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Meiner selbst

von

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Sanft berühren meine Fingerkuppen die glatte Oberfläche der schweren Tür aus Apfel- und Orangenbaumholz, streichen langsam ein kleines Stück über sie hinweg, ehe sich meine gesamte Handfläche gegen sie drückt. Laut stöhnend und quietschend gibt sie meinem Druck nach und mir den Weg frei, jedoch weitaus schneller und leichter, als ich es bei einer Massivholztür hätte erahnen können. Mit einem kurzen Aufschrei stolpere ich hindurch.

Da steh ich nun, in dem Raum, in den ich hinein geboren wurde, bin zurückgekehrt, zum ersten Mal, jetzt, nach 18 Jahren.

Irgendwie hatte ich mir das Eintreten etwas feierlicher vorgestellt. Aber gut, bei meiner Geburt sah das bestimmt auch nicht eleganter aus.

Ich fühle mich seltsam ruhig, obwohl ich die letzten Tage über so aufgeregt auf diesen Moment hingefiebert habe. Eine Aufregung, die Rückblickend mein Leben ganz schön durcheinander gebracht hat. Seit mir bewusst war, dass ich heute, hier und jetzt in diesem Raum stehen würde, wollte mir plötzlich gar kein Vorhaben mehr gelingen. Ständig verlief alles anders, ganz und gar vollkommen anders, als ich es anstrebte und ein Unglück riss mich hinab zum nächsten. Und trotzdem waren meine Gedanken immer bei diesem Zimmer, diesem Moment.

Ehe ich einen genaueren Blick um mich werfe, drehe ich mich um und schließe leise die Tür. Dann begebe ich mich in die relativ geschätzte Mitte meiner neuen vier Wände und nehme mir endlich die Zeit, alles in Ruhe zu betrachten.

Viel gibt es nicht. Eigentlich nur die vier Wände, ein Fenster auf der rechten Seite – und einen Kamin, direkt gegenüber der Tür, aus gelblichem Gestein, der sich in einer seltsam geformten Vertiefung in der Wand befindet, die von oben betrachtet wohl wie die einfache Darstellung eines Hauses aussehen müsste. Die an den Seiten des Kamins gerade nach hinten führenden Wandstücken knicken direkt hinter diesem ab und verlaufen zu einer dachartigen Spitze zusammen, wodurch sich ein Freiraum hinter ihm bildet. Effizient gedacht hätte dies der Platz für den Schornstein sein können. Tatsächlich gibt es zwei Schornsteine, welche sich rechts und links an der Wand hinauf erstrecken und somit nicht nur den Blick auf jene sonderbare Verspitzung frei geben, sondern regelrecht darauf lenken.

Ein paar Minuten betrachte ich die eigenartige Konstruktion noch von weiten, hoffend, dass mir irgendeine logische Erklärung dafür in den Sinn kommt – doch es ist sinnlos. Schließlich lass ich meine Neugierde siegen und trete näher. Meine Augen wandern die Vertiefung hinauf bis zur Decke, dann wieder hinab. Etwas umständlich ziehe ich mich ein Stück am Kamin hinauf, beuge mich hinüber, um den Boden hinter ihm erspähen zu können.

Verwirrt verharre ich einige Atemzüge lang bewegungslos in der unbequemen Haltung. ‚Was soll mir das denn jetzt sagen?’, rauscht mir durch den Kopf. Mit gelber Farbe auf den braunen Boden gemalt, leicht verstaubt liegen ruhig und unbeweglich, ja schlicht unanzweifelbar die Worte dar, die im nächsten Augenblick flüsternd meine Lippen verlassen.

„Dieser Raum hat sieben Ecken.“

Gut, eine Aussage, die für sich steht. Und wie mir in selber Sekunde klar wird, dass damit jede Suche nach Sinn und Zweck selbst sinn- und zwecklos wird, bemerke ich ein Schmunzeln in meinem Gesicht.

Vorsichtig lasse ich mich wieder auf meine Füße sinken und gehe ein paar Schritte zurück, Staub und Ruß von meinem langen Regenumhang klopfend. Zurück zur Mitte.

Als ich geboren wurde zwischen diesen Wänden, so erzählte man mir, waren sie gerade frisch hochgezogen, weiß und rein. Nun sind sie vergilbt. Auf der linken Seite zieht sich ein tiefer Riss den Übergang von Decke und Wand entlang, mit kurzen Unterbrechungen, die ihn in sechs unterschiedlich große Teile trennen, und doch ist er als ein zusammen gehörender Schaden erkennbar. Die rechte Seite ist weniger beschädigt, nur in der Nähe des Fensters ist die Mauer etwas brüchig. Durch die an manchen Stellen noch erstaunlich unverschmutzten Glasscheiben erkenne ich den großen See, der sich direkt vor dem Zimmer erstreckt und den kleinen Fluss, der den Fuß des flachen Vulkans hinabschnellend in das tiefe Gewässer eintritt, um es auf der anderen Seite ruhig und langsam dahin fließend wieder zu verlassen. Der Krater des nie erloschenen Vulkans, nahe dem auch die Quelle des Flusses entspringt, ragt hinter den unzähligen warm leuchtenden Herbst- und grün bis grünlichblauen Nadelbäume unterschiedlichster Art und Alters hervor, welche sich um das Wasser, meist dicht gruppiert, manche für sich stehend, verteilt haben. Es wird schön sein, diese Landschaft von meinem Fenster aus zu beobachten.

Meine Augen von der Aussicht lösend, drehe ich mich einmal um mich selbst, wobei ich feststelle, dass es mir sehr schwer fällt, die Größe des Raumes abzuschätzen. Vorsorglich hatte ich fünf sehr große Eimer Farbe besorgt. Nun bin ich mir zumindest sicher, dass einer allein von ihnen nicht reichen wird. Noch einmal öffne ich die Holztür und ziehe einen erstes Behältnis mit schwarzer Farbe über die Türschwelle hinein ins Zimmer, dann einen zweiten mit blauem Inhalt, einen dritten mit roter, den vierten mit gelber und schließlich den letzten mit weißer Farbe. Die Tür fällt ins Schloss und ich lasse mich leicht erschöpft zwischen die Eimer auf den Boden sinken. Während sich mein Herzschlag wieder beruhigte, lasse ich die Wände auf mich wirken. Natürlich, vielleicht wäre es klug gewesen, erst nach einer ersten Begutachtung die Farbe zu beschaffen, doch etwas hatte mich an dem Gedanken gereizt, diesen, meinen Raum gleich bei der ersten Berührung nach meiner Vorstellung zu gestalten, ganz spontan es einfach entstehen zu lassen. Nun sitze ich da und wartete auf eine Eingebung.

Es vergeht einige Zeit, als ich auf einmal mein Herz wieder schneller schlagen spüre und mir ist, als wäre ich vom Blitz getroffen worden.

Ich habe vergessen etwas mitzunehmen, um den Boden vor Farbflecken zu schützen.

Mit einem Seufzen richte ich mich auf. Nicht ganz die Offenbarung, die ich erhofft hatte, aber besser, als hier zwischen Farbeimern einzuschlafen. Kurz spiele ich mit dem Gedanken, noch einmal raus zu gehen und mir irgendwo das Notwendigste zu holen, entschließe mich dann aber dafür, hier irgendwann einen Teppich zu verlegen. Dann sehe ich zu den Farbeimern hinab und stelle fest, dass mir der weiße und der rote irgendwie sympathisch sind. Kurz entschlossen greife ich mir einen großen Pinsel und eine Farbrolle, die auf einem der Eimer liegen, und schiebe die beiden erwählten Farbbehälter zur linken Wand. Ein paar Sekunden bleibe ich vor der vergilbten Fläche stehen. Irgendetwas beginnt in meinem Kopf aufzuleuchten, erst schwach glimmend, dann immer kräftiger.

‚Gelb’ glüht es schließlich vor meinem geistigen Auge. Ich werde diese Wand gelb grundieren.

Jedes Zeitgefühl geht mir verloren, während die Farbrolle fast wie von selbst meine Hand in einem gleichmäßigen Auf und Ab schwingen lässt und irgendetwas in mir strahlt vor Glück. Immer wieder stelle ich mich auf die Zehenspitzen, um die Farbe so hoch wie möglich zu verteilen, wenn gleich mir die momentane Unerreichbarkeit der Decke vollkommen bewusst ist. ‚Irgendwann’ klingt es hell durch meine Gedanken, ‚wenn ich groß geworden bin, werde ich alles gelb streichen, bis zur Decke’. Ich lache leise in mich hinein. Wie kindlich, wo ich doch weiß, dass ich nie so groß werde, ohnehin sehr wahrscheinlich gar nicht mehr wachse. Dafür werde ich mir irgendwann eine Leiter holen und den Riss da oben nachhaltig reparieren.

Meine Hand lässt sich weiter führen, in alle Richtungen, immer weiter. Wie aus einem langen Schlaf erwacht erhebe ich mich vom Boden, als die untere rechte Ecke, und damit der letzte Fleck der Wand, ihre Farbe bekommen hat. Die Rolle ruht auf dem Farbdeckel und ich fühle mich ein wenig träge, aber auf eine eigenartige Weise gut erholt. Etwas benommen gehe ich langsam rückwärts und betrachte das Gesamtbild. Nach etwa sieben kleinen Schritten komme ich zu dem Ergebnis, dass es gut aussieht und bleibe stehen. Zufrieden lächle ich das Gelb an und mir fast so, als würde es zurücklächeln. Und während ich die ganze Wand einmal anlächle, erblicke ich schließlich den weißen und den roten Eimer, die ebenso voll von Farbe wie scheinbar auch Erwartung sind, nun endlich auch verwendet zu werden. Der Frische, große Pinsel liegt wie ein Bindungsstück auf ihren Deckeln. Gelassen gehe ich die Wand entlang, beuge mich hinab und nehme ihn in die Hand, wobei mir auffällt, dass meine Finger gelb gepunktet sind, ebenso wie nahezu die ganze Vorderseite meines Regenumhangs und natürlich einige Stellen am Boden. Warum habe beim Einpacken des Umhangs eigentlich nicht gleich an den Bodenschutz gedacht? Gut, freu ich mich halt darauf, Teppich zu verlegen. Hab hier ja sonst nichts zu tun.

Ich werfe kurz einen Blick zur Seite. Ob die Farbe hier, wo ich sie zuerst aufgetragen habe, schon trocken genug wäre, um anzufangen? Meine Finger gleiten sacht darüber. Trocken genug. Dann geht es also weiter. Ich ziehe die beiden Deckel ab und tauche den Pinsel tief in das Weiß. Dann stehe ich auf und verpasse dem Gelb seinen ersten weißen Tupfer. Ich atme einmal durch. Und was jetzt? Aus einer Lust heraus male ich ein großes Sechseck über den Punkt. Die Pinselhaare streichen über den Rand des weißen Eimers und ein Farbrest fließt zurück, dann stürzen sie sich in das Rot. Schwungvoll lasse ich ein rotes Viereck um das Weiß entstehen, betrachte es einen Moment und male es schließlich aus, dabei das Weiß in jede rote Ecke ziehend. Ein süßliches Rosa quietscht mich an, wirkt aber eigentlich ganz hübsch. Ich gehe etwas zurück, sehe es auf dem gelben Hintergrund und bekomme Zahnschmerzen. Eine seltsame Mischung aus zu penetrant und zu zart ist das. Unruhig und unangenehm.

Etwas Neues muss her.

Blau.

Ich zücke ein Taschentuch aus einer Seitentasche meines Umhangs und drücke die letzten Reste Rosa aus dem Pinselhaar. Das Tuch wieder zurücksteckend, hole ich die blaue Farbe an mich heran und öffne sie. Beruhigend und kühl schimmert sie mich an und schon tauchen die Haare ein. Auf Zehenspitzen ziehe ich einen weiten Bogen, der sich gerade noch im gelben Bereich befindet. Als Anfangs- und Endpunkt auf selber Höhe sind, ziehe ich einen spiegelbildhaften zweiten Bogen, der jene Punkte wieder verbindet und eine an ein Auge erinnernde Form entsteht oberhalb des rosafarbenen Viereck, welche ich ganz und gar blau fülle. Anschließend tauche ich die Pinselspitze in das Weiß und helle die blaue Fläche an einigen stellen schwach, an anderen etwas intensiver auf. Weich gehen die unregelmäßig verteilten Blauabstufungen ineinander und bilden ein lebendiges Ganzes. Ich greife in meine Umhangstasche und ziehe einen kleinen, etwas dicken Pinsel hervor. Dann öffne ich das Schwarz, nehme mir eine geringe Menge vom Deckel des Eimers ab und gebe es auf den Deckel der blauen Farbe. Unter kleinen, kreisenden Bewegungen entsteht ein dunkles, tiefes Blau.

Anmutig und schön soll es werden. Der Pinsel setzt an, mitten auf der blauen Fläche. Linien formen sich zu Bögen, verdrehen sich in sich selbst, gehen ineinander über, verzweigen sich, laufen auseinander, ändern wieder die Richtung. In sich gewundene Flammen, Tropfen, Blüten, Ströme und Wirbel wachsen über die blaue Fläche, jedes Detail einzigartig und gelungen, wie es ist. ‚Es wird’, geht mir durch den Sinn und eine aufgeregte Vorfreude rauscht durch mich hindurch. Noch habe ich viel vor mir, ehe die ganze Fläche bedeckt ist, doch das bereits geschaffte spricht für sich.

Ein Zittern. Nicht in mir, auch wenn zunächst nur meine Hand unruhig zu werden scheint. Doch schneller, als ich es realisieren kann, breitet sich ein Beben aus, im Raum, in mir und nichts schein mir Halt geben zu können. Der Pinsel durchtrennt mit einer dicken, zittrigen Linie das kunstvolle Geflecht, wie ein Bruch, kaum einen Herzschlag später schlagen meine Finger Hilfe suchend auf und reißen lange Kratzer in die frische Farbe. Ich habe das Gefühl, das Gleichgewicht zu verlieren, stürze fast, doch dann ist alles vorbei.

Einige Atemzüge lang verharre ich bewegungslos, löse dann meine verschmierte Hand von der Wand und taumle zurück.

Das innere blieb verschont. Selbst der dicke Strich verläuft ein gutes Stück daran vorbei, ebenso mein Fingerabdruck. Drum herum jedoch – verlaufen und verschmiert, alles.

Ich solle mich darauf einstellen, hat man mir gesagt. Erschütterungen seinen normal, die kämen immer wieder, das kann man nichts machen. Der Vulkan sei eben noch aktiv. Immer wieder käme das vor, leichte Beben, manchmal stärkere, ganz normal hier.

Wie soll man sich auf so etwas vorbereiten? Darauf einstellen? Pech gehabt. Und die Risse nahe der Decke sind wieder ein kleines Stück größer.

Ein eigenartiges Gefühlsgemisch aus Wut, Trauer und Gleichgültigkeit bläht sich in mir auf, drückt von innen, macht mich schwer und schmerzt, schmerzt immer mehr, als wolle es mich zerreißen. ‚Es muss etwas passieren’ dröhnt in mir. Ich versuche mich zu beherrschen, wickle den Pinsel in ein Taschentuch. Doch es hört nicht auf, dröhnt und drückt, immer weiter, immer wieder.

Die Rote Farbe. Rot. Nur noch Rot. Ich zerre den Farbbehälter zur Mitte der Wand, drücke meine Hände hinein und schleudere es über das reine Gelb. Noch einmal, wieder und wieder. Meine Fingerspitzen ziehen ruckartig durch die frische, flüssige Farbe. Ich werde ruhiger. Ein warmes Orange zeigt sich dort, wo meine Finger entlang schabten und spendet mir ein wenig Trost. Vertraut wirkt es, alt bekannt.

Ich nehme ein wenig Abstand und betrachte es. Abgesehen von einigen – nicht allen – orangefarbenen Stellen finde ich es schrecklich. Und doch irgendwie reizvoll, an manchen Flecken fast schön, dort, wo die Farbe ihrer Lust nach sich fließen lässt. Doch etwas fehlt. Der Ausgleich, für die Harmonie des Ganzen.

Ich ziehe die blaue Farbe heran, wische das Rot meiner Hände und Oberarme an meinem Umhang ab und lasse meine Finger hinein sinken. Blaue Spritzer fallen auf den frischesten Teil des gelben Anstriches, ganz nach recht, verlaufen und lassen ein unappetitliches Grün entstehen. Das wollte ich nicht erreich. Also anders. Ich schöpfe zwei Hände voll blau und trage es achtsam zur Wand, wo ich es oberhalb der rechten Seite des roten Durcheinanders hinab fließen lasse. Hier ist das Gelb trocken genug, nur an den Rändern vom roten Feld und dem blauen Fluss entsteht ein tiefes Lila. Noch ein paar Hände mehr, einige übers Rot, einige übers gelb – der Ausgleich ist geschaffen, mehr oder weniger.

Ich trete in die Mitte des Raumes und betrachte die Wand. Außergewöhnlich ist sie jedenfalls und so kann sie auch bleiben. Zumindest ist alles vertreten – alles an Farben jedenfalls. Ich werfe einen zweideutigen Blick auf Schwarz und Weiß, sie schauen verführerisch zurück und schon habe ich sie mir gegriffen.

Über ein Stück, in dem viel rot und etwas blau vorhanden ist, male ich mit dem dicken Pinsel in einer geschmeidigen Bewegung ein halbes, schwarzes Herz, dann ergänze ich die andere Hälfte mit weiß – und bin zufrieden, nein, sogar glücklich.

So ist es, so soll es sein.

Ich schließe alle Farbeimer und lege Pinsel und Rolle zu ihnen. Dann öffne ich die Zimmertür und hole von draußen einige Holzscheitel und etwas Zunder. Kurze Zeit darauf lasse ich mit einem Streichholz die Feuerstelle entflammen.
 

Ein letztes Mal für diesen Tag begebe ich mich zur Mitte des Raumes und lasse mich auf den Boden sinken. ‚Es ist gut so, wie es ist’, denke ich bei mir, ‚auch wenn es noch lange nicht fertig ist’.



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