auf meine Finger. Als ich die Wunde damit einreiben wollte und meine Hand zu ihr ausstreckte, öffnete sie langsam die Augen, wieder war ich gezwungen, in der Bewegung inne zu halten, da ich mir ihrer Reaktion nicht sicher war.

Sie schaute mich einfach nur leer an, blinzelte hin und wieder, doch da war kein erhöhter Herzschlag, kein Schrei, kein einziges Wort.

Zufrieden atmete ich aus, lächelte sie vorsichtig an, erneut zeigte sie keine Reaktion.
 

„Ich werde deine Stirn einkremen, damit die Schwellung zurückgeht. Erschrecke nicht.“

Sie seufzte leise, schloss die Augen. Unsicher führte ich meine Finger an die Stirn, tastete mich heran. Mit der ersten Berührung zuckte sie zusammen, sagte aber kein Wort. Ich versuchte, so sanft wie möglich zu sein, doch das war schwierig, denn wann ich zu viel Druck ausübte und wann nicht, ließ sich nicht genau sagen. Ich war aus der Übung. Vor einiger Zeit hätte mir das keine Probleme bereitet, mit verbundenen Augen hätte ich diese Aufgabe erfüllt.
 

„Wie ist dein Name?“ fragte ich sie schließlich, als ich meine Finger von der Wärme löste, langsam öffnete sie die Augen, starrte mich mit diesem undurchdringlichen Blick an.

„Dein Name, ich möchte nur deinen Namen wissen.“ Wiederholte ich, erhielt aber auch beim zweiten Mal keine Antwort.

Ich nahm die Flasche Wasser, rollte den Verschluss auf und hielt es ihr hin. Sie schüttelte den Kopf und versteckte ihr Gesicht in meinem Mantel, atmete laut ein und aus.
 

„Ich weiß ihn nicht.“ sagte sie nach einer Minute und ich hoffte, dass ich mich verhört hatte.
 

„Du... weiß deinen Namen nicht?“
 

„Kann mich nicht erinnern.“
 

„An was kannst du dich erinnern? Alter, Wohnort, irgendetwas.“

Ich konnte sehen, dass sie hinter dem Stoff den Kopf schüttelte. „Ich glaube, ich will mich nicht erinnern. Und es ist kalt.“
 

Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte. Offensichtlich hatte sie eine Gehirnerschütterung. Sie benahm sich so anders als zuvor. Ich beschloss, die Fragen zu verschieben, bis sie wieder genest war. Gerade als ich nach dem Sandwich in der Tüte greifen wollte, hörte ich sie murmeln, sie war kurz vor dem einschlafen.
 

„Bella... ich bin Bella...“ Nuschelte sie in den Mantel hinein, atmete tief, als könnte sie dadurch irgendwelche Nährstoffe aufnehmen.

Bella? Sie sagte, sie war schön? Dachte sie, sie wäre schön? War sie überhaupt schön? Und warum sagte sie so etwas unsinniges ausgerechnet in dieser Situation?

Ich schüttelte den Kopf und lächelte verwirrt. Definitiv eine Gehirnerschütterung.
 

Als der nächste Morgen über den Mauern anbrach, saß ich noch immer neben ihr, sie schlief weiterhin tief und fest. Es war merkwürdig, dass sie solange schlief, ich versuchte mich nicht zu sehr in ihre Situation hineinzudenken, eher überlegte ich mir, wie ich in Zukunft mit ihr umgehen konnte, ohne alles zu zerstören. Sie wachte noch zwei mal flüchtig auf, konnte mir aber nicht sagen, wie sie hieß. Ich erfuhr, dass sie aus Phoenix, Arizona kam. Daran konnte sie sich erinnern, das war ein kleiner Fortschritt. Ich selbst war noch nie in Phönix gewesen, es war nicht der passende Ort für mich, zu hell, zu viel Sonne, eine Gefahr für meine Existenz. Wir bevorzugten bewölkte, kalte, dunkle Natur, die uns Schutz bot, uns geheim hielt.
 

Auch dieser Tag neigte sich dem Ende zu, ich schaute öfter auf ihre Armbanduhr, als nötig war. Wahrscheinlich hatte ich in den vergangenen Stunden öfter auf den kleinen Display geschaut als in meinem gesamten bisherigen Dasein, doch ich wusste nicht, was ich mit meiner Zeit anfangen sollte. Vor vier Stunden und dreiundzwanzig Minuten war sie aufgewacht, ich hatte ihr, auf dieselbe Art wie zuvor, ein Schmerzmittel gegeben und sie hatte es kommentarlos eingenommen und war gleich darauf eingeschlafen.
 

Unschlüssig, welcher Schritt als nächstes getan werden musste, holte ich das Sandwich heraus, befreite es aus der Plastikverpackung. Es waren amerikanische Sandwiches, weiches Toastbrot, nicht die Baguette, die es jeden Tag frisch zu kaufen gab.
 

Der Geruch breitete sich sofort aus, oder mir kam es so vor, denn ich konnte fast jeden Geruch, und sei er noch so klein, wahrnehmen. Unsicher legte ich das Brot wieder in die geöffnete Plastikverpackung und legte es neben das Mädchen.
 

Nach etwa einer Stunde wachte sie wieder auf, reagierte aber anders. Der müde, dunkle Schein war aus ihren Augen gewichen, sie wirkte lebendig.

Vor ein paar Minuten hatte ich meine Position gewechselt, saß etwas weiter weg. Ich wollte mich zu ihr begeben, als sie sich auffällig bewegte. Die vergangenen Male, in denen sie aufgewacht war, hatte sie sich nicht einmal richtig bewegt, so als wäre sie in einer Trance, doch nun wirkte sie umso lebhafter.

Ich lehnte mich zufrieden wieder zurück, als sie das Brot voller Dankbarkeit bewunderte und schließlich einen großen Bissen nahm. Da sie viele Tage nichts gegessen hatte, wollte ich ihr sagen, es langsam angehen zu lassen, hielt mich aber zurück. Sie konnte ihren Zustand besser einschätzen als ich, außerdem würde sie wissen, was sie da tat. Nach drei Bissen ließ sie das Brot fallen, hustete kurz und ließ sich wieder auf das Kissen fallen. Sie begann zu schluchzen.
 

Ich setzte mich auf, ging zu ihr, nun war ich mir sicher, dass sie wieder zu sich gekommen war und sich bestens erinnern konnte. Endlich konnte ich mich mit einer nüchternen Person unterhalten, ihren Namen erfahren. Ich wusste nicht, wie sehr sie sich bewusst über die Dinge war, die in den letzten Tagen geschehen waren, ob sie sich an das Fieber und die kurzen Dialoge erinnern konnte oder nicht. Deshalb ging ich es langsam an, wollte nicht noch einmal den Fehler machen und zu aufdringlich sein.
 

„Du solltest essen, damit du wieder zu Kräften kommst.“
 

Sie hörte nicht auf zu schluchzen, rieb sich die Augen. Dass der dünne Stoff unter ihr unbequem war und sie deswegen wahrscheinlich Gelenkschmerzen hatte, die unnötig waren, war mir bewusst. Da alles andere bisher nicht funktioniert hatte, wollte ich dieses mal auf sie eingehen, sie fragen, was sie im Augenblick am meisten brauchte.
 

„Kann ich dir etwas anderes bringen? Ich werde morgen eine Matratze organisieren und eine Decke, es ist jetzt sehr spät und die Geschäfte haben geschlossen. Ich hätte mich schon früher darum gekümmert, aber ich wusste nicht, wie über dich entschieden wird.“

Ihre Augen huschten zu mir, ein fragender, teils auch erschrockener Ausdruck spiegelte sich in ihnen. Das beruhigte mich, endlich zeigte sie wieder eine Reaktion. Da begriff ich, dass sie keine Ahnung hatte, was ich mit der Entscheidung meinte, dass sie völlig Unwissend war.
 

„Du wirst ein paar Monate hier leben.“
 

„W- warum?“ fragte sie, wirkte erschrocken, als ich auf die geflüsterte Frage antwortete.
 

„Das erkläre ich dir, wenn es dir wieder besser geht. Du hast ein leichtes Schädel-Hirn Trauma, an dem höchstwahrscheinlich ich schuld bin.“
 

„Ein w- was?“ murmelte sie durch die brüchige Stimme und den Tränen hindurch.
 

„Eine Gehirnerschütterung. Das kann nach einem schweren Schlag auf den Kopf auftreffen. Ich bin sicher, dass es nicht sehr schlimm ist, aber von außen lässt sich das nicht feststellen. Die Beulen auf deinem Kopf deuten allerdings darauf hin. Du benötigst Zeit und Ruhe um dich zu erholen. Du bist die letzten Tage über mehrmals aufgewacht und hast merkwürdige Dinge gesagt, und höchstwahrscheinlich hast du auch wegen der Gehirnerschütterung das Bewusstsein mehrmals hintereinander verloren.“ Ich hoffte wirklich, dass sie mir glaubte und nicht ausrastete.
 

„Ich bin... aufgewacht?“ fragte sie ungläubig, bestätigte meine Vermutung, dass sie sich nicht erinnern konnte.

„... Wie lange bin ich denn schon... hier...?“
 

„Seit ich dir gesagt habe, du sollst dich hinlegen, exakt drei Tage. Seit drei Tagen warst du auch kein einziges mal richtig bei Bewusstsein.“
 

Dieses mal antwortete sie nicht, schlief jedoch auch nicht ein. Ich schaute sie an, hatte mich wieder an meinen Platz vor der Türe begeben, der Winkel, der nicht beleuchtet war und den sie nicht sehen konnte. Das Mädchen hatte die meiste Zeit über die Augen geschlossen oder den Blick auf die Laternen gerichtet.
 

Plötzlich begann sie zu weinen, das traf mich unvorbereitet.

„Ist es schlimm?“ schluchzte sie und im ersten Moment begriff ich nicht, was sie meinte, dann verstand ich, dass sie auf ihre Situation anspielte. Es verging etwas Zeit, bis mir etwas einfiel, von dem ich hoffte, dass es passend klang. Denn die Wahrheit war, dass es schlimm, sehr schlimm werden würde, aber das wollte ich ihr nicht schon jetzt sagen. Sie hatte sich Erholung, ruhe verdient, keinen weiteren Schock.
 

„Es kommt darauf an, wie man es sieht. Manche lieben es, andere hassen es. Du wirst herausfinden wie es für dich ist, wenn es soweit ist.“

Das war wahr. Die meisten unserer Art liebten dieses Dasein, die Ewigkeit, die sie in den Händen hielten.
 

„Ich werde... nicht sterben?“ fragte sie mit einem Hauch Hoffnung in der hohen, weichen Stimme.
 

Ich seufzte, denn jetzt musste sie die Wahrheit erfahren, auch wenn das, was ich sagte, alles andere als logisch klang.
 

„Um ewig zu leben wirst du sterben müssen.“
 

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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von: abgemeldet
2010-04-10T22:31:34+00:00 11.04.2010 00:31
Hallöle! :D

Ich liiiebe deine Storys! *.*
Dein Schreibstil ist einfach total toll!

Mach bitte schnell weiter! *.*
Von: abgemeldet
2010-03-21T14:40:14+00:00 21.03.2010 15:40
hey...

ich bin echt ein riesiger fan von deinen storys.
hoffe du schreibst an dieser bald weiter..

hast echt ein talent fürs schreiben, es würde mich nicht wundern wenn du mal ein buch rausbringen würdest...ich würde es sofort lesen...

mach weiter so und hoffe auh bald mit dieser story...

vg
Von:  Renesmee-Bella
2009-11-24T12:17:05+00:00 24.11.2009 13:17
Wow echt ein super Kapitel!
Ich frage mich, warum Edward nicht mehr bei den Cullens ist.
Bin schon gespannt wie es weiter geht.

cu R.-Bella
Von:  Kyokoleinchen
2009-11-19T20:42:49+00:00 19.11.2009 21:42
Hi ^^
Hab grad deine Story gelesen und muss sagen
SUPERHAMMERGEILOMATIKO ^________________________________________________^
(volldasfettegrinsenimgesichthab)
Freu mich schon wie es weiter geht ^^
Bis dahin GVLG
Kyokoleinchen


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