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Das Kaisersiegel

von

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2. Die Weihe

Das leicht ängstliche Verhalten der Anwesenbewohner legte sich schon nach kurzer Zeit wieder, dennoch waren alle besorgt um ihre junge Herrin, die wie ein eifriger Lehrling der Hausdame nicht von der Seite wich und sich von ihr in die Aufgaben einer angehenden Hausdame einweisen ließ. Liliana war stets als erste morgens in der Küche und bereitete mit der gütigen Köchin alles vor, bevor die „Ausbilderin“ zu ihnen stieß und gemeinsam mit allen anderen Bewohnern das Frühstück einnahm, bevor alle ihren Arbeiten nachgingen.

Ein gutes halbes Jahr war mittlerweile ins Land gezogen, in der Liliana es nicht gewagt hatte, in den Keller zu gehen und die Bibliothek oder gar das Tor aufzusuchen. Sie konnte stets die Anwesenheit des Schattens spüren, der allen Anwesenden des Hauses zu jeder Tages- und Nachtzeit folgte. Niemand wagte es mehr, den Titel des Wächters auch nur in den Mund zu nehmen, geschweige denn über die große Bibliothek zu reden, obwohl diese eigentlich für alle frei verfügbar war.
 

Eines Abends, nachdem sie einen langen Arbeitstag hinter sich gebracht hatte, kehrte Liliana müde in ihr Zimmer zurück. Sie hatte sich bereits daran gewöhnt, dass ihre Freundin Selen ihr am Abend nur noch selten Gesellschaft leistete, denn diese hatte nun die Aufgabe übernommen, sich um die Kinder der Angestellten zu kümmern, wenn diese noch ihre Aufgaben versahen und die Kinder nicht mehr unterrichtet wurden.

Wie immer setzte sie sich in den Rahmen ihres Fensters und sah gedankenverloren nach draußen. Es war fast Sommer und das Tageslicht erhellte auch noch zu dieser späten Stunde den Horizont. Von ihrem Zimmer aus konnte Liliana in der Ferne den Zeremonienplatz sehen, auf dem ihr Vater verbrannt worden war. Um die Steine des Platzes waren wunderschöne Blumen gepflanzt worden, als Erinnerung an ihren Vater, der Blüten aller Art geliebt hatte.

Obwohl sich die Angestellten des Hauses denken konnten, wie schwer die Situation für ihre junge Herrin sein musste, ahnten sie nicht, wie groß Kummer und Sorge in Liliana wirklich waren, denn sie versuchte immer, den anderen durch ihr eigenes Verhalten Kraft und Mut zu spenden. Dennoch wurden ihre Sorgen immer größer, denn sie sah keine Lösung, wie sie den Schatten überlisten und zum Tor vorstoßen konnte, damit sich die unerträgliche Situation endlich ändern konnte. Schließlich war sie noch immer nicht geweiht worden und das Tor wartete sicher auch auf ihre Ansprache. Und sie war noch immer erpicht darauf, von diesem zu lernen. Aus diesem Grund wurde sie so langsam auch ungeduldig. Sie hatte sich im vergangenen halben Jahr in alles rund um den Haushalt gestürzt und das Wissen der Haushälterin und der Köchin in sich aufgesogen wie zuvor das Wissen ihres Vaters und der Bibliothek. Dennoch setzte es ihr zu, dass sie ihre eigentliche Aufgabe so sträflich vernachlässigen musste.
 

Mit einem leisen Seufzen drehte sie ihre Tasse in der Hand und schwenkte den Inhalt, dann sah sie wieder in den Garten. Und erstarrte mit einem Schlag. Trotz der immer größer werdenden Dunkelheit erkannte sie einen Schatten, der sich dem Zeremonienplatz näherte. Mit gebührendem Abstand blieb die große, komplett in schwarze Gewänder gekleidete Gestalt neben dem Platz stehen und senkte den Kopf. Diese Stellung hielt die Gestalt einige Minuten ein und Liliana konnte sich der Ahnung nicht verschließen, dass dieser Fremde gekommen war, um ihrem verstorbenen Vater die letzte Ehre zu erweisen, auch wenn der Zeitpunkt seines Todes schon einige Zeit zurücklag. Schließlich sank die schwarze Gestalt auf ein Knie nieder und bekundete so tiefen Respekt, bevor er scheinbar irgendetwas aus der Luft griff und schließlich auf die Steine des Platzes legte. In dem Moment, als er in die Luft griff, konnte Liliana Magie spüren, die anders war als die, die ihr Vater immer gewirkt hatte. Sie erkannte sie eindeutig als Magie der Dunklen, obwohl sie noch nie einen von ihnen ihre Magie hatte weben spüren und sehen. Sie sprang entsetzt von ihrem Platz auf, starrte aber weiterhin auf den Fremden im Garten. Dieser schien ihre Anwesenheit mittlerweile auch bemerkt zu haben, denn er hob seinen Kopf und stand auf. Auch wenn die Distanz zwischen ihnen recht groß war, kam es Liliana so vor, als würde er sie sehen. Dies bestätigte die Gestalt auch, als er mit einem Mal zur Begrüßung seine rechte Hand auf sein Herz legte und kurz vor ihr seinen Kopf neigte.

„Wer seid ihr?“, fragte Liliana leise, obwohl es eigentlich unlogisch war, dass er sie hören konnte. Dennoch hatte sie die Ahnung, dass er es konnte.

Er legte einen Finger an seine Lippen, obwohl man sein Gesicht durch eine weite Kapuze nicht erkennen konnte. Dann hob er seine Hand und zeichnete unsichtbare Zeichen vor sich in die Luft. Mit einem Mal schien die Luft um Liliana herum zu vibrieren und ein leises Kreischen erklang. Entsetzt drehte sich Liliana in die Richtung des Geräuschs um und sah, das einer der Schatten von ihrer Wand gezerrt wurde und von silbrig glänzenden Bannzeichen umringt war. Dann fiel der Schatten mit einem Mal in sich zusammen und verschwand.

Sofort spürte sie, wie sich die Luft um sie herum sich erwärmte und die ständige Gefahr, die sie seit dem Abschied von Lord Minan gespürt hatte, verschwunden war. Sie fuhr wieder zum Fenster herum und starrte wieder auf die Gestalt, die mittlerweile eine Tasche schulterte. Ohne ein Wort an sie zu wenden verneigte er sich noch einmal, dann sah sie entsetzt zu, wie sich mit einem Mal der silbrige Spiegel des Tors hinter der Gestalt bildete, durch die sie gleich trat und schließlich verschwand, ohne dass Liliana sie davon abhalten konnte. Entsetzt sah sie dabei zu, wie das Tor nach dem Verschwunden des geheimnisvollen Gastes in sich zusammenfiel.

Hinter Liliana wurde die Tür aufgerissen und Selen, wie auch die Haushälterin und der alte Kammerdiener ihres Vaters stürmten herein.

„Hast du diesen Schrei auch gehört, Lilly?“, fragte Selen entsetzt, erstarrte aber, als sie Tränen über das Gesicht ihrer Freundin rinnen sah. „Lilly, bei allen guten Geistern, was ist passiert?“, fragte sie ihre Freundin panisch und ergriff deren Schultern.

„Er war hier, Selen…“, stammelte Liliana nur entsetzt, weil sie mit einem Mal verstanden hatte, wer ihnen geholfen hatte.

„Wer, Liebes?“, fragte die Haushälterin besorgt.

„Er. Derjenige, der auch Vater im dunklen Reich geholfen hatte. Er hat den Schatten verjagt.“, erklärte Liliana verzweifelt. „Wieder konnten wir ihm nicht danken oder uns erkenntlich zeigen. Er ist nach seiner Hilfe einfach gegangen. Das kann nur er gewesen sein.“

Da jeder die alte Geschichte um den Helfer aus dem dunklen Reich kannte, schwiegen alle bedrückt.

„Geh am besten sofort zum Tor, Lilly. Vielleicht findest du dort Antwort auf deine Fragen. Und du musst immer noch geweiht werden.“, erinnerte die Haushälterin ihre junge Herrin energisch.

Diese nickte sofort ergeben, wischte ihre Tränen fort und sah die Anwesenden an. „Auf jeden Fall ist der dunkle Spion fort. Wir können jetzt so leben, wie es sein sollte. Und ich werde das Tor anflehen, dass es Lord Minan niemals mehr zu uns durchlässt.“, versprach sie den Anwesenden, dann verließ sie ihr Zimmer.
 

