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Green Sea of Darkness

von

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Die unglaubliche Geschichte des Admiral James Norrington war auch Wochen nach seiner Ankunft noch das vorherrschende Gesprächsthema in Port Royal. Obwohl ihn die wenigsten tatsächlich zu Gesicht bekommen hatten, schien er von der Aura eines Heiligen umgeben. Einige schrieben ihm gar übernatürliche Kräfte zu und es hätte wohl niemanden verwundert, wäre die schützende Hand Gottes persönlich in seinem Schlepptau erschienen. Schließlich konnte er den spektakulären Untergang der Endeavour kaum ohne himmlischen Beistand überlebt haben, ganz gleich, was man sich über seinen Heldenmut und seine herausragenden nautischen Fähigkeiten erzählen mochte.
 

Noch bevor er selbst die Hafeneinfahrt von Port Royal passiert hatte, spekulierte die gesamte Stadt über seine vermeintlichen Überlebenskampf und all die einsamen Tage und Nächte, die er auf dem Wasser treibend zugebracht hatte. In den Spelunken trank man darauf, dass er den schrecklichsten Piraten der Karibik entwischt war, und selbst die Sonntagspredigt einiger abenteuerlustiger Pastoren ließ ihn nicht unverschont. Ein dichterisch begabter Gastwirt schrieb sogar eine Ballade, die jedoch schnell in Vergessenheit geriet, weil sich niemand ihren Text merken konnte.
 

Allein James Norrington selbst konnte keinerlei Angaben zu seiner eigenen Geschichte machen. Er erinnerte sich daran, dass er auf der Flying Dutchman, dem berüchtigten Schiff des Davy Jones gewesen war, doch diese Information verschwieg er beharrlich. Wie er richtig vermutete, hätte ihm ja doch niemand geglaubt. Er hatte Elizabeth Swann zur Flucht und sich selbst damit ins Jenseits verholfen. Auch daran konnte er sich noch verschwommen erinnern, doch was danach passiert war, glich einem Strudel aus Stille und Dunkelheit, dem er keine Details abzuringen vermochte.
 

Und dann war er plötzlich am Kai von Bridgetown aufgewacht, gekleidet in eine Uniform der East India Trading Company, komplett mit Hut und Perücke. Er hatte keinerlei Erklärung dafür, wie er dort gelandet war - abgesehen von einer Vielzahl an gleichermaßen unglaublichen Mutmaßungen, die er eine nach der anderen wieder verwarf. Seine Großmutter zuhause in Surrey hatte ihm als Kind einmal von einem Frosch erzählt, der an einem heiteren Sommernachmittag plötzlich vom Himmel gefallen war.
 

Nun, James wusste jetzt, wie sich dieser Frosch wohl gefühlt haben mochte.
 

Schließlich war er an Bord eines Handelsschiffes nach Port Royal zurückgekehrt und hatte dort erfahren müssen, dass es eine Schlacht gegeben hatte, bei der überraschenderweise niemand zu Schaden gekommen war. Niemand, außer Lord Cutler Beckett und seiner Besatzung. Augenzeugen berichteten von einem riesigen Mahlstrom, der sich urplötzlich vor ihnen aufgetan und zwei Schiffe verschlungen hatte. Eben diese beiden Schiffe waren nach einer ganzen Weile wieder aufgetaucht und hatten die Endeavour, das Flaggschiff der East India Trading Company in Stücke geschossen. James Norrington, der zu Cutler Becketts unmittelbarer Entourage zählte, schien den Angriff als einziger überlebt zu haben.
 

So war die ganze Angelegenheit beiseite gelegt worden, ohne dass eine übersinnliche Erklärung überhaupt nur in Erwägung gezogen werden musste. Wie er nach Bridgetown gekommen war, blieb natürlich der Spekulation überlassen, zufällig vorbeikommende Eingeborene erschienen Samuel Bridenbaugh, Cutler Becketts hastig ernanntem Nachfolger jedoch eine mögliche Option. Er war eigens aus Barbados angereist, um seine erste Amtshandlung anzutreten und den mysteriösen Tod seines Vorgängers zu untersuchen. James hatte den Eindruck gewonnen, dass er die Sache so schnell wie möglich hinter sich bringen wollte, um sich in Ruhe seiner frisch angetrauten Ehefrau widmen zu können. Sie war ein zartes Ding, jung und blond, und damit in jeder Hinsicht das genaue Gegenteil von Bridenbaugh, dessen Leibesfülle an einen gestrandeten Wal erinnerte.
 

Bei dem Gedanken an Mrs. Bridenbaughs engelsgleiches Erscheinungsbild vollführte James’ Magen einen schmerzhaften Salto. Nicht lange nach seiner Rückkehr hatte er sie in Begleitung ihres Mannes durch die Stadt spazieren sehen, ein Traum in hellblauer Seide, und für den Bruchteil einer Sekunde hatte er geglaubt, Elizabeth Swann vor sich zu haben. Er wollte ihr entgegenlaufen, doch just in diesem Augenblick hatte seine Haushälterin Mrs. Lidford zum Tee geläutet und ihm damit die Peinlichkeit einer solchen Szene erspart.
 

Nach drei Wochen des Grübelns war James schließlich zu seinem neuen Vorgesetzten beordert worden. Das Gespräch war informell gewesen und hatte nicht länger als eine halbe Stunde gedauert. Bridenbaugh hatte Becketts Büro nahe Fort Charles sang- und klanglos übernommen und sich auch nicht die Mühe gemacht, etwas daran zu verändern. James erkannte die riesige Weltkarte an der Wand wieder, ebenso den Cognacschwenker und sogar das Teeservice. Bridenbaugh hatte ihm weder Tee noch Cognac angeboten, doch auf derlei Plattitüden hätte James ohnehin nie sonderlich großen Wert gelegt.
 

Stattdessen hatte er gehofft, ein wenig Licht in das Dunkel seiner derzeitigen Existenz zu bringen. Leider vergeblich, wie sich nur allzu schnell herausgestellt hatte.
 

„Sir?“, ergriff er noch einmal das Wort, nachdem ihn Bridenbaugh freundlich aber bestimmt entlassen hatte. Er hatte die Frage eigentlich nicht stellen wollen, doch die Worte hatten sich ganz von selbst auf seine Zunge geschlichen. „Wisst Ihr, was mit Elizabeth Swann geschehen ist?“
 

Falls die Frage Bridenbaugh überraschte, zeigte er es nicht. „Leider nein, Admiral. Von ihr fehlt nach wie vor jede Spur, ebenso wie von ihrem Verlobten.“
 

„Und ihrem Vater. Lord Beckett hat Gouverneur Swann umgebracht.“
 

„Das sagtet Ihr bereits. Ich rate Euch, in dieser Angelegenheit den neuen Gouverneur zu konsultieren. Sobald er hier eingetroffen ist, versteht sich.“ Die Schärfe in Bridenbaughs Worten ließ nicht den geringsten Zweifel daran aufkommen, dass er die Sache für erledigt hielt. Ein Mordfall kam ihm denkbar ungelegen – insbesondere einer, in den sein Vorgänger und Mentor verwickelt war. Demonstrativ legte er ein Aktenbündel beiseite, das rein gar nichts mit der Sache zu tun hatte und nickte seinem Gast zu. Norrington verstand und wandte sich zur Tür, als ihn Bridenbaughs Stimme noch einmal einholte.
 

„Oh, und Admiral: Wenn ich Euch einen guten Rat geben darf: Ruht Euch ein wenig aus und versucht, die ganze Sache zu vergessen. Ich werde in nicht allzu ferner Zukunft nach Barbados zurückkehren, und die Company braucht einen Repräsentanten in Port Royal. Ich hoffe, auf Euch zählen zu dürfen.“
 

*~*
 

Er durfte. Wider besseren Wissens (und Gewissens) fand sich James Norrington nur wenige Wochen später an einem überdimensionierten Schreibtisch wieder. Natürlich war er auch als Commodore mit vielerlei Papierkram belästigt worden, allerdings war er damals vor allem Seemann gewesen, hatte Schiffe inspiziert und von Zeit zu Zeit Jagd auf eine Handvoll Piraten gemacht. Damit war nun endgültig Schluss. Sein Gehalt hatte eine beträchtliche Verbesserung erfahren, dafür beschränkte sich sein Aufgabenfeld nun darauf, Unterlagen zu sichten, Unterschriften zu leisten und möglichst wenige Fragen zu stellen. Kurz und gut: Er langweilte sich schrecklich.
 

Cutler Becketts Büro war nun endgültig in seinen Besitz übergegangen, minus des Teeservices, des Cognacschwenkers und der Weltkarte, die er durch ein monumentales Ölgemälde ersetzt hatte. Sturmumtoste Wellen brachen sich am Bug eines stolzen Dreimasters, dessen blendend weiße Segel sich in einen aschgrauen Himmel erhoben, das Ensemble eingefasst in einen schweren Silberrahmen. Norringtons Assistent Jeremiah Talbot fand das Bild deprimierend, was auch durchaus der Wahrheit entsprach.
 

James wollte deprimiert sein. Immerhin war er nicht nur im wahrsten Sinne des Wortes vom Himmel gefallen, ohne die von Gott geschuldete Erklärung zu erhalten; seine Freunde waren allesamt tot, und es stand zu befürchten, dass er selbst einen nicht unerheblichen Teil dazu beigetragen hatte. Selbst Sparrow hatte diesmal offenbar mit dem Leben bezahlt, was James näher ging, als erwartet. Sicher, der Pirat war eine Nervensäge und das eiternde Geschwür seiner ruhigen Tage in Port Royal gewesen, doch er hatte auch einen exzellenten Sündenbock abgegeben. Über all die Jahre hatte es James’ Gewissen sichtlich erleichtert, die Schuld für den Verlust seiner Verlobten, seines Schiffes und schlussendlich seines Postens bei Sparrow zu suchen. Der notorische Gauner machte sich offenbar einen Spaß daraus, sein Leben systematisch zu zerstören. Und nun war er fort, und James musste diese Aufgabe selbst übernehmen.
 

Bisher hatte er sich damit auch alle Mühe gegeben. Er hätte seine Beziehungen bei der Royal Navy spielen lassen und einen Posten irgendwo in den Kolonien annehmen können. Er hätte nach England zurückkehren oder sogar Ferien machen können. Doch stattdessen hatte er Bridenbaughs Angebot akzeptiert und betätigte sich nunmehr als Buchhalter. Der niemals schrumpfende Stapel Pergament auf seinem Schreibtisch war eine Quelle beständiger Frustration, die ihn auch an diesem Abend bis lange nach Sonnenuntergang im Büro hielt.
 

Er war mittlerweile so verzweifelt, dass er jegliche Dinnereinladung annahm, die sich ihm bot. Allein in der letzten Woche hatte er drei Matronen mit heiratswilligen Töchtern einen Besuch abgestattet, doch ausgerechnet an diesem Abend schien niemand in Port Royal eine Gesellschaft zu geben. Er seufzte tief, goss sich ein Glas Rotwein ein und wandte sich wieder den Papieren zu. Eine Frachtliste, eine Einfuhrerlaubnis, ein Gesuch um finanzielle Mittel für die Erneuerung der Takelage eines Schiffes, ein Fall von Piraterie an der westafrikanischen Goldküste …
 

Er seufzte noch einmal und ging zu dem großen Regal hinüber, in dem Beckett seine Akten aufbewahrt hatte. Trotz seiner Bemühungen war es James nach wie vor nicht gelungen, die Arbeitsweise der Company zu durchschauen. Talbot war ihm eine große Hilfe, doch auf sich allein gestellt war er noch immer so gut wie hilflos, wenn es um finanzielle Transaktionen ging. Alles drehte sich immer nur ums Geschäft, eine Denkweise, die er sich erst aneignen musste. So suchte er nach einem Hinweis darauf, wie Gelder für Reparaturarbeiten bisher gehandhabt worden waren und stieß schließlich auf ein Fach mit viel versprechender Aufschrift: „Schäden und Versicherung“ stand dort in ordentlichen Lettern geschrieben und er zog den Kasten aufs Geradewohl heraus. Der Inhalt hielt allerdings keineswegs die Ordnung, die der äußere Anschein versprach und ergoss sich auf den Boden des Büros.
 

James stieß eine Reihe von Flüchen aus, die ihn aus dem Mund eines anderen sicherlich in Empörung versetzt hätten. Dann bückte er sich und machte sich daran, das angerichtete Chaos zu beseitigen. Mit fahrigen Bewegungen schob er die Papiere zu einem ordentlichen Stapel zusammen, ohne dabei auf ihren Inhalt zu achten. Er war beinahe fertig, als sein Blick von einem bekannten Namen angezogen wurde.
 

Das konnte doch nicht wahr sein!
 

Mit klopfendem Herzen nahm er das entsprechende Schriftstück an sich und hielt es hoch, um im Kerzenschein besser lesen zu können. Er hatte sich nicht getäuscht. Das vergilbte Pergament war mit „Der Fall Wicked Wench“ überschrieben und ein kurzer Blick auf den nachfolgenden Text zeigte unmissverständlich, dass eines der dunkelsten Kapitel seiner Vergangenheit soeben dabei war, ihm einen Besuch abzustatten.
 

Kanonendonner hallte in seinen Ohren wider, schwarzer Rauch senkte sich über ihn, und er erinnerte sich an die Schreie, zu grauenvoll, um jemals ganz aus seinem Gedächtnis zu verschwinden. Er war noch sehr jung gewesen, ein frischgebackener Lieutenant, und es war ganz sicher nicht seine Schuld gewesen. Auch nicht die des Kapitäns, denn er hatte nur einen Befehl befolgt. Schließlich hatte keiner von ihnen ahnen können, wie viele Menschen sich an Bord befanden. Menschen, die eigentlich gar keine sein durften und deren Schreie ihm doch so menschlich erschienen waren, wie kein anderer Laut, den er jemals zuvor gehört hatte. Und sie brannten.
 

Gott, sie brannten wie Fackeln, bis das Feuer im Meer erlosch.
 

Norrington bemerkte nicht, wie sich seine Hände zu Fäusten ballten und das Pergament zerknüllten. ‚Schluss damit!’, befahl er sich selbst. Er war übermüdet, deprimiert und hatte mit hoher Wahrscheinlichkeit zu viel getrunken. Seine Entdeckung war weder ein schlechtes Omen, noch ein Wink des Schicksals. Die Wicked Wench war ein Schiff der East India Trading Company gewesen, es war also völlig natürlich, dass sich die zugehörigen Unterlagen hier befanden. Er würde sie einfach zu den anderen auf den Stapel legen, alle zusammen zurück ins Regal stellen und nicht mehr darüber nachdenken. In einem plötzlichen Anflug von Pflichtbewusstsein strich er das Papier glatt, doch als er es zurücklegen wollte, schien sich eine unsichtbare Macht dagegen zu sträuben. Ihm war, als würde er seine eigenen Abgründe für alle Welt zugänglich in einem Aktenschrank deponieren - und dieses Gefühl machte ihm Angst. Kurz entschlossen rollte er das Pergament zusammen und steckte es in die Tasche seines Gehrocks.
 

So schnell er konnte raffte er den Rest zusammen und warf ihn achtlos zurück in das dafür vorgesehene Fach. Wahrscheinlich war es nun gänzlich unmöglich geworden, jemals auch nur ein Dokument darin wiederzufinden, doch das kümmerte ihn in diesem Augenblick herzlich wenig. Mit einem letzten, schuldbewussten Blick auf die ausstehende Korrespondenz löschte er die Lampen und verließ sein Büro.
 

Das Pergament knisterte leise in seiner Tasche und vermittelte ihm das beruhigende Gefühl, seinen Ruf gewahrt zu haben. Eigentlich, dachte er bei sich, war es doch ein Glück, dass er diese Unterlagen gefunden hatte. Vielleicht würde es ihm nun endlich gelingen, zu vergessen.
 

*~*
 

James Norringtons Domizil in Port Royal lag beinahe zwei Meilen vom Kontor der Company entfernt, was ihm einen angenehmen Spaziergang am Meer entlang bescherte. Im Hafen lagen zwei Handelsschiffe, die Constance und die Dove vor Anker und schaukelten ruhig im Abendwind. James seufzte sehnsuchtsvoll und konnte der Versuchung nicht widerstehen, seine Perücke abzunehmen. Das plötzliche Gefühl von Freiheit erinnerte ihn an all die Jahre auf See, und er schloss für einen Moment die Augen. Mit den Schreien der Möwen im Ohr versuchte er sich vorzustellen, der Steg unter seinen Füßen wäre die Kommandobrücke eines Schiffes, doch die Illusion war nur von kurzer Dauer. Jamaika weigerte sich rundheraus, im Rhythmus der Wellen zu schwanken; auch wenn Sparrows Gang Gegenteiliges hätte vermuten lassen.
 

Schon wieder Sparrow!
 

Es war ihm ein Rätsel, warum er immer und immer wieder an den verdammten Piraten denken musste. Seine Zeit als Crewmitglied der Black Pearl gehörte keineswegs zu James’ glücklichsten Erinnerungen, ebenso wenig wie der Verlust seines Schiffes oder der Schwertkampf auf der Isla Cruces. All diese Demütigungen fanden keinen Vermerk in den Akten der Company, den er vom Boden klauben, in die Tasche stecken und verschwinden lassen konnte.
 

Hungrig und erschöpft passierte er schließlich seine Gartenpforte, schritt an den duftenden Bougainvillea-Sträuchern vorbei und schloss die Haustüre auf. Die Eingangshalle war dunkel, was ihn keineswegs erstaunte. Mrs. Lidford war wohl schon vor einer ganzen Weile zu Bett gegangen, der Koch hatte Ausgang und Daisy, das Zimmermädchen war zu ihrer Familie nach Kingston gefahren. Er legte seinen Mantel ab und erwog, die Haushälterin wachzuklingeln, damit sie ihm das Abendessen aufwärmte, entschied sich jedoch im letzten Augenblick dagegen. Sie würde ja doch nicht aufstehen, ganz zu schweigen davon, dass sie ihm die nächtliche Störung noch tagelang nachtragen würde.
 

„Neununddreißig Jahre auf dieser Erde und noch immer nicht dazu in der Lage, sich gegen seine Frau durchzusetzen. Wirklich beeindruckend, Admiral Norrington!“, murmelte er vor sich hin, während er die Tür zum Salon öffnete. Er war angenehm überrascht, dort nicht nur brennende Kerzen, sondern auch ein Tablett vorzufinden. Offenbar war Mrs. Lidford ausnahmsweise guter Laune gewesen und hatte einen Teller mit Sandwiches vorbereitet. Er beglückwünschte sich selbst zu seinem außerordentlich guten Händchen bei der Auswahl von Dienstboten und hob die silberne Speiseglocke an, nur um sie Augenblicke später wieder sinken zu lassen. Der Teller war leer. Lediglich einige Krümel und der traurige Rest eines welkenden Salatblatts deuteten noch an, wo sich sein Abendessen befunden haben musste. Mit gerunzelten Brauen sah er sich im Raum um, doch niemand war zu sehen.
 

Natürlich nicht!
 

Wahrscheinlich gab es für das Verschwinden der Sandwiches eine völlig rationale Erklärung. Mrs. Lidford, der Koch oder sogar eine dieser schrecklichen Echsen kamen ihm in den Sinn. Er schauderte bei dem Gedanken an die kleinen, sandfarbenen Drachen, die sich von Zeit zu Zeit in seinen Garten verirrten. Wenn einer von ihnen sein Abendessen auf dem Gewissen hatte, so befand er sich wahrscheinlich noch immer im Haus, möglicherweise in seinem Schlafzimmer. James stand kurz davor, all seine guten Vorsätze über den Haufen zu werfen und nach Mrs. Lidford zu läuten, als sein gesunder Menschenverstand einsetzte. Der Wein musste ihn völlig benebelt haben!
 

Echsen stahlen keine Sandwiches, um das Tablett anschließend wieder abzudecken – ebenso wenig wie Katzen, streunende Hunde oder anderes Getier. Irgendetwas war hier ganz und gar nicht in Ordnung, und er gedachte, der Sache auf den Grund zu gehen. Entschlossen stürzte er zurück in den Flur, um seinen Degen aus dem dort abgelegten Halfter zu ziehen, doch soweit kam es nicht. Kaum hatte er den Salon verlassen spürte er, dass etwas anders war, als sonst. Er wurde beobachtet. Mit zusammengekniffenen Augen sah er sich in der Dunkelheit der Eingangshalle um, konnte jedoch nichts entdecken, bis … DA!
 

Etwas hatte sich bewegt, dort drüben, genau unter dem Treppenaufgang. ‚Ein Einbrecher!’, schoss es ihm durch den Kopf. Ein Einbrecher, der es offenbar auf Sandwiches abgesehen hatte, dafür jedoch kaum Interesse an der wertvollen Uhr oder dem Tafelsilber hegte.
 

„Hey da, komm sofort raus!“, rief er dem Unbekannten zu. Dabei ging er langsam rückwärts, immer seiner Waffe entgegen, um sich im Ernstfall verteidigen zu können.
 

Nichts geschah.
 

„Ich weiß, dass du da bist. Und ich habe eine Waffe!“
 

Er zog seinen Degen aus dem Halfter, das hinter ihm am Haken ging. Silbernes Mondlicht fiel in die Halle und brach sich auf der frisch geschliffenen Klinge. Dieser unerwartete Effekt zeigte sofortige Wirkung. Unter der Treppe bewegte sich etwas und schließlich konnte James eine schmale Figur ausmachen, die zögernd auf ihn zutrat. Er begab sich in Gefechtsposition, doch der Dieb schien keine Waffe zu tragen. Als die Gestalt in den schmalen Lichtstreifen trat, der aus dem Salon in die Halle fiel, konnte er auch erkennen, warum.
 

Der „Einbrecher“ war ein junges Mädchen, das lediglich mit einem Herrenmantel und hellen Hosen bekleidet war. Sie wirkte schmal, nahezu unterernährt, mit viel zu großen Augen, die ihn aus ihrem schwarzen Gesicht heraus erschrocken anstarrten. James öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch just in diesem Augenblick trat eine weitere Gestalt hervor, dann noch eine, bis schließlich vier Kinder in seiner Eingangshalle standen.
 

Ein hochgewachsener Junge hatte sich zu dem Mädchen gesellt und sah ihn herausfordernd an. Hinter den beiden versteckten sich zwei weitere Kinder, beides Mädchen, die höchstens zehn Jahre alt sein konnten.
 

„W … wer seid ihr?“, fragte James verdutzt. Er wäre mit einem gewöhnlichen Dieb fertig geworden, vielleicht sogar mit einer gefräßigen Riesenechse, doch der Anblick der vier schwarzen Kinder verstörte ihn zutiefst.
 

„Sheza“, sagte das älteste Mädchen zögerlich und zeigte dabei auf seine Brust.
 

„Momoh“, folgte ihr der Junge und trat zur Seite, um auf die beiden Kleinen zu deuten.
 

„Jemi“, sagte er und zeigte auf die rechte von beiden. „ Und Aimen.“
 

Alle vier sahen ihn erwartungsvoll an, als warteten sie auf etwas, doch James war wie versteinert. Aimen trug einen viel zu großen Gehrock, dessen Schöße auf dem Boden aufschleiften. Ein abgetragenes Kleidungsstück aus schwerem blauen Stoff, das er unter tausend anderen wiedererkannt hätte.
 

Es gehörte Jack Sparrow.



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