Who am I now?
And when will I be found?
What if I drown?
I’m going under now...
Saliva: “Going Under“
Er schwebt im Nichts.
Stilles, schwarzes, kaltes Nichts. Über ihm befindet sich kilometerweise nichts als Nacht.
Alles um ihn herum ist kalt und dunkel und er ist völlig regungslos. Schwerelos.
Wassertropfen perlen unablässig in seine Augen und verwischen seinen Blick, verwandeln die Sterne über ihm in unscharfe, verschmierte Glitzerstreifen. Blut rauscht in seinen Ohren und sein Herzschlag ist ein fernes, dumpfes Dröhnen in seiner Brust. Jedes leise Plätschern hallt laut und metallisch in seinen Ohren.
Plitsch. Plitsch.
Er hält seinen Atem flach.
Sie hören dich nicht, wenn du nicht atmest.
Kleine Wellen schwappen über sein Gesicht und er hat die Lippen hartnäckig zusammengepresst. Nicht verschlucken. Nicht husten. Seine Kleider sind nass und schwer, vollgesaugt mit Seewasser, und ziehen ihn millimeterweise weiter und weiter nach unten. Er hat die Arme und Beine so weit wie möglich an der Wasseroberfläche ausgebreitet, genauso wie Dean es ihm irgendwann einmal gezeigt hat.
Er ist ganz still.
Etwas Breites, Schleimiges streift seine Hand und Sam schaudert und schließt die Augen. Nicht zusammenzucken. Nicht bewegen.
Algen. Das sind nur Algen. Oder ein toter Fisch. Verwester Abfall. Stell dich nicht so an, Sammy. Das ist nichts, was dich töten kann. Nichts, was seine rasiermesserscharfen Zähne in deiner Haut versenken und dich auf den Grund des Sees ziehen kann. Zuck nur nicht zusammen.
Sie sehen dich nicht, wenn du dich nicht bewegst.
Wie tief ist das Wasser unter ihm? Zwei Meter? Zehn? Zwanzig? Fünfzig? Kann ein See so tief sein, dass man für immer darin verschwindet?
Er ist sicher, dass seine Zähne klappern würden, wenn er seinen Kiefer nicht so fest zusammenpressen würde, dass es schmerzt.
Seit zehn Minuten möchte er nichts anderes tun als nach seinem großen Bruder schreien. Aber er schweigt und rührt sich nicht, atmet ganz leise und flach und lässt sich durch das Wasser treiben wie eine Leiche.
Sie jagen nur lebende Beute.
***
„Sie jagen nur lebende Beute, Sammy.“ Deans faszinierter Tonfall machte klar, dass er viel zu viel Spaß an dieser Tatsache hatte.
„Warum?“
„Warum? Keine Ahnung warum. Vielleicht saftigeres Fleisch oder so …“ Dean schnippte ihm mit einem Finger gegen die Stirn. „Die wollen halt, dass es noch zappelt. Du jammerst doch auch immer, wenn dein Steak zu zäh ist.“
Sam wedelte seine Hand beiseite und verzog das Gesicht. „Lass das.“
„Vielleicht mögen sie es auch nur, wenn sie eine Weile mit ihrem Essen herumspielen können.“
Sam warf seinem Bruder einen vielsagenden Blick zu. „So wie du?“
Dean sah beinah gekränkt aus. „Hey! Ich spiele nicht mit meinem Essen.“
„Du baust Ferienparks aus Gemüse, Dean. Mit Nacktbadestrand.“
Es war Sams Hobby, einfach alles an peinlichen Dingen über seinen großen Bruder zu wissen. Es war traurigerweise auch das einzige Hobby, was ihm sein Vater noch nicht weggenommen hatte.
„Und wenn schon. Manche Menschen würden das als Kunst bezeichnen und jede Menge Geld damit verdienen.“
„Brüste“, sagte Sam gedehnt, „aus Kartoffelbrei.“
Dean grinste selbstgefällig. „Was im übrigen die einzigen Brüste sein werden, die du jemals zu Gesicht bekommen wirst, Samantha.“
Sam verdrehte die Augen.
