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In Good Faith

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Chapter 2 - Eir

In Good Faith – Chapter 2: Eir
 

Die Überwachungskamera surrt. Leise. Penetrant. Dröhnend.

„Was ist mit dir?“

Schmale Schultern heben sich.

„Ich weiß es nicht.“
 

Es war kalt in dem halb verlassenen Kellergewölbe, viel zu kalt für Annes Geschmack, und doch wagte sie nicht, sich zu beschweren, auch nur einen unwilligen Laut von sich zu geben, sondern duckte sich tiefer in ihre Sommerjacke und fröstelte weiter. Sie zog ohnehin schon genug unfreundliche, misstrauische Blicke auf sich, auch ohne dass sie sich beschwerte, ein Gefühl, das ihr so vollkommen fremd, so unglaublich unangenehm war, dass sie erst jetzt zu begreifen begann, wie sich auffälligere Mutanten in der Öffentlichkeit fühlen mussten.

Doch hier, in dieser Umgebung, in dieser Gesellschaft war Anne eine von jenen, die angestarrt wurden, wahrscheinlich versuchten viele der anderen Teilnehmer an der Versammlung herauszufinden, was ihre Mutation war – und dass sie es ihnen nicht zeigen konnte, um das fast feindselige Misstrauen zu dämpfen, machte alles nur noch schlimmer. Wenigstens hatten die beiden Halbstarken, die am Abgang standen und so etwas wie Türsteher zu sein schienen, nur gelacht, als sie stockend versucht hatte, ihnen ihr Anliegen zu erklären... und darauf hingewiesen, dass sie beide Telepathen waren und es schon längst gemerkt hätten, wenn sie irgendwelche feindlichen Absichten hegen würde.

Ihrem Selbstvertrauen hatte diese spöttische Abfuhr nicht gerade gut getan, doch den Gedanken, nach Hause zu gehen und sich wieder in ihrem Bett – ihrem und Lucas' Bett – zu verkriechen, hatte sie heftig unterdrückt, kaum, dass er aufgekommen war. Zu lange hatte sie gebraucht, um die Energie aufzubringen, endlich hierher zu kommen, nach Emma zu suchen, als dass sie es riskieren wollte, jetzt wieder zurückgeworfen zu werden.

„Kalt?“

Mit einiger Mühe konnte sie verhindern, allzu offensichtlich zusammenzuschrecken, doch die Frau, die sie angesprochen hatte, hatte es bemerkt – und grinste sie trocken an, ihr kurzes, ein wenig rau aussehendes Fell verschaffte ihr einen eindeutigen Vorteil, was die Temperatur anging. „Hey... keine Panik, ich wollte dich nicht zu Tode erschrecken, sondern dir nur erklären, dass es dort drüben Kaffee gibt, falls du zu sehr frierst.“

„Ich...“, reflexartig schüttelte Anne den Kopf, noch immer fühlte sie sich hier wie ein Eindringling, der nicht wirklich zu dieser Versammlung von Mutanten gehörte, die nun in kleinen Grüppchen zusammen standen und die Reden des Abends diskutierten, die sie bewusst verpasst hatte, um nicht in noch größere Verlegenheit zu geraten. Immerhin war sie bis vor sehr kurzer Zeit eine von jenen gewesen, deren Verhalten in diesen flammenden Plädoyers verurteilt wurde. „Danke... aber ich bin eigentlich nur hier, weil ich jemanden suche...“

Trotz ihres scheuen, ausweichenden Tonfalls ließ sich die Frau nicht beirren, lächelte nur einnehmend, während ihre rundlichen Ohren, die an eine Maus oder vielleicht entfernt an ein Meerschweinchen erinnerten, zuckten. „Dann kann ich dir vielleicht helfen?“

„Ich...“ Anne seufzte – wirklich gut war sie noch nie darin gewesen, Gefallen abzulehnen, besonders, wenn sie von einer so hilfsbereiten, freundlichen Person kamen. „Kennen Sie vielleicht Emma Lewis?“

„Lewis... Lewis...“ Schon bei ihrem angestrengten Murmeln hatte Anne die Hoffnung verloren, dass ihre Gesprächspartnerin ihr weiterhelfen konnte, das langsame Kopfschütteln bestätigte es ihr nur. „Tut mir leid... kommt mir nicht bekannt vor – aber die Wenigsten hier benutzen ihre Geburtsnamen. Was für Fähigkeiten hat sie denn?“

Unbehaglich zuckte Anne mit den Schultern, sie wusste viel zu wenig über die Kräfte ihrer Schwester, denn ihre Eltern hatten sich immer bemüht, diesen Aspekt von ihr fern zu halten... allerdings hatte sich zumindest eine sehr tief in ihr Gedächtnis eingegraben. „Sie kann Verletzungen heilen...“

„Dann meinst du vielleicht Eir. Und bevor du fragst, ja, sie ist hier.“

Es wunderte Anne, dass der Stein, der ihr bei diesen Worten vom Herzen fiel, keine merkliche Erschütterung verursachte, doch man musste es ihr angesehen haben, denn die Mausmutantin klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter. „Ich sehe, du bist nicht für Smalltalk zu haben... komm lieber mit.“

„Danke.“ Etwas verspätet, aber doch, erinnerte sie sich an ihre mehr oder weniger guten Manieren, doch ihre Führerin winkte nur mit einem Grinsen ab, bevor sie auf einen dunklen Vorhang wies, der eine Nische in den geziegelten Wänden vom großen Versammlungsraum abgrenzte. „Keine Ursache.“

Für einen Augenblick noch schienen das Zögern und die Angst stärker zu sein, sie kämpften mit Annes Wunsch, endlich mit jemandem sprechen zu können, der sie verstand, der ihr helfen wollte, sie nicht für das verachtete, was sie war, doch schließlich wurde die Einsamkeit zu stark, und sie schob den rauen Stoff zur Seite.

„Anne!“ In dem einen Wort klang nicht nur Überraschung mit, sondern für einen Moment brach auch Freude durch – bis sich, nach dem Augenblick, den der Geist brauchte, um die Hoheit über die Gefühle zu erlangen, dunkle Wolken über Emmas Miene schoben. „Was zum Teufel machst du hier?“

Der laute Ausruf hatte einige Gespräche in der Nähe verstummen lassen, und kräftige Finger packten ihren Arm, zogen sie hinein in die Nische, wo der Vorhang sie vor den Blicken der anderen Mutanten verbarg. Anne zuckte zusammen, und sie spürte, wie ihr Mut bereits begann, sie wieder zu verlassen – nicht einmal Emma wollte sie mehr sehen, oder mit ihr gesehen werden. „Ich...“

„Spuck's aus, ich hab nicht die ganze Nacht Zeit.“ Der harsche Tonfall brachte sie zur Besinnung, und dass sie sich, egal, was geschah, nach diesem Gespräch schlimmer fühlen konnte als zuvor, musste eigentlich vollkommen unmöglich sein.

„Ich bin eine Mutantin, Emma.“

„Oh, natürlich – und ich kann über Wasser wandeln.“ Die abrupte Geste, mit der sich ihre Schwester abwandte, tat mehr weh als alles, was Lucas gesagt oder getan hatte – sie zerstörte etwas, das viel tiefer saß als eine vergleichsweise kurzfristige Beziehung, ein tiefes Vertrauen, das sie niemals ernstlich angezweifelt hatte, nicht einmal, als Emma sich nicht mehr bei ihr meldete. „Und jetzt verschwinde.“

„Aber... ich brauche deine Hilfe.“ Ihr Verstand schien sich zu weigern, mit der Situation und mit den Tatsachen Schritt zu halten, während sie auf den Hinterkopf ihrer Schwester starrte, die Strähnen betrachtete, die ehemals so blond gewesen waren wie ihre eigenen und nun fast in einen hellen, braunen Ton spielten. „Bitte.“

„Natürlich brauchst du das.“ Emmas Tonfall klang so ruhig, dass sie die Bitterkeit zuerst nicht bemerkte, die hinter den wenigen Worten stand und jeden Moment hervorzubrechen drohte. „Jeder von uns braucht das am Anfang... nur wolltest du das damals nicht sehen, oder? Also warum sollte ich dich ausgerechnet jetzt unterstützen, wo du nicht einmal daran gedacht hast, dass ich genauso jemanden brauchen könnte? Dass ich gerne weniger allein, weniger ausgegrenzt gewesen wäre, gerne wenigstens eine Schwester gehabt hätte, die mich liebt, obwohl nicht einmal unsere Eltern das geschafft haben?“

„Emma...“ Das eine Wort klang erstickt, sie spürte, wie die Tränen aufstiegen, sah kaum, wie ihre Schwester in einem goldbraunen Wirbel herumfuhr. „Ich bin nicht mehr Emma. Schon lange nicht mehr. Ich bin Eir... und die wolltest du niemals kennenlernen, oder täusche ich mich da? Du warst immer das kleine, perfekte Mädchen, die Lieblingstochter, die, die ihnen nie Grund gegeben hat, Sorgen zu machen... was sie mir wieder und wieder erklärt haben. Die von uns beiden, die sie geliebt haben und nicht nur geduldet, weil sie süß war, gut in der Schule und vor allem keine verdammte Mutantin. Und dir hats gefallen... dich hat es nie interessiert, wie es mir dabei geht, wie ich mich fühle... und jetzt, wo du jemanden brauchen würdest, der dir die Hand hält, kommst du angekrochen? Vergiss es. Verschwinde. Jetzt. Sofort.“

Anne schaffte es gerade noch, zu nicken, bevor sie nach draußen stürmte, ohne zu sehen, wohin sie ging, oder die überraschten Blicke zu bemerken, die man ihr nachwarf.
 

Die Wohnung war klein, viel zu klein, schien sie zu erdrücken, bis sie glaubte, keine Luft mehr zu bekommen, und doch war sie der einzige Ort, den sie zu ertragen vermochte, der ihr keine unendliche Furcht einflößte. Dieses Gefühl der Verlassenheit, das sie in dem Augenblick, in dem sie zurück nach Hause gekommen war und gesehen hatte, dass die Schränke leer waren, dass der große Reisekoffer fehlte, die Fotos im Wohnzimmer, sogar die Pfanne, die er von seiner Mutter geschenkt bekommen hatte... es hatte sich immer mehr ausgebreitet, bis es sie schließlich angefüllt hatte wie eine riesige Blase – und in dem Moment, in dem Emma sie abgewiesen hatte, war sie geplatzt, und der Schmerz aus ihr herausgebrochen. Anne hatte in ihrem ganzen Leben keine Vorstellung davon gehabt, wie elend man sich fühlen konnte. Und wie einsam.

Sie hatte nicht einmal die Kraft gehabt, wieder aufzuräumen, alles verschwinden zu lassen, was sie an Lucas erinnerte, und jedes Mal, wenn ihr Blick einen der unzähligen Gegenstände streifte, die ihm gehörten oder sie an ihn erinnerten, spürte sie einen kleinen Stich. Trotzdem... so sehr es auch wehtat, noch viel schmerzhafter wäre es gewesen, sich einzugestehen, dass Lucas aus ihrem Leben verschwunden war.

So konnte sie sich wenigstens noch der Illusion hingeben, dass er wiederkommen würde, nur auf Geschäftsreise war, nach Washington oder Chicago oder in eine der anderen unzähligen Städte, in denen seine Bank Filialen hatte. Auch wenn sie wusste, dass das nur ein Traum war... es war ein tröstlicher Traum, einer, der ihr half, das letzte Bisschen Hoffnung, das ihr noch geblieben war, nicht zu verlieren.

Vorsichtig kuschelte sie sich tiefer in die Decken, es war Sommer und doch spürte Anne eine Kälte, die nicht von der Klimaanlage kam und die auch nicht verschwand, wenn sie hinausging in die Sonne, um die nötigsten Einkäufe zu erledigen, sondern sich nur ein wenig zurückzog. Sie war allein... viel zu allein, und sie hatte nicht die Kraft, irgend etwas daran zu ändern.

Schon wieder stiegen ihr die Tränen in die Augen, mittlerweile versuchte sie nicht einmal mehr, dagegen anzukämpfen, sondern ließ sie einfach zu, fast abwesend... der Schmerz war schon viel zu selbstverständlich zu einem Teil ihres Lebens geworden, als dass sei seinem äußeren Ausdruck noch irgendwelche Bedeutung beimessen konnte. Es tat weh, ja... aber das tat es immer, manchmal mehr, manchmal weniger, es waren nur Abstufungen der Qual und der Einsamkeit.

Es gab Momente, in denen Anne fast die Kraft aufzubringen glaubte, etwas daran zu ändern, nach draußen zu gehen, nach irgend etwas zu suchen, das sie ablenken konnte... aber nur fast. Nicht, dass sie es nicht versucht hätte... aber ohne Gesellschaft half auch das schönste Wetter nicht, den kalten Gedanken zu entkommen, die in der Tiefe ihres Geistes lauerten.

Die Illusion, dass wenigstens ihre Freunde zu ihr halten würden, sie trösten, sich um sie kümmern... lange hatte Anne sie nicht aufrechterhalten können. Lucas war wohl schneller gewesen mit der Verbreitung der Neuigkeiten – nicht einmal abgehoben hatten die Meisten, und ihre vollkommene Missachtung hatte mehr geschmerzt als alle gestammelten Ausflüchte oder auch ehrlichen Worte es hätten tun können.

Da war sie wieder, die Qual, die langsam aber stetig begann, sich zur Konstante in ihrem Leben zu entwickeln, ein gleichberechtigter Partner ihrer Einsamkeit. Denn allein... allein war sie eigentlich ihr halbes Leben lang gewesen, doch ohne es zu bemerken. Um zu sehen, dass ihre Freunde, die sie so hoch geschätzt hatte und die sie niemals im Stich gelassen hätte, ihre Zuneigung nicht auf dieselbe Art erwiderten, hatte es nicht viel bedurft – nur einiger Blätter Papier in einer dünnen, braunen Mappe, die genauer anzusehen sich nicht einmal Lucas die Mühe gemacht hatte.

Ihm hatten die Worte von Doktor Reese gereicht, er hatte nicht noch einmal lesen wollen, mit welcher Missgeburt er so lange zusammengelebt hatte... denn obwohl die gesamte Wohnung durchwühlt war, lagen ihre Testergebnisse noch genau so, wie sie sie hingeworfen hatte, auf der Kommode im Vorzimmer.

Wo Lucas sie nicht hatte ansehen wollen, hatte Anne nicht gekonnt... hatte sich bemüht, nicht daran zu denken, den Blick abgewandt, wenn sie an der Mappe vorbeiging zu den seltenen Gelegenheiten, zu denen sie ihre Wohnung verlassen hatte. Es war nicht nur die Erinnerung an ihn, die Anne quälte, wenn der Gedanke an ihre Mutation sich in ihren Geist schlich, sich versteckte, nur um zu den grausamsten Gelegenheiten aus seiner Deckung hervorzuschnellen. Es war auch die Angst vor der Zukunft, die sie fest im Griff hatte.

Aus den Reaktionen ihrer... Freunde wusste sie, dass Lucas sich keine Mühe gegeben hatte, geheimzuhalten, wieso er sich von ihr getrennt hatte, hier, in ihrem Viertel, im Supermarkt, im Treppenhaus, überall spürte sie die Blicke der Menschen. Wie glühende Nägel schienen sie sich in ihren Rücken, ihren Hinterkopf zu bohren, doch wenn sie sich umwandte, konnte sie nur hastig niedergeschlagene Augen erkennen, die es nicht wagten, sie anzusehen, aus Angst, ihr sie könnte ihre Kräfte einsetzen. Nur, dass sie keine Kräfte hatte.

Und das machte sie auch unter den Mutanten zu einer Außenseiterin... sie war nicht Fisch und nicht Fleisch, hatte sich mit solchem Geschick zwischen die Stühle gesetzt, dass sie jetzt nicht einmal mehr wusste, zu welcher Gruppe sie eigentlich gehören wollte... denn jeder war doch der Ansicht, dass sie eigentlich zu den anderen gehen sollte.

Die Zeit schleppte sich dahin und schien doch zu rasen, ein Tag folgte auf den anderen, gleichförmig, unförmig, zäh wie Kaugummi, während Anne sich wünschte, dass sie nur schneller vergingen, damit sie wieder schlafen konnte... denn im Schlaf ließ der Schmerz ein wenig nach. Die Tage und Wochen verloren ihre Konturen, verwandelten sich in eine zähe, graue Masse, die sich vor und hinter ihr dahinzuwälzen schien, ob sie aufstand oder im Bett blieb... es machte keinen Unterschied mehr.

Sie hatte die Orientierung verloren... konnte kaum noch auseinander halten, was sie wann getan hatte und was sie wann tun wollte... die einzelnen Tage verloren sich in ihrer düsteren Erinnerung, hinter geschlossenen Vorhängen und gedämpftem Licht, das unabhängig vom Wetter vor der Tür hier immer schien. Gemeinsam mit Lucas schien sie auch ihren Kompass verloren zu haben, noch vor wenigen Wochen war ihr Leben ihr so klar erschienen, so... definiert, so scharf abgegrenzt, mit Zielen und Hoffnungen, Träumen... jetzt war alles fort.

Eine Pause hatte sie machen wollen, nachdem sie ihre Ausbildung abgeschlossen hatte, für zwei Jahre oder drei, eine Familie gründen, vielleicht auch heiraten... diese Perspektive hatte sie jetzt verloren, und bis jetzt gab es keine Anzeichen, dass sich das vielleicht ändern würde. Lucas hatte sich nicht gemeldet, kein einziges Mal... nicht einmal ihre Eltern hatten abgehoben, als sie sie angerufen hatte. Auch hier schien er schneller gewesen zu sein, aber es war nicht so, dass sie nicht damit gerechnet hätte...

Emmas Beispiel hatte sie gewarnt... ihr gezeigt, dass Liebe und Zuneigung von Mom und Dad nichts Selbstverständliches waren, bis sie es schließlich nicht mehr ertragen hatte und entschieden, dass sie ihr Leben in die eigenen Hände nehmen wollte. Anne hatte sie immer bewundert dafür, nicht geglaubt, dass sie selbst dafür die Kraft hätte... und jetzt, wo sie in derselben Situation war, stellte sich diese Einschätzung durchaus als richtig heraus. Sie war nicht so stark wie ihre Schwester, so unnachgiebig und voller Energie... und doch würde ihr bald keine Wahl bleiben, als irgendetwas zu ändern.

In dieser Hinsicht sprach ihr Kontostand eine sehr deutliche Sprache, zwar brauchte sie im Moment kaum Geld... aber kaum war noch immer viel zu viel, wenn man kein eigenes Einkommen hatte, und auch auf ihre Kreditkarte würde sie bald nicht mehr ausweichen können. Noch ein gebrochenes Versprechen... Lucas hatte ihr gesagt, dass sie sich nicht bewerben müsse, nicht nach einer Stelle suchen... wo er doch für sie und ihr Kind sorgen würde... aber das hatte sich auch geändert, und zwar schneller, als sie es für möglich gehalten hätte.

Jetzt war es fast zu spät, um nach Arbeit Ausschau zu halten... die Sommerferien bereits vorüber, die meisten Lehrerstellen schon besetzt... aber irgend etwas musste sie tun... denn die Angst, auf der Straße zu stehen, die Wohnung zu verlieren, war im Moment wohl das Einzige, das sie genügend antreiben konnte, um etwas zu ändern...
 

Ablehnungen. Ablehnungen. Nichts als Ablehnungen.

Anne hatte lange aufgehört zu zählen, wie viele von diesen höflichen, ausweichend formulierten, langatmigen Briefen sie bekommen hatte, die doch alle zum Ziel hatten, ihr zu erklären, dass sie sie nicht haben wollten, dass sie sie als unfähig ansahen, Verantwortung für die Kinder an ihrer Schule zu übernehmen, und das nur, weil irgend etwas an ihren Genen anders war. Natürlich hatte das niemand zugeben wollen... sie alle hatten Gründe gefunden, wieso sie all diese Stellen nicht antreten konnte, selbst die als Assistenzlehrerin oder als Aushilfskraft, für die sie eindeutig überqualifiziert war. Und doch...

Anne schüttelte den Kopf. Was hatte sie sich eigentlich gedacht dabei, die Wahrheit zu sagen, in ihre Bewerbungen zu schreiben, dass sie eine Mutantin war? Nur jemand, dessen Naivität fast grenzenlos war, konnte auf eine Idee wie diese kommen nach allem, was Magneto und die Bruderschaft der Mutanten in San Francisco angerichtet hatten. Natürlich... ein Mutant war Botschafter der Vereinigten Staaten bei den Vereinten Nationen geworden, doch das war bloß ein Feigenblatt, ein nötiges politisches Zugeständnis, das nicht wiederspiegelte, was der Mann und die Frau auf der Straße dachten. Deren Hass und Furcht waren nur größer geworden, nicht kleiner, und auch wenn sie zugeben mochten, dass es vielleicht Mutanten geben konnte, die nicht unberechenbar und gefährlich waren... dass es einer von ihnen in ihrer Nähe wohnen könnte, sogar ihre Kinder unterrichten, auf diese Idee kamen sie nicht.

Anne schnaubte bitter und ließ den neuen Stapel dicker Briefe, die ihre zurückgesandten Bewerbungsunterlagen enthielten, auf die letzte freie Ecke des Küchentisches fallen. Einige Umschläge waren dünner, natürlich, aber auch bei ihnen hatte sie nicht besonders viel Hoffnung... es gab immer Schulen, die sich das Rückporto ersparen wollten. Und doch... ein merkwürdiger Impuls, oder vielleicht auch ein letzter Rest von Hoffnung, Anne wusste es nicht, trieb sie dazu, sich zu versichern, langsam, fast mechanisch jeden einzelnen Brief zu öffnen, die Zeilen zu lesen, die das Bedauern der Direktoren ausdrückten. Bedauern... natürlich. Die sind heilfroh, dass sie mich nicht nehmen müssen... und nicht einmal alle schaffen es, diese Tatsache aus ihrem Stil herauszuhalten.

„Es tut uns leid... müssen ihnen mitteilen... haben bedauerlicherweise keine Verwendung...“ Fast spuckte sie die Phrasen aus, die mittlerweile so kalt und abgegriffen klangen, so gestelzt und herzlos, dass sie sie kaum mehr hören konnte, und knüllte den ersten Brief zusammen. Ihre ganze Wut und ihren ganzen Zorn, der sich in den letzten Tagen aufgebaut hatte, steckte sie in die Bewegung, dann warf sie die Papierkugel gegen die Wand, so fest sie konnte.

Es half nicht.

Ein neuer Umschlag, diesmal mit ihrer Bewerbungsmappe darin, Anne zerriss ihn, ohne überhaupt hinzusehen. Der nächste, diesmal mit einigen losen Blättern darin, sie schleuderte ihn durch die Küche, beobachtete mit Befriedigung, wie die Zettel auf den Boden segelten, sich mit leeren Packungen und ihrer Kleidung, die sie irgendwann, vor langer Zeit, achtlos fallen gelassen hatte, vermischte. Müll. Alles nur Müll, und mein Leben kann ich gleich dazuwerfen. Es hat ja doch keinen Zweck.

Noch ein Brief, diesmal aus dickeren Material, fast Karton, er setzte ihr Widerstand entgegen, sie fühlte, wie ein Fingernagel abbrach und begrüßte den Schmerz, spürte, wie sich ihre ganze Wut entlud, als sie ihn schließlich in zwei Hälften riss. Die kleineren, dünneren Umschläge, sie zerteilte sie fast akribisch in kleine, säuberliche Längsstreifen, aus denen sie Quadrate formte, während sie sich abwesend fragte, was sie hier eigentlich tat.

Ihr Zorn auf die Welt ließ langsam wieder Gedanken zu, während er verrauchte, nur Leere hinterließ, die langsam vom Schmerz und der Einsamkeit gefüllt wurde, und Anne stiegen die ersten Tränen in die Augen. Ihre verschwommene Sicht verdeckte das Chaos, das sie um sich herum hinterlassen hatte, und fast blind griff sie nach den restlichen Briefen auf ihrem Küchentisch, schaffte es gerade noch, sie ungelesen auf den Müll zu werfen, bevor sie sich auf ihr Bett fallen ließ und ihr ganzes Elend herausschrie, in der Hoffnung, das würde irgend etwas ändern.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Alaiya
2009-11-16T12:30:21+00:00 16.11.2009 13:30
Das Kapitel zog sich für meinen Geschmack etwas - weil das Selbstmitleid halt doch nicht unbedingt das ist, was man unbedingt lesen will. Ich mein, es ist teilweise verständlich, aber trotzdem zu... Whiny halt xD"
Wobei ich eins nicht verstehe: Das Mutant Registration Gesetzt wurde doch gar nicht durchgesetzt. Sie ist nicht verpflichtet in eine Bewerbung zu schreiben, dass sie Mutantin ist. Und so lange sie nicht Straffällig geworden ist, sollte das auch nirgendwo vermerkt sein - soweit ich die Filme verstanden hab.
Dafür waren aber weniger Groß-/Kleinschreibungsfehler in dem Kapitel. Machte das Lesen einfacher ^^


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