Zaubertrankunfälle. Sie gehörten zum Alltag von Hogwarts, der Schule für Hexerei und Zauberei, ebenso dazu wie Peeves, Mrs Norris und das leise Geräusch der Edelsteine in den Stundengläsern, welche die Hauspunkte anzeigten. Nicht selten gingen diese Unfälle mit lauten Audioeffekten einher und führten zu spontanen Besuchen auf der Krankenstation und anschließendem Nachsitzen bei Professor Snape, dessen Klassenraum einmal mehr Opfer minderer Braukünste geworden war. Dass sich allerdings eine solch unheilschwangere Explosion nach dem Abendessen ereignete, der Zeit, wo sich allenfalls jene Schüler im Kerker aufhielten, die oben erwähntes Nachsitzen hinter sich brachten, war dagegen eher ungewöhnlich. Schließlich war es kein Geheimnis, dass Professor Snape diese unfreiwillige Zusatzarbeit seiner Schüler dazu nutzte, verkrustete Kessel reinigen und Wände, Tische und Boden von den Überresten des letzten Unfalls befreien zu lassen. Mit Muggelputzmethoden, um etwaige Kreuzkontaminationen der Rückstände mit magischen Putzmitteln und ungewollte magische Nebenwirkungen mit Zaubersprüchen auszuschließen.
Dementsprechend besorgt eilte Albus Dumbledore, Schulleiter von Hogwarts, an jenem Abend, kurz vor den Weihnachtsferien, durch die Gänge, nachdem ihn der dumpfe Schall der Explosion in seinem Büro aus seinem Gedankengang gerissen hatte, um so schnell es ging in das Untergeschoss zu gelangen. „Severus, wie oft soll ich dir noch erklären, dass explodierende Kessel sich keineswegs zur Frustbewältigung…“ Der lockere, halb amüsiert, halb mahnende Kommentar blieb ihm im Hals stecken, als er das Ausmaß der Katastrophe gewahrte. Der Zaubertrankklassenraum war vollkommen verwüstet und in der Mitte des Geschehens lagen zwei bewusstlose Gestalten.
„Potter!“ Das dunkle Grollen, mit welchem Professor Snape seinem Missmut über die Situation und seinem Ärger über den Schüler, der selbige verursacht hatte, Ausdruck verleihen wollte, klang seltsam falsch in seinen Ohren, als der Zaubertranklehrer aus der Bewusstlosigkeit aufwachte. Zu hoch, zu kindlich, schlimmer als ein Hufflepuff-Erstklässler. Severus Snape zuckte unwillkürlich zusammen und fasste sich erschrocken an die Kehle. Seine Stimme! Was war mit seiner Stimme?
„Ah, Severus, mein Junge, du bist wach…“ Snape verdrehte die Augen, als er Dumbledore hörte. Nicht so sehr, weil er den Schulleiter nicht leiden konnte, nein, das war es nicht. Es war vielmehr, dass er es wohl in diesem Leben nicht mehr schaffen würde, seinen Vorgesetzten dazu zu bringen, ihn nicht länger ‚mein Junge’ zu nennen. Schließlich würde Albus Dumbledore allenfalls eine Galapagosschildkröte nicht mit ‚mein Junge’ ansprechen, und selbst dessen war sich Severus nicht ganz sicher.
„Was ist passiert?“, fragte er jetzt, auch wenn er seine Stimme noch immer hasste. Andererseits war er sicher, dass Poppy irgendwo in ihrem Zaubertrankschrank, den er selbst jedes Mal kurz vor Schuljahresbeginn höchstpersönlich auffüllte, auch ein Mittel gegen dieses Problem hatte.
„Ich fürchte, es hat in deinem Klassenzimmer einen kleinen Unfall gegeben“, setzte Professor Dumbledore an, kam aber nicht weit, denn ein missbilligendes Schnauben unterbrach ihn. Professor McGonagall war neben Dumbledore erschienen. „Kleiner Unfall… Albus, Doppelzüngigkeit ist keine Eigenschaft, die dir gut steht.“
„Das ist auch keine Doppelzüngigkeit gewesen, sondern man nennt es Diplomatie. Das Gegenteil von mit der Tür ins Haus fallen“, gab der Schulleiter ernst zurück.
Minerva schüttelte ob dieser Wortklauberei nur leicht den Kopf, dann sagte sie: „Ich wollte dich nur informieren, dass Mr. Potter aufgewacht ist. Du könntest also beide gleichzeitig informieren…“
Professor Dumbledore nickte, woraufhin die stellvertretende Schulleiterin den Vorhang, der Severus’ Bett vom Nachbarbett getrennt hatte, zurückschob. Unglauben breitete sich auf dem Gesicht des Tränkemeisters aus, als er zu seinem meist gehassten Schüler hinüberblickte.
Je länger er Professor Dumbledore zuhörte, desto nachdenklicher wurde Harry. Die ganze Geschichte klang einfach unglaublich: Die Explosion hatte Professor Snape und ihn in Sechsjährige verwandelt?
Wie es schien, hatte jemand aus der dritten Klasse eine Schrumpflösung noch heftiger versaut als es bei Neville damals fast der Fall gewesen wäre, hätte Hermione ihm seinerzeit nicht geholfen. Denn durch die simple Scheuermilch, die Harry auf Snapes Anweisung hin hatte verwenden müssen, hatte sich das Gebräu, das in Resten an der Kesselinnenseite gehaftet hatte, in eine explosive Verjüngungskur verwandelt.
Da ihre kindlichen Körper aber durch den Gebrauch von erwachsener Magie schneller ermüden würden, war insbesondere das Brauen komplizierter Zaubertränke, wie etwa dem Finden eines Gegentranks, vollkommen ausgeschlossen. Aus diesem Grund, und weil er den Unfall nicht weiter publik machen wollte, hatte der Schulleiter Hermione und Neville damit betraut, über die Ferien das Gegenmittel für sie zu suchen, statt die Gegengiftabteilung von St. Mungos zu kontaktieren. Das war der Punkt in der Unterhaltung gewesen, an dem Professor Snape dermaßen aufbegehrt hatte, dass Madam Pomfrey sich gezwungen gesehen hatte, ihm einen Beruhigungstrank einzuflößen. Harry hatte nur stumm zugesehen.
Jetzt, etwa zwei Stunden, nachdem Professor Dumbledore und Professor McGonagall gegangen waren, lag er immer noch wach. Aber mittlerweile war ein Plan in ihm herangereift.
„Professor, sind Sie wach?“
Aus dem Nachbarbett kam ein Knurren. „Nein. Aber wenn ich die Augen schließe, sehe ich unwillkürlich Longbottom vor mir, wie er mein schönes Labor vollkommen pulverisiert.“
Harry musste ob der sich widersprechenden Aussagen Snapes grinsen. „Machen Sie sich keine Sorgen um Ihr Labor, Professor. Neville ist erstaunlich gut, solange es darum geht Dünger oder Pflanzenwachstumsmittel zusammenzumischen. Man darf ihm nur nicht sagen, dass es sich um einen Zaubertrank handelt. Und ehrlich gesagt ist ein Wachstumsmittel genau das, was wir brauchen.“
„Und das soll mich beruhigen?“ Irgendwie klang Sarkasmus aus dem Mund eines Sechsjährigen längst nicht so schneidend wie aus dem Mund eines Mannes jenseits der Dreißig.
Harry zuckte mit den Schultern. „Einen Versuch war es wert...“
Ruckartig setzte sich Severus in seinem Bett auf. „Nun hören Sie mir mal gut zu, Potter! Das alles ist Ihre Schuld! Und wenn Sie jetzt behaupten wollen, dass dem nicht so ist, darf ich Sie daran erinnern, dass Sie aufgrund Ihres Benehmens das Nachsitzen verdient hatten und folglich Schuld daran sind, dass Sie, und leider somit auch ich, sich in einer Situation befanden, in der Sie die Explosion herbeiführen konnten. Und einzig aufgrund des Gebots des Schulleiters habe ich Sie dafür bislang weder erwürgt noch Ihnen Hauspunkte abgezogen oder weitere Strafarbeiten verhängt!“
„Wie wäre es stattdessen, Professor, wenn Sie sich dafür bei Professor Dumbledore ‚bedankten’?“, sagte Harry nur zuckersüß.
Der Zaubertrankmeister starrte seinen Schüler an, als habe dieser nun endgültig auch noch die letzte halbe Gehirnzelle, die der Professor ihm großzügigerweise zugestand, verloren.
„Nun, es ist doch so, dass der Schulleiter Sie ein ums andere Mal um Anerkennung oder Gerechtigkeit oder wie auch immer Sie es nennen wollen, gebracht hat, wenn einer seiner Gryffindors beteiligt war“, setzte Harry an zu erklären.
„Sie sind sich bewusst, Mr. Potter, dass Sie einer dieser bevorzugten Gryffindors sind?“ Auch die hochgezogenen Augenbrauen wirkten bei einem Sechsjährigen nicht gerade bedrohlich.
„Ja, und es stört mich beizeiten ebenso wie es mich stört, dass der Professor mir seine ach so kostbaren Informationen immer nur scheibchenweise präsentiert, meist, nachdem die Situation, in der sie mir von Nutzen hätten sein können, überstanden ist.“ Harrys Miene verdüsterte sich. Wie oft war es schon vorgekommen, dass er geradezu blindlings in eine Situation hatte stolpern müssen, weil der Schulleiter ihm nicht rechtzeitig alle Fakten mitgeteilt hatte? Die Aussicht, sich unter diesen Umständen eines Tages Voldemort stellen zu müssen, war alles andere als berauschend. Und dann war da noch die Sache mit seinen Verwandten, die ihn in seiner Kindheit misshandelt hatten, ohne dass Dumbledore je nach ihm gesehen hätte, und zu denen er nach wie vor jeden Sommer für eine ungewisse Zeit zurückkehren musste. „Fakt ist, dass Professor Dumbledore, auch wenn er ein großer Zauberer und meist ein guter Schulleiter ist, nicht gerade viel tut, um unser Leben zu erleichtern. Aber Fakt ist auch, dass wir jetzt süße, unschuldige, sechsjährige Kinder sind. Und wer kann so jemandem schon böse sein? Selbst dann, wenn er einem den Bart Pink färbt oder alle Zitronendrops versteckt...?“
Einen Moment lang sprachlos, sah Professor Snape Harry an. Das war mit Abstand das.... Intelligenteste, das der Junge je in seiner Gegenwart geäußert hatte. Und was noch beängstigender war: Die ganze Denkweise schrie förmlich ‚Slytherin!’. „In Ordnung, wer sind Sie und was haben Sie mit Harry Potter, dem Jungen, der nicht stirbt, weil er mir sonst nicht auf den Wecker hätte fallen können, gemacht? Denn ich bezweifle, dass sein Gryffindorhirn zu so einem Slytheringedankengut fähig ist.“
„Ich schätze, Sie können Draco Malfoy danken, dass Sie sich nicht auch noch als mein Hauslehrer mit mir herumschlagen müssen“, erklärte Harry grinsend. „Der Sprechende Hut hat nämlich ernsthaft erwogen, mich nach Slytherin zu schicken. Aber Malfoy hatte rechtzeitig dafür gesorgt, dass ich wenig Bedürfnis hatte, mit ihm in einem Haus zu sein...“
Wenn es nicht solche Kopfschmerzen zur Folge gehabt hätte, wäre Professor Snape in diesem Moment glatt geneigt gewesen, mehrfach seinen Kopf auf das Metallgestänge seines Bettgestells zu schlagen. Stattdessen beschloss er, sich lieber auf Potters durchaus nicht uninteressanten Vorschlag zu konzentrieren. „Und wie wollen Sie Professor Dumbledore davon überzeugen, dass Sie, oder vielmehr wir, tatsächlich so unschuldig sind? Immerhin weiß der Schulleiter, dass wir unsere jeweiligen... geistigen Fähigkeiten behalten haben...“ Wobei der Blick, den Snape Harry dabei zuwarf, es an Überzeugung hinsichtlich der Intelligenz seines Gegenübers immer noch fehlen ließ.
„Heute Abend, ja. Aber wer sagt, dass wir morgen früh nicht unter Spätfolgen leiden können? Dass sich unsere geistigen Fähigkeiten nicht über Nacht unserem Körper angepasst haben? Ich bin mir sicher, der Schulleiter wird gar nicht anders können, als uns zu glauben, besonders, wenn wir ihn mit großen Augen ansehen und ihn ‚Opa Albus’ nennen...“ Harrys Augen blitzten verschwörerisch.
Kurz verschwendete Snape noch einen Gedanken an Voldemort und die Frage, was wohl wäre, wenn dieser ihn über die Weihnachtsferien zu sich rief. Doch ein überraschter und mehr als erleichterter Blick auf seinen erfreulich makellosen Unterarm, zeigte ihm, dass er sich in diesem Körper darum keine Sorgen machen musste. „Also schön, Mr. Potter...“
„Harry“, verbesserte ihn dieser. „Wenn es glaubhaft sein soll, müssen Sie mich Harry nennen und ich Sie Severus. Ich kann Sie ja schließlich kaum Professor nennen, wenn Sie sich angeblich nicht mehr daran erinnern, an dieser Schule Lehrer zu sein.“
Snape grollte, nickte dann aber. „Dann eben Harry... aber wieso ausgerechnet Pink?“
„Weil es die einzige Farbe ist, die der Schulleiter nie trägt...“