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The Flavour Of Magic

von

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Ich denke, wünschen hilft.

(Rahel Antonie Friederike Varnhagen von Ense)
 

June reihte sich in die lange Schlange ein, die sich am Morgen des Heiligabends vor dem kleinen Café gebildet hatte. Sie hatte keinen Durst, aber irgendetwas musste sie tun, und hier, zwischen all den fröhlichen, dick eingepackten Menschen, fühlte sie sich schon etwas besser.

Schokolade, dachte sie. Eine heiße Schokolade würde jetzt bestimmt gut tun. Vielleicht würde diese sie etwas wachrütteln.

Sie war wach. Hellwach. Aber trotzdem fühlte sie sich so müde, als sei sie hundert Jahre alt. Ihr Innerstes glich einem Eispalast, nur eine einzige Emotion beherrschte sie. Angst. Alles andere lag brach.

Zucker. Sie brauchte Zucker für ihre Lebensgeister.

Um sich ein wenig abzulenken, zwang sie sich, ihre Umgebung zu betrachten. An den Fenstern waren Lichterketten angebracht, und auch an den Wänden hingen welche. Es gab spezielle Wintertees mit lustigen Namen, Fensterbilder in den Formen von Sternen und Schneeflocken klebten an den Scheiben und auf den Tischen standen ein paar flackernde Teelichter, die dort normalerweise nicht hingehörten. Ansonsten war es das auch schon mit der weihnachtlichen Dekoration in diesem Laden, aber wenigstens, so fand June jedenfalls, übertrieben sie es nicht, wie viele andere Geschäfte, in denen man praktisch im Kitsch versank. Weihnachtliche, melodiöse Musik dudelte leise aus den Lautsprechern und der eigenwillige Duft von Weihnachten lag in der Luft. Pfefferkuchen? Orangen? Sie konnte es nicht so recht zuordnen. Irgendetwas Künstliches, an dem sie sich – heute zumindest – sowieso nicht erfreuen konnte.

Direkt vor ihr in der Schlage zappelte ein kleiner Junge an der Hand seiner Mutter, die ihn eisern festhielt. Er maulte herum und trampelte June prompt auf den Fuß. Sie schaute an sich herab. Ein schmutziger, brauner Abdruck seiner Schuhsohle prangte jetzt dekorativ an der Spitze ihrer schwarzen Halbstiefel.

Toll. Egal.

Sie versuchte, über die Köpfe der Leute hinweg auf die Getränketafel hinter der Theke zu sehen, musste sich auf die Zehenspitzen stellen, sah aber trotzdem nicht viel, wurde ärgerlich und trat seitwärts aus der Schlange heraus. Das hier konnte noch Stunden dauern! Niemand bewegte sich vom Fleck und die Kellner arbeiteten wie die Schildkröten!

Ungewohnt zornig drehte sie sich auf dem Absatz um und wollte davonrauschen. Der Zucker, die Schokolade, waren ihr nun mehr als nur egal, alles was zählte, war, den Zorn zu besänftigen. Den Schmerz.

Doch sie blieb stehen, hielt inne.

Nur weniger Meter weiter stand ein junger Mann in verblichenen Jeans im Used-Look, einem dunkelroten Pullover mit dem weißen Emblem einer Schneeflocke auf der linken Brust und mit einem Rundhalsausschnitt, aus dem der Kragen eines weiß-rot karierten Poloshirts herausschaute. Ganz locker hing, passend zu seinen Schuhen, ein brauner Schal um seinen Hals, als wäre er nur zur Dekoration da, nicht, um ihn zu wärmen.

Auch sein Haar war braun. Milchschokoladenbraun, genauso wie seine Augen. Bernsteinaugen.

Doch das, was June dazu anhielt, stehen zu bleiben und ihn zu bemerken, war die Tatsache, dass er bewegungslos an einer Stelle verharrte, einen Pappkaffeebecher in der Hand, und sie anstarrte.

Einfach anstarrte. Auf seinem Gesicht lag ein neugieriger, fast herausfordernder Ausdruck, den sie nicht so richtig einzuordnen vermochte.

Gerade wollte sie sich von ihm losreißen, als er den Mund aufmachte.

"Sie sehen traurig aus." Es war keine Frage, es war eine Feststellung, so ruhig gesagt, als ob es keinen Zweifel an dem Wahrheitsgehalt dieser Aussage geben könnte.

"Was?" June beäugte den Fremden erst verblüfft, dann misstrauisch.

"Sie sehen traurig aus", wiederholte er, ebenso gelassen wie auch schon beim ersten Mal.

June rollte mit den Augen. Normalerweise war sie nicht so unhöflich, besonders nicht zu Fremden, aber heute war eine Ausnahme. Sie befand sich sowieso schon seit Tagen in einem Ausnahmezustand und mit ihrer Geduld war es seitdem nicht so weit her.

"Das hab ich schon kapiert!", fuhr sie den jungen Mann an, obwohl sie eigentlich gar nicht wollte, dann schüttelte sie den Kopf, eher über sich selber, und drehte sich weg. "Ach, vergessen Sie's", murmelte sie missmutig und schickte sich an, das Lokal zu verlassen, ohne den braunhaarigen Kerl noch weiter zu beachten.

Vor dem Café lehnte sie sich an die Ladenaußenmauer aus rotem Ziegelstein und atmete tief durch. Sog die kalte, beißende Dezemberluft in ihre Lungen und entließ sie wieder. Hier draußen war es kalt und sie spürte schon, wie ihre Nase begann, rot zu werden.

Egal.

"Kaffee?"

Ihr Kopf wirbelte herum. Der Typ von eben stand neben ihr und hielt ihr seinen dampfenden Becher hin. Bevor sie etwas sagen konnte, ergriff er wieder das Wort. "Hier, für Sie. Sie sehen aus, als könnten Sie einen gebrauchen."

June starrte den Fremden sprachlos an.

"Keine Angst", versicherte er ihr todernst. "Ich hab nicht daraus getrunken." Er drückte ihr den heißen Becher in die Hände, ohne darauf zu achten, dass sie ihn mit offenem Mund verblüfft angaffte.

"Was... wer sind Sie?", brachte sie schließlich hervor, immer noch verdattert. Und vor allen Dingen: was wollte dieser Typ von ihr?

"Oh, wie unhöflich von mir!", rief der Mann plötzlich erschrocken aus. "Entschuldigen Sie bitte. Ich bin Cal. Cal A. Staunes."

June legte die Stirn in Falten und entschied sich dazu, diesen seltsamen Mann endlich loszuwerden. "Okay, Cal A. Staunes-"

"Staunes, Sie verstehen schon?" Er grinste sie an. "Wie die Stones. Die Rolling Stones, kennen Sie die?"

Irritiert blinzelte sie ihn an. "Äh, ja. Hören Sie, Cal-"

Er unterbrach sie schon wieder. "Und Sie sind?", fragte er neugierig und bedachte sie mit einem interessiert-höflichen Blick.

June spannte sich an. "Das geht Sie gar nichts an, Mr. Staunes wie die Rolling Stones", sagte sie kühl und drückte ihm wieder den Becher, der ihre Finger so schön gewärmt hatte, in die Hände zurück. "Hier, nehmen Sie Ihren Kaffee bitte wieder, ich muss jetzt gehen."

Blitzschnell drehte sie sich um und begann, mit langen, zügigen Schritten die ziemlich bevölkerte Straße entlang zu marschieren. Zum Glück war sie hier in der Öffentlichkeit, wer wüsste sonst, worauf dieser Kerl es abgesehen hatte!

"Nur Cal, bitte." Der Fremde - Cal - beeilte sich hinter ihr herzukommen und hatte keine Probleme damit, Schritt zu halten. Er lächelte sie von der Seite her an, und sie blieb wieder stehen, seufzte.

"Laufen Sie vor mir weg?", wollte er schon beinahe amüsiert wissen und schaute sich um, während der Menschenstrom in allen verschiedenen Richtungen an ihnen beiden vorbeirauschte.

June schaute sich ebenfalls unbehaglich um. Hier unter so vielen Menschen würde er es nicht wagen, ihr irgendetwas anzutun, oder?

"Sind Sie irgendein Stalker oder so? Ein Perverser?", wollte sie argwöhnisch wissen und brachte ein paar weitere, lebensrettende Zentimeter zwischen sich und ihn, indem sie vorsichtig einen Schritt zurückwich.

Cal sah ernsthaft perplex aus. "Ein Perverser? Aber nein! Wie kommen Sie denn darauf?", fragte er ehrlich entsetzt.

"Na, Sie verfolgen mich und..." Sie brach ab. Was sollte sie ihm sagen? Dass er seltsam war? Dann fand sie einen anderen, besseren Ansatz. "Und der Kaffee könnte vergiftet sein!"

Cal hob die Augenbrauen und betrachtete den Pappbecher. Dann, ganz langsam, öffnete er mit einer Hand den Plastikdeckel, hob den Becher an seine Nase und schnupperte bedächtig. Als er ihn sinken ließ, schüttelte er überzeugt den Kopf. "Nein, ich glaube, der ist nicht vergiftet." Er sagte es so ernst, dass June sich beinahe ein Lächeln verkneifen musste, wofür sie sich auch sofort schämte. Es gab nichts zum Lachen! Vor allem heute nicht!

Er warf ihr einen enttäuschten Blick zu. "Schade. Sie wollen ihn also nicht? Dabei hab ich ihn nur für Sie gekauft, glaube ich."

Noch bevor June etwas Passendes - was ihr ganz eindeutig nicht einfiel - darauf erwidern konnte, musste sie überrascht mit ansehen, wie sich der Fremde umdrehte, ein paar Schritte weiter stakste, schließlich in die Hocke ging und mit ein paar Worten und einem freundlichen Lächeln den Kaffee einem Obdachlosen überließ, der an einer Backsteinmauer saß, gehüllt in mehrere, zerrissene, schmutzige Decken.

Dann kehrte er wieder zu June zurück und lächelte sie an. "Ich glaube, der Kaffee war doch nicht für Sie, tut mir leid. Leider weiß ich das vorher nie."

"Was?" June blinzelte ihn verständnislos an. "Sind Sie verrückt oder so?"

Cal hob die Augenbrauen. "Nein, das will ich doch nicht hoffen. Sind Sie's denn?"

Die junge Frau schüttelte unzufrieden den Kopf. "Mittlerweile bin ich mir nicht mehr so sicher." Wieder warf sie ihm einen misstrauischen Blick zu, als er fröhlich lächelte.

"Ich glaube nicht, dass Sie es sind", sagte er vollkommen ernst und sehr zuversichtlich. "Sie können also beruhigt sein."

"Äh, danke...", stammelte June verwirrt. Dieser Mann war einfach seltsam. Er schaffte es, das Thema ruckzuck zu ändern und nahm ihren Sarkasmus, ihr Misstrauen gegen ihn, gar nicht wahr. Darüber hinaus ging von ihm keinerlei Gefahr aus, er schien so arglos und einfach gestrickt zu sein, wie ein Kind. Dabei kannte sie ihn doch gar nicht!

Er vergrub die Hände lässig in seinen Jeanstaschen und musterte sie neugierig durch seine bernsteinfarbenen Augen, doch anders als der vieler anderer Männer blieb sein Blick an ihrem Antlitz hängen. Er lächelte. Und June spürte, wie ihr immer unbehaglicher zu Mute wurde, aber dieses Mal nicht, weil sie ihn für einen Spinner hielt. Irgendwas an seinem Blick war es, dass dieses Gefühl in ihr auslöste...

"Alsooo." Er schaute sich um und sah sie dann wieder an. "Sie waren doch gerade im Begriff, sich einen Kaffee zu kaufen. Darf ich Sie einladen?" Cal lächelte ein umwerfendes Lächeln. Eines, mit dem solche Männer wie er schon geboren wurden, um die Frauenwelt bereits in der Wiege zu betören und sie ihnen zu Füßen zu legen.

June's Verwirrung wuchs von Sekunde zu Sekunde. "Aber, was... Sie haben doch gerade Ihren Kaffee weggegeben?", stotterte sie stirnrunzelnd, ihr Blick wanderte zu dem Obdachlosen und wieder zurück zu Cal, der sie immer noch neugierig musterte.

"Aber der war doch gar nicht für mich", antwortete er gelassen, als wäre das vollkommen klar. "Ich trinke überhaupt keinen Kaffee."

June hielt inne. "Warum wollen Sie dann einen Kaffee mit mir trinken?!"

Cal neigte den Kopf. "Ich möchte, dass Sie einen Kaffee trinken."

Spätestens jetzt verstand June gar nichts mehr. Warum hatte er sich einen Kaffee gekauft, wenn er keinen trank? Warum hatte er ihn weggegeben und tat nun so, als trinke er keinen? Und warum, um Himmels willen, tat er so, als sei SIE diejenige hier, die schwer von Begriff war?

Resigniert ließ sie den Kopf sinken. Vielleicht war sie das auch? Vielleicht war sie schon so fertig mit ihren strapazierten Nerven, dass sie gar nichts mehr mitbekam?

"Also gut", willigte sie missmutig und müde ein. "Trinken wir einen Kaffee, wenn es Ihnen dann besser geht." Das hatte sie ja ohnehin ursprünglich vorgehabt, als sie hierher gekommen war...

Cal lächelte und schüttelte wohlwollend den Kopf. "Mir geht es ausgezeichnet, vielen Dank, dass Sie sich sorgen", sagte er aufrichtig, als hätte er die Ironie nicht verstanden. "Ich mache mir eher um Sie Gedanken."

Wieder warf June ihm einen verwirrten Blick zu, enthielt sich aber jeglichen Kommentars. Mittlerweile hatte sie dieser seltsame Fremde wirklich neugierig gemacht. Was hatte es mit ihm auf sich? Es schien, als sei er nicht ganz von dieser Welt.
 

Als sie dasselbe Café betraten, aus dem June noch vor wenigen Minuten so entzürnt davon gerauscht war, war es wie ausgestorben leer an der Kasse. Die Sitznischen waren zwar alle besetzt, aber einer Bestellung stand nun nichts mehr im Wege!

"Setzen Sie sich, ich hole Ihnen etwas", bot Cal freundlich an und verschwand in Richtung Theke.

Überrascht schaute sich June um, als sie auf einen - gerade freigewordenen! - Platz zusteuerte. Es konnte doch nicht sein, dass sich diese lange Schlange innerhalb von nur wenigen Minuten komplett aufgelöst hatte, nachdem sie ewig angestanden hatte, ohne sich vorwärts zu bewegen!

Entgeistert schlüpfte sie auf die weiche, gepolsterte, rote Bank und vergaß darüber hinaus ganz und gar, ihrem Begleiter ihren Kaffeewunsch mitzuteilen. Doch er stand bereits am Tresen und gestikulierte wild mit den Armen, während er versuchte, der armen Bedienung seinen Wunsch deutlich machen.

Nach nur sehr kurzer Zeit kam er mit einem weiteren Pappbecher wieder zurück, der identisch war mit dem, den er eben noch in den Händen gehalten und schließlich weggegeben hatte.

June betrachtete den Becher, den er vor sie hinstellte, als er ihr gegenüber Platz nahm.

"Was ist das?", wollte sie wissen. Puren Kaffee mochte sie nicht, eher diese ganzen, lustigen Mischungen mit den schönen, langen Namen, die die Fantasie, noch mehr aber den Appetit, anregten.

"Das ist ein Hot Double Chocolate Butternut", erwiderte Cal, runzelte dann die Stirn und kratzte sich etwas unsicher am Hinterkopf. "...glaube ich zumindest."

Sie starrte ihn mit offenem Mund an. "Woher wussten Sie...?"

Das war eines ihrer Lieblingsgetränke! June senkte den Blick und betrachtete ihre heiße Schokolade, ohne ihren Satz zu beenden. Das musste ein Zufall sein! Ja, genau. Der Hot Double Chocolate Butternut stand doch ganz oben auf dem Getränkemenü überhalb der Theke, den musste er sich einfach so herausgesucht haben, aus purer Verzweiflung.

"Sie mögen ihn, das ist gut. Ich kenne mich wirklich nicht mit diesen ganzen seltsamen Kaffeesorten aus..." Er ließ den Blick schweifen. "Ganz schön leer geworden hier, nicht wahr?" Cal lächelte verschmitzt. June nickte nur stumm – insgeheim wunderte sie sich noch immer über die plötzliche Leere -, führte das warme Getränk an ihre Lippen und trank ihren ersten Schluck Flüssigkeit für diesen Morgen. Es schmeckte süß und heiß, nach Schokolade und Nüssen. Nach Trost. Irgendwie mild.

"Sie haben mir noch nicht verraten, wie Sie heißen", machte Cal sie freundlich auf diese kleine, unbedeutende Tatsache aufmerksam.

Nun, da June flüssige Trinkschokolade in ihren Händen hielt, besserte sich ihre Laune, wenn auch nur um ein ganz kleines bisschen. "Ich heiße June", gab sie zu und schämte sich gleichzeitig ein wenig, dass sie vorhin noch so ungehalten zu ihm gewesen war, wo er sich doch als so nett herausgestellt hatte.

Für einen kurzen Augenblick schwieg er und musterte sie mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht, doch dieser verschwand ganz schnell wieder, als er sie fragte: "Lassen Sie mich raten: Sie sind im Juni geboren?"

June lächelte schief. Ihr war zwar nicht danach, aber sie konnte einfach nicht anders. "Scharf kombiniert, Mr. Holmes."

Cal's Gesicht hellte sich auf. "Vielen Dank, June", sagte er aufrichtig und freute sich über das Kompliment, was sie daran erkennen konnte, dass er sie fröhlich anstrahlte. Unmerklich rollte June mit den Augen, konnte ihre Belustigung aber nicht unterdrücken, und nahm sich vor, sich die Ironie ab jetzt ganz zu sparen, denn bei Cal schien sie ganz offensichtlich nicht anzuschlagen. Irgendwie war es auch ganz erfrischend, mal einen Menschen zu treffen, der vollkommen rein von sämtlichem Spott und Hohn war, vollkommen unempfänglich für diese hässliche Seite der Kommunikation, absolut ehrlich und irgendwie... unschuldig.

June lächelte in sich hinein und nahm noch einen Schluck.

"Sie sehen so schön aus, wenn Sie lächeln", kam es unvermittelt und vollkommen ernst von ihrem Gegenüber. Gebannt starrte er sie an, als habe er gerade zum ersten Mal die Sonne erblickt, und sie verschluckte sich prompt an ihrer heißen Schokolade.

Als sich ihr Husten wieder gelegt hatte, warf sie ihm einen warnenden Blick zu und vergaß schon wieder all ihre Vorsätze ihm gegenüber.

"Sehr witzig", antwortete sie trocken. Er musste sich über sie lustig machen. Die letzten zwei Tage und Nächte hatte sie im Krankenhaus verbracht und erst gestern Abend hatte man sie gezwungen, endlich nach Hause zu gehen, zu essen, zu duschen, zu schlafen. Nur widerwillig war sie gegangen, geduscht hatte sie, auch ein wenig geschlafen - sogar ganze sieben Stunden, was angesichts dieser Umstände schon fast ein Wunder war -, aber gegessen hatte sie noch immer nichts. Sie musste also schrecklich aussehen. In den Spiegel hatte sie zwar geguckt, als sie sich gekämmt hatte, aber Make-up hatte sie nicht aufgelegt, und außerdem wusste sie schon gar nicht mehr genau, wie sie überhaupt ausgesehen hatte. Anscheinend nicht zu schlimm, um auf die Straße zu gehen, aber sie könnte sich auch irren. Sie war nicht ganz bei sich gewesen. Und dieser Typ hatte jetzt auch noch die Frechheit, sich über sie lustig zu machen!

Er neigte wieder den Kopf, diesmal fragend. "Ich verstehe nicht, was daran witzig sein soll?"

June seufzte. "Schon gut, vergessen Sie's."

Plötzlich fragte sie sich, was sie überhaupt hier tat. Mit diesem fremden Mann, der ihr einen Kaffee ausgab, und sie fragte sich, warum er ihr so an den Fersen klebte? Hatte er denn nichts zu tun?

Es war der Morgen des 24. Dezembers, Heiligabend. Jeder hatte doch etwas zu tun. Familie, Freunde, Geschenke, Weihnachtsbäume. Warum also hockte er hier mit ihr und tat, als hätte er alle Zeit der Welt?

"Hören Sie, Cal...", begann sie langsam und er horchte auf. "Sie können ruhig nach Hause gehen. Sie haben sicherlich noch viel zu erledigen und... ich brauche echt keinen Babysitter." Sie zwang sich zu einem gequälten Lächeln.

Er war überrascht und unterbrach, als sie wieder dazu ansetzte, etwas zu sagen. "Aber ganz und gar nicht! Ich habe wirklich nichts Anderes vor."

June's Augen verengten sich zu misstrauischen Schlitzen. "Warum sind Sie hier?"

Er lächelte ahnungslos. "Um Sie aufzumuntern natürlich. Sie sind doch traurig."

Nur aus Mitleid war er hier, weil sie "so traurig" ausgesehen hatte, das hatte er selbst gesagt, und sie sollte ihn nicht von den wirklich wichtigen Dingen abhalten.

June schüttelte entschieden den Kopf, langsam kam ihre Verärgerung über ihre ganze miserable Situation wieder hoch. "Ich bin nicht traurig und ich muss auch nicht aufgemuntert werden. Danke für den Kaffee, aber-"

"Doch", entgegnete er ruhig. "Sie sind traurig und das an Weihnachten. Das kann ich nicht auf sich beruhen lassen, tut mir leid." Streng sah er sie an und sein Tonfall klang ganz so, als duldete er keinerlei Widerspruch.

June klappte der Mund auf und wieder zu, dann wieder auf. "Sind Sie irgendso ein verrückter Samariter oder so?", wollte sie anschließend zweifelnd wissen.

Er lächelte und neigte den Kopf. Eine Bewegung, die anscheinend typisch für ihn war und an die sie sich langsam gewöhnte. "Wenn Sie das so sehen möchten..." Er hielt kurz inne und überlegte, dann sprach er wieder mit vollkommener Ernsthaftigkeit. "Aber verrückt bin ich wirklich nicht, das müssen Sie mir glauben, June."

Die junge Frau lächelte gequält. Er redete so hochgestochen und war so höflich und ernst, dass sie sich langsam wirklich fragte, von welchem Stern er wohl kam.

Dann gab sie sich geschlagen. Er zermürbte sie und sie war momentan wirklich nicht in der Lage, sich mit ihm auseinander zu setzen, da er jedes ihrer Worte im Mund umdrehte und in etwas Anderes verwandelte, sodass sie aneinander vorbeiredeten.

"Okay, Sie haben gewonnen", seufzte June und strich eine Strähne ihrer goldblonden Haare hinters Ohr, wurde aber abgelenkt durch ein kleines Mädchen, das, sich mit einer Hand am Rocksaum ihrer Mutter festhaltend, Cal zulächelte, die Hand hob und ihm winkte.

Er erwiderte das Lächeln und winkte zurück.

June beobachtete das Mädchen, wie es mit seiner Mutter das Lokal verließ, und wandte sich dann Cal zu.

"Kannten Sie sie?" Die Mutter der Kleinen hatte ihm jedenfalls nicht sonderlich viel Beachtung geschenkt, was June stutzig machte.

Zu ihrer großen Überraschung schüttelte er aber nur gleichmütig den Kopf. "Nein."

June zog die Nase kraus. "Aber sie hat Ihnen zugewunken", insistierte sie, was Cal mit einem Kopfnicken bejahte.

"Ja, süß, nicht wahr?" Selig lächelte er in sich hinein. "Sie wünscht sich, dass ihr großer Bruder sie nicht immer so ärgert."

June lachte bitter auf. "Ja, welches kleine Mädchen mit einem älteren Bruder wünscht sich das nicht? Ich könnte Ihnen da Geschichten erzählen..."

Sofort richtete Cal sich gerade auf, neigte neugierig den Kopf und betrachtete sie. "Nur zu!"

June zögerte. "Wie bitte?"

"Erzählen Sie", forderte er sie interessiert auf. "Erzählen Sie mir Geschichten."

"Was-? Aber... das sagt man doch nur so", stammelte June, vollkommen überrumpelt. Dieser Mensch hatte wirklich etwas komplett Merkwürdiges an sich! Da er sie immer noch schweigend musterte, fühlte sie sich dazu verpflichtet, die ganze Sache aufzuklären. "Ich wollte damit nur sagen, dass ich auch einen großen Bruder habe und – na ja..."

"Und hat er aufgehört, Sie zu ärgern?", hakte Cal mitfühlend nach. Er schien sogar so besorgt, als würde es ihm persönlich etwas ausmachen, wenn dies nicht der Fall gewesen wäre.

"Ja, klar, irgendwann. Als wir älter wurden", winkte June ungeduldig ab.

Der junge Mann mit den Bernsteinaugen lehnte sich entspannt zurück und zog ein zufriedenes Gesicht.

"Also...", begann er dann vorsichtig, als würde er sich langsam vorwärts tasten. "Warum sind Sie heute nicht wie jeder andere, normale Mensch bei ihren Lieben und treiben sich stattdessen in aller Herrgottsfrühe in der Stadt herum? Sie sehen mir nicht wie der Typ aus, der in letzter Sekunde noch zehn Geschenke besorgen muss."

Sie musste lächeln, denn er hatte mit seiner Einschätzung genau ins Schwarze getroffen. Schon seit November hatte sie alles besorgt und ordentlich eingepackt. Als sie das Geschenkpapier in saubere Streifen geschnitten hatte, hatte sie sich die Gesichter ihrer Familie vorgestellt, den Weihnachtsbaum mit dem Stern auf der Spitze, die Lichter an den Fenstern, das Lachen ihrer Nichten und Neffen, ihre Schwester, wie sie ihre Kinder durch die Gegend scheuchte, damit diese ja nichts anstellten, und ihren alten Vater, der, in seinem Sessel versunken, dem ganzen Treiben vergnügt zusah und seine Pfeife rauchte, die er nur an Weihnachten aus dem Holzschächtelchen holte.

Aber nun war alles anders, und so ein Zusammensein würde es dieses Jahr nicht geben. Vielleicht würde es das nie wieder geben!

Ihr Lächeln verwandelte sich in eine bittere Grimasse, als ihr das klar wurde.

"Meine Lieben haben mich aus dem Krankenhaus bugsiert, damit ich sie nicht störe", erklärte sie düster, konnte die Bitterkeit in ihrer Stimme nicht angemessen verstecken.

Cal schien ganz und gar nicht überrascht, als er fragte: "Krankenhaus?"

Nun hatte sie ihm schon so viele Zugeständnisse gemacht und ihm so viel erzählt, da konnte sie ihm auch ruhig die ganze Geschichte verraten. Und irgendwie tat es ja auch gut, mal darüber zu reden. Mit einem Fremden, den das Ganze nichts anging, in dessen Gesicht nicht dieses Mitleid geschrieben stand, wie bei den Ärzten, nicht einmal dann, als sie sie heruntergeputzt hatte in ihrer Wut, ihrer Trauer, ihrer Ohnmacht. Sie hatte sich unmöglich verhalten!

"Vor ein paar Tagen hatte mein... Vater..." Sie schluckte, als sie wieder den dicken Kloß im Hals bemerkte, und zwang sich, weiterzusprechen. "Er hatte einen Unfall und liegt seitdem im Koma. Die Ärzte sagen, dass er stabil ist, aber wenn er nicht bald aufwacht... Na ja, je länger es dauert, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit und der Hirnschaden... größer." Dann zwang sie sich zu einem schiefen Grinsen. "Und das an Weihnachten. Also verzeihen Sie mir bitte, wenn ich nicht an singende Engelschöre, den Weihnachtsmann und an 'Alles wird gut' glaube." Das Ganze untermauerte sie mit einem leisen, verächtlichen Schnauben.

Cal runzelte die Stirn. "Ich bin sicher, dass Ihr Vater bald aufwachen wird."

"Tja..." Sie betrachtete missmutig die Tischplatte vor sich. "Ich wünschte, ich wäre auch so sicher. Meine Schwester hat mich nach Hause geschickt und will mich anrufen, sobald es etwas Neues gibt. ANRUFEN!" Fassungslos schüttelte sie den Kopf. "Das ist das schlimmste Weihnachten, das ich je erlebt habe."

"Aber..." Cal's Augen weiteten sich erschrocken. "Sie können doch keinen Groll gegen Weihnachten hegen. Es kann doch nichts dafür, dass schlimme Dinge geschehen, und außerdem werden an Weihnachten Wünsche erfüllt, wussten Sie das denn nicht?"

June warf ihm einen mitleidigen Blick zu, als sei er hier derjenige, dessen Vater im Koma lag. "Tut mir ja leid, diejenige sein zu müssen, die Ihnen das sagt, aber Dinge gehen noch lange nicht in Erfüllung, nur, weil man sie sich gewünscht hat. Entweder man hat Glück oder eben nicht."

Als sie zu sprechen aufhörte, begegnete sie Cal's Blick, der sie nur schweigend, nachdenklich betrachtete. Für einen kurzen Moment sahen sie einander in die Augen, und schließlich war Cal der Erste, der seinen Blick senkte.

"Das dürfte eigentlich nicht passieren...", murmelte er verlegen, während er die Tischplatte betrachtete und seine Hände nervös ineinander faltete.

June wurde hellhörig, doch wieder verstand sie nicht, was er meinte. Was ja mittlerweile nicht mehr verwunderlich war. "Was meinen Sie?"

"Ach nichts..." Er schüttelte den Kopf und zwang sich dann wieder, ihr ins Angesicht zu schauen. "Wegen Ihrem Vater müs-"

Unterbrochen wurde er, als ein etwa fünfjähriger Junge mit einer triefenden Nase und einer riesigen, rötlichen Beule auf der Stirn plötzlich an ihrem Tisch stand und Cal anstarrte.

Irritiert wandte sich June dem Jungen zu, doch Cal lächelte ihn nur fragend an.

"Hallo", begrüßte er den kleinen Racker.

"Haaaaa-i", zog der Junge lang und musterte den jungen Mann kritisch. Dann trat er neben ihn, streckte die Hand aus und winkte Cal näher zu sich heran. Besagter beugte den Kopf und ließ den Jungen etwas in sein Ohr flüstern. Als er von ihm abließ, grinste Cal äußerst zufrieden, tätschelte dem Kleinen die Schulter und zwinkerte ihm zu.

"Wir beide wissen, dass es so ist", antwortete er dann auf das leise Geflüster, das June leider verborgen geblieben war, und der Junge strahlte glücklich.

Cal strahlte zurück. "Das bleibt unser Geheimnis, okay?"

Der Kleine nickte, winkte und raste zu seiner Mama zurück, die sich am Nebentisch mit einer anderen Frau unterhielt und gar nicht mitbekommen hatte, dass ihr kleiner Sohn eben einen Ausflug ohne sie unternommen hatte.

"Was war das denn?", wollte June misstrauisch wissen.

Cal grinste. "Das bleibt leider unser Geheimnis. Der Junge wünscht sich übrigens einen kleinen Bruder." Er nickte zu der Mutter hinüber und June folgte seinem Blick. Die Frau hatte einen bereits runden Babybauch und war bestimmt im sechsten oder siebten Monat.

"Scheint, als würde der Wunsch erhört werden", stellte June belustigt fest und riss sich von dem Anblick los. "Wenigstens einer hier kriegt, was er will."

Cal schmunzelte. "Nicht ganz."

Noch bevor June ihn fragen konnte, was er damit meinte, wechselte er das Thema.

"Wo arbeiten Sie, June?"

Etwas perplex von diesem plötzlichen Wechsel von tiefsinnigen zu trivialen Themen musste June glatt ein wenig nachdenken, bevor sie antwortete. "In einem Blumenladen."

Cal lächelte wissend. "Sie sind ganz und gar ein Sommerkind, nicht wahr?", stellte er fest und in seinem Tonfall klang so etwas wie Melancholie mit, vielleicht auch Bedauern.

June zuckte mit den Schultern. Darüber hatte sie sich noch nie Gedanken gemacht. "Wahrscheinlich. Und Sie? Wo arbeiten Sie?"

Er neigte nachdenklich den Kopf, überlegte. "Was sagten Sie doch gleich? Ich bin ein verrückter Samariter." Dabei lächelte er sie vielsagend an und sie erkannte, dass er zum ersten Mal einen Witz gemacht hatte. Einen subtilen, ehrlichen, kleinen Witz. