Nur für uns
Der Sommer war so heiß, dass die Luft selbst abends noch vor Hitze flimmerte und auch die Nächte nicht kalt waren, nur warm. Insekten erfüllten die Luft mit hohem Schwirren und die vereinzelten Vögel mischten ihre Stimmen dazu, wenn sie nicht zu müde und schläfrig waren von den heißen Strahlen der Sonne, die scheinbar alle Kraft aus fast jedem Lebewesen saugte. Nur die Insekten und die Eidechsen, die über den heißen Stein huschten, sowie die beiden Schlangen, die im Unterholz lebten, schienen noch voll und ganz lebendig zu sein.
Es roch nach Straßenstaub und trockenem Gras, nach frischen Früchten und sonniger Hitze und die überfahrenen, toten Tiere auf der Schnellstraße vor dem Haus fingen rasch an zu stinken.
TenTen verbrachte diesen Sommer im wilden Garten ihrer Eltern, hinter dem Haus mit der großen, überdachten Veranda, die Schatten spendete wie die hohen, alten Bäume, die auf dem Grundstück standen und ihre Äste gen Himmel streckten, als müssten sie ihn festhalten, weil sonst selbst er vor Hitzemüdigkeit stürzen würde.
Zu den Mittagsstunden lag TenTen matt und müde im Schatten – auf der Veranda oder unter jenen kräftigen Ästen, die auch den Himmel hielten – und tat nichts. Manchmal brachte sie ein Buch mit hinaus, aber sie las nur wenige Sätze, ehe sie es zur Seite legte und die Augen schloss.
Den Morgen verbrachte sie mit ihrer Großmutter, die unter dem Dach lebte und ihre Enkelin hütete und mit aller Liebe überschütte, die in ein Leben passte, als würde sie später keine Zeit mehr dafür haben.
Den Nachmittag, wenn die Hitze nicht mehr ganz so schlimm war und man gehen konnte, ohne dass sofort Flüsse aus Schweiß an einem herunterperlten, verbrachte sie mit Lee und Neji, die jeden Tag von ihren Elternhäuser herübergefahren kamen auf ihren alten Fahrrädern.
Neji war ernst und schweigsam, aber er lächelte gern und er liebte den Himmel.
Lee war laut und fröhlich und er sprang gerne herum, trotz der Hitze, und er liebte grün.
Sie drei waren schon Freunde, solange TenTen denken konnte und auch wenn sie manchmal dachte, als gäbe es keine seltsamere, unpassendere Gruppe an Freunden, so wusste sie doch, dass sie nicht perfekter zusammenpassen konnten. Wie drei Puzzleteile, die sich leicht ineinander fügen lassen konnten.
Ihren Teil des Tages verbrachten die drei Freunde im Garten um Brettspiele oder ein Kartenspiel. Oder lesend unter den dicken Ästen des Rhododendronbusches, der neben dem Teich wuchs. Oder herumrennend wie wilde Furien, laut und wild und so lebendig wie das Leben selbst. Oder einfach nur schweigend oder lachend oder redend im Gras oder auf der Veranda oder unter den Bäumen.
Es war, als würde dieser Sommer nie vergehen.
Als wäre dieser Sommer die Ewigkeit, die rein und unverfälscht durch ihre Finger glitt wie Wasser. Sie war erst vierzehn, aber es kam ihr in manchem Momenten trotzdem so vor, als würde sie all dies erfassen können, all diese Zeit und all diese Leben, die der Begriff Ewigkeit umfasste.
Auch wenn sie wusste, dass es unmöglich war. Denn die Ewigkeit war unendlich und sie starb bereits, selbst wenn sie lachend durch das hohe, gelbe Gras rannte und Schmetterlinge jagte und mit jedem Schritt die Grillen vor sich herscheuchte.
Und dann war ihr, als würde ihr Herz brechen. Dann war ihr, als müsste sie tausend Tränen weinen um die Zeit und um das Leben, das sie verpassen würde.
Manchmal kam Neji nicht gemeinsam mit Lee, denn sein Onkel war ein strenger Mann und auch sein Vormund und forderte viel von dem Jungen, der seine Zeit viel lieber in TenTens wildem Garten verbrachte.
Lee aber, treu und unverfälscht wie er war, kam Tag für Tag und sie liebte die Besuche wie nichts anderes, selbst wenn er allein kam und Neji nicht. Die beiden waren ihr Glück und ihr Segen und Lee war ihre Stärke und ihre Stütze.
Er lachte, wenn er weinen wollte, er lachte, wenn er fröhlich war, er sang, wenn er es wollte, und er brüllte, weil es ihm Spaß machte. Er war ungebunden und ungezwungen und es gab nichts, was ihn zurückhielt, irgendetwas zu tun, außer seine eigene Moral, die so hoch war wie der Himmel, und sein eigenes Gewissen, das so groß und so rein war wie eine sternenklare Nacht.
Es gab nichts, was ihn aufhielt, denn solche Dinge hatte er schon lange hinter sich gelassen.
Wenn sie beide alleine waren, dann lasen sie nicht und spielten auch keine Brettspiele, aber sie lachten und rannten durch das hohe Gras, mit ausgestreckten Armen und wehenden T-Shirts. Schließlich ließen sie sich erschöpft und schwitzend ins Gras fallen und lagen schwer atmend nebeneinander, bis etwas Lautes und Bedeutendes sie unterbrach.
TenTen lachte, wann immer sich ein Schmetterling auf ihrer Nase niederließ und konzentrierte sich auf das Gefühl der winzigen Füßchen auf ihrer Haut. Dann sagte Lee: „Schmetterlinge bringen Glück und wenn sie auf deiner Nase landen, dann mach die Augen zu und wünsch dir was, weil der Wunsch in Erfüllung geht. Wie bei Sternschnuppen.“ und sie wusste, dass er sich das ausgedacht hatte, nur um sie für einen Moment glücklich zu machen.
Ihre Wünsche gingen nie in Erfüllung, aber am nächsten Tag fand sie stets eine Tafel Schokolade in ihrem Blumentopf auf der Veranda und sie wusste, dass Lee sie ihr vorbeigebracht und sich darum mitten in der Nacht oder früh am Morgen aus seinem Zimmer und hierher geschlichen hatte, nur um sie ihr zu bringen.
Es erinnerte sie immer an die Nacht zurück, an der sie und Lee einen Mondscheinspaziergang gemacht hatten, bis hinüber zu dem Teich im Wald, wo sie die Sternschnuppe gesehen hatten. Und er hatte ihr erzählt, dass Sternschnuppen Wünsche erfüllten, wenn man sie sah und die Augen schloss und sich ganz fest etwas wünschte (was sie schon gewusst hatte), aber nur, wenn man es nicht weitererzählte (was sie noch nicht gewusst hatte.)
Sie hatte sich Schokolade gewünscht und es ihm erzählt und darum hatte er gelacht. Er hatte sie nicht ausgelacht – es war Lee. Lee lachte niemals jemanden aus. – aber er hatte gelacht und ihr die Schokolade am nächsten Tag trotzdem vorbeigebracht.
Vielleicht machten Schmetterlinge, die auf Nasen landeten, keine Wünsche wahr, aber sie brachten Schokolade und das war beinahe genauso gut.
Jedes Mal, wenn sie sich wegen einem Schmetterling auf ihrer Nase etwas wünschte, nahm sie sich vor, wach zu bleiben und auf Lee zu warten, aber sie schlief doch jede Nacht durch oder sie wachte zu früh auf, weil sie nicht mehr schlafen konnte, schlief aber wieder ein, ehe sie Lee sehen konnte.
Es war noch dunkel, als sie aufwachte und hinunterging, um sich in ihren Morgenmantel gewickelt auf die Veranda zu setzen. Vielleicht konnte sie den Sonnenaufgang sehen oder vielleicht schlief sie auch wieder ein, eingerollt auf dem großen Korbsessel, auf dem weiche Polster lagen.
Es war nicht kalt, aber es war auch nicht so heiß wie am Tag und sie zog die Beine an den Körper um ihre nackten Füße zu wärmen. Sie dachte an den letzten Tag zurück, an Lee und ihren Tanz im Garten und den Schmetterling auf ihrer Nase, und hoffte, dass Neji an diesem Tag wieder kommen würde.
Es wurde heller und heller, je länger sie saß.
Dann stand Lee plötzlich vor ihr und sah für einen Moment ebenso erschrocken aus wie sie selbst. Er war es, der sich zu erst fing und lachte und ihr die Schokolade reichte über das Geländer der Veranda hinweg. Sie nahm sie an, lächelnd und glücklich und stützte sich auf die hölzerne Brüstung um ihm direkt ins Gesicht zu blicken, während Lee die Arme hinter dem Rücken verschränkte und zu ihr aufsah.
Hinter ihm wurde der Himmel violett und rot und dann beugte sie sich vor um ihn zu küssen.
Es war ihr erster und ihr letzter Kuss, zart wie der Flügelschlag eines Schmetterlings, süß wie Schokolade und bitter wie der Geschmack von Tod und Ewigkeit auf ihrer Zunge.
Lee dachte noch oft an den Kuss und an das fröhliche Mädchen mit den rehbraunen Augen und dem nussfarbenem Haar, das lachen konnte wie die Sonne und damit einen ganzen Raum wärmer erscheinen ließ.
Das mit wehenden Röcken durch den Garten rannte und dabei aussah, als würde sie gleich davonfliegen, getragen von dem feinen Windhauch, der durch die Blätter und das Gras strich.
Das in solchen Momenten schien wie eine Fee oder ein unwirkliches Wesen aus einem wunderschönen Traum, aus dem er nicht aufwachen wollte.
Er dachte noch oft an sie und die Nachmittage, die sie zu dritt in ihrem wilden Garten verbrachten, und den Kuss in der Dämmerung.
An diesen bittersüßen Kuss, den TenTen mit ins Grab nahm und Lee mit ins Leben.