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Shinta

10 Kurzgeschichten
von

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Isho

Isho 遺書
 


 

誰もわかっちゃくれやしない今僕が苦しみ生き続ける意味を

もう何も欲しくない「生きる」ことに耐える日々

Niemand versteht den Sinn darin für mich so traurig weiterzuleben

Ich habe keine Wünsche mehr, tagtäglich ertrage ich es, zu leben
 

Wie jeden Morgen ging Shinta allein zur Schule.

Wie jeden Morgen hörte er dabei Musik und wie jeden Morgen mied er alle belebten Orte. Er hasste die Gegenwart von anderen Menschen.

Sie verletzten doch alle nur aus Vergnügen.

Shinta war ein stiller, unauffälliger Junge, den die Lehrer nicht einmal dann bemerkten, wenn er Opfer des Mobbings seiner Mitschüler wurde. Was im Übrigen häufiger der Fall war. Seine schulischen Leistungen waren durchschnittlich. Nicht, weil er es nicht besser gekonnt hätte, sondern, weil die Schule ihn einfach nicht interessierte. Für Shinta war sie nur eine Ansammlung von Heuchlern und Schwindlern.

Alle dachten, Shinta sei kein glückliches Kind.

Dabei war er gar nicht traurig, nur war er es einfach leid, in so einer Welt zu leben. Jeden gleichförmigen Tag ertrug er einfach, ohne sich noch etwas zu wünschen.
 


 

みんなが死んだような目で僕を見下してる

Alle sehen mit totem Blick auf mich herab
 

Schule war wie immer. Für jeden anderen wäre es wahrscheinlich eine einzige Qual gewesen. Für Shinta war es jedoch normal, dass die Jungen ihn prügelten und die Mädchen ihm Streiche spielten. Er bedauerte seine Mitschüler sogar, denn in seinen Augen lebten sie nicht, sondern waren durch ihre Angepasstheit an die heuchlerische Welt längst tot.
 


 

この薄暗い部屋とあたたかな独りきりが

僕の理想の友達さ心安らげる場所さ

In diesem halbdunklen Zimmer, in freundlichem allein sein

Mein liebster Freund, mein intimster Ort
 

In Shintas Zimmer war es nie wirklich hell. Er liebte die Dämmerung. Deshalb herrschte in seinem Zimmer auch immer ein schwaches Zwielicht. Es kam ja auch fast nie jemand hier her, der sich daran hätte stören können.

Diesen Mangel an menschlichen Besuchern mochte Shinta besonders. Dieser Raum war seine menschenleere Traumwelt. Die Welt, in der er leben wollte. "Allein sein" war der Zustand, den Shinta in seinem "Leben" bevorzugte.

Er schaltete seine Stereoanlage ein und ließ sich auf sein Bett fallen. Sein Lieblingslied, Testament, füllte den Raum. Shinta schloss die Augen.

Eigentlich war es ja gar nicht so, dass er alle Menschen hasste. Es gab sogar einige wenige, die er wirklich mochte. Seine kleine Cousine zum Beispiel. Mutter und Vater hatte er zwar auch gern, aber auch die waren verlogene Heuchler. Seine Cousine jedoch war noch rein, unschuldig.

Sie war ehrlich und zeigte ihre Gefühle immer, unverfälscht durch "Höflichkeit" oder "Berechnung", nicht wie die meisten Menschen.
 


 

お父さんお母さんごめんなさいもう僕は

終わりなき「苦痛」の洪水に流されてしまいそうです

Vater, Mutter, verzeiht, aber ich werde von der nicht enden wollenden

Flut von Schmerz hinfort getragen
 

Plötzlich, ohne jede Vorwarnung, begann Shinta zu weinen. Es stimmte nicht, dass ihn nichts quälte. Natürlich schmerzte es ihn, wie ihn andere behandelten. Doch noch viel, viel schlimmer war das falsche Mitleid der Außenstehenden, die hilfsbereit taten, die er aber gar nicht interessierte. Seine Lehrer, seine Eltern, die Eltern seiner Mitschüler.

Und Shinta konnte das Leben einfach nicht mehr ertragen.
 


 

だって今の僕の「希望」はこのまま時計をとめて

目を閉じてしまうことだから「永遠」に

みんなうわべだけの「前向き」をありがとう

簡単に悲しいふりをして笑ってるおまえらが死ぬほど嫌いです

僕にとって「生きる」ことそれはおまえらにとっての「死ぬ」ことで

感情の魂が今日も僕を押し潰す

Mein Wunsch ist es, so die Uhr anzuhalten

Ich werde die Augen schließen, deswegen

Dank an euch alle für euer "positives Denken"

Ich hasse euch Lachende bis auf den Tod,

die ihr so leicht vorgeben traurig zu sein

Was für mich "leben" heißt, ist für euch "sterben"

Die Kraft dieses Gefühls zerquetscht mich, auch heute wieder
 

Heute, heute endlich raffte Shinta sich auf. Er erinnerte sich noch immer an alles. An alles, was er den heuchlerischen Menschen nicht vergeben konnte.

Er wollte endlich leben.

Doch er wusste, dass seine Definition von "Leben" die der anderen von "sterben" war.

Heute wollte er in diesem halbdunklen Zimmer seinen Entschluss in die Tat umsetzten und "leben".

Weil er alle hasst, die immer nur vorgaben, etwas zu empfinden.

Weil er für immer allein sein wollte.
 


 

マスメヂアはたやすく僕達の苦しみを「情報」に置き換える

ためらいもなく悲しいふりをするぶずまな信仰信者

僕達がこの「命」 「赤い血」を感じるには

「死ぬ」ことでしか伝えることは出来ないのですか

もし僕が眠っても教室の机に花は置かないでください

悲しさの演出はいらないから

Die Massenmedien machen leicht Nachrichten aus unserer Trauer

Wie können die religiösen Gläubigen so tun

als ob es auf das, was wir als "Leben" und "Blut" fühlen,

keine andere Antwort geben kann als "sterben"?

Auch wenn ich schlafe, soll niemand an meinem Platz in der Schule Blumen zurücklassen

Ich will die Inszenierung von Trauer nicht
 

Es war am nächsten Morgen in allen Nachrichten. Ein Junge hatte sich umgebracht. Niemand hatte es kommen sehen. Es gab keinen Grund für diesen Selbstmord. Kein Liebeskummer, keine zerrütteten Familienverhältnisse.

Also musste man einen anderen Grund finden. Schnell kam man darauf, dass es nur ein Selbstmord aus religiösen Gründen sein konnte.

Auch aus seinem Abschiedsbrief veröffentlichte man einzelne Zeilen.

"Auch wenn ich schlafe, soll niemand an meinem Platz in der Schule Blumen zurücklassen."

Doch niemand hielt sich daran. Jeden Tag wurden weiter Blumen auf den leeren Tisch gelegt, als ob man damit den freigewordenen Platz besetzten wollte.

Einige Tage später wurden dann auch noch die letzten beiden Zeilen des Abschiedsbriefs veröffentlicht:
 

この世界が 僕らを 創り出して

この世界に 僕らは 殺された 

Diese Welt hat uns gemacht

Diese Welt hat uns umgebracht
 

付芳芳

Helena

Schwarz gekleidete Menschen strömten in die Halle. Niemand lachte, nicht einmal die kleinen Kinder an den Händen ihrer Eltern. Einige Frauen weinten. Der Himmel war wolkenverhangen, so als würde selbst er Trauer tragen.

In der Halle waren Stühle aufgestellt. Auch jetzt schon war kaum noch ein Platz leer. Trotz der vielen Menschen war es totenstill. Vor der ersten Reihe war Platz gelassen worden. Ein Rednerpult war dort aufgebaut. Und daneben das, auf das der Blick jedes einzelnen mit einem Klos im Hals gerichtet war.

Der Sarg war geöffnet. Weiße Lilien umrahmten das bleiche Gesicht des jungen Mannes darin. Er sah so friedlich aus, als ob er nur schlafen würde. Auch, weil der hohe Kragen seines Hemdes die Male verdeckte, die das Seil hinterlassen hatte. Er trug auch, wie fast alle Anwesenden, einen schwarzen Anzug mit weißem Hemd und schwarzer Krawatte.

Es war das erste Mal, dass Shinta auf einer Beerdigung war. Er wusste nicht, wieso er überhaupt gekommen war. Vielleicht aus Schuldgefühl. Vielleicht, weil er seine Eltern und Bekannte noch ein allerletztes Mal zu sehen. Auch wenn die Anwesenheit so vieler Menschen ihn nervös machte.

Er stand ganz weit hinten, in einer schlecht ausgeleuchteten Ecke. Zum Glück schien ihn keiner zu erkennen. Trotzdem zog er seinen Hut tiefer ins Gesicht.

Die Trauerfeier begann. Jetzt waren ausnahmslos alle Stühle besetzt. Wenige Redner versuchten, gegen die geisterhafte Stille anzureden. Erzählten über den Toten. Was für ein guter Mensch er gewesen war. Wie sehr ihn alle vermissen würden. Ein Kommunalpolitiker sprach davon, welch ein großer Verlust der Tote sei.

Shinta musste sich zusammen reißen, um nicht hysterisch aufzulachen. Woher sollte der Politiker wissen, dass der Tote ein Verlust war? Alter Zorn kochte in Shinta hoch. Er wollte nicht mehr hier bleiben. Das alles hier war genauso heuchlerisch, wie er es erwartet hatte. Und doch blieb er. Er musste bleiben. Wenigstens das. Seine Reue.

Shinta ließ seinen Blick über die Menge wandern. Einige Mädchen saßen in Grüppchen zusammen und schluchzten. Unter ihnen waren auch einige, von denen Shinta wusste, dass sie den Toten nicht gemocht hatten. Schnell schaute er weg, bevor er sich über diese hohle Trauer ärgern konnte. In der ersten Reihe saß eine Frau, die ihre kleine Tochter im Arm hielt. Die Kleine starrte auf den Sarg, als ob sie darauf warten würde, dass der Tote wieder aufstand und lachend zu ihr kam. Ihre Mutter hielt sie fest im Arm und hatte ihren Kopf an ihren gelegt, als ob sie weinen würde.

Jetzt stiegen auch Shinta Tränen in die Augen. Nicht, weil er sich schuldig fühlte oder aus Trauer über diesen Tod. Nein, nur, weil er es war, wegen dem das Mädchen so entsetzt schaute.

Der Sarg wurde an jedem vorbei aus der Halle zu einem Leichenwagen getragen. Eine schwarze Prozession folgte ihm zum Friedhof. Shinta folgte ihr in einigem Abstand.

Langsam, so, als wolle man den unvermeidlichen Moment des Abschiedsnehmens hinauszögern. Shinta wollte nur, dass diese ungenehme Situation endlich vorüber war. So schnell wie möglich. Die Beerdigung des Toten störte ihn nicht. Nur die Anwesenheit so vieler unehrlicher, weinender Menschen. Da waren ihm jene lieber, die mit gelangweilten Mienen mitliefen. Die taten wenigstens nicht so, als ob ihnen an dem Toten wirklich etwas gelegen hätte. Natürlich waren da auch welche, die wirklich trauerten, die den Toten wirklich vermissten. Aber das hatte Shinta ja auch vorher gewusst und billigend in Kauf genommen.

Das arme kleine Mädchen...

Auf dem Friedhof war ein frisches Grab ausgehoben worden. Der Geruch von frischer Erde stieg Shinta in die Nase. Langsam wurde der Sarg in das Grab hinab gelassen. Der Regen spielte eine merkwürdige Melodie als er auf den Sargdeckel prasselte.

Die Trauergäste starrten mit einer seltsamen Faszination auf den Sarg und die Totengräber. Es war eine Sensation, die sich in den Augen einiger Anwesenden spiegelte und sie leuchten ließ, während sie sich in ihre Taschentücher schnäuzten.

Shintas Abscheu gegen die Menschen wuchs. Er hoffte nur, dass seine Leiche nie gefunden werden würde.

Das kleine Mädchen schaute fassungslos zu, wie nach und nach immer mehr Erde den Sarg bedeckte. Ihr Anblick beruhigte Shinta, auch wenn er sich schuldig fühlte.

Er war so darin versunken, sie zu betrachten, dass er nicht bemerkte, wie sich die Trauergesellschaft zerstreute. Plötzlich standen nur noch er und das Mädchen mit ihren Eltern am Grab. Sie kam auf Shinta zu.

"Du, Onkel, warum haben sie meinen Bruder verbuddelt?", fragte sie Shinta mit großen Augen.

Shinta tätschelte ihr den Kopf. "Dein Bruder hat etwas Böses getan und ist jetzt an einem anderen Ort", erklärte er ihr.

"Im Gefängnis?"

"Nein", sagte Shinta. Er lächelte. "Er ist im Himmel." Nicht, dass Shinta das glaubte. Aber das konnte er ihr einfach nicht sagen. Er drehte sich um. Er musste endlich hier weg.

Das Mädchen starrte ihm nach, auch, als er schon verschwunden war, so lange, bis seine Mutter ihm die Hand gab.

"Mama, ich habe einen Engel getroffen. Er hat gesagt, mein Bruder sei jetzt im Himmel!", erzählte die Kleine stolz.
 

付芳芳

You know what the do to guys like us in prison

Es war ein ganz normaler Morgen. Zumindest hatte Shinta das gedacht, als er zum Frühstück in dieses Restaurant gekommen war. Nur waren dann einige Männer hereingestürmt und wollten den Laden ausrauben. Das hatte natürlich nicht funktioniert und so lieferten sie sich jetzt einen Schusswechsel mit der Polizei. Alle anderen Gäste hatten sich längst unter Tischen und hinter der Theke verkrochen.

Nur Shinta nicht. Seelenruhig saß er da und trank seinen lauwarmen Kaffee. Die Schießerei interessierte ihn herzlich wenig. Sie hätten auch drohen können, ihn zu erschießen. Das hätte auch nichts geändert. Shinta hing ohnehin nicht sehr am Leben.

Es war nur etwas ärgerlich, dass man ihn beim Frühstück störte. Warum mussten diese Typen auch ein Restaurant überfallen? Er hatte auch fast kein Geld, aber raubte er deswegen gleich ein Restaurant aus und zog einen Haufen ... Shinta hielt kurz inne. Fast hätte er diese Menschen, wenn auch nur in Gedanken, als "Unschuldig" bezeichnet.

Eine Kugel zerbrach das Fenster neben Shinta und flog ganz knapp an ihm vorbei. Er zuckte nicht einmal. Einige Scherben schnitten ihm in die Haut und Blut tropfte von seinem Arm.

Shinta hob den Kopf. Es war stiller geworden. Die Räuber hatten aufgehört zu feuern, obwohl ihnen immer noch die Kugeln der Polizei um die Ohren zischten. Dann stellten auch die Polizisten das Feuer ein.

Die Türen wurden aufgestoßen. Polizisten in schusssicheren Westen stürmten herein. Pistolen und Gewehre zielten auf die Räuber. - Und auf Shinta.

Fassungslos schaute Shinta den Mann an.

"Ist das euer Boss?", brüllte der Polizist und zeigte mit seiner Waffe auf Shinta.

Die Räuber tauschten kurz einen Blick und nickten dann. "Das ist er", sagte der wahre Anführer. "Vergib mir, Boss"

Shinta schnaubte. Wie er solche verdammten Lügner hasste! Wenn er diesen Überfall angeführt hätte, dann wären alle Geiseln schon seit geraumer Zeit tot. Aber er musste zugeben, dass er diese Schlussfolgerung nachvollziehen konnte.

Shinta wehrte sich nicht, als sie ihm Handschellen anlegten, als sie ihn abführten. Er hatte schon lange damit gerechnet, ins Gefängnis zu kommen. Zwar nicht aus diesem Grund, aber das machte keinen Unterschied.

Der Prozess wurde von den Medien ins öffentliche Interesse gerückt. Ein Jugendlicher, der Erwachsene zu Verbrechen anstiftete, war selbst hier ungewöhnlich. Shinta wurde von den Räubern und ihren Verteidigern als Kopf hinter der Sache dargestellt. Shinta selbst schwieg beharrlich, sehr zur Verzweiflung seines Pflichtverteidigers. Aber was hätte er auch sagen sollen? Seinen Namen, den er eigentlich schon vor fast zwei Jahren abgelegt hatte? Dass er nur in dem Restaurant gewesen war, um zu frühstücken? Als ob ihm irgendwer das glauben würde. Dass es ihn nicht interessierte, ob er lebte oder tot sei, ob er nun ins Gefängnis kam oder nicht? Da konnte er auch weiter schweigen.

Shinta wurde recht schnell verurteilt, ohne dass man ihn identifiziert hätte. Shinta hatte sein Ziel erreicht und so kein Problem damit, ins Gefängnis zu gehen.

Das Gefängnis war wie erwartet -überfüllt und voller feindselig schauender Gefangener. Shinta hatte sich schon längst innerlich ergeben, so dass es ihn nicht interessierte, wie schlecht man ihn behandelte. Er verhielt sich einfach nur still und reumütig. Bis er einige Wochen nach Beginn seiner Haft einen neuen Zellengenossen bekam.

Keith war groß und muskulös, aber nicht so muskulös, dass es auffiel. Er lachte recht viel (was Shinta an ihm störte) und scherzte auch oft. Aus irgendeinem Grund hatte Keith sich einen Narren an Shinta gefressen und schleppte ihn überall mit hin. Und Shinta konnte sich nicht wehren, da er einen Kopf kleiner und um etliches schwächer als Keith war. Aber erstaunlicherweise machte das Shinta nicht nur nichts aus, er freute sich sogar fast, dass Keith so war.

"Weißt du, Kleiner", begann Keith eines Abends. "Eigentlich bin ich kein schlechter Mensch, ich hab nur meinen Job gemacht. Und das nicht gut, sonst wäre ich nicht hier. Vielleicht komme ich auf den Elektrischen Stuhl. Vielleicht bekomme ich eine Todesspritze. Oder sie hängen mich sogar auf... Ich hab so viele getötet, also wäre das wahrscheinlich nur fair, was, Kleiner?"

"Nenn mich nicht Kleiner", grummelte Shinta. "Und ich finde es nicht schlimm, dass du ein Killer bist. Du bist der erste richtige Freund, den ich habe. Also kannst du es nicht verdient haben, hingerichtet zu werden. Wie gesagt, es war dein Job. Privat, als Mansch bist du kein Monster. Und jetzt lass mich schlafen."

Shinta drehte sich um und wollte schlafen. Er hatte seine Augen schon geschlossen, als Keith ihm eine Hand auf die Schulter legte.

"Kleiner, du bist in Ordnung", flüsterte er Shinta ins Ohr. "Ich komm hier raus. Bald sogar. Wenn du mit mir zusammen arbeiten willst, dann nehme ich dich mit. Also?"

Shintas Herz raste. Das ihm so viel Vertrauen entgegen gebracht wurde war noch nie vorgekommen.

"Keith...", flüsterte er. "Ich komm mit. Ich bin die eine Menge schuldig. Und ich werde es wieder gut machen. Ich komme mit!"

"Gut", flüsterte Keith. Er klopfte Shinta auf die Schulter und legte sich selbst schlafen.

Keith war am nächsten Morgen angespannt. Shinta fiel es sofort auf, dass Keith weniger lachte, doch er schien der einzige zu sein, der das bemerkte. Beim Hofgang wollte Keith Shinta gar nicht mehr von seiner Seite lassen, weniger noch als sonst.

Plötzlich brach ein Tumult los. Alle drehten sich zum Zaun um. Die Wärter hoben ihre Waffen. Ein schwarzer Lieferwagen raste mit Vollgas auf ein Zaunstück zu. Die Wärter schossen, doch alle Kugeln prallten an dem gepanzerten Wagen ab. Shinta sah, wie Keith grinste. Das war wohl das, was er gestern Abend gemeint hatte. Der Lieferwagen durchbrach den Zaun und legte eine Vollbremsung hin. Die Seitentüren wurden aufgezogen und zwei Bewaffnete mit schusssicheren Westen und Helmen sprangen heraus. Augenblicklich eröffneten sie das Feuer auf die Wachen, die eiligst Deckung suchten.

"Komm, Kleiner", rief Keith. Er rannte zu der immer noch geöffneten Tür und zog Shinta mit sich. Shinta rannte so schnell er konnte, seinen Blick nicht vom Boden hebend im Zickzack zu dem Wagen. Er wusste, dass es hier irgendwo Scharfschützen gab.

Shinta erreichte den Lieferwagen kurz nach Keith. Ein Vermummter streckte Shinta seine Hand entgegen. Shinta ergriff sie und wurde in das Innere des Wagens gezogen. Sekunden später stellten die beiden Schützen das Feuer ein und zogen sich in den Wagen zurück.

Keith zog Shinta an sich.

"Halt dich fest, es wird gleich etwas holprig", presste er zwischen seinen Zähnen hervor.

Shinta wollte sich erst beschweren, doch dann beschleunigte der Wagen und Shinta wurde gegen Keiths Brust geschleudert. Nachdem er wieder Luft bekam klammerte sich Shinta an Keiths Arm. Das schien ihm sicherer zu sein, als im Wagen hin und her geschleudert zu werden.

Während es Shinta fast schlecht wurde während der Fahrt, war Keith sogar noch zu Scherzen aufgelegt.

"Hey, Keith, wer ist der Kleine?", fragte einer der beiden mit den Waffen. Er hatte seinen Helm abgelegt, so dass Shinta sehen konnte, wie er grinste. "Dein neuer Freund?"

"Ach was", antwortete Keith. Shinta fühlte sein Lachen mehr als dass er es hörte. "Du weißt doch, dass ich dir treu bleibe, James."

"Ha ha, sehr witzig, Keith", schnaubte James. "Jetzt mal im Erst: Wieso wolltest du unbedingt, dass wir den Jungen mitnehmen? Was ist so besonderes an ihm?" Zweifelnd schaute er Shinta an. "Ist der überhaupt schon volljährig?"

"Klar ist er das! Glaube ich zumindest...", antwortete Keith. Shinta nickte. Er traute sich nicht, den Mund zu öffnen, weil ihm sonst wahrscheinlich erst recht schlecht geworden wäre.

"Siehst du?", meinte Keith zu James. "Und außerdem soll der Kleine einen Überfall auf so ein billiges Restaurant geplant und durchgezogen haben. Angeblich saß er seelenruhig da und hat Kaffee getrunken. Aber das beste kommt noch." Keith machte eine kurze Pause. "Die Polizei weiß bis heute nicht, wer zur Hölle er ist."

Keith lachte, als er James Gesicht sah. James starrte Shinta so erstaunt an, als käme der aus einer anderen Welt.

Abrupt bremste der Wagen ab. Keith öffnete die Tür und sprang heraus. Shinta folgte ihm schwankend. Um ihn drehte sich alles, so dass er sich an Keith festhalten musste. James kam als letzter heraus, bevor die Tür wieder geschlossen wurde und der Wagen davonbrauste.

Sie befanden sich mitten im Wald. Shinta atmete tief durch. Er war frei. Aber was änderte das schon? Gut, er konnte weiter bei Keith bleiben, der ihm vertraute.

"Hey, was ist? Kommt ihr oder wollt ihr weiter kuscheln?", rief James. Er stand schon weit entfernt vom Weg und wartete ungeduldig.

Shinta schrak von Keith zurück. Ihm war nicht mehr so schwindelig, dass er nicht allein stehen konnte. Hastig folgte er James.

"Pass auf, dass du nicht auf weichen Boden trittst!", rief James. Er hatte sich schon wider umgedreht und ging weiter. Als Shinta sich umdrehte, bemerkte er, dass Keith ihm vollkommen lautlos folgte. Schweigend gingen sie durch den Wald. Irgendwann hatten Shinta und Keith James eingeholt.

"Wie lange müssen wir eigentlich noch laufen?", fragte Keith.

"Nicht mehr lange", antwortete James. "Hier irgendwo parkt ein Auto..."

Keith stöhnte: "Sag bloß nicht, dass du dich verlaufen hast!"

James wurde rot. "Ach was", fauchte er. "Ich weiß genau, wo wir hin müssen!"

"Meinst du das?", fragte Shinta. Er zeigte auf eine Stelle zwischen den Bäumen, wo er eben etwas Großes, Rotes hatte aufblitzen sehen.

"Genau!", rief James und drehte sich zu der Stelle hin. "Siehst du, Keith, ich weiß genau, wo wir sind!"

Keith grummelte etwas Unverständliches und warf James und Shinta böse Blicke zu.

Das Auto war ein roter Kombi. Auf der Rückbank lag eine große Sporttasche. Keith nahm sie sofort heraus und schaute hinein.

"Yeah, neue Klamotten!", rief er erfreut und zog ein Stoffstück hervor. Es war überraschend groß. "He, Moment, ist das ein Kleid?"

James grinste. "Klar", meinte er. "Da müsste auch irgendwo eine Perücke sein. Und eine Jeans, T-Shirt und Haarfärbemittel für den Kleinen. Schau mich nicht so böse an! Eine Familie fällt weniger auf als drei Typen."

Keiths Blicke hätten töten können. "Und warum muss ich die Frau spielen?", moserte er. "Das kannst du doch genau so gut machen."

"Nein" James schüttelte den Kopf. "Das Kleid steht dir doch viel besser. Und außerdem hast du viel feinere Gesichtszüge als ich."

Während die beiden sich noch über das Kleid stritten tauschte Shinta die Gefängnisuniform mit dem T-Shirt und der Jeans.

"James, kannst du mir mit dem Haare färben helfen?", fragte er, um den Streit zu beenden. James kam sofort herüber und machte Shinta erst einmal die Haare mit Wasser aus einer Flasche nass. Dann massierte er die dickflüssige Paste in Shintas Haare.

"So, das muss jetzt noch eine Weile einwirken", meinte James.

"Wie lange ist eine Weile?", fragte Shinta.

"Keine Ahnung", antwortete James. "Bei deiner Haarfarbe höchstens eine halbe Stunde. So, ich geh mal nach Keith sehen." Er grinste. Dann drehte er sich um und ging wieder zu Keith.

Eine halbe Stunde später saßen sie zu dritt im Auto, Shinta auf der Rückbank mit frisch gefärbten schwarzen Haaren, Keith auf dem Beifahrersitz und starrte schweigend aus dem Fenster. Nur James, der das Auto steuerte, schien fröhlich zu sein. Er fuhr ais dem Wald heraus und auf eine Bundesstraße. Nach einigen Meilen kamen sie an eine Straßensperre der Polizei. James erzählte den Polizisten, dass sie auf dem Weg in den Familienurlaub seien und tat ganz erstaunt, als man ihm erzählte, dass sie nach zwei Ausbrechern und ihren Komplizen fahndeten.

James grinste breit, als sie die Straßensperre hinter sich ließen. "Na, sind wir genial, oder was?", rief er. "Die waren nicht einmal misstrauisch!"

"Ja, ja", brummte Keith. "Sag mal, was will der Boss eigentlich als Gegenleistung? Er hat mich doch sicher nicht nur aus reiner Nächstenliebe rausgeholt."

"Natürlich nicht", antwortete James. "Er will, dass du dich um einen seiner speziellen Freunde kümmerst."

"Ah", machte Keith. "Da fahren wir also hin. Waffen?"

James zeigte nach hinten. "Im Kofferraum. Allerdings..."

"Allerdings nichts, um damit den Job aus der Entfernung zu erledigen"; vermutete Keith.

James nickte.

Keith fluchte.

"Brauchst du Hilfe?", fragte Shinta.

Keith schüttelte den Kopf. "Ich will dich da nicht mit rein ziehen..."

"Aber du hast doch gesagt, ich soll mit dir zusammen arbeiten!", protestierte Shinta. "Mir ist egal, worum es geht. Ich will dir nur helfen. Und wenn ich sterbe, sterbe ich eben!!"

"So einfach ist das nicht", grummelte Keith. "Wenn du jemanden erschießt, dann musst du mit der Schuld leben."

"Na und? Wär ja nicht der erste...", nuschelte Shinta. Und lauter: "Ich komme jedenfalls mit! Egal, was du sagst!"

James lachte. "Halt bloß den Rand!", brummte Keith.

Den Rest des Tages verbrachten sie schweigend damit, über die fast leere Bundesstraße zu fahren. Kurz vor Mitternacht bog James von der Bundesstraße ab und steuerte den Wagen in eine schmale, dreckige Gasse in irgendeiner Großstadt. Er hielt.

Keith und Shinta stiegen aus. Aus dem Kofferraum nahm Keith zwei Pistolen. Eine davon reichte er Shinta. Dann nahm er noch drei Magazine, steckte sie sich in die Hosentasche und nahm noch einen langen, in Stoff eingeschlagenen Gegenstand heraus.

"Bleib immer hinter mir!", wies Keith Shinta an. "Tu nichts, was ich dir nicht sage. Klar?"

Shinta nickte. Er steckte die Pistole in seinen Gürtel. Keith führte ihn zu einer unauffälligen Tür in einem Hochhaus. Ohne zu klopfen trat er sie ein.

Drinnen drehten sich einige Männer zu ihnen um und zogen ihre Pistolen. Doch Keith war schneller. Er gab einige Schüsse ab und zog sich dann so schnell wie möglich von der Tür zurück. Shinta stand geduckt neben ihm, seine Pistole fest umklammert.

"Du bleibst hier!", zischte Keith. Er packte den länglichen Gegenstand aus dem Tuch. Es war ein Langschwert, das er zog. Keith stürmte in den Raum. Shinta hörte nur einige wenige Schüsse, aber viele Entsetzensschreie. Vorsichtig lugte Shinta in den Raum.

Keith war gerade mit den letzten Überlebenden beschäftigt. Was er nicht sah, war, dass vom anderen Ende des Raumes einer seiner Gegner mit letzter Kraft auf Keith zielte. Shinta dachte nicht nach. Er hob nur seine Pistole und drückte ab. Der Mann fiel einfach um.

"Komm!", rief Keith und rannte zu einer Treppe an der Rückseite des Raumes. In seinem blutdurchtränkten Kleid und seiner von Blut tropfenden Perücke sah er aus wie ein leibhaftiger Dämon.

Shinta folgte ihm und schoss einfach, wenn er eine Bewegung über ihnen sah. Als sie oben ankamen standen sie vor einer Tür. Diese öffnete Keith langsamer als den Eingang. Dort saß ein älterer Man hinter einem großen Schreibtisch. Er rührte sich nicht, als Keith und Shinta ihre Waffen auf ihn richteten.

"Ich wusste, dass ihr irgendwann kommen würdet!", sagte er. Keith und Shinta drückten ab. Draußen ertönten Polizeisirenen. Blut lief aus dem Mundwinkel des Mannes. Keith öffnete ein Fenster. Vor dem Haus sammelte sich die Polizei.

"Kommt mit erhobenen Händen raus!", rief eine Megaphon verstärkte Stimme. "Das Gebäude ist umstellt!"

Keith schloss das Fenster wieder und grinste: "Die werden uns nie bekommen."

Er lief zurück ins Treppenhaus und klappte eine Leiter zum Dach herunter. Sie kletterten hinauf. Oben war alles leer. Keith nahm Anlauf und sprang auf das Dach des Nachbarhauses. Shinta folgte ihm. Von einem Dach zu nächsten springend flüchteten sie bis in ein Viertel in Flussnähe. Dort kletterten sie eine Feuertreppe hinunter. Keith führte Shinta in eine miese, heruntergekommene Spelunke direkt am Wasser.

Niemand schaute sie an, als sie hereinkamen und direkt ins Hinterzimmer gingen, wo James schon auf sie wartete.
 

付芳芳

Hang 'em high

Shinta starrte gelangweilt aus dem Fenster. Nicht, dass es dort etwas zu sehen gab. Da war nur Wüste, ab und an mal ein Kaktus oder ein verkrüppelter Baum. Es gefiel ihm hier, mitten in der Einsamkeit.

Er war mit Keith zusammen auf dem Weg zu einem Job. Sie sollten ein Mädchen befreien. Ihrem Boss schien das aus irgendeinem Grund wichtig zu sein. Shinta stellte keine Fragen, er tat einfach, war von ihm verlangt wurde. Und außerdem arbeitete er gerne mit Keith zusammen.

Shinta drehte sich um. Keith fummelte genervt am Radio herum, dessen gleichmäßiges Rauschen sich dabei jedoch nicht änderte. Wütend schlug er gegen den Knopf am Armaturenbrett.

Shinta lächelte. Er hatte in den letzten Monaten herausgefunden, dass es nichts gab, das Keith mehr hasste als lange, eintönige Autofahrten. Shinta öffnete das Handschuhfach. Darin stapelten sich etliche Kassetten. Er nahm wahllos eine heraus und schob sie in den Kassettenschlitz. Der Gesang eines Mädchens kam aus den Lautsprechern. Er war nur belanglose Popmusik. Doch Keiths Laune lies sich durch die Musik nicht wirklich ändern.

"Wie weit ist es überhaupt noch?", brummte er. "Wir fahren jetzt schon seit Stunden durch diese verdammte Wüste. Ich kann sie langsam nicht mehr sehen!"

Shinta nahm den GPS-Empfänger, in den er das Ziel eingegeben hatte. Der Richtungspfeil zeigte fast im 90° Winkel nach rechts.

"Wir müssen irgendwie nach rechts abbiegen. Es sind von hier aus noch knapp 20 Meilen, aber wir entfernen uns schon wieder vom Ziel", gab Shinta Auskunft. Keith riss das Steuer hart herum und drückte das Gaspedal herunter. Der Wagen fuhr von der Straße und raste querfeldein in die Richtung, die Shinta genannt hatte.

Keith grinste. Hier, fern ab der Straße, musste er Felsen und Pflanzen ausweichen und nicht nur stur geradeaus fahren. Shinta wäre es jedoch lieber gewesen, sie wären weiter der Straße gefolgt. Er klammerte sich an einem Griff fest. Auto fahren mochte er schon nicht gerne, aber wenn es dann auch noch so holpern musste...

Kurz bevor die Sonne ganz hinter ihnen verschwunden war parkte Keith das Auto hinter einem großen Felsbrocken. Shinta stieg aus und streckte sich erst einmal.

"Warte, bis es dunkel ist", ermahnte ihn Keith. Shinta nickte. Er nahm das Scharfschützengewehr aus dem Kofferraum und prüfte es. Das hatte Shinta sich angewöhnt, seit er mit Keith zusammen arbeitete. Schlecht gewartete Waffen konnten lebensbedrohlich werden.

Als es endlich dunkel war, kletterten sie auf den Felsen. Keith trug das

Scharfschützengewehr auf dem Rücken. Oben nahm Shinta das Gewehr und legte sich auf den heißen Felsen. Ihr Ziel war eine alte, verlassene Tankstelle. Drinnen brannte Licht. Shinta zielte auf eine Person, die gegen das Licht deutlich zu sehen war. Die Scheibe zersplitterte. Die Person brach zusammen. Shinta lud das Gewehr erneut. Ein anderer Schatten brach zusammen. Einige Gestalten rannten aus dem Gebäude. Shinta atmete durch. Einige schnelle Schüsse, dann regte sich vor der Tankstelle nichts mehr. Shinta wartete einige Momente. Doch niemand war mehr zu sehen. Er winkte Keith heran, der in einiger Entfernung gewartet hatte.

"Sollen wir runter gehen?", flüsterte Shinta ohne den Blick von der Tankstelle zu nehmen.

"Nein", antwortete Keith. "Ich gehe allein. Du bleibst hier und deckst mich."

Shinta nickte. Fast ohne zu blinzeln und ohne sich zu bewegen beobachtete er, wie Keith sich zu dem Gebäude schlich. Er sah, dass Keith seine Pistole aus dem Halfter am Rücken zog. Dann betrat Keith die Tankstelle und einige Minuten war alles still. Einige Schüsse fielen. Shinta konnte kein Ziel entdecken. Er musste warten und auf Keith vertrauen. Dann rannte Keith aus der Tankstelle. Er zog eine kleinere Gestalt mit sich. , Das Madchen, das wir holen sollten!', dachte Shinta. Keith und das Mädchen wurden verfolgt. Wie eine Maschine schaltete Shinta die Verfolger mit tödlicher Präzision aus.

"Wo bleibst du, Shinta? Verdammt, wir müssen hier weg!", brüllte Keith.

Shinta warf noch einen letzten Blick nach unten. Niemand rührte sich mehr. Dann packte er das Gewehr und lief zum anderen Ende des Felsens. Er befestigte das Gewehr auf seinem Rücken. Schnell kletterte er nach unten, die letzten Meter lies er sich einfach fallen. Bevor er einstieg verstaute Shinta das Gewehr. Keith fuhr sofort los, als Shinta sich in den Beifahrersitz hatte fallen lassen.

"Warum hast du so lange gebraucht?", fragte Keith, während er mit Vollgas möglichst gerade durch die Wüste raste.

Shinta grinste. "Ich hab mich noch ein bisschen um deine Freunde gekümmert."

"He he", machte Keith. "Es war eine verdammt gute Idee, dir zu zeigen, wie man mit dem Gewehr schießt. Du zitterst nicht, du zögerst nicht, du drückst einfach ab. Nicht einmal James trifft immer mit so einer mechanischen Präzision wie du und er ist unser bester Schütze."

Shinta winkte nur müde ab. Für ihn war es wirklich nichts Besonderes. Ihn interessierte es einfach nicht, ob er auf Menschen schoss oder nur auf Zielscheiben. Die meisten dieser verlogenen Menschen hatten es doch ohnehin verdient. Würde er auf Keith oder James schießen müssen würde er mit Sicherheit auch zittern.

Shinta drehte sich nach hinten. Das Mädchen, das Ziel ihres Auftrages, saß mit halbgeschlossenen Augen da, die Hände im Schoß gefaltet. Ihre schwarzen Locken fielen ihr über die Schultern bis zu ihren Hüften. Sie trug ein schwarzes Kleid, das mit schwarzer Spitze verziert war und dessen Rock aus mehreren gerafften Schichten bestand. Jeder andere als Shinta hätte sie wohl als hübsch bezeichnet. Doch Shinta sah etwas mehr an ihr. Er spürte es vielmehr. Sie war ihm etwas ähnlich. Auch ihr Inneres war tot. Aber sie hatte sich in sich selbst zurückgezogen. Sie hatte noch nicht gelernt, wie es war, einem anderen zu vertrauen. Sie war nicht zu einem Dämon geworden um ihre innere Leere zu füllen.

Sie öffnete ihre klaren Augen ganz und schaute Shinta an. Schnell drehte er sich wieder nach vorn. Er spürte, wie sein Herz schneller schlug.

"Wer ist sie?", keuchte er.

"Diese Typen haben sie Schwarze Maria genannt", meinte Keith. "Keine Ahnung, was der Boss mit ihr vor hat. Sie ist etwas unheimlich, nicht?"

Shinta nickte. Er hatte sich etwas beruhigt.

"Schlaf, Kleiner", sagte Keith. "Du siehst blass aus. Bis zur nächsten Stadt schaff ich es auch ohne dich."

Shinta drehte sich weg und legte seinen Kopf an das kühle Fenster, als ob er schlafen würde.

Die Sterne glitzerten über der eisigen Wüste. Der Motor des Autos dröhnte gleichmäßig. Shinta fühlte sich irgendwie entspannt dadurch. Er kämpfte dagegen an, doch einzuschlafen.

Kurz vor der nächsten Stadt riss eine Erschütterung Shinta aus seinem Dämmerzustand. Keith fluchte. Das Auto schlingerte wild hin und her. Es schien außer Kontrolle zu sein.

"Raus hier!", brüllte Keith. Shinta öffnete seine Tür und ließ sich fallen. Er rollte sich durch den Sand und über kleine Steine, bis ein vertrockneter Baum ihn stoppte. Sofort rappelte Shinta sich wieder hoch. Außer einigen Kratzern war er unverletzt. Er schaute sich um. Das Auto war noch einige hundert Meter weiter gefahren und in einer Staubwolke verborgen. Ein Stück von ihm entfernt sah Shinta eine Gestalt im Sand liegen. Er lief zu ihr hinüber. Erleichtert atmete Shinta auf, als er erkannte, dass es Keith war, der da im Sand lag. Keith hielt die Schwarze Maria umklammert und rührte sich nicht.

Erschrocken ging Shinta neben ihm in die Knie und legte ihm zwei Finger an den Hals. Er konnte noch einen schwachen Puls wahrnehmen.

"Alles in Ordnung?", flüsterte Shinta. Das Mädchen drehte ihr Gesicht zu ihm. Sie nickte, ihre leeren Blick direkt auf Shintas Augen gerichtet. Shinta erschauderte.

"Tut dir etwas weh?", zwang sich Shinta zu fragen. Sie schüttelte den Kopf. "Verdammt, kannst du mir nicht antworten?!"

Keith hustete. Shinta half ihm sich langsam aufzusetzen. "Sie kann dir nicht antworten", keuchte er. "Sie sagten, die Engel hätten ihr die Zunge herausgeschnitten, damit sie ..." Ein heftiger Hustenanfall unterbrach Keith.

Shinta legte ihm einen Finger auf die Lippen. "Es ist... Was ist das?" Ein Geräusch ließ Shinta aufschrecken. Ein Dröhnen, das langsam anschwoll. Am Horizont zeigte sich eine Rauchwolke.

"Weg hier...", murmelte Shinta. Er legte sich einen von Keiths Armen über die Schultern. "Kannst du laufen?"

"Ich werd's wohl müssen", keuchte Keith. Mit Shintas Hilfe schaffte er es bis zu einer kleinen Höhle in einem großen Felsen.

"Bleibt hier!", flüsterte Shinta. "Ich werde mal nachsehen, was sie wollen. Keith, hol Hilfe. Du müsstest hier Empfang haben..." Sein Blick fiel auf das Mädchen. Sie schien ganz ruhig zu sein. 'Sie ist nicht richtig im Kopf', dachte Shinta. 'Genau wie ich...'

Shinta wollte gehen, doch Keith hielt ihn zurück. "N-nicht", keuchte Keith. Shinta befreite sich mit sanfter Gewalt.

"Keine Sorge, Keith. Ich schaff das schon. Warum sollte ich dich jetzt anlügen? Selbst, wenn ich es nicht schaffen sollte, was macht das schon? Ich würde gern für dich sterben. Du hast mich gerettet. Oder mich zu einem noch schlimmeren Monster gemacht. Aber dank dir habe ich wenigstens wieder etwas GEFÜHLT" Einem plötzlichen Impuls folgend drückte Shinta Keith einen Kuss auf die Wange.

Entschlossen ging er aus der Höhle. Er entsicherte den Revolver, den er Keith eben abgenommen hatte, als er ihn geküsst hatte. Shinta konnte nicht fassen, zu welchen Gefühlsbezeugungen er fähig war. Und, dass es ehrlich gemeint gewesen war. Shintas Gedanken rasten während er auf das Auto wartete. Es kam schnell auf ihn zu. Doch als es ich Schussreichweite kam wurde es plötzlich langsamer. Jemand streckte seinen Oberkörper aus dem Fenster auf der Beifahrerseite.

"Wo ist sie?", schrie er Shinta entgegen. Er war mit einem Clownsgesicht maskiert.

Shinta grinste nur. Er hob seinen Revolver und schoss. Der Clown brach zusammen. Leblos hing er an der Seite des Wagens herunter. Das Auto beschleunigte wieder und raste geradewegs auf Shinta zu. Shinta blieb ganz ruhig. Einige Sekunden später hatte auch der Fahrer eine Kugel im Kopf. Trotzdem konnte Shinta dem Wagen nur knapp ausweichen. Shinta sah sich um. Nur zwei Verfolger konnten doch nicht alles gewesen sein.

Shinta zuckte zusammen, als eine Kugel seine rechte Schulter durchschlug. Er riss sich zusammen. Er musste in Deckung gehen. Er musste einfach. Er hatte es doch Keith versprochen, er hatte versprochen, dass er es schaffen würde.

Shinta lief. Er duckte sich in den Schatten eines anderen Felsens. Er würde sie auf keinen Fall zu Keith führen. Er dachte nach, was er tun würde, wenn er in der Lage der Verfolger wäre. Sein Problem war nur, dass er nicht wusste, wie viele sie waren. Aber er wusste zumindest, dass mindestens einer in erhöhter Position auf ihn wartete. Shinta bewegte sich unter einen Vorsprung, so, dass er zwar beide Ecken im Blick hatte ohne zuerst ins Blickfeld zu geraten und ohne von oben gesehen werden zu können. Sein Blick trübte sich kurz. Er atmete schwer. Die Wunde in der Schulter blutete stark. Sein Blut tropfte auf den Sand. Shinta lehnte sich keuchend gegen den Felsen. Er musste sich zusammenreißen. Shinta rieb sich die Augen.

Fast zeitgleich kamen um beide Ecken zwei Männer mit Clownsmasken. Shinta unterdrückte einen Fluch. Er nahm den Revolver in die linke Hand. Er zielte, drückte ab und... verfehlte den einen Clown. Shinta schoss noch einmal. Wieder kein Treffer. Er duckte sich um sich hinter einem Vorsprung vor dem Gegenfeuer des Clowns zu verstecken. Shinta feuerte blind zurück. Ein kurzer Aufschrei, aber das Feuer brach nicht ab. Shinta hatte nur noch eine Kugel. Er wusste, dass es aus war. Doch er bereute nichts, es war, wie er Keith gesagt hatte.

Shinta sprang aus der Deckung des Vorsprungs heraus. Er feuerte, wie er es sonst auch immer getan hatte. Der Clown brach zusammen.

Im selben Moment hörte er hinter sich ein Röcheln. Shinta drehte sich um. Da stand James. Shinta hätte gelächelt, wäre er nicht Ohnmächtig geworden.
 

付芳芳

Gerbera

Gerbera ガ-ベラ
 


 

想いは奥く詩に込めるもの

むやみに吐き出せば唯の音に下る

Gefühle sind Dinge, die man in die Tiefe von Liedern pflanzt

Sie zu singen ohne Herz verwandelt sie in einfache Laute
 

Shinta holte noch einmal tief Luft, bevor er das Lokal betrat. Wie er solche Orte hasste! Viele Menschen, die sich auf engen Raum quetschten, nur, um sich zu betrinken. Er warf einen Blick auf seine Uhr. Natürlich war er viel zu früh, um seine neue Partnerin zu treffen. Keith hatte er seit der Sache mit der Schwarzen Mariah nicht mehr gesehen.

In dem Lokal setzte Shinta sich an einen Tisch in einer Ecke. Niemand beachtete ihn. Alle Augen galten nur der Sängerin, die auf der Bühne gefühlvolle Lieder sang. Shinta zog seine Augenbrauen zusammen. Irgendetwas störte ihn an ihr. Er wusste nur nicht, was.

Eigentlich war es ihm auch egal. Er hatte andere Probleme. Seit einigen Wochen hatte er das Gefühl, als würde ihm irgendetwas die Brust einquetschen. Er wusste nicht, was mit ihm los war. Es war, als hätte er etwas lange Verschollenes wiederentdeckt.

Doch er konnte es nicht benennen.
 


 

言葉は実像をもたず自由なもの

飾り立て掲げればたやすか嘘に変わる

Worte sind unabhängige Dinge ohne Körper

Verschönt, verstärkt, wandeln sie sich schnell zu lügen
 

Shinta hatte gar nicht bemerkt, dass die Sängerin ihren Auftritt beendet hatte. Er schaute erst auf als sich jemand ihm gegenüber setzte. Es war die Sängerin. Shinta sah sie nur kurz an, bevor er brummte: "Hier ist besetzt!"

Und wieder weg schaute.

"Ja, von mir", sagte sie. Ihre Stimme war hell und klar, aber mit Nachdruck. Shinta musterte sie nun genauer. Sie hatte ein hübsches Gesicht, trug ein enges Kleid mit tiefem Ausschnitt. Ihre langen schwarzen Haare fielen ihr verführerisch über die Schultern.

"Dann bist du Lilith?", murmelte Shinta, während er sein Glas fixierte. Ihm gefiel der Gedanke nicht, mit jemand anderem zusammen zu arbeiten als Keith.

Sie lächelte. "Genau, Kleiner", sagte sie. "Freut mich, dich kennen zu lernen" Ihr Lächeln dabei war so kalt, dass es ihm fast einen kalten Schauer über den Rücken gejagt hätte, wenn er nicht so wütend gewesen wäre.

"Nenn mich nie wieder so!", zischte er. Keith hatte ihn immer so genannt. Ein Stich traf sein Herz jedes Mal, wenn er an ihn dachte. Dafür, dass er früher nichts gefühlt hatte, war es so viel gewesen, seit er Keith getroffen hatte.

Lilith legte ihre Hand auf Shintas. "Nur keine Sorge, 'Shinta', du kannst mir vertrauen", sagte sie und sah ihm tief in die Augen. Shinta zog seine Hand fast automatisch zurück. Sie war anders als James und Keith. Ganz anders. "Ich bin so froh, mit dir zusammen zu arbeiten"

Shinta war sich sicher, dass das nicht das war, was sie hatte sagen wollen.
 


 

春を待つ赤いガーベラに恋をした蟋蟀

Erwarte den Frühling du in die rote Gerbera verliebte Heuschrecke
 

Shintas innere Welt stand Kopf. Dort, wo fast sein ganzes Leben nichts gewesen war, quoll er nun fast über vor Gefühlen. Was durch Keith langsam zu keimen gebracht worden war hatte Lilith zur vollen Blüte gebracht. Shinta brauchte diese Frau. Shinta liebte sie über alles. Er wollte sich ein Leben ohne sie nicht vorstellen. Er konnte sich ein Leben ohne Lilith nicht vorstellen. Sie arbeiteten erst seit einem Monat zusammen, doch Shinta kam es so vor, als wäre es sein ganzes Leben lang so gewesen.
 


 

シャボンに弾けた幾千の詩を

心掻き鳴らし歌うあなたの為に

Diese zehntausend Arien, in Seife eingefangen

Die dein Herz anschwellen lassen, wie sie klingt, wie sie singt - für dich
 

Zwischen ihren Aufträgen sang Lilith jeden Abend in dem Lokal. Und Shinta saß jeden Abend am selben Tisch und hörte ihr zu. Der Gesang zog ihn vollkommen in seinen Bann. Shinta konnte nie seinen Blick von Lilith abwenden und es kam nicht nur einmal vor, dass Lilith ihn nach ihrem Auftritt aus seinen Träumereien holen musste.

Wenn sie auf dem Weg zu ihren Aufträgen waren sang Lilith meistens auch. Eigentlich sang sie fast immer. Und Shinta liebte jede Sekunde davon.
 


 

叫べよ唄えよその深き愛を

命震わせて歌う閻魔蟋蟀よ

狂おしい心臓の言葉君に今贈ろう

Schrei sie heraus, sing sie, diese tiefe Liebe

Sing sie und lass sie dein Leben in Bewegung versetzten, infernalische Heuschrecke

Diese Worte aus diesem verrückten Herzen, ich widme sie dir
 

Shinta hatte, als er Lilith getroffen hatte, schon fast vergessen, wie es war, zu singen. Wie sehr er dieses Gefühl gebraucht hatte, bevor er seine Hände befleckt hatte.

Als er allein war, allein sein wollte, hatte er nicht mehr singen wollen. Es hätte nur Menschen angelockt. Und mit der Zeit hatte er alle Lieder vergessen.

Einmal dann, als Lilith gerade nicht da war, eine Zeit, die Shinta im Allgemeinen hasste, versuchte er, eines ihrer Lieder zu singen. Er kannte es ganz genau. So oft schon hatte er es gehört. Trotzdem begann er nur zögerlich, leise. Es war so ungewohnt, seine Stimme auf diese Weise zu benutzen. Und trotzdem vertraut. Er wurde schnell selbstbewusster und sang zunehmend lauter, bis er eine normale Lautstärke erreichte. Ihm fielen immer mehr Lieder aus seinem früheren Leben ein. Und auch das Gefühl kehrte zurück, anders zwar, aber immer noch dasselbe Gefühl.

Gerade, als er ein Lied sang, das er früher so oft gehört hatte, kam Lilith wieder zurück. Er war zu versunken in seinen Gesang um sie zu bemerken. "Kimi o aishiteruyo", sang er in dem Moment, als sie ihm ihre Hände um die Schultern legte.

"Was heißt das?", staunte sie. "Das war wunderschön. Deine Stimme... sie ist so rein, so klar, und du hast Kraft..."

Shinta spürte ihren beschleunigten Herzschlag an seinem Rücken, hörte ihren Atem. Er spürte auch, wie ihm selbst das Blut ins Gesicht schoss. Das, was er eben gesungen hatte, sein letzter Satz, war das gewesen, was er ihr schon immer sagen wollte.

Shinta stammelte, als er ihr antwortete. "I-Ich liebe dich. Ähm, ich meine, ich liebe dich so sehr"

"Was?", lachte Lilith.

"Der Text", meinte er. "Aber... Es-es ist auch die Wahrheit."

Liliths Hände fielen von seinen Schultern. Sie hatte einen Schritt von ihm weg gemacht. Shinta drehte sich um. Lilith war bleich geworden und in ihren Augen glitzerten Tränen.

"Was hast du da eben gesagt?", flüsterte sie. Sie hob ihre Hände zu ihrem Gesicht. Tränen lösten sich und fielen zu Boden. Sie zitterte. Shinta wollte einen Arm nach ihr ausstrecken, doch er lies es. Er senkte den Kopf.

"Es tut mir leid", murmelte er. Er fühlte sich so, als hätte eine Kugel seine Seele durchschlagen. Anders hätte er es nicht beschreiben können. Zum ersten Mal seit Wochen wünschte er sich das Eis zurück.

Dann spürte er Liliths kühle Hände auf seinen Wangen. Sie zog sein Gesicht nach oben, zu dem ihren. Shinta lies es einfach geschehen. Er wollte nur wieder derselbe werden, wie zu der Zeit, als sein Inneres zu Eis erstarrt war.

Er lies seine Augen geschlossen. Er wollte ihr Gesicht nicht sehen, ihre Tränen. Und dann, dann spürte er etwas Weiches, Zartes auf seinen Lippen.
 


 

詩はシャボンに弾けて風が運んでく

苛立ちにも似た愛と飾らぬ言葉

Das Lied in der Seife eingefangen, vom Wind getragen

Diese Worte, verziert mit einer Liebe an der Grenze der Frustration
 

Ab diesem Tag war Shinta fast nur noch mit Lilith zusammen. Er war kaum einen Moment ohne sie oder nicht in ihrer Nähe. Nur bei ihren Aufträgen musste er sich von ihr trennen. Und selbst dann nicht für lange, denn Shinta erledigte sie immer noch mit der alten Präzision.

Lilith fuhr gerne in die Berge, wenn sie gerade keine Aufträge hatten und Shinta begleitete sie immer. In den Bergen hatte Lilith eine kleine Hütte an einem See. Sie saßen dort oft stundenlang und Lilith schrieb an neuen Liedern. Shinta versuchte ihr dabei zu helfen, aber meistens hörte er ihr einfach nur zu. Er wünschte sich oft, er könnte ewig dort bleiben. Langsam begann er sich nach Ruhe und Frieden zu sehnen. Zum ersten Mal seit so langer Zeit träumte er von einer Zukunft, von einer glücklichen, zusammen mit Lilith.
 


 

叫べよ唄えよこの深き愛を

命震わせて歌う今夜君の為に

Schrei sie heraus, sing sie, diese tiefe Liebe

Sing sie und lasse sie dein Leben in Bewegung versetzten, diese eine Nacht, für dich selbst
 

Im Sommer fuhren sie dann eine ganze Woche in die Berge. Nur so, zur Entspannung, hatte Lilith gemeint. Sie teilte Shintas Abneigung gegen große Menschenansammlungen, nur beim singen waren sie ihr egal. Am See war es einsam. Niemand sonst kam hierher. Es war die glücklichste Zeit in Shintas Leben. Tagsüber gingen sie wandern, angeln oder dösten am Seeufer. Abends kochten sie dann über dem Lagerfeuer und redeten, bis es draußen zu kalt wurde.

Seit langer Zeit kam Shinta zum ersten Mal wieder zur Ruhe. Alle Anspannung fiel von ihm ab wenn er bei Lilith war. Alles war so neu, unbefleckt mit ihr. Und Shinta genoss jede Sekunde seines Glücks.
 

付芳芳

Horizont


 

夕陽に染められたホリゾント

くすんだ街を絵画に変えて

心どこかに置き忘れた

僕等の日々を優しく包む

Eine Kulisse bemalt in der Farbe des Abendrots

Die dunkle Stadt ist eingefangen auf der Zeichnung

Irgendwo haben wir unsere Herzen vergessen

Jeden Tag zärtlich verpackt
 

Keith saß auf dem Dach eines Hochhauses. Das orangene Licht des Sonnenuntergangs ließ alles in tiefen Schatten versinken. Er saß oft hier oben und starrte auf die immer dunkler werdende Stadt. Die einzige, die er dann als Gesellschaft akzeptierte war Mariah, die Schwarze Mariah. Sie sprach ja nie. Sie saß immer nur neben ihm und zeichnete die Stadt und den Sonnenuntergang. Manchmal schaute Keith ihr dabei zu. Seit fast einem Jahr hatte er bei den Aufträgen keinen Partner mehr. Zumindest nicht wirklich, denn Mariah begleitete ihn meistens.

Von Shinta hatte er seit dessen Versetzung nichts mehr gehört. Normalerweise hätte Keith nach so einer langen Zeit seinen ehemaligen Partner schon wieder vergessen, doch Shinta war ihm in Erinnerung geblieben. Vor allem ihre letzte Berührung. Keith wurde rot, als er daran dachte. Mit der Zeit begann er sich zu fragen, ob er für Shinta doch nicht nur väterliche Gefühle gehegt hatte.
 


 

恋をして世間追いかけて

流れて逆らってそれでも明日は来る

Verliebe dich, höre auf deine Umgebung

Folgen und Auflehnen, und trotzdem gibt es jedes Mal einen neuen Tag
 

"Du hast dich eben in ihn verliebt", hatte James gemeint, als Keith ihm davon erzählt hatte. "Das ist doch normal, das passiert jedem Mal."

Keith hatte ihm nicht glauben wollen. Er durfte einfach nicht in Shinta verliebt sein. Es war nicht richtig und schon gar nicht normal, redete er sich immer wieder ein.

Um von diesen Gedanken an Shinta loszukommen nahm er mehr Aufträge an, noch bevor er wieder richtig gesund war, nur um nie die Zeit zu haben, genauer darüber nachzugrübeln. Doch jetzt hatte ihn sein Boss in einen Zwangsurlaub geschickt. Trotz seiner vehementen Beschwerden hatte Keith sich am Ende doch fügen müssen.

Er kam vor Langeweile fast um und erstickte bald an seinen Gedanken an Shinta.

"Shin...", seufzte er.

Mariah schaute ihn fragend an. Dann tat sie so, als würde sie ein Gewehr halten.

"Genau", meinte Keith. "Ich frag mich nur, wo er ist..."

Mariah beugte sich wieder über ihren Skizzenblock. Sie kritzelte schnell einige Linien darauf. Sie zeigte es Keith. Es war eine grobe Karte. Dann deute sie auf einen Punkt etwas links von der Mitte.

"Du meinst, er ist da?", fragte Keith überrascht.

Mariah nickte und schrieb einen Städtenamen auf. Dann bewegte sie ihre Lippen.

"Wer hat das gesagt?", wollte Keith wissen.

Mariah zeigte ihm einen Vogel. Das war ihre Geste für James.

"Komm, gehen wir", meinte Keith. Er stand auf. Jetzt da er wusste, wo Shinta war und Zeit hatte wollte er auf keinen Fall länger hier herumsitzen.
 


 

頬をさす北風に襟を立てて

空も見れずに歩いてく僕達

大人になりきれない日々を越えて

君の肩に落ちた雪が時間を止めた

Wir recken unsere Hälse in den Nordwind um ihn auf unseren Gesichtern zu spüren

Wir laufen ohne in den Himmel zu schauen

Die Tage, an denen wir nicht erwachsen werden mussten ziehen an uns vorbei

Der Schnee auf deiner Schulter hat die Zeit überstanden
 

Keith fuhr auf dem schnellsten Weg in die Stadt, in der Shinta sein sollte. Mariah saß neben ihm und lauschte selig der Musik, die aus dem Autoradio kam. Er musste immer lächeln, wenn er sie so dasitzen sah, als würde sie sich in der Musik auflösen. Er hatte nicht verstehen können, warum sich Shinta so vor ihr erschrocken hatte.

Keith öffnete das Fenster, um frische Luft hereinzulassen. Kalter Nordwind blies ihm ins Gesicht. Es erinnerte ihn an seine Kindheit. An die Zeit, als er noch anderen Glück bereiten wollte. Anstatt, wie heute, den Menschen ihr Glück zu nehmen. Mariah und Shinta. Beide hatten ihm wieder Glück gegeben. Das Gefühl, in seinem Beruf auch etwas Gutes zu tun. Etwas, das ihn wirklich berührte und nicht nur von dem Schild um sein Herz abprallte.

Sie erreichten die Stadt am frühen Abend. Mariah hatte den Namen eines Lokals oder einer Bar aufgeschrieben. Keith suchte jetzt danach. Es war einfach zu finden, obwohl es nur klein war und in einer Seitenstraße lag. Aber viele Menschen gingen dorthin. Keith parkte das Auto.

Gemeinsam mit Mariah betrat er das Lokal. Schon beim ersten Blick erkannte er, warum so viele Menschen hierher kamen. Lilith klang wie ein Engel, wenn sie sang. Keith hatte sie vor Jahren einmal bei einem Auftrag getroffen.

Mariah jedoch schaute nicht zur Bühne, sondern auf einen Tisch in einer Ecke. Sie rieb sich die Arme, als ob ihr kalt wäre. Ein entsetzter Ausdruck lag auf ihren Zügen.
 


 

彩やかに見える今だけは

止まった街はジオラマのように

「今どこで何をしてるのですか」

いつかの自分から未来宛の手紙

In diesem Moment wo sie die Farben verlieren zu scheint

Ist die Stadt so unbeweglich wie ein Landschaftsgemälde

"Wo bist du jetzt, was machst du?"

Ein Brief, den wir an die Zeit adressiert haben
 

Mariah machte einen Schritt zurück. Keith wunderte sich über ihr Verhalten. Es war ganz und gar nicht normal für sie ihre Gefühle so deutlich zu zeigen.

Er folgte ihrem Blick. Dort, in der Ecke saß Shinta und starrte wie gebannt auf Lilith. Er hatte noch nie so glücklich ausgesehen wie jetzt. Keith fühlte sich als wäre in ihm etwas verschwunden und hätte eine fürchterliche Leere hinterlassen.

Als für Keith die Zeit wieder lief, drängte er sich durch die Zuhörer zu Shinta. Wenn er schon hier war, dann musste er Shinta einfach auch sprechen. Vielleicht schaut er nicht Lilith so an, sondern er ist nur verzaubert von ihrem Gesang, sagte sich Keith. Mariah folgte ihm nicht, doch das bemerkte er gar nicht.

Selbst dann jedoch, als er neben ihm stand, drehte Shinta sich nicht um. "Shinta", sagte Keith. Shinta reagierte nicht. Keith legte eine Hand auf seine Schulter. Nicht einmal darauf reagierte Shinta. Keith rüttelte an Shintas Schulter und sagte noch einmal lauter: "Shinta!"

Jetzt erst drehte sich Shinta zu Keith. Ein Strahlen kam in seine Augen, als er Keith erkannte. "Wie...? Was tust du denn hier?", rief er überrascht. Und er lächelte. Shinta stand auf und umarmte Keith. "Ich hab dich so vermisst", murmelte Shinta. Keith wusste, dass diese Umarmung nicht so gemeint war, wie er es sich wünschte. Er wusste es ganz genau. Und trotzdem nahm er Shinta in seine Arme und gab sich seiner Illusion hin.

"Ich habe dich auch vermisst", antwortete er ganz leise. "Ich habe mich oft gefragt, wo du bist, was du machst." Dass die Musik abgebrochen hatte und lautes Murmeln zu hören war bemerkten die beiden gar nicht.

"Es tut mir so Leid, dass ich dir nicht sagen konnte, wo ich hingehe", schluchzte Shinta. "Sie hatten mir verboten, dich noch einmal zu sehen. Ich... ich wusste nicht einmal, wo man dich behandelt"

Shintas Tränen durchnässten Keiths Hemd.

"Shht", machte Keith. "Es ist alles gut. Ich habe dich ja trotzdem wieder gefunden. Dank Mariah."

Shinta hob sein tränenverschmiertes Gesicht und sah Keith in die Augen. "Die Schwarze Mariah?!", keuchte er entsetzt. "Sie ist doch nicht etwa hier?"

"Du fürchtest dich doch nicht noch immer vor ihr", fragte Keith.

Bevor Shinta antworten konnte, löste er die Umarmung und ging hinter Keith. Als Keith sich umdrehte küsste Shinta Lilith gerade innig.

"Du liebst sie?", ächzte Keith. Er konnte seine Trauer unterdrücken, doch sein Gesichtsausdruck war unmissverständlich.
 


 

初雪がこのせわしい世界隠し

あの日と同じように高鳴る胸

大丈夫描いてた未来じゃないけど

鏡に映った自分誇ってあげるよ

Der erste Schnee verdeckt die sich in Aufruhr befindende Welt

Das Herz schlägt bis zum Zerreisen wie an diesem Tag

Es wird schon gehen, auch wenn es nicht die Zukunft ist, die wir uns vorgestellt haben

Ich bin stolz auf dein Bild im Spiegel
 

"Das ist Keith, von dem ich dir schon so viel erzählt habe", erklärte Shinta Lilith. "Und das ist Lilith, meine neue Partnerin"

Lilith schaute Keith böse an. "Wir kennen uns bereits", meinte sie kalt. Demonstrativ nahm sie Shintas Hand, was Keith mit einem kurzen Stich in der Brust wahrnahm.

Shinta schien von dem stillen Kampf zwischen Keith und Lilith nichts zu bemerken. "Hast du schon gegessen? Wenn nicht, dann könnten wir doch zusammen essen. Mariah kann auch mitkommen, wenn's sein muss..." Er redete einfach munter drauflos.

Und ehe Keith überhaupt wusste, wie ihm geschah, saß er Lilith gegenüber und wartete auf sein Essen. Ihn ließ das Gefühl nicht los, angestarrt zu werden. Was wohl daran lag, dass Lilith ihn böse anfunkelte und Mariah in anstarrte, nur um nicht in Shintas Richtung schauen zu müssen.

Keith versuchte die Blicke zu ignorieren und nur auf Shinta zu achten, der ihm gerade erzählte, was er in den letzten Monaten getan hatte. Und immer sprach er dabei von Lilith. Keith spürte eine Welle heißen Zorns über ihm zusammenstürzen. Er verstand nicht, wieso sie ihm so wichtig war. Wieso sie ihm wichtiger war als er. Sein Herz schlug so heftig wie in dem Moment, als Shinta ihn geküsst hatte. Doch es war nicht die Liebe, die ihn so aufregte, sondern finstere Eifersucht gegen Lilith.

Es ist gut so, ich freue mich, dass er glücklich ist, wiederhole Keith immer wieder in Gedanken. Akzeptiere es, freu dich für ihn! Es ist doch eine gute Zukunft, wenn auch nicht die, die du dir gewünscht hast.

“Ich wünsche dir viel Glück mit Lilith“, rang er sich ab. “Du weißt, dass du immer zu mir kommen darfst, wenn du willst.“

Shinta lächelte.

Als sie sich am Abend verabschiedeten drückte Keith Shinta noch ein letztes Mal. Keith war wirklich stolz auf das, was aus Shinta geworden war. Nur wollte die Finsternis in seinem Herzen diese Bild für immer zerbrechen.
 


 

頬をさす北風に襟を立てて

大切なぬくもりを抱きしめてる

明日はほんの少しだけ空を見上げ

それぞれの色を塗ろうほんの少しだけ君と

Wir recken unsere Hälse in den Nordwind um ihn auf unseren Gesichtern zu spüren

Wir schmiegen uns fest an uns selbst, dieser hochmütige Stolz

Morgen werden wir in den Himmel schauen, nur ein wenig

Wir lassen uns durchdringen von seine Farben nur ein wenig, gemeinsam mit dir
 

Der kalte Nordwind hätte Keith vielleicht wieder zur Besinnung bringen können. Doch er war viel zu aufgeregt. Die Eifersucht gewann fast die Oberhand in ihm und er musste wirklich mit sich kämpfen, dass sie nicht all sein Handeln und Denken beherrschte. Nicht einmal, dass Mariah ihm beruhigend die Hand auf seine legte und ihn verstört ansah, konnte seine Eifersucht zügeln. Keith wollte nur noch sich selbst vertrauen. Wer sagte ihm, dass Mariah ihn nicht genauso verlassen würde wie Shinta?

Die ganze Nacht blieb Keith wach. Er wollte Shinta so sehr wiederhaben. Er war so eifersüchtig auf Lilith. Auch wenn er Shinta das Glück gönnte, er konnte es nicht ertragen, dass er an der Seite einer anderen glücklich war. Als die Morgensonne den Raum in ihr blutrotes Licht tauchte, hatte Keith einen Entschluss gefasst.

Er wusste, dass es ein Fehler werden würde, doch sein Herz ließ ihn nicht anders entscheiden.
 

付芳芳

Libra


 

利腕に現実をとり もう片腕に道徳をかざし

胸の奥に愛を灯して 頭の中で天秤にかける

鬱蒼としげる闇の中自分の影を隠すように

汚ねえ算盤弾く音鳴り響く世界よ止まれ

Mit meinem rechten Arm nehme ich die Realität, mit meinem Linken die Moral

Wenn sich die Flamme der Liebe in meinem Herz entzündet

Wiege ich sie ab in meinem Kopf

Ich verstecke meinen Schatten in dicker Finsternis und sage dieser Welt des Sterbens

Dass sie stoppen soll
 

Keith wog seinen Entschluss noch einmal genau ab. Es war falsch, doch er konnte in dieser Wirklichkeit nicht leben. Wenn er Shinta doch nur nicht so lieben würde. Er hatte um seine finstere Seite gewusst, hatte sie so gut er konnte in noch größerer Finsternis versteckt. Deshalb war er auch an so einen Job gekommen. Er hatte seine Maske fast perfektioniert. Abgesehen von seiner Arbeit hatte er ein normales Leben geführt. Und jetzt fiel sie von ihm ab, nur, weil sein Herz wegen dieses Jungen fast verbrannte.

Keith wollte die Welt anhalten, die Zeit zurückdrehen zu den Monaten, in denen er Shinta nur für sich gehabt hatte und sie dann einfach anhalten. Diese Welt, die für ihn immer nur aus Tod und sterben bestanden hatte, hatte durch Shinta hell gestrahlt, war glücklich gewesen. Und seit Shinta nicht mehr da war, kam sie Keith so finster vor, dass er es kaum ertrug.

Er legte sich seine Pistole zurecht. Sein Plan war, auch wenn er jeder Moral entbehrte, fehlerfrei. Es würde einfach werden. Sie musste hier vorbei kommen.
 


 

感情は邪魔になるだけの世界さ 撃ち殺してくれよ

天秤にかけたのは誰?算盤で弾くのは誰?

ハーメルンの笛吹きは誰?狼少年はいつたい誰?

そんなのどうでもいいはど今君を愛してるよ

In dieser Welt sind Gefühle nur im Weg. Bitte erschieß mich!

Wer wiegt es ab? Wer zählt alles zusammen?

Wer ist der Rattenfänger von Hameln? Wer ist der Junge der Wolf rief?

Aber wen interessiert das schon, wenn ich dich liebe?
 

Im letzten Moment zögerte er kurz. Nicht lange genug, um sie zu schonen, aber doch einen winzigen Augenblick. Ein leichter Stich ging durch seine Brust, als sie zusammen sank. Doch die Gefühle waren nur im Weg. Er hatte schon sehr früh gelernt, sie zu unterdrücken. Manchmal hatte er sich seinen Tod gewünscht, als er seine Schuldgefühle nicht mehr zurückhalten konnte. Doch das war, als er noch jung gewesen war. Heute fühlte er keine Reue mehr. Dazu war er zu lange durch die Finsternis gegangen und hatte Leid und Vernichtung gesät.

Manchmal fragte er sich, was nach diesem Leben kam. Ob man gerichtet werden würde. Wenn ja, würde er sicher in die Hölle kommen. Ob man für seine Sünden gerichtet würde, seine Verfehlungen teuer bezahlen müsste. Oder ob man es schon im Leben büßte, wenn man anderen immer nur etwas vorspielte. Er ging zu ihr hin, vergewisserte sich, dass er getroffen hatte.

Eigentlich hatte er nichts gegen sie gehabt. Doch er konnte einfach nicht ertragen, dass sie so vertraut zu Shinta gewesen war. Ihn interessierte nichts wirklich, außer, dass er Shinta liebte. Und von ihm geliebt wurde. Auch wenn er dafür etwas tun musste, für das Shinta ihn hassen musste. Er konnte Shinta nicht mit anderen teilen. Am liebsten würde er ihn irgendwo einsperren und, wie ein Drache seine Schätze, bewachen.
 


 

花よ今咲き誇れ 僕に教えておくれ

今ここに生きる意味を明日がくる理由を

Ich frage die aufkeimenden Blumen was der Grund des Lebens ist

Warum das Morgen kommt
 

Shinta lag den ganzen Tag nur im Bett und weinte. Seit er Liliths toten Körper gefunden hatte, war er nicht mehr aufgestanden. Egal, wie lange Keith auch versuchte, ihn zu trösten, er hatte einfach nicht die Kraft dazu. Warum sollte er ohne Lilith weiter leben wollen?

Jetzt war es schon so weit gekommen, dass Mariah versuchte ihn zu trösten. Die Welt war aus ihern Angeln gehoben durch Liliths Tod, durch Shintas Trauer.

Und trotzdem kam nach jeder Nacht ein neuer Morgen.
 


 

利腕に欲望をもちもう片腕に背徳を隠し

胸の奥に愛を閉ざせば 頭の中で聖者が笑う

空き地に咲く健気な花

降り注ぐ光を奪うビルがそびえ建ち

人々はそのビルに目を輝かせ

やがて花は呼吸を止めた

風が只優しく撫でた

風だけが優しく撫でた

Mit meinem rechten Arm nehme ich das Verlangen,

mit meinem linken Arm verstecke ich die Unmoral

Wenn ich die Liebe in meinem Herzen einschließe lacht der Heilige in meinem Kopf laut

Eine Blume wächst stark in der Mitte unter weiter wachsendem Schutt auf der Lichtung

Gebäude ragen auf, stehlen das Licht

Und die Menschen bewundern diese Gebäude

Und dann eines Tages atmet die Blume nicht mehr

Der Wind streichelt die Blume nur sanft

Nur der Wind streichelt die Blume sanft
 

Keith saß jeden Tag an Shintas Bett. Er hätte ihn gern in die Arme genommen. Doch Shinta entzog sich jeder Berührung. Auch weigerte er sich zu essen oder irgendetwas anderes zu tun. Keith erfüllte dieser Anblick mit schweren Schuldgefühlen. Er hatte keine Rücksicht auf den genommen, den er wirklich begehrte. Doch er versuchte, sich diese Verfehlung von Shinta nicht anmerken zu lassen. Wenn Shinta es je erfahren würde, dann musste er Keith einfach hassen.

Stunde um Stunde saß Keith an Shintas Bett. Auch er tat fast nichts außer Shinta zu betrachten, ohne ihn jemals berühren zu können. Er wusste, dass er auf keinen Fall seinen Gefühlen nachgeben durfte. Er musste es machen wie immer. Einfach alles unterdrücken. Keine Rücksicht auf sich selbst nehmen, immer nur seine Pflicht erfüllen, funktionieren. Bis man daran zerbricht. Oder endlich Erlösung findet.

Wenn Shinta eingeschlafen war, strich Keith ihm manchmal sanft mit seinem Handrücken über die Wange. Vielleicht wäre Shinta seine Erlösung gewesen.

Doch nun war es unmöglich. Zwischen den Trümmern der vielen Leben, die er zerstört hatte und die er noch zerstören würde, trug er seine Liebe im Herzen, eine zarte, knospende Blume. Sie trotzte diesem lebensfeindlichen Ort. Noch.

Doch irgendwann würde sie es nicht mehr können und in der Finsternis ersticken.

Nach einer Ewigkeit, wie es schien, stand Shinta doch wieder auf. Keith war gerade nicht da. Shinta ging zum Fenster hinüber und öffnete es. Der Wind fuhr ihm ins Haar. Shinta beugte sich etwas nach vorn, bis der Wind seinen ganzen Körper umgab. Es tat ihm gut, diese sanfte, leere Berührung. Ohne feste Absicht, einfach, weil der Wind wehte.

Der Wind, so dachte Shinta, war der Einzige, der ihn je wieder berühren sollte.
 


 

生きる事其れは何も見えねえ闇の中をさ迷う様な

死ぬ事其れもまた闇で終りは決して始まりでわない

だからこそ今闇を照らす閃光になるよう生命燃やせ

輝きを放つんだ生きてる証儚く強く

Leben ist wie sich in finsterer Dunkelheit verirrt zu haben

Tod ist auch Finsternis, dieses Ende ist kein Anfang

Also lass deine Seele brennen und durch das Dunkle leuchten

Ein Lebensbeweis, vergänglich doch stark
 

Keith zog ihn sofort vom Fenster weg, als er herein kam. Shinta stieß ihn von sich und verkroch sich wieder im Bett.

“Was sollte das?“, keuchte Keith. “Selbstmord ist doch keine Lösung.“

“Ich will mich nicht umbringen…“, grummelte Shinta. “Na ja, es wäre eine Möglichkeit, aber wo, bitte, ist der Unterschied zwischen Tod und Leben? Der Tod ist das Ende von allem, dunkel und leer. Aber das Leben ist auch nicht viel anders. Man lebt doch nur von einem Unglück zum nächsten. Als ob man in ewiger Nacht gefangen ist.“

Er hatte sich von Keith weg gedreht und redete in Richtung der Wand.

Keith bebte am ganzen Leib. Wie konnte Shinta nur so etwas sagen? Lilith war tot, doch deswegen seinen Lebenswillen verlieren? Keith hatte das nicht gewollt. Er hatte gehofft, Shinta würde es einfach wegstecken, so, wie er selbst es getan hätte. Hätte er das wirklich? Was, wenn es Shinta gewesen wäre? Hätte er das nicht auch nicht verkraftet? Allein der Gedanke nahm Keith den Atem. Nein, er hätte dann auch keinen Grund zum Leben mehr gehabt. Doch was sollte er nur tun, damit Shinta wieder weiterleben wollte? Was nur…?

Keith holte tief Luft. Er hatte eine Entscheidung getroffen. Auch wenn er Shinta dadurch für immer verlieren würde, in diesem Moment schien es ihm die einzige Möglichkeit, Shintas Leben wieder einen Sinn zu geben. Wenn es auch nur ein kurzer Aufschub sein sollte.

“Ich war es!“, sagte Keith laut. “Ich habe sie erschossen. Es war ganz einfach. Ein paar Sekunden, ein gezielter Schuss, Ende. Sie hatte nicht einmal bemerkt… Es war so leicht. Ich würde es sogar wieder tun. Jeder Zeit!“

Es war ihm schwer gefallen, Shinta so zu verletzen, doch er legte so viel Kälte wie möglich in seine Stimme wie er nur konnte.

“Und du, jämmerlicher Kerl, willst nicht einmal den Mörder finden, sondern liegst nur den ganzen Tag herum und flennst! Toller Freund, der nicht einmal einen Mord rächen will! Du bist gerade so erbärmlich, Shinta!“

Keith versuchte, höhnisch zu lachen. Doch ihm war eher zum Heulen zumute.

“Jag mich doch, wenn du jemals die Kraft dazu finden solltest, dich aus dem Bett zu erheben.“

Shinta hatte sich die ganze Zeit, während Keith geredet hatte, nicht gerührt. Er starrte immer noch stumm auf die Wand. Keith warf ihm noch einen letzten Blick zu bevor er ging.

Das war ihr letztes friedliches Aufeinandertreffen gewesen, so dachte Keith.


 

花よ今咲き誇れ君が教えてくれた

今ここに生きる意味を明日がくるわけを

いつの日か死にゆく僕は 君に何ができるだろう

陽は昇り光を注ぐ永久にこの世界に

Ich frage die aufkeimende Blume warum ich lebe

Warum der Morgen kommt

Was kann ich für dich tun bevor ich sterbe?

Die Sonne geht auf und lässt ihr Licht ewig auf diese Welt scheinen
 

Keith war sofort mit Mariah aufgebrochen, nachdem er Shintas Zimmer verlassen hatte. Auch wenn er Shinta helfen wollte, so leicht würde er es ihm nicht machen. Je länger Shinta ihn suchen musste, desto länger hätte Shinta einen Grund zu leben.

Was hatte ihn nur dazu gebracht, so etwas zu tun? Weil es das einzige war, das er tun konnte, um Shinta zu retten?

Sein Leben hatte sich in wenigen Minuten so grundlegend geändert, doch die Welt drehte sich weiter.

Jeden Morgen würde die Sonne auch weiterhin aufgehen, wie seit Ewigkeiten und wie bis in alle Ewigkeit.
 

付芳芳

Give 'em Hell Kid

Shinta konnte es nicht verstehen. Shinta wollte es nicht verstehen. Wieso hatte Keith ihm das angetan? Wie hatte er es ihm dann auch noch direkt ins Gesicht gesagt? Shinta konnte das einfach nicht nachvollziehen.

Er mochte Keith doch. Er hatte ihn immer gemocht. Wieso nur hatte Keith dann beschossen, ihm das Leben zur Hölle zu machen? Weil er glücklich gewesen war? Weil Keith ihn hasste?

Keith hatte ihm innerhalb weniger Wochen die beiden wichtigsten Menschen seines Lebens genommen. Eigentlich müsste er ihn dafür hassen. Doch er konnte es einfach nicht. Ihm war nur zum Heulen zumute. Das war auch das einzige, was Keiths Geständnis hatte ändern können. Er konnte jetzt weinen und lag nicht mehr nur wie tot im Bett.

So konnte es nicht weiter gehen! Shinta raffte sich wieder hoch. Endlich. Es hatte lange genug gedauert. Doch Shinta hatte endlich seine Entscheidung getroffen. Er musste mit Keith reden. Egal, was er getan hatte, einen zweiten Verlust verkraftete Shinta nicht. Er wollte mit allen Mitteln verhindern, dass er auch noch den anderen Menschen verlor, der ihm wichtiger war als sein eigenes Leben. Ohne Leith, ohne Lilith, würde sein “Leben“ wieder werden, wie es früher gewesen war. Und diesen Zustand wollte Shinta nie wieder ertragen müssen.

Nur wo sollte er mit der Suche anfangen? Er kannte Keith gut genug, um zu wissen, dass er es ihm nicht leicht machen würde. Aber ganz ohne Anhaltspunkt war Keith bestimmt auch nicht verschwunden. Shinta durchsuchte die ganze Wohnung. Irgendetwas, nur irgendetwas, das ihn verraten konnte, wohin Keith gegangen war. Shinta wurde während der Suche immer verzweifelter. Selbst, wenn er Keith finden würde, was, wenn Keith nicht reden wollen würde? Wenn er einfach gleich schoss?

Shinta könnte nie zurück schießen.

Irgendwann fiel sein Blick auf eine Zugfahrkarte, die ganz oben auf einem Stapel Papier auf dem Schreibtisch lag. Sie war auf den Tag von Keiths Abreise datiert. Das war der Hinweis, redete Shinta sich ein.

Das musste er sein.

Er ging sofort zum Bahnhof. Ein Zug würde heute noch auf dieser Strecke fahren. Erleichtert kaufte Shinta eine Karte und wartete. Gern hätte er irgendetwas getan, egal was, Hauptsache, er musste nicht darüber nachdenken, wie er Keith gegenüber treten würde.

Als der Zug endlich die Stadt verließ, klopfte Shintas Herz wie wild. Er war aufgeregt, er zitterte fast Nur für den schlimmsten Fall und aus Gewohnheit begann er seine Pistole zu reinigen. Es beruhigte ihn einfach. Er war fast allein in dem Waggon, es war eine wenig befahrene Strecken.

Shinta betrachtete seine Pistole. Sie hatte schon viele Kratzer und es war ihr anzusehen, dass sie oft benutzt worden war. Wie vielen Menschen hatte sie schon den Tod gebracht? Shinta konnte sich diese Frage nicht beantworten. Alles verschwamm und wurde zu Einem, wenn er versuchte, sich an Genaueres zu erinnern. Er hatte nie etwas bereut. Sein Leben hätte damals auch mit einem Mord enden können, statt damit zu beginnen. Nicht einmal an die Gesichter seiner Eltern konnte er sich mehr erinnern.

Shinta zitterte. Ihm graute vor dem, zu dem er geworden war. Bei Keith, bei Lilith, hatte er nie Angst gehabt, egal, was auch passiert war. Er vermisste Keith so sehr. Er würde Keith nie davon abhalten sein eigenes Leben zu leben, doch er wollte bei ihm sein. Tränen liefen über sein Gesicht und fielen auf den kalten Stahl der Pistole. Keith war so weit entfernt, dass es ihn beinahe unerreichbar schien.

Shinta wollte Keith unbedingt finden. Mehr, als man je mit Worten sagen könnte.

Der Zug erreichte endlich sein Ziel. Doch für Shinta war seine Reise noch nicht vorüber. Wo sollte er Keith nur suchen? Er streifte ziellos durch die Stadt. Viele verstohlene Blicke wurden ihm zugeworfen. Shinta wusste, dass er aussah wie ein menschliches Wrack. Er hatte seit Wochen kaum geschlafen. Seine Kleidung, auch wenn es die besten Sachen waren, die er noch besaß, waren verschlissen und voller Löcher.

Shinta blickte sich überall suchend um. Er musste wie ein Irrer gewirkt haben. Er suchte verzweifelt nach irgendetwas, das einen Hinweis auf Keiths Aufenthaltsort gab. Nur irgendetwas…

Er suchte den ganzen Tag, ohne irgendetwas gefunden zu haben. Immer, wenn er geglaubt hatte, einen Hinweis gefunden zu haben, war es doch keiner gewesen.

Er konnte nicht mehr. Ein kleines Lokal in einer unbeleuchteten Seitenstraße fiel ihm auf, so eines, wie das, in dem Lilith gesungen hatte. Es zog ihn an. Wärm und Essen hatte er sowieso nötig. Also betrat er des „Black Angel“.

Es war recht leer. Nur wenige Menschen, meist um die zwanzig, saßen an den Tischen. Aus den Boxen in allen Ecken kam leise, düstere Musik. Die gesamte Einrichtung war in schwarz und Rottönen gehalten. Silberne Kreuze und Kandelaber waren der einzige Schmuck. Nur einige Kerzen spendeten schummriges Licht.

Shinta setzte sich an einen Tisch. Er bestellte sich etwas zu essen und einen Tee. Er seufzte schwer. Seine Suche heute war völlig sinnlos gewesen, womöglich war Keith nicht einmal in dieser Stadt. Er hätte schon wieder heulen können.

Plötzlich legte ihm jemand eine Hand über den Mund und drückte ihm eine Pistole zwischen die Rippen.

"Du bist nachlässig geworden. Du hättest nicht hierher kommen sollen", zischte Keith ihm ins Ohr.

Shintas Herz schlug wie wild. Keith hatte ihn gefunden. Er konnte mit Keith reden! Zumindest, wenn der seine Hand da wegnehmen würde.

Shinta versuchte gegen Keiths Hand anzureden.

"Was hast du gesagt?", fragte Keith überrascht und nahm seine Hand von Shintas Mund.

"Ich habe gesagt: Nimm deine Hand da weg, ich muss mit dir reden", wiederholte Shinta. "Und setzt dich bitte, ich will dein Gesicht sehen."

"Du willst. . . reden?", keuchte Keith überrascht. "Wieso? Hasst du mich für das, was ich getan habe?"

"Keine Ahnung", antwortete Shinta. "Ich weiß gar nichts mehr. . . Ich will dich nicht verlieren, Keith."

Keith seufzte resigniert. Shinta spürte wie der Druck des Pistolenlaufes nachließ. Keith setzte sich ihm gegenüber. Er stützte seine Arme auf den Tisch und verschränkte die Hände ineinander. Ernst starrte er Shinta über seine Hände hinweg an. Shinta fühlte, wie sein Herz unter diesem eiskalten Blick schneller schlug.

Keith seufzte wieder. "Warum, Shin?", sagte er. Nicht mehr. Dann schwieg er einfach nur. Shinta wusste nicht, was er darauf antworten sollte.

"Du warst der Erste, dem ich vertraut habe", sagte Shinta endlich. "Ohne dich hätte ich mich Lilith niemals geöffnet. Ohne dich wäre ich nie so glücklich gewesen." Shinta senkte seinen Blick, bevor er weiter sprach. "So glücklich, dass ich mein Leben verwünschte. Dass ich mich nach einem normalen Leben mit Lilith sehnte." Er sah wieder auf und lächelte Keith zögerlich an. "Davor wolltest du mich beschützen, oder? Davor, dass ich diesen Wunsch in die Tat umsetze. Dass ich mich zu einem Verräter mache und von allen gejagt werde. Das stimmt doch, oder?" Shinta hoffte, dass es so war. Wenn es anders wäre, was sollte er dann noch glauben? Was, wenn Keith auf Befehl gehandelt hatte? Er traute sich nicht, Keith in die Augen zu sehen. Stattdessen betrachtete er das dunkelrote Muster auf der schwarzen Tischdecke. Keith lachte traurig auf. Er legte seine Hand unter Shintas Kinn und zwang ihn, ihm in die Augen zu sehen.

"Ich wünschte, es wäre so, wie du gesagt hast", sagte Keith ernst. Shinta konnte in seinen Augen sehen, dass das ehrlich gemeint war. "Doch leider waren meine Absichten viel unedeler." Keith seufzte. "Ich war nur eifersüchtig. Eifersüchtig, dass es Lilith war, die dich so glücklich machte. Dass nicht ich es war, der dich in den Arm nehmen durfte. Nur blanke Eifersucht, mehr nicht, Shinta. Ich bin nicht der, für den du mich hältst. Ich bin nicht einmal halb so gut." Kraftlos lies Keith seine Hand sinken und wollte sie schon zurückziehen. Doch Shinta legte seine Hand auf Keiths. Er fühlte ihre Wärme, Keiths leichtes Zittern.

"Es ist ok", sagte Shinta. Er wusste nicht, warum er das sagte, er wusste nur, dass es in diesem Moment das richtige war. "Ich habe dich doch nicht für perfekt gehalten. Ich. . . ertrage es nur nicht, dich so verunsichert zu sehen." Er lächelte Keith an um ihm zu zeigen, dass es ihm ernst war.

Keith zog seine Hand unter Shintas weg. "Ich habe Liliths Tod noch nicht gemeldet.", flüsterte er. "Ich will es wieder gut machen. Zieh dich zurück, versteck dich und führ das ruhige Leben, das du mit Lilith nicht haben konntest. Ich werde euch beide als tot melden, wenn du willst. Du musst dir nur bewusst sein, dass wenn es jemals auffliegen sollte, es richtig hart wird. Und ich werde dir dann kaum helfen können."

Shinta bemerkte erst, dass er weinte, als ihm die Tränen von den Wangen tropften. Er konnte nur stumm nicken. Keith hatte recht gehabt. Er war nicht so gut, wie Shinta geglaubt hatte. Keith war besser. Zum zweiten Mal, zum letzten Mal, hatte Keith ihn vom Rand des kalten Nichts zurückgerissen.
 

付芳芳

It's not a Fashionstatement, It's a Deathwish

Eine normale, etwas ärmere Gegend in einer Großstadt. Hochhäuser, in denen einige Wohnungen schon seit Jahren leer standen. Kinder spielten auf unbebauten Grundstücken, auf denen wohl auch nie Häuser stehen würden. Hausfrauen tratschten miteinander auf der Straße und in den Hauseingängen. Einige kleinere Geschäfte waren geöffnet. Die Besitzer redeten mit ihren Kunden.

Von denen, die aus der Gegend irgendwo arbeiteten, waren die Meisten niedere Büroangestellte. Jeden Morgen fuhren sie in ihren klapprigen, alten Autos zur Arbeit. Jeder Tag glich dem Vorhergegangenen und, abgesehen von einigen Jugendbanden, war es ruhig.

Trotzdem war der junge Mann, der vor einigen Jahren dorthin gezogen war, nicht aufgefallen. Er hatte damals ausgebrannt, leblos ausgesehen, hatte einen gehetzten Eindruck gemacht. Jetzt arbeitete er als Buchhalter in einem kleinen Büro. Er war noch immer sehr bleich, seine längeren, schwarzen Haare hingen ihm über die Brille. Er war äußerlich zur Ruhe gekommen, traf sich regelmäßig mit einer jungen Frau und führte auch sonst ein ganz normales Leben, wie jeder andere in dem Viertel auch.

Shinta war froh, dass er den Eindruck eines gewöhnlichen Mannes vermittelte. Er hatte lange genug daran gearbeitet ein vollkommen normales Leben zu führen. Bestimmt würde jetzt niemand mehr erraten, was für ein Leben er früher geführt hatte. Wie viele Leben er zerstört hatte. Was er verloren hatte. Dieser Neuanfang hier war wie der Tod. Er würde nie zurück können und hatte alles hinter sich gelassen, was ihm je etwas bedeutet hatte. Und trotzdem hielt er an diesem normalen Leben fest.

Er war Keith dankbar dafür, dass er ihm dieses Leben ermöglicht hatte. Doch er vermisste ihn noch immer. Er hatte Keith seit jenem Tag nicht mehr gesehen.
 

Auch Keith vermisste Shinta. Oft musste er sein Verlangen unterdrücken zu ihm zu gehen und damit alles zu verraten. Shinta ist tot, musste er sich immer wieder sagen. Sein Leben hatte sich seit dem Tod von Shinta und Lilith kaum verändert. Dass Mariah jetzt seine Partnerin war, war wohl die größte Veränderung. Wie Shinta.

Keith schien allen, die er mochte, nur Unglück zu bringen. Shinta, und nun auch Mariah. Beide hatte er nicht beschützen können.

Keith seufzte. Mariah schaute ihn fragend an. “Shin“, erklärte er ihr. Sie nickte verständnisvoll. Sie war es gewohnt, dass Keith oft kurz angebunden war. So war er, seit er sich mit Shinta zum letzten Mal getroffen hatte. Mariah legte ihm beruhigend eine Hand auf den Unterarm. Früher, bevor der Sache mit Shinta, hätte er ihr dafür ein Lächeln geschenkt. Doch nun schien er es nicht einmal zu registrieren.

Sie saßen in einem gemütlichen Wohnzimmer, auf einem weichen Sofa. Keith hatte seine Beine angezogen und umschlang sie mit seinen Armen. Sein Kopf ruhte auf seinen Knien. Er sah aus, als ob er sich nach weiter Ferne sehnen würde. Mariah hatte gelesen, doch jetzt schaute sie Keith besorgt an.

Er war immer so traurig, wenn er an Shinta dachte. Mariah wusste nicht, was damals mit Shinta vorgefallen war. Doch die Erinnerung wie Keith und Shinta damals gewesen waren, machten ihr Angst.

Keiths Handy klingelte. Keith brauchte einige Zeit, um das überhaupt zu bemerken. Hastig meldete er sich.

“Keith“, sagte James. Er klang aufgeregt. Und dann dieser eine Satz. “Sie haben Shinta gefunden.“ James redete weiter, doch Keith nahm es gar nicht mehr wahr. Sie haben Shinta gefunden. Wieder und wieder wiederholte sich dieser Satz in Keiths Gedanken. Shinta, den er immer nur hatte beschützen wollen, würde wegen seiner dummen Idee nun in Lebensgefahr sein. Keith machte sich selbst Vorwürfe.

“He, Keith, bist du noch da?“, drang James durch seine Gedanken.

“Hm“, machte Keith.

“Ich sagte, dass du nichts Dummes tun sollst“, wiederholte er. “Ich weiß, dass du Shinta magst, aber du darfst deswegen nicht auch noch zu Verräter werden.“

“Sei still!“, rief Keith. “Du hast doch keine Ahnung!“

Es tat gut, dass er seine Wut auf jemand anderen konzentrieren konnte, weg von sich selbst. Was wusste James schon? Nicht Shinta war der Verräter, sondern er. Er war es, der eine Kollegin getötet hatte. Er war es, der Shintas angeblichen Tod gemeldet hatte. Er war es, der Shinta zum Verrat gedrängt hatte. Nur er allein! Es war nicht Shintas Schuld, sondern ganz allein seine!

Er legte einfach auf. Keith konnte Shinta nicht im Stich lassen. Er stand auf und nahm seine Sachen. Alles, was er jetzt noch tun konnte, um Shinta zu beschützen, war, Shintas Feinde zu töten.
 

Shinta lachte. Seine Freundin und er saßen zusammen beim Frühstück. Sie hatte die Nacht bei ihm verbracht, nachdem sie zusammen im Kino gewesen waren. Shinta mochte sie, auch wenn es anders war als er Lilith gemocht hatte.

Sie war niedlich, kleiner als er, hatte ein gleichmäßiges Gesicht und große, dunkle Augen. Eine zarte, zerbrechliche Blume. Shinta hatte keine Ahnung, was sie an ihm fand. Merkte sie nicht, dass er von einer dunklen Aura umgeben war? Bemerkte sie nicht die Finsternis in seinem zerbrochenen, versiegelten Herzen? Aber es war ihm ja auch recht, wenn sie es nicht sah. Dann würde sie auch nie bemerken, dass er sie zwar mochte, aber nicht in der Lage war, sie wirklich zu lieben.

Sie verabschiedeten sich voneinander, bevor sie beide zur Arbeit fuhren.

“Wir telefonieren, oder?“, fragte Shinta.

“Natürlich“, antwortete sie lächelnd. “Aber wir sehen uns ja morgen.“

Shinta lächelte auch. Er umarmte sie und gab ihr einen zärtlichen Kuss. Innerlich grinste er. Er war so ein guter Schauspieler geworden. Sie hatte nicht einmal bemerkt, dass er mit diesen Armen viel lieber jemand anderes halten würde. Jemanden, dem er nie wieder so nahe sein würde.

Shinta saß allein im Wagen und steuerte ihn gelangweilt durch den Berufsverkehr. Er war sehr froh, dass es auf seinem Weg zur Arbeit nur wenige Pendler gab und er so selten im Stau stand. Er fuhr nicht gerne allein im Auto. Es kamen nur alte Erinnerungen hoch, die er lieber verdrängen würde. Sehnsüchte. Er dachte an Keith.

Gerade in diesem Moment piepte sein Handy. Es hatte eine SMS empfangen. Wahrscheinlich nur von seiner Freundin, dachte Shinta, als er beiläufig auf das Display schaute. Doch dem war nicht so. Unbekannter Absender, stand da nur. Shinta öffnete die Nachricht. Vielleicht war es ja doch interessant.

Als er den Absender las wäre er beinahe gegen die Leitplanke gekracht. Zittern steuerte er seinen Wagen auf einen Parkplatz. Das konnte einfach nicht sein. Shinta hätte die Nachricht beinahe gelöscht, so sehr zitterten seine Hände als er den Text las.

“Shin, du bist in Gefahr. Es tut mir so leid. Wo bist du? Keith“

Das war der ganze Text. “Keith“, wimmerte Shinta. Tränen liefen ihm über die Wangen. Wieso tat Keith nur so etwas Dummes? Wieso meldete er sich wegen so etwas? Hatte Shinta diesen Weg nicht selbst gewählt? Wieso sollte Keith sich nur seinetwegen in Gefahr begeben? Shinta wollte Keith wieder sehen, doch nicht, wenn er ihn damit in Gefahr brachte.

“Such nicht nach mir.“, tippte Shinta. Doch er konnte es nicht senden. Er vermisste Keith so sehr.

“Ich warte am Kanal kurz vor der Mündung. Bitte, komm schnell. Shin“, tippte Shinta, seinem egoistischen Wunsch nachgebend. Selbst wenn es gefährlich war, selbst wenn es nur für einen kurzen Moment war, er musste Keith einfach wieder sehen.

Shinta wendete seinen Wagen. Seine Arbeit und sein so hart erkämpftes, normales Leben waren mit einem Mal unwichtig. Er würde seinem selbst gewählten Grab entsteigen und wieder bei Keith sein. Er hatte lange genug sein Leben dem Stillstand überlassen. Shinta würde sich das Leben zurückholen, das Keith ihm genommen hatte. Er würde sich Keith zurückholen. Wie viele Nächte hatte er wach gelegen und sich eine Nachricht von Keith gewünscht?

An der Kanalmündung hielt Shinta an. Er dachte nach. Wenn er wirklich in Gefahr war, konnte es nur bedeuten, dass man seinen Verrat bemerkt hatte. Shinta nahm seine Pistole und einige Magazine aus dem Handschuhfach. Seine älteste Freundin. Sie war zerkratzt und verstaubt, doch das störte Shinta nicht. Sie nur in Händen zu halten, hatte für ihn etwas Beruhigendes.

Er stieg aus und stellte sich in den Schatten eines Hauseingangs. Einen Scharfschützen würde das zwar nicht daran hindern ihn zu erschießen, aber gegen alle anderen hatte er so bessere Chancen als im Auto.

Shinta begann seine Pistole zu reinigen. Wie früher auch machte ihn das ruhiger, konzentrierter. Eine saubere, zuverlässige Waffe würde ihm später sicher helfen. Doch eigentlich reinigte er sie nur, um sich von seiner Nervosität wegen seines Treffens mit Keith abzulenken.

Ein Wagen hielt neben seinem und ließ Shinta aufhorchen. Er zog sich ein Stückchen weiter in den Schatten zurück. Er entsicherte seine Waffe. Aus dem Wagen stieg ein Mann und schaute sich suchend um. Shintas Herz schlug schneller. Es war Keith! Leise trat er wieder einige Schritte aus dem Schatten. Doch er zögerte nach Keith zu rufen. Er war so froh, zu sehen, dass er Keith gut ging. Er wollte ihn nicht in Gefahr bringen. Doch es war nicht nötig, nach Keith zu rufen, er hatte ihn schon entdeckt und lief auf ihn zu.

Bevor Shinta reagieren konnte, hatte Keith ihn schon an sich gezogen und umarmte ihn fest. Shinta spürte Keiths Herzschlag unter seinen Händen, die er vor Überraschung zur Abwehr gehoben hatte.

"Ich bin so froh", flüsterte Keith. "Ich bin so froh, dass ich nicht zu spät gekommen bin. Dass es dir gut geht."

Shinta hob seinen Kopf und sah Keith ins Gesicht. Die letzten Jahre waren nicht spurlos an ihm vorübergegangen, doch sein Blick war immer noch der Selbe. Unwillkürlich musste Shinta lächeln.

"Ich habe dich auch vermisst, Keith", lächelte er. Doch seine Sorge konnte er selbst jetzt nicht verdrängen. "Was willst du jetzt tun?", fragte Shinta. Vor Sorge sprach er viel schneller als sonst. "Jetzt bist du doch auch in Gefahr, nur wegen mi..."

Keith legte Shinta seinen Zeigefinger auf die Lippen. Auch er lächelte liebevoll. "Ich bin in Gefahr, weil ich es wollte. Ich WILL dich beschützen, koste es, was es wolle. Und wenn ich sterbe, sterbe ich eben!!" Endlich löste Keith die Umarmung und tätschelte Shinta den Kopf. "Lass uns erst einmal irgendwohin gehen, wo wir uns einen Plan überlegen können, ohne gestört zu werden."

Nicht, dass er sich wirklich etwas überlegen wollte. Er wollte einfach nur mit Shinta allein sein.

Sie checkten in einem schäbigen, heruntergekommenen Hotel ein, wie sie es früher oft getan hatten. Shinta dachte sich nichts dabei, als er Keiths Hand nahm und sich von ihm führen ließ. Er wollte nur wieder Keiths Wärme spüren. Er wollte, dass Keith sich wieder so um ihn kümmerte wie kurz nach Liliths… Etwas in ihm verkrampfte sich. So sehr er es sich wünschte, er konnte es nicht vergessen. Tränen rannen von seinen Wangen.

Sie hatten das Zimmer mittlerweile betreten. Keith nahm Shinta tröstend in die Arme. Doch Shinta wollte sich nicht trösten lassen. Er stieß Keith weg. Der Schaden, den Keith angerichtet hatte, waren keine Wunden, die heilen würden. Zumindest jetzt noch nicht. Vielleicht würden diese Schmerzen doch irgendwann abklingen, doch jetzt war es noch nicht soweit.

“Was hast du?“, fragte Keith besorgt. Er schien sich nicht zu trauen, Shinta noch einmal anzufassen.

Shinta sah ihn durch den Tränenvorhang vor seinen Augen an. “Wer sagt mir, dass du mich nicht auch umbringst?“, schluchzte Shinta. Er wollte das nicht sagen, doch die Worte sprudelten einfach aus ihm heraus. “Wer sagt mir, dass du mich nicht umbringst, wenn ich schlafe?“ Kraftlos sank Shinta in sich zusammen.

“Oh, Shin, mein Kleiner“, sagte Keith sanft. “Ich könnte dir doch niemals etwas tun. Nicht ein Haar könnte ich dir krümmen. Dazu liebe ich dich viel zu sehr.“

Keith setzte sich neben Shinta auf den Boden. Er nahm Shinta fest in seine Arme. Shinta ließ es einfach mit sich geschehen. Er brauchte Keiths Berührung, die Sicherheit und Geborgenheit, die von seiner Umarmung ausging.

“Und was machen wir jetzt?“, fragte Keith am Nachmittag. Sie hatten einander kurz erzählt, was ihnen in den letzten Jahren widerfahren war. Danach hatten sie nur schweigend da gesessen. Shinta hatten seinen Kopf an Keiths Brust gelegt und drehte sich jetzt so, dass er Keith ansehen konnte.

“Ich weiß es nicht“, meinte er. “Hier bleiben können wir nicht. Wenn sie uns hier finden, haben wir kaum eine Chance…“

“Hast ja recht…“, murmelte Keith. “Dann sollten wir wohl besser gehen. Lass uns doch irgendwo etwas essen. Ich habe langsam wirklich Hunger, du doch auch, oder?“

Shinta seufzte. Natürlich hatte er Hunger, aber er wollte nicht weg von hier. Doch das Knurren seines Magens ersparte ihm eine Antwort.

Keith stand auf. Er lachte. “Also, los. Lass uns in die Innenstadt gehen. Sie werden uns kaum vor so vielen Zeugen angreifen.“

Shinta stand auch auf. Er folgte Keith aus dem Hotel. Ein seltsames Gefühl des Beobachtet Werdens beschlich ihn unter freiem Himmel. Er sah sich nervös um.

Nichts geschah, doch das Gefühl wollte nicht weichen. Es war nicht weit bis in die Innenstadt und so gingen sie zu Fuß dorthin. Auf dem Weg lag auch eine schmale Gasse. Alles in Shinta sträubte sich dagegen, diese Gasse zu betreten. Sie war einfach zu sehrperfekt für eine Falle.

Doch nichts geschah, als sie die Gasse betraten, auch nicht in der Gasse selbst. Shinta schob diese Gefühle auf seine überreizten Nerven. Es war nichts. Es würde nichts geschehen. Sie hatten sie noch nicht gefunden.

Das dachte Shinta. Doch als sie den Platz hinter der Gasse betraten, hallte ein Schuss zwischen den toten Häusern. Keith zuckte zusammen. Er atmete nur noch schwer. “Keith!“, schrie Shinta. Er versuchte, Keith zu stützen, ihn in Deckung zu ziehen. Er spürte die Nässe des Blutes auf seiner Hand, die er verzweifelt gegen die Wunde drückte. “Keith, du darfst mich nicht schon wieder allein lassen!“, schluchzte Shinta leise. “Bitte, bleib bei mir. Ich weiß, wir sind nie soweit gekommen, aber ich…“

Keith hustete. “Tut mir leid…“ Seine Stimme war nur noch ein Flüstern. “Es tut mir… leid…Shin…“ Ein Husten unterbrach ihn. “Mach, dass du hier wegkommst. Bitte, du musst leben. Ich … ich komm schon klar.“

Shinta lehnte Keith gegen die Wand in einem Hauseingang. “Aber…“, wollte Shinta widersprechen. Doch Keith versuchte sein schmerzverzerrtes Gesicht zu einem aufmunternden Lächeln zu verziehen und keuchte: “Lass mir nur deine Pistole da. Ich schaff das schon. Warte auf mich.“ Es war ihm anzusehen, dass es ihn Kraft kostete, so viel zu sprechen.

Shinta ertrug diesen Anblick nicht. Er wollte Keith nicht zurücklassen. Doch er wollte auch auf Keith hören. Shinta drückte Keith so fest er sich traute. Dann gab er ihm seine Pistole. Schnell stand Shinta wieder auf und drehte sich von Keith weg.

“Ich werde dich nie vergessen“, flüsterte Shinta, bevor er loslief. Er weinte und passte nicht auf, wohin er lief. Er lief nur und lief immer weiter. Er bemerkte nicht, dass niemand ihm folgte. Er hörte nur einen kurzen Schusswechsel. Der letzte Schuss hallte in ihm nach. Shinta konnte nicht mehr weiter. Er duckte sich hinter einen Müllcontainer.

Shinta schluchzte. Er wusste, dass er Keith nie wieder sehen würde. Aber er würde Keith nie vergessen. Er würde sich für Immer an ihn erinnern. Vielleicht war das Leben wirklich der schlimmste Teil. Wenn es wirklich ein Leben nach dem Tod gab, dann würden sie sich irgendwann wieder sehen. Shinta hoffte so sehr wieder bei Keith sein zu können. Auch wenn sie jetzt am Ende wieder getrennt worden waren. Shinta hatte nun keine Angst mehr vor dem Tod. Er hatte nun nichts mehr, das ihn in dieser Welt hielt. Keith hatte ihm seine Angst vorm Fallen genommen.

Shinta wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Er würde versuchen, weiter zu leben, auch wenn er das nicht wirklich wollte. Er würde sich bemühen, für zwei zu leben. Für Keith, für sich selbst.

Das Klingeln seines Handys schien wie ein Klang aus einer fernen, längst vergessenen Welt.

I never told you what I do for a living

"Pass auf dich auf" - "Natürlich", antwortete sie. "Wir sehen uns ja morgen." - "Ja, morgen"

Shinta legte auf und steckte sein Handy zurück in die Hosentasche. Morgen, nur noch ein Tag...

Fast wünschte er sich, sie würde nicht kommen. Doch es war nur eine weitere Art weiterzumachen, eine weitere Art, sein Gesicht zu verbergen.

Shinta hockte allein in einer dunklen Gasse, so hinter Müllcontainern verborgen, dass man ihn von den angrenzenden Straßen nicht sehen konnte. Ein unerwartetes Geräusch ließ ihn zusammenzucken. Er war sich nicht mehr sicher, denn die Straßen hier waren auch nachts stark befahren, aber...

Da! Da war schon wieder so ein Geräusch. Vorsichtig lugte Shinta hinter dem Container hervor. Tatsächlich, da waren zwei Männer, die sich langsam seinem Versteck näherten. Trotz der späten Stunde trugen sie getönte Sonnenbrillen.

Shinta versuchte, sich wieder weiter in den Schatten zurückzuziehen. Sie durften ihn auf keinen Fall entdecken! Es klapperte, als er gegen einen Plastiksack voller Dosen stieß. Shinta fluchte. Natürlich hatten die Männer ihn bemerkt.

Blitzschnell sprang Shinta aus seinem Versteck und warf sich auf den Mann, der ihm am nächsten stand. Ein kurzes Handgemenge. Shinta sah, wie sein Gegner ein Messer zücken wollte. Es ging alles so schnell. Als sich eine Pfütze um den reglosen Körper seines Gegners bildete, war Shinta schon mit dem anderen beschäftigt. Shinta traf den überraschten Mann in die Magengrube und stach das Messer, das er eben errungen hatte, in die Brust seines Gegners.

Shinta zitterte. Das alles war so schnell gegangen. So leicht. Er bückte sich und nahm den beiden ihre Ausweise ab.

Blut klebte überall an seiner Kleidung, als Shinta durch das Labyrinth der Straßen rannte. Er war sich zwar sicher, dass niemand sich daran stören würde, aber trotzdem war er nervös. Wie immer, wenn er so etwas getan hatte. Sein Herz klopfte wie wild und seine Lungen brannten, als er endlich die schäbige Absteige erreichte, in der er zurzeit seinen Schlafplatz fand.

Die staubige Lobby wie auch die düsteren Gänge waren zu Shintas Erleichterung menschenleer. Das war das Schöne an solchen Orten: man traf nie jemanden. Shinta betrat sein Zimmer, nicht ohne sich vorher nochmals umzusehen, und schloss hinter sich ab. Mit dem Rücken an die Tür gelehnt musterte er das Zimmer. Dann atmete er auf. Nichts hatte sich seit dem Morgen verändert. Es war nicht einmal geputzt worden.

Shinta setzte sich an den Schreibtisch und klappte das Buch auf, das dort lag. Die Ausweise der beiden Männer legte er daneben. Mit einem Füllfederhalter schrieb er ihre Namen zuunterst in eine mehrere Seiten umfassende Liste. Gedankenverloren strich Shinta über das Papier.

"So eine Verschwendung...", murmelte er, als er aufstand um duschen zu gehen.

Shinta machte sich nicht die Mühe, seine blutverschmierten Sachen auszuziehen. Er nahm nur sein Handy und seinen Geldbeutel aus den Taschen. Den Geldbeutel legte er sofort weg, doch das Handy behielt er noch kurz in der Hand. Er wollte sie anrufen, ihr absagen, doch er widerstand dem Drang.

Als Shinta unter der Dusche stand und dem rot verfärbten Wasser beim Versickern zusah, dachte er: 'Egal, wie lange oder wie oft ich mich wasche, diese Art von Schmutz lässt sich nicht wegwaschen. Was tue ich eigentlich? Wann ist es so weit gekommen, dass es mir egal ist, was ich tue?'

Er taumelte. Plötzlich war Shinta schlecht. Der ganze Raum drehte sich. Fast wäre er ausgerutscht. Triefend schaffte er es gerade noch zur Toilette, bevor er sich übergeben musste.

Das war ihm schon lange nicht mehr passiert.

Als er sich wieder besser fühlte, war es schon fast morgen. Shinta ließ sich müde auf das Bett fallen und schlief sofort ein.

Als Shinta aufwachte, dämmerte es schon wieder. Er seufzte. Nun war es zu spät, ihr noch abzusagen. Er packte seine Sachen zusammen und achtete genau darauf, nichts zu hinterlassen, das auf ihn schließen lassen würde. Dann nahm er seinen Rucksack und verließ dann Raum.

Der Tresen war nicht besetzt. Nicht, dass Shinta es anders erwartet hätte. Er zog einen Umschlag hervor, legte Geld und Zimmerschlüssel hinein und legte ihn auf den Tresen. Früher hatte es so immer geklappt.

Dann machte er sich auf den Weg zum Treffpunkt. Es war ein alter Park, in dem die Pflanzen wuchsen, wie sie eben wuchsen und es noch einige versteckte Teiche gab. Eigentlich der perfekte Ort für ein ungestörtes Rendezvous. Doch das war natürlich nicht Shintas Gedanken gewesen, als er diesen Park als Treffpunkt ausgewählt hatte. Es war einfach ein Ort, an dem man sich zur Not gut verstecken oder sogar kämpfen konnte.

Sie wartete direkt unter einer Laterne auf ihn, so, dass er sie schon weitem sehen konnte. Obwohl es Shinta missfiel musste er doch zugeben, dass sie so unglaublich hübsch aussah. Sie kam lächelnd auf ihn zu, so dass sie sich am Rand des Lichtkreises trafen.

"Schön, dass du gekommen bist", sagte sie.

Shinta lächelte zurück und küsste sie kurz. "Ja", murmelte er, auch wenn er es ganz und gar nicht schön fand. Er zog sie näher an sich, nicht, um sie zu umarmen, sondern nur, um sie aus dem Licht zu ziehen.

Plötzlich hatte Shinta ein ungutes Gefühl. Er machte einige Schritte rückwärts, weg von der Lampe und weg vom Weg.

"S-Shinta", rief sie, als sie ihm folgte. "Was soll denn das? Du bist doch sonst nicht so."

"Shh" Er legte seinen kalten Zeigefinger auf ihre warmen Lippen. "Bleib einfach aus dem Licht, ok?"

Sie nickte.

Shinta umarmte sie und küsste sie. Er behielt seine Augen dabei jedoch offen.

Und da sah Shinta ihn. Durch den Lichtkegel ging, mit immer derselben Geschwindigkeit, ein einzelner Mann. Shinta drückte sich tief in das Gebüsch neben dem Weg, ohne den Kuss oder die Umarmung zu lösen. Sie drückte ihn sanft weg von sich.

"Shin..." Sie wollte etwas sagen, doch Shinta unterbrach sie sofort.

"Still", zischte er. "Bete, wenn du musst. Oder bleib einfach hier und ich mache dich unglücklich."

Mit diesen Worten trat Shinta wieder auf den Weg, dem Mann entgegen. Er spannte sich, machte sich bereit zu Kampf. Als der Mann vor Shinta stand schlug der Mann blitzschnell zu. Shinta konnte kaum reagieren, als schon eine ganze Reihe von Schlägen auf ihn einprasselten. Er wurde immer weiter zurückgedrängt, ohne sich wehren zu können.

Plötzlich bekam er einen Schlag den Hinterkopf und ihm wurde schwarz vor Augen.

Als Shinta wieder zu sich kam, war er gefesselt und man hatte ihm die Augen verbunden. Er versuchte, gegen die Fesseln anzukämpfen, aber sie rührten sich nicht. Doch bei seinen erfolglosen Versuchen stieß er gegen etwas Warmes, Weiches.

Shinta fluchte, als er begriff, was es war.

"Shinta, bist du das?", rief sie. Ihre Stimme zitterte vor Angst. Die Selbstvorwürfe, die sich in Shinta schon seit Tagen regten, wurden lauter, als er ihre Stimme hörte. Wie hatte er sie nur so in Gefahr bringen können?

"Ja, ich bin es", antwortete Shinta so ruhig wie er nur konnte. "Keine Sorge. Alles wird gut. Wir werden hier rauskommen. Und wieder lachen. Und tanzen. Und wir werden weiterleben. Ich verspreche es dir."

Er versuchte, sich so zu drehen, dass er sie berühren konnte.

"Shin...", begann sie, ruhiger als vorher. "Weißt du, was das hier soll? Wieso wir entführt wurden?"

Shinta schwieg. Eigentlich wollte er es ihr nicht sagen, doch... Sie hatte ein Recht, es zu erfahren, schließlich war es seine Schuld, dass sie in diese Lage gekommen war.

Er seufzte. "Ich war Künstler. Ein recht begabter sogar, wenn man den Kritikern glauben darf. Doch vor einiger Zeit, ich weiß nicht mehr, wie lange es schon her ist, bin ich irgendwie in Ungnade gefallen. Seit dem war ich auf der Flucht. Ich..."

...wollte dich nicht in Gefahr bringen, ich wollte nur ein normales Leben mit dir beginnen. Das war, was er noch sagen wollte, doch er kam nie dazu.

In dem Moment wurde knarrend eine Tür geöffnet. Schritte durchquerten den Raum, bis sie hinter ihr stehen blieben. Shinta hörte, wie eine Pistole entsichert wurde. Er wollte schreien, doch er konnte es nicht.
 

Zwei Schüsse.
 

Shinta begann sich zu wünschen, dass alles endlich vorbei wäre. Die Person

Stand jetzt hinter Shinta. Noch zwei Schüsse.
 

Und dann war es wirklich vorbei.
 

おわり- Ende
 

付芳芳

Famous Last Words

Alles um Shinta herum war schwarz. Er fragte sich ob seine Augen noch geschlossen waren. Mit einem Mal dachte er an Lilith. Warum, wusste er nicht. Manchmal, früher, hatte er sich gewünscht, er wäre in ihren letzten Momenten bei ihr gewesen.

Doch er wusste jetzt, dass er nichts hätte tun können, damit sie geblieben wäre. Ein Loch in ihrer Brust, wo das Herz hätte sein sollen. Er wusste, dass er nichts hätte sagen können, um etwas daran zu ändern.

So viele Lichter, die doch einen Schatten schufen. Endlich konnte er etwas sehen. Doch er war nicht in der Lage, etwas zu sagen. Es war schwer für ihn zu verstehen, doch er fühlte sich auf einmal so unvollkommen, noch unvollkommener als nach Liliths Tod. Als hätte dieses Leben, das so viel von ihm verlangt hatte, ihm etwas sehr wichtiges genommen. Und ihn damit geschwächt. Seine Liebe, die ihm so viel abverlangt hatte, hatte ihm seine Stimme genommen.

Shinta dachte an die Tage, Wochen nach Liliths Tod. Und daran, was er Keith im geheimen geschworen hatte: Dass er nun keine Angst mehr vor dem Leben haben würde, dass er auch allein weiter durch diese Welt gehen würde. Er würde, wenn er Lilith aufgab, wieder frei sein. Dass sie ihn durch nichts davon abhalten konnte, weiter unter den Lebenden zu weilen.

Hinter dem rabenschwarzen Schatten konnte er zwei Augen leuchten sehen. Augen, in derselben Farbe, wie Liliths Augen sie gehabt hatten.

Er war zu schwach, um den Schatten zu erreichen. Seine Liebe hatte ihn all seine Kraft gekostet. Und ihn wieder unvollkommen und schwach gemacht. Ein Pochen ging von seiner Stirn aus, wie eine frische Wunde pochte.

Dieses helle Licht, dass gute, glückliche Menschen ausstrahlten, hatte ihn schon immer geblendet. Doch bei Lilith hatte er es selbst ausgestrahlt. Es spürte allein durch den Gedanken an sie wieder dieses Licht. Auch wenn es ihn blendete, nur zeigte ihm das Licht die Welt hinter dem Schatten.

Er konnte sie neben sich liege sehen und sprach endlich diese Worte, von denen er immer geglaubt hatte, er würde sie nie aussprechen: „Ich liebe dich.“ Er fühlte sich wach und voller Mut. Lilith lächelte.

Er hatte sie doch sterben sehen. Sie war doch tot.

Und da fragte er sich, ob er nur träumte oder doch er es war, der tot war.



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Kommentare zu dieser Fanfic (2)

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Von:  AdversusX
2009-06-21T20:50:46+00:00 21.06.2009 22:50
I-wie bin ich durch dieses eine Kommi von Loo-chan total neugierig auf dieses Kappi geworden!:3

Und ich kann echt nur zustimmen!X3 Dieses Kappi ist echt krass!O_____O~
Vor allem, wie du das mit der schauspielerischen Trauer der meisten Gäste deutlich gemacht hast...boahr, da bin ich i-wie auch total genervt von gewesen...solche Ärsche echt!>3<
Und das kleine Mädchen fand ich ebenfalls waii~x3

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|°~+* liebes grüßle, Dein SapphireHoro-chan!x33 *+~°|
Von: abgemeldet
2009-04-20T19:07:34+00:00 20.04.2009 21:07
Hyaa >///<
Ich liebe die Geschichte von Shinta x3
Das Kapitel ist aber so traurig =(
Vor allem mit dem kleinen Mädchen "Mama, ich habe einen Engel getroffen" so kawaaaii >.<
Ich hoffe es lesen noch ganz viele Shinta und lassen auch viele Kommis da =) (Können nur gute sein :3, wenn nicht gibts haue òó!)
Freu mich schon wenn du die anderen Kapitel online stellst :)
Lg Loo-chan



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