Irgendwann um seinen sechzehnten Geburtstag herum war eine mysteriöse Wandlung mit Dean geschehen. Von einem Tag auf den anderen hatten Frauen angefangen sich in der Gegenwart seines Bruders seltsam aufzuführen. Und Dean hatte angefangen sich in ihrer Gegenwart in einen völligen Idioten zu verwandeln. Er nannte sie nicht mehr „Beth“ und „Lisa“, sondern „Babe“ und „Schätzchen“, und er machte Dinge mit seinen Augen und seinen Lippen, die aus unerfindlichen Gründen sämtliche Mädchen in schiere Verzückung ausbrechen ließen. Sam hatte keine Ahnung, wieso. Er hatte das vor dem Badezimmerspiegel ausprobiert und er sah aus wie ein vollkommener Idiot, wenn er seine Lippen vorschob oder schräg von unten hochguckte.
Seitdem war „Brüste“ ein Thema, das in Deans Gesprächen andauernd auftauchte und deren Faszination Sam noch nicht ganz für sich erschlossen hatte.
Sie waren groß und wackelten. Na und? Wackelpudding wackelte auch und den gab es wenigstens in verschiedenen Farben.
„Idiot“, erwiderte er in Ermangelung etwas Besserem.
„Zicke.“
„Jungs.“ Dads Stimme war ganz ruhig und trotzdem bewirkte sie, dass er und Dean sich sofort grade hinsetzten und die Lippen zusammenpressten. „Konzentriert euch.“
„Ja, Sir.“ Dean nickte gehorsam und warf einen Seitenblick auf Sam, der rebellisch den Unterkiefer vorschob und erst nach einigen Sekunden ein kaum hörbares „Ja, Sir“ murmelte.
„In den letzten drei Monaten sind hier sechs Menschen gestorben. Ich möchte, dass ihr das ernst nehmt.“
„Natürlich, Sir.“ Dean sah betreten aus und vergrub den Kopf erneut in dem Buch, das Bobby ihnen besorgt hatte. Das schummerige Lampenlicht glänzte auf seinen Haaren.
Und Sam hatte das dumpfe Gefühl, dass das schon wieder kein guter Augenblick war, um auf seine anstehende Klausurenwoche zu sprechen zu kommen.
Es war nie ein guter Augenblick. Nie war irgendetwas wichtiger als Leben zu retten, und manchmal konnte er es einfach nicht mehr hören.
Er senkte den Kopf, um dem forschenden Blick seines Vaters auszuweichen.
***
Ich bin ein Stück Holz, meditiert Sam. Ich bin nur ein Stück Holz. Leblos, tot, völlig belanglos. Ich treibe völlig harmlos an der Oberfläche. Ich bin keine Beute. Ich bin nur ein Stück Holz.
Wie weit ist es bis zum Ufer?
Sicher nur ein paar Meter. Vielleicht zwanzig. Vielleicht mehr. Es ist so schwer Entfernung über das Wasser abzuschätzen.
Er kann das Ufer beinah sehen aus den Augenwinkeln. Wenn er den Kopf nur drehen könnte, nur ein winziges bisschen.
Aber wozu? Sogar wenn er es sehen würde und es weniger als zehn Meter entfernt wäre …
Du darfst dich nicht bewegen, Sammy. Versuch nicht zu schwimmen, egal wie nah es ist. Denk nicht, dass du es jemals ans Ufer schaffst. Sei ganz still. Egal, was passiert, beweg dich nicht oder du bist tot.
„…am! SAM?“
„Sammy!“
Hin und wieder hört er ihre Stimmen. Sie sind weit weg und verschwommen durch das Wasser in seinen Ohren, blenden ein und aus wie eine schlecht eingestellte Radiofrequenz. Er muss sich auf die Unterlippe beißen, um nicht zu antworten; und er beißt so fest, dass es blutet.
Ab und zu sieht er Lichtkegel, die in seine Richtung wandern, aber jedes Mal gleiten sie an ihm vorbei. Das sind Dean und Dad. Sie sind nah und fern und so unendlich weit weg. Und er ist ein Stück Holz, er ist nur ein Stück Holz, ein winziges Stück Treibholz in einem riesigen, schwarzen See und sie werden ihn niemals finden …
Das gewalttätige Zittern, das durch seinen Körper läuft, lässt das Wasser um ihn herum erbeben. Atmen, Sam, tief durchatmen. Aber nicht zu tief.
September in Wisconsin bedeutet, dass die Nächte so kalt sind wie November.
Das Wasser ist eisig. Er kann seine Beine nicht mehr spüren und sekundenlang hat er die irrationale Angst, dass sie längst ihre Zähne in seinen Knöcheln versenkt haben, ohne dass er es mitgekriegt hat, und ihn jeden Moment nach unten zerren.
Er macht die Augen zu und schaudert.
Atmen, ganz ruhig atmen. Behalt die Nerven, Sammy. Nicht zucken, nicht bewegen. Nicht hyperventilieren. Halt durch. Du kannst das.
Es ist komisch, dass die beruhigende Stimme in seinem Kopf immer den Tonfall seines Bruders hat. Nicht, dass er das jemals zugeben würde.
Langsam zwingt er seine Augen wieder auf. Er darf jetzt nicht vor sich hindösen. Panisches Adrenalin, das durch seine Adern pumpt, ist vielleicht das einzige, was ihn bei Bewusstsein hält. Wenn er einschläft, ist es aus und vorbei.
Als es diesmal feucht über sein Gesicht tropft und sein Blick verschwimmt, ist er nicht sicher, ob es Seewasser ist.
Nachträglich wünscht er sich, er hätte Dad besser zugehört.
Nachträglich wünscht er sich, er wäre nicht so sauer gewesen.
Nachträglich wünscht er sich eine Menge Dinge.
***
„Aber das ist wie Arielle! Killer!Arielle mit einer Bazooka! Das ist besser als Kino! Das willst du nicht verpassen. Ich meine, komm schon … menschenfressende Psycho-Meerjungfrauen. Wahnsinn.“ Deans Augen waren groß und bettelten, aber sein Tonfall klang nicht aufgesetzt, sondern aufrichtig begeistert. Manchmal machte Sam sich wirklich Sorgen um seinen Bruder.
„Da~ad“, wiederholte er und vermied den Blick auf Deans Gesicht, weil er genau wusste, wie sein Lächeln auseinanderfiel, wenn Sam ihn ignorierte. Aber es ging hier nicht um Dean. Und er würde anfangen, das zu glauben, wenn er es nur oft genug wiederholte.
„Die Antwort lautet nein, Sam.“ Die Messer klirrten leise, während Dad sie auf ihre Schärfe überprüfte, und hin und wieder Deans eins zum Nachschleifen reichte. Er sah nicht einmal auf.
„Aber das ist nicht FAIR.“
„Die Diskussion ist beendet, Sam.“
Diskussion? Was für eine Diskussion? Als ob es jemals irgendetwas zu diskutieren gab! Als ob sein Vater jemals zuließ, dass irgendetwas diskutiert wurde!
Sam spürte Wut in sich hochsprudeln wie heiße Lava und sekundenlang wollte er seinem Vater das verdammte Poliermittel aus der Hand reißen und gegen die Wand schleudern. Manchmal machte Dad ihn so wütend …
„Sammy, komm her. Lass uns …“ Er spürte Deans Hand auf seinem Arm und riss sich ruckartig los. Er wollte sich jetzt nicht ablenken und beruhigen lassen wie ein kleines Kind.
„Wieso kann ich nicht hier bleiben und für Mathe lernen?! Wieso sind die Dinge, die ich will, immer so unwichtig, dass du nicht einmal darüber nachdenken kannst?!“ Seine Stimme brach und überschlug sich, und er hasste, hasste, hasste seinen Stimmbruch in diesem Moment so sehr; er spürte es beinah körperlich.
Das Geräusch, als sein Vater das Messer auf den Tisch fallen ließ, war lauter als erwartet, und Sam zuckte unwillkürlich zusammen.
„Es geht hier um Menschenleben, Sam. Nicht um die Note in einer Mathearbeit.“ Dads Stimme war tief und grollend und nachhallender als jedes Brüllen. Und natürlich – natürlich – kam er wieder mit seinem Todschlagargument, mit dem immer alle Diskussionen im Hause Winchester im Keim erstickt wurden. Tu was ich sage oder Menschen sterben. Es ist egal, was du möchtest. Menschen sterben. Die Wünsche für dein eigenes Leben sind nicht so wichtig. Menschen sterben.
„Ich weiß das, Dad! Aber wieso können du und Dean das nicht alleine machen?! Wieso müssen wir zu dritt sein …für Meerjungfrauen?!“ Er hatte nie darum gebeten, das zu machen. Er hatte nie darum gebeten, dabei zu sein.
Und wie soll er jemals, jemals aus diesem beschissenen Leben aussteigen, wenn er nicht einmal die achte Klasse bestehen würde. Wie sollte er jemals eine Wahl haben, wenn er keinen Schulabschluss hatte?
„Dad, er hat Recht.“ Dean war aufgestanden und neben seinen Vater getreten. „Wir schaffen das auch alleine. Wir könnten …“
„Das ist keine Diskussionsfrage, Sam. Das ist ein Befehl.“ Dads Augen bohrten sich in sein Gesicht und er ignorierte Dean genauso wie Sam zuvor. Seine Stimme war schneidend. Aus den Augenwinkeln sah Sam Deans unglückliches Gesicht. „Und jetzt geh und pack deine Sachen.“
Sam war so wütend, dass er beinah vibrierte, und seine Kehle war so zugeschnürt, dass er reflexartig schluckte. Selbst wenn er Worte gehabt hätte, hätte er keins davon hinausgebracht.
„Aber könnte er nicht …?“
„Dean.“ Dads Stimme war eisig. „Halt dich da raus.“
Dean schob die Hände in die Hosentaschen und zog die Schultern hoch in einer unbewussten, unbehaglichen Geste. Seine Augen flackerten zwischen Sam und Dad hin und her. „Ja, Sir.“
„Pack deine Sachen, Sam. Und bring mich nicht dazu, es zum dritten Mal zu sagen.“
Und einmal, ein einziges Mal nur wollte Sam sich durchsetzen und gewinnen und mit seinem Leben etwas anstellen, das Dad nicht für ihn geplant hatte. Aber er senkte den Kopf und atmete tief ein.
„Jawohl, Sir“, spuckte er aus, und es war volle Absicht, dass das ‚Sir’ klingt wie eine Beleidigung.
***
Etwas streift seinen Arm und Sam erstarrt. Er spürt, wie sein Puls in die Höhe schnellt, und wie sein Herz inne hält und in seiner Brust strauchelt.
Nein. Nein. Nein.
Nicht bewegen. Nicht atmen. Er zählt innerlich bis zwanzig und stolpert über die Zahlen.
Ich bin ein Stück Holz, ich bin ein Stück Holz, ich bin ein Stück Holz …
Es ist zuckend und schnell, zu schnell, um etwas Totes zu sein. Es streift erneut seinen Arm, pulsierend und schuppig, wie etwas Lebendiges, Atmendes, Tödliches. Er kann die Bewegung des aufgewühlten Wassers spüren, als sie unter ihm hindurch gleiten. Der Schrei steckt in seiner Kehle fest, rau und schmerzhaft wie Metallsplitter. Als er auf seine Lippen beißt, schmeckt er Blut.
Halt die Klappe, sei still, Sam, sei still.
Es sind nicht die nadelspitzen Zähne, vor denen er am meisten Angst hat.
Sie töten sie nicht sofort. Sie ziehen ihre Opfer nach unten, immer tiefer … bis auf den Grund des Sees.
Er spürt es überall im Wasser, unter sich und um sich herum. Aufgeladen wie Elektrizität. Wie ein Fischschwarm, glitzernd und pulsierend. Er fragt sich, wie viele es sind. Vielleicht drei oder vier … oder zehn …
Auf Beutejagd.
Seine Finger zittern. Er möchte die Hände zu Fäusten ballen und kann nicht, darf nicht. Und er hat solche Angst vor der Dunkelheit unter der Oberfläche.
^Fortsetzung folgt^
Anmerkung: Wie man merkt, versuche ich mich nicht allzu oft an "spannenden" Sachen. Mein Gebiet ist eher Kitsch und Drama (keine Angst, das kommt auch noch massenweise ;P). Deswegen bin ich noch viel am Üben und ausprobieren und sehr auf eure Meinung angewiesen - seid so liebt und lasst mich wissen, wie ihr es findet. =)