Zum Inhalt der Seite

Nach der Schlacht

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Nach der Schlacht

Die Schlacht war vorbei.

Am fernen Horizont ging bereits die Sonne auf und warf ihren durch Rauchschwaden gedämpften Schein auf eine weite, schlammige Ebene voller schwelender Feuer, verkohlter Baumstämme - Reste eines ehemals blühenden Laubwaldes - und aufgedunsener Leichen. Auf beiden Seiten hatte es unzählige Opfer gegeben und die wenigen Überlebenden waren noch zu betäubt von den Ereignissen, um sich um die Bestattung ihrer Gefallenen zu kümmern.

In einem der Schützengräben, die sich wie Bäche über die Ebene wanden, erwachte ein junger Mann aus seiner Bewusslosigkeit - und sah in die toten, blicklosen Augen des Mannes, an dessen Seite er die letzten Tage und Wochen in dieser Hölle verbracht hatte. Das Gesicht des Toten war eingefallen und schon leicht bläulich angelaufen, und er roch nach verfaulendem Fleisch, ein Geruch, der schon seit Wochen über dem Schlachtfeld schwebte.

Mit einem heiseren Schrei und weit aufgerissenen Augen wich der junge Mann zurück, doch hinter ihm türmte sich nur die Wand aus Erde auf, die ihm in der Schlacht Deckung vor den feindlichen Geschossen gegeben hatte. Seine Hände gruben sich in die lose Erde, die noch feucht vom letzten Regenfall war, doch sie fanden keinen Halt. Stattdessen bohrten sich seine Finger in das tote Fleisch eines weiteren Gefallenen, der halb unter einem Haufen herabgerutschter Erde begraben worden war; lediglich Kopf und Oberkörper ragten noch ans Licht.

Der Atem des jungen Mannes beschleunigte sich, Panik stieg in ihm auf und verstärkte sich, als seine Augen hin- und herflogen und die Toten erblickten, die zu beiden Seiten im Graben lagen... Freunde und Vorgesetzte, im Tode vereint. Ihre leeren Augen starrten ihn an, als wollten sie ihn anklagen und ihm vorwerfen, noch am Leben zu sein und keinen so grausamen Tod wie den ihren erlitten zu haben.

Wieder streckte der junge Mann die Arme aus, um den Hang emporzuklettern. Seine Bewegungen waren fahrig und unkontrolliert, immer wieder rutschte er mit einem Teil der nassen Erde hinab. Seine Hände starrten vor Schmutz, die Uniform, schon vorher zerrissen und blutbesprenkelt, war bald mit Schlamm vollgesogen und die kurzen, blonden Haaren dreckverklebt.

Seine Stiefel stemmten sich gegen den Erdwall und suchten nach Halt, und Stück für Stück - endlich! - gelang es ihm, an der feuchten Erde hinaufzuklettern. Doch als er schließlich nur noch eine Armlänge vom oberen Rand des Grabens entfernt war, löste sich ein großer Erdbrocken, an dem seine Hände zuvor Halt gefunden hatten, und er rutschte zurück in den tiefen Graben, zurück in die kalten Arme der Toten.

Der junge Mann schrie auf, als er nachgiebiges Fleisch in seinem Rücken fühlte und warf sich mit aller Macht wieder gegen den Erdwall. Wie ein Besessener arbeitete er sich empor und seine Finger gruben sich tief in die feuchte Erde. Seine Fingernägel brachen ab, doch er spürte es nicht, denn sein einziger Gedanke galt dem Entkommen aus diesem Graben des Todes. Mit blutenden Händen und schweißüberströmtem Gesicht erreichte er schließlich den Rand und schob sich darüber hinweg.

Keuchend lag er auf dem Boden und sog gierig die kalte Morgenluft in seine Lungen. Hier oben war der Verwesungsgestank nicht mehr ganz so stark, wie im Graben, und langsam beruhigte sich sein Pulsschlag wieder. Nachdem einige Zeit vergangen war, regte sich der junge Mann wieder und stemmte sich mühsam auf Hände und Knie, bis er schließlich auf die Beine kam.

Was er sah, wollte sich seinem Verstand zuerst nicht erschließen: Eine endlose Ebene, übersät mit Feuer, Rauch und Leichen, erstreckte sich vor ihm. Wohin er auch blickte, starrte ihn der Tod in all seinen Facetten an - durchbohrte, blutige Körper, kaum mehr noch als die von Menschen zu erkennen, vereinzelt herumliegende Körperteile, zerfetzt von Granaten, Blut, das die Erde tränkte... Nicht allzu weit entfernt hatte sich bereits ein Schwarm zerzauster schwarzer Raben zum Festschmaus eingefunden.

Der junge Mann hob den Ärmel vor den Mund, während er mühsam den Brechreiz zu unterdrücken versuchte. Der beißende Rauch reizte seine Augen und ließ sie tränen. Nur mühsam konnte er den Blick von den entstellten Körpern abwenden, während er über das Schlachtfeld taumelte. Durst begann ihn zu quälen, doch alle Löcher, in denen sich im Dauerregen der letzten Wochen Wasser angesammelt hatte, waren durch Blut und verwesendes Fleisch verunreinigt. Und so schleppte sich der Junge weiter über das Feld, ohne Ziel, außer dem einen: Der Hölle zu entrinnen.

Es war still auf dem Feld, sah man vom gelegentlichen Krächzen der Vögel und dem leisen Knistern der Feuer ab. Die Sonne stieg höher, wanderte weiter über den blauen Himmel. Der Rauchschleier wurde dünner und verzog sich schließlich gänzlich, und bald spürte der junge Mann die ersten, wärmenden Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht. Er blieb stehen und legte den Kopf in den Nacken, genoß das helle Licht, das sich auf seine geschlossenen Augenlider legte.

Plötzlich hörte er hinter sich ein leises Klacken und bevor er sich herumdrehen konnte, war ein Schuss gefallen und eine Kugel hatte sich in seine rechte Seite gebohrt. Mit einem erstickten Keuchen fiel er auf die Seite und rollte sich unter Mühe auf den Rücken.

Das letzte, was er in seinem Leben sah, war das von Grauen und Wahnsinn entstellte Gesicht eines dunkelhaarigen Mannes, kaum älter, als er selbst, der ein Gewehr in den zitternden Händen hielt und erneut abdrückte.

Der Soldat Friedhelm starb sofort, als die Kugel sein Herz durchbohrte.
 


 

Schweißgebadet fuhr Gustav von seinem Bett hoch.

Der Wecker hatte ihn aus einem furchtbaren Alptraum gerissen, dessen Nachwirkungen sich nun jedoch schnell verflüchtigten, als der Junge das Sonnenlicht erblickte, das durch die Gardinen in sein Zimmer fiel. Nach wenigen Minuten waren Angst und Schrecken des Traumes vergessen, und alles, was blieb, war die unangenehme Erinnerung daran.

"Gustav?" drang die Stimme der Mutter von unten herauf. "Bist du schon wach?"

"Ja, Mutter!" erwiderte der Junge, dann schlug er die Decke zurück und stand auf. Während er sich kurz mit dem Wasser aus der Schüssel, die auf der Kommode stand, das Gesicht wusch, sah er in den kleinen Spiegel, der an der Wand darüber hing.

Blaue Augen sahen ihm entgegen. Sein Gesicht war schmal und auffallend hübsch, die strohblonden Haare umrahmten es wie ein Helm. Gustav lächelte und weiße Zähne blitzten im Sonnenlicht. Eine leise Melodie vor sich hinpfeifend begann er sich anzuziehen.

Heute würde ein schöner Tag werden. Nicht nur das Wetter war wunderbar, auch würde Gustav an diesem Tag als einer der ersten Fahnenträger den Aufmarsch der Hitlerjugend bei den sportlichen Wettkämpfen seiner Schule anführen, bei denen der Führer höchstpersönlich anwesend sein würde. Für einen Jungen seines Alters war dies eine große Ehre. Gustav war sich sicher, dass dabei viele Blicke auf ihm ruhen würden und er hoffte insgeheim, die Aufmerksamkeit und Anerkennung des Führers zu erlangen.

Erneut musste er an den Traum denken, doch er tat ihn nun als vollkommenen Unsinn ab. Nie würde es unter der Führung eines so großen Mannes zu solch schrecklichen Ereignissen kommen, wie er sie im Traum gesehen hatte. Nie wieder sollte sich ein Alptraum wie der große Krieg, der zwanzig Jahre zuvor getobt hatte, wiederholen. Hitler hatte dem Volk Frieden und Wohlstand versprochen, und Gustav Friedhelm war einer der vielen, die an ihn glaubten.

Noch ein letzter Blick in den Spiegel, dann fühlte sich der Junge bereit für den Tag und verließ das Zimmer.

Es war der Sommer des Jahres 1936.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (6)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  nyuu_cat
2017-01-19T13:06:05+00:00 19.01.2017 14:06
Wow! Ich finde diese Geschichte einfach fantastisch geschrieben *__*
Ich konnte mir den Film "Der Soldat James Ryan" nie zu Ende ansehen, schon nach dem "Gemetzel" am Strand bin ich ausgestiegen... .
Eigentlich mag ich solche Arten von Geschichten überhaupt nicht - egal ob Film oder Buch. Aber irgendwie erinnert mich deine Geschichte ein wenig an "Im Westen nichts Neues" Gezwungener Maßen musste ich das Buch damals in der Schule lesen und es ist eines der wenigen Bücher dieser Thematik, die ich lesen kann. Bei deiner Geschichte ist es genauso!
Großen Respekt also und hoffentlich müssen wir so ein Szenario niemals erfahren...
Antwort von: Morwen
28.01.2017 14:11
Hallo~!
Bitte entschuldige die späte Antwort. Ich habe mich wirklich sehr über deinen Kommentar gefreut. :)
Ich finde es interessant, dass du "Im Westen nichts Neues" erwähnst, weil mich die Geschichte beim nochmaligen Durchlesen im Nachhinein auch ein bisschen an die Atmosphäre des Buches erinnert. Ich habe das Buch allerdings nicht zu Schulzeiten gelesen, sondern erst Jahre später - und lange, nachdem ich diese Geschichte geschrieben habe.
Dass du diesen Vergleich anbringst, freut und ehrt mich, weil mir das Buch auch unheimlich gut gefallen hat, auch wenn es furchtbar bedrückend war.
Nochmals vielen lieben Dank,
Morwen~ :)
Von: abgemeldet
2017-01-05T21:57:24+00:00 05.01.2017 22:57
Ehrlicherweise fällt es mir schwer etwas zu dieser Geschichte zu schreiben ... Du hast sehr eindrucksvolle Bilder gezeichnet mit deinen Beschreibungen und ich kann nur hoffen, nie in eine derartige Lage zu geraten. Besonders gut hat mir gefallen, dass dein Charakter quasi aus der Abgestumpftheit erwacht ist, die der Krieg in ihm verursacht hat und plötzlich der ganze Schrecken auf ihn einprasselt. Gefallen ist zwar ein blödes Wort in diesem Zusammenhang, aber ich habe kein besseres.

Der Bruch mit dem Traum hat mich erst sehr irritiert. Ich mag derartige Abschlüsse eigentlich nicht, finde es in diesem Fall aber nicht schlecht gelöst, weil sich die Geschichte quasi im Kreis dreht. Und wie oft geht man davon aus, dass uns so etwas ja nicht passieren kann und dann treten schreckliche Dinge ein? Der erste Teil der Geschichte wird auf makabere Weise gleichzeitig Vergangenheit und Zukunft.
Danke für diese Geschichte.
Antwort von: Morwen
07.01.2017 12:42
Vielen Dank! :)
Es freut mich, dass dir die Geschichte trotz ihres Alters gefallen hat.
Und auch, dass du das Ende mochtest - die Erzählung zum Anfang zurückzuführen, das war mir wichtig. :)
Mittlerweile sehe ich es fast ein bisschen als eine Metapher für die heutige Zeit: man KENNT die Konsequenzen der politischen Entwicklung bereits, man müsste dafür nur einmal ein Geschichtsbuch aufschlagen. Und trotzdem scheint die Menschheit dazu verdammt zu sein, die gleichen Fehler immer wieder zu begehen, ohne jemals aus ihnen zu lernen.

Nochmals danke & liebe Grüße,
Morwen~
Von:  Marmuc
2017-01-03T01:23:49+00:00 03.01.2017 02:23
Ich möchte mich trotz der Jahre, die diese kurze Story schon existiert kurz dazu äußern.
Mir gefällt der Schreibstil sehr gut, er macht es einem möglich wirklich an dem Ort des Geschehens anzukommen - auch wenn das hier nicht unbedingt erstrebenswert ist.
Es ist wirklich toll geschrieben und spricht Verstand und Herz an, geht richtig unter die Haut. Und ich fürchte, das Thema Krieg wird noch lange nicht richtig "out" sein, also ist die Geschichte leider auch immer noch aktuell.

Gruß Marmuc
Antwort von: Morwen
07.01.2017 12:25
Vielen Dank! :)
Ich freue mich, dass diese Geschichte nach all der Zeit noch so gut ankommt.
Als ich sie vor knapp 12 Jahren geschrieben habe, hatten wir gerade den Irakkrieg hinter uns, und ich dachte damals, das wäre das Schlimmste, was uns passieren könnte. Mittlerweile bin ich mir da leider nicht mehr so sicher. Das Thema Krieg, so scheint es mir, wird wohl immer aktuell sein.

Liebe Grüße,
Morwen~
Von:  Pokerface
2009-10-13T14:17:25+00:00 13.10.2009 16:17
Die Geschichte fährt richtig unter die Haut, grosses Lob, wirklich, ich hatte echt Gänsehaut danach.
Ich weiss gar nicht, was ich noch gross dazu sagen kann, einfach nur... bravo ^^
Von:  Izaya-kun
2009-09-27T19:13:59+00:00 27.09.2009 21:13
Sher gut geschrieben. mein Kompliment.
Von:  yumeky
2009-04-13T11:57:23+00:00 13.04.2009 13:57
Dieser Film, danach ging es mir sehr schlecht.

Ich bin beeindruckt davon wie du dich in die Person und das Geschehen hineinversetzt hast.
Es ist mal eine FF der anderen Art und ich denke du hast auch das Denken vieler Menschen zu der Zeit gut getroffen.


Zurück