Im Keller näherte sie sich demütig der Tür zum Torraum. Sobald sie die Tür erblickte, erschien die goldene Türklinke und das Holz hüllte sich wieder in einen warmen Schimmer. Sie trat an die Tür heran, holte tief Luft, welches sie mit einem traurigen Seufzen entweichen ließ, dann drückte sie Klinke herunter und betrat den Raum. Behutsam schloss sie die Tür wieder hinter sich und sah die Stelen traurig an.

„Es tut mir leid, dass ich so lange nicht mehr zu dir kommen konnte, doch ich hatte Angst, mich zu verraten. Wir hatten einen Spion im Haus.“, erklärte sie dem Tor, noch bevor dieses sich aufgebaut hatte.

Sobald ihre Worte verklungen waren, erschien zwischen den Stelen der silberne Spiegel, den sie wenig zuvor in ihrem Garten hinter ihren Helfer gesehen hatte.

„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, kleine Wächterin. Auch ich trage eine gewisse Mitschuld an der unerträglichen Situation, die ihr in der nahen Vergangenheit hattet. Mir war entgangen, dass der Fürst einen aktiven, magischen Schatten bereits aus dem dunklen Reich mitgebracht hatte. Ich kann verstehen, wieso du diese notwendige Vorsicht hast walten lassen, Lilly.“

„Wäre unser geheimnisvoller Helfer nicht gewesen, dann würden wir immer noch wie gelähmt sein. Wie kam er hierher?“

„Ich habe ihn auf sein Bitten hin hierher gebracht. Er sagte mir, dass er erst vor kurzem vom Tod eures Vaters erfahren hatte. Und anscheinend hatte er im gleichen Zug auch vom Spion erfahren, denn er kam ins schwarze Schloss und bat mich, ihn sofort hierher zu bringen. Und da ich ihn erkannte und seine Absichten weiß, habe ich ihn bedenkenlos hergebracht.“, erklärte das Tor.

„Er war es, habe ich Recht? Derjenige, der auch Vater das Leben rettete.“, sprach Liliana ihre Mutmaßungen aus.

„Das ist richtig.“

„Wieso verschwand er gleich wieder? Wir schulden ihm so viel. Ich hätte ihm gern gedankt.“

„Ich weiß es nicht, doch er scheint sehr zurückhaltend zu sein. Anscheinend ist er ein loyaler Anhänger derjenigen, die auch heute noch zum Kaiser stehen, auch wenn diese sich sehr zurückhalten müssen.“

„Ist er zurückgekehrt?“, fragte Liliana leise und spielte schon mit dem Gedanken, ihrem Helfer zu folgen. Diesmal wollte sie ihm auf jeden Fall danken.

„Nein. Er bat um Asyl in der Welt des Lichts. Ich habe mir erlaubt, sie ihm zu gewähren. Ich befürchte, Lord Minan wird wissen, wer den Spion zerstört hat.“, mutmaßte das Tor.

„Wo befindet er sich jetzt? Ich möchte ihm nachreisen und danken. Wenigstens das schulde ich ihm.“

„Warte damit noch etwas. Ich bin mir ganz sicher, dass ihr euch in der Zukunft begegnen werdet. Aber zuerst gibt es andere Dinge, um die du dich kümmern solltest.“, wies das Tor sie zurecht.

Natürlich wusste Liliana das, deswegen senkte sie auch bekümmert ihren Kopf. „Ich weiß. Nur hoffte ich jetzt, ihn noch leicht zu finden. Je länger ich warte, desto mehr wird er sich von seinem Erscheinungsplatz in der Welt des Lichts entfernt haben. Wer weiß, ob ich ihn dann noch finden werde.“

Sie vermeinte ein leises Lachen zu hören. „Keine Sorge, dass wirst du. Du hast ein hervorragendes Gespür für alles, was mit den Dunklen zusammenhängt. Hast du dich denn noch nie gefragt, wieso du dich so sehr auf deine Instinkte verlassen kannst oder wieso du über eine so hervorragende Weit- und Nachtsicht verfügst?“

„Doch sicher, aber was hat das…“, fragte sie irritiert.

„Das liegt daran, dass du selbst eine halbe Dunkle bist, Lilly.“

Entsetzt starrte Liliana das Tor an. „Wie meinst du das?“

„Niemand außer mir weiß, wer deine Mutter in Wirklichkeit war und woher sie kam. Ich denke, du bist mittlerweile alt genug, um alles zu erfahren. Selbst dein Vater kannte dieses Geheimnis nicht.“

Lilianas Herz zog sich schmerzhaft zusammen. „Du sagtest „War“. Sie lebt nicht mehr?“, fragte sie kummervoll.

„Sie starb ein Jahr, nachdem sie dich verlassen hatte, Lilly. Wenn du erlaubst, werde ich dir von ihr erzählen.“

Der Kummer, den sie noch immer über den Verlust ihres Vaters verspürte, verstärkte sich augenblicklich. Sie hatte immer gehofft, dass sie eines Tages ihre Mutter finden und zur Rede stellen würde, warum sie sie verlassen hatte. Sie schluckte schwer, dann nickte sie. „Erzähl mir bitte von ihr.“, bat sie leise.

„Ich muss ein wenig ausschweifen, damit du die Zusammenhänge besser verstehst. Im Reich der Dunklen gibt es eine Art Schrein in dem Frauen und Männer mit besonderen Fähigkeiten leben und wirken. Sie sind neutral und jeder Bewohner verehrt diese weisen Wesen. Der Schrein, dem sie angehören, verehrt das Mondlicht und sie haben besondere heilerische und seherische Fähigkeiten. Außerdem sind sie besonders sanftmütig zu allen Lebewesen.“

„Meine Mutter war so eine Frau aus dem Schrein?“, fragte Liliana mit Tränen in den Augen.

„Sie sollte eines Tages als Oberste des Schreins wirken, aber dazu komme ich gleich noch. Du musst nämlich noch wissen, dass auch diejenigen, die sich vom Kaiserhaus abgewendet hatten, schon immer und auch immer noch die fast als heilig verehrten Bewohner des Schreins bewundern und verehren, so, wie es auch der Kaiser immer tat. Dieser stand dem Schrein sogar immer besonders nahe und in der Regel war auch immer einer der Weisen an seinem Hof anwesend. Doch soviel erst einmal zur Allgemeinheit.“ Das Tor schwieg einen Augenblick, damit Liliana das gesagte verarbeiten konnte. Als sie schließlich nickte, fuhr es fort.

„Wie gesagt, deine Mutter war eine der hohen Frauen und aufgrund ihrer großen Begabungen schon in ihren jungen Jahren dazu ausersehen, eines Tages die Führung des Schreins zu übernehmen. Sie hörte schließlich eines Tages vom Tod deiner Brüder. Sie kam schließlich zu mir in die ehemalige Residenz des Kaisers und bat mich auf Knien, zu deinem Vater reisen zu dürfen, denn ihr wurde in einer Vision eröffnet, dass der neue Wächter des Lichts innerhalb der nächsten 50 Jahre das lang verschollene Kaisersiegel wiederfinden und schließlich auch den neuen Kaiser bestimmen würde. Und sie wusste auch, dass sie diejenige sein würde, die dem neuen Wächter das Leben schenken würde. Sie wusste auch, dass sie aufgrund ihrer besonderen Konstitution als Gesandte des Mondschreins ein Aufenthalt außerhalb des dunklen Reiches sehr zusetzen würde, dennoch wollte sie dieses Risiko eingehen. Niemand aus dem Schrein wusste von ihrem Vorhaben, denn sie hätten deine Mutter sicher mit allen Mitteln davon abgehalten, sich einer solchen Gefahr auszusetzen. Ich öffnete ihr schließlich den Durchgang hierher, nachdem sie mehrere Tage vor mir auf Knien verbracht hatte und führte sie hierher. Sie machte deinem Vater das Angebot, den neuen Wächter zu gebären. Dein Vater zögerte erst eine Weile, doch die Schönheit und der Liebreiz deiner Mutter und deren sanfte Überzeugungskraft ließen ihn schließlich einlenken. Ein Jahr nach ihrer Ankunft wurdest du geboren, was deine Mutter sehr überraschte.“

„Wieso?“, fragte Liliana leise, die bislang ruhig zugehört hatte.

„Normalerweise dauert die Schwangerschaft einer Dunklen mindestens 3 Monate länger als die der Frauen in deiner Welt, Lilly. Sie war fast außer sich vor Sorge, als ihre Wehen einsetzten. Erst als du in ihren Armen lagst und sie spüren konnte, dass es dir gut ging und alles in Ordnung war, beruhigte sie sich wieder. Schließlich blieb sie so lange bei dir und deinem Vater, bis sie die ersten Auswirkungen spürte, die diese Welt bei ihr hinterließen. Sie wurde immer schwächer und musste schließlich ins dunkle Reich zurückkehren, was ihr fast unmöglich war, denn sie mochte deinen Vater sehr, aber dich liebte sie abgöttisch. Sie wusste auch, dass sie dich niemals wiedersehen würde, wenn sie ging, deswegen blieb sie wahrscheinlich auch länger, als gut für sie war. Schließlich kehrte sie in den Schrein zurück, wo ihr plötzliches Auftauchen noch größeren Wirbel auslöste als ihr spurloses Verschwinden. Sie ließ nie ein Wort darüber fallen, wo sie die langen Jahre verbracht hatte und konnte vor den ihren ihre Schwäche so lange verbergen, bis sie eines Tages zusammenbrach und schließlich wenige Tage später verstarb. Soweit ich weiß, galten ihre letzten Gedanken dir, Lilly. Auch sie hatte trotz aller Vorahnungen gehofft, dich eines Tages wiederzusehen.“

Liliana liefen wieder Tränen über die Wangen, als sie das Erzählte sacken ließ. „Ich war meiner Mutter immer irgendwo ein wenig böse, weil sie einfach ohne ein Wort gegangen ist. Jetzt bereue ich meine Gedanken. Sie muss eine tolle Frau gewesen sein.“, murmelte sie bekümmert.

„Sie war eine ebenso tolle Frau, wie auch du sie bist, Lilly.“

„Ich bin keine tolle Frau, Tor. Wenn ich es wäre, hätte ich selbst den Spion bannen können, der uns ein halbes Jahr in der Suche nach dem Siegel gekostet hat.“, haderte sie bitter mit sich.

„Lilly, bedenke bitte immer, dass das Schicksal immer eine Absicht hat mit dem, was passiert. Sicher wirst du das, was du im vergangenen halben Jahr hier als Hausdame gelernt hast, eines Tages benötigen. Und nur sehr mächtige Wesen konnten den magischen Spion bannen und dafür fehlen dir einfach noch viele Jahrzehnte Lehre. Doch nun Schluss mit den dunklen Gedanken. Dir fehlt noch etwas sehr wichtiges, meine Liebe.“, erinnerte sie das Tor.

„Ich bin immer noch nicht geweiht.“, meinte Liliana, die ahnte, was er nun meinte.

„Richtig. Streck bitte deine beiden Hände aus, Liebes.“

Liliana tat, wie ihr geheißen wurde.

„Und nun tauche bitte deine Arme bis zu den Ellenbogen in den Durchgang ein.“

Auch dies tat sie. Als sie ihre Finger und schließlich auch der Rest ihrer Arme in den schimmernden Durchgang hielt, hatte sie zuerst das Gefühl, als würde sie diese in kühles Wasser tauchen. Dann jedoch brannte mit einem Mal ihre Haut auf und sie holte zischend Luft. Instinktiv wollte sie ihre Arme zurückziehen, doch sie konnte es nicht, da sie das Gefühl hatte, jemand würde diese festhalten.

„Es dauert nicht lange. Gleich ist auch das Unbehagen vorüber.“, versprach das Tor sanft.

Schließlich verklang der Schmerz so plötzlich, wie er gekommen war und auch der Druck, der ihre Arme im Durchgang gehalten hatte, löste sich.

„Jetzt kannst du deine Arme zurückziehen.“, erklärte das Tor ihr.

Gehorsam und ein wenig ängstlich zog sie ihre Arme zurück und erschrak, als sie ein hauchdünnes Muster in ihre Haut eingeritzt sah. „Was ist das?“, fragte sie fast ein wenig panisch.

„Hab keine Angst, Liebes. Diese Zeichen weisen dich als Wächterin der hellen Torseite aus. Innerhalb der nächsten Wochen werden die Zeichen ganz verschwunden sein. Aus diesem Grund wollte ich auch, dass wir mit der Weihe bis nach deinem Treffen mit Lord Minan warten, denn er hätte den neuen Wächter anhand dieser Zeichen erkannt. Sicher hat er auch unter den Anwesenden bei seinem letzten Besuch hier nach demjenigen gesucht, der die Male trägt. Nur dass er sie nicht entdecken konnte ließ ihn deine Worte glauben, dass der neue Wächter bereits auf der Suche nach dem Siegel war.“, erklärte das Tor ruhig.

Liliana betrachtete ihre Unterarme mit den frischen Malen skeptisch und konnte sich nicht wirklich vorstellen, dass die jetzt offene Haut wirklich eines Tages ohne Narbenbildung abgeheilt sein sollte. „Kannst du mir einen Rat geben, wie es jetzt weitergehen soll?“, fragte sie schließlich nach einigen Minuten gemeinsamen Schweigens.

„Wir können jetzt nichts anderes tun, als deine eigenen Fähigkeiten zu schulen und auf die Ausbildung deiner magischen Talente zu warten. Ich befürchte, dass du erst danach in der Lage sein wirst herauszufinden, wo sich der alte Diener des Kaisers mit dem Siegel verborgen hält.“

Liliana seufzte. „Also werde ich die nächsten Jahre sicher in der Bibliothek verbringen müssen und am besten alles lesen, was mir in die Hände kommt.“

„Aber vergrabe dich nicht völlig in den Büchern, Lilly. Das ist auf Dauer nicht gut für dich. Lenk dich jeden Tag am besten immer ein wenig mit etwas anderem ab, sonst drehst du noch durch. Und schließ vielleicht auch deine Ausbildung als Hausdame ab, die du begonnen hast. Du wirst diese Fähigkeiten sicher einmal benötigen.“, schlug das Tor vor.

„Ich sehe zwar nicht, wofür das gut sein soll, aber ich werde deinen Rat beherzigen. Und ich werde dich immer wieder aufsuchen, damit wir ein wenig plaudern können. Ich hoffe, dass ist dir Recht.“, fragte Liliana zaghaft.

„Du bist mir immer willkommen, Lilly. Ich habe ansonsten kaum andere Ansprache.“

Liliana konnte in der Tat so etwas wie Freude spüren, die dem Tor entströmte. „Dann werde ich mich an meine Studien begeben. Wenn ich etwas nicht verstehe, komme ich auf jeden Fall zu dir und wir sprechen darüber.“, versprach sie liebevoll, denn sie hatte verstanden, dass von nun an das Tor ihr einziger Ratgeber sein würde. Auf jeden Fall so lange, bis sie den neuen Kaiser gefunden hatte. Und das sie ihn finden musste, war ihr durchaus bewusst. Außer ihr gab es niemanden mehr, der diese Aufgabe ausführen konnte.

„Ach, Tor, könntest du mir bitte einen Wunsch erfüllen?“, bat sie leise.

„Wenn ich es vermag, sicher. Was kann ich für dich tun?“

„Sorge bitte dafür, dass Lord Minan nicht mehr hier zum Wächteranwesen gelangen kann. Eine weitere Spionage können wir uns einfach nicht leisten, jetzt, da unser geheimnisvoller Helfer in die Welt des Lichts gegangen ist.“

Das Tor schwieg einen Augenblick. „Eigentlich steht es jedem Dunklen offen, hierher zu reisen, doch Lord Minan hat mit seinem Eingreifen die Friedfertigkeit zwischen seinem Volk und euch gestört. Ich werde deinen Wunsch erfüllen, Wächterin. Er wird dieses Haus niemals wieder betreten können. Und zur Sicherheit auch niemand mehr aus seinem Clan.“, sprach das Tor nun ernsthafter und mit einem dunkleren Ton.

Lilliana neigte demütig ihren Kopf. „Ich danke dir. Dann mache ich mich jetzt mal an die Arbeit und setzte meine Studien zur Magie fort.“, versprach sie, drehte sich um und verließ leise den Raum. Vorher sah sie aber noch zu, wie die Schriftzeichen in den silbernen Stelen aufleuchteten und neue dünne Linien hinzugefügt wurden. Sie konnte spüren, wie ein Bannzauber gewebt wurde. Erst als die Zeichen nicht mehr leuchteten und der Spiegel in sich zusammensank, verließ sie den Raum.
 

Gedankenverloren kehrte sie in den Wohnbereich des Hauses zurück, wo sie bereits alle Bewohner des Anwesens erwarteten. Überrascht sah sie alle an, die mit einem freudigen Lächeln am oberen Ende der Treppe auf ihre Rückkehr warteten.

„Ein Hoch und ein langes Leben für die edle Wächterin des Weltentors!“, rief die Haushälterin freudig aus und alle stimmten in den Jubel ein. Sie warfen frische Blüten auf Liliana, die mit einem verschüchterten Lächeln nun gänzlich die Treppe heraufkam.

„Das müsst ihr doch nicht…“, begann diese verlegen, doch die Anwesenden achteten nicht auf ihre Einwände.

„Papperlapapp. Natürlich müssen wir die Weihe der neuen Wächterin feiern.“, wischte die Haushälterin Lilianas Bedenken beiseite, während Selen an Lilianas Seite trat und ihre Hände betrachtete. Die Zeichen ihrer Weihe zogen sich vom Ellenbogen über den Handrücken herunter zu den unteren Fingerknöcheln und kleine Blutstropfen schimmerten auf Lilianas rosiger Haut.

„Zuerst müssen wir Lillys Haut verbinden. Dann können wir feiern.“, meinte sie ernst und begleitete ihre Freundin zu einem Stuhl, der schon seit vielen Jahren an der Treppe bereitstand. Einst war er für Lilianas Vater bestimmt gewesen, damit dieser sich nach dem Aufstieg aus dem Keller ein wenig ausruhen konnte.

„Tut das nicht weh?“, fragte Selen besorgt, als sie die Ärmel von Lilianas Bluse vorsichtig bis über die Ellenbogen aufgerollt hatte.

„Es juckt und brennt ein wenig. Fast wie nach einem Sonnenbrand.“, meinte Liliana nur und betrachtete die Zeichen nun zum ersten Mal genauer. Sie waren unglaublich zart und erinnerten sie stark an die Zeichen, die sie an den Stelen gesehen hatte, auch wenn sie von diesen abwichen.

Die Köchin hatte anscheinend mit einer solchen Verletzung gerechnet, denn sie hatte bereits einen Korb unter dem Arm, in dem Arzneien und Verbandmaterial aufbewahrt wurden, die genau für den Zweck bei Verbrennungen benutzt wurde. Das wusste Liliana aus Erfahrung, schließlich hatte sie bei ihrem Unterricht in der Küche schon ein paar Mal die Arzneien aus diesem Korb benötigt.

„Lass mich das ganze mal ansehen.“, forderte sie ihre junge Herrin auf wollte vor dieser in die Knie gehen, doch Liliana hielt sie zurück.

„Bitte, setz du dich. Ich kann ruhig stehen und für dich ist es angenehmer.“, schlug sie liebevoll vor.

„Aber Lilly, du bist doch jetzt die Herrin des Hauses…“, versuchte die Köchin zu argumentieren, doch Liliana winkte ab.

„Ich bin immer noch deine Schülerin, daran hat sich nichts geändert. Nur, dass ich noch andere Unterrichtsfächer dazu bekommen habe und nun nicht mehr den ganzen Tag bei euch verbringen kann.“

Die Köchin setzte sich und holte aus dem Korb ein feuchtes Tuch hervor, mit dem sie Lilianas Arme abtupfte.

„Du willst weiterhin als Hausdame ausgebildet werden?“, fragte die Haushälterin irritiert.

„Ja, wenn es euch keine Umstände macht. Man sagte mir, dass ich diese Fähigkeiten in Zukunft sicher einmal benötigen werde und dann will ich natürlich bereit und bestens ausgebildet sein.“, erklärte Liliana leise.

„Wenn das ehrwürdige Tor eine solche Mutmaßung tätigt, dann steht es uns nicht zu, diese Meinung zu kritisieren. Selbstverständlich werde ich dich weiter ausbilden, Lilly. Auch wenn es unter den gegebenen Umständen länger dauern sollte. Doch du wirst eine hervorragende Hausdame sein, wenn ich mit dir fertig bin.“, versprach die Haushälterin inbrünstig.

„Eure Worte können einem ja fast Angst einjagen.“, meinte Liliana mit einem leisen Lachen. Es war das erste Lachen seit dem Tod ihres Vaters und es fühlte sich für sie endlich wieder gut an. Nun war ihr so, als würden die Farben der Zukunft nicht mehr dunkel sein, sondern endlich auch wieder einen Silberstreifen am Himmel zeigen.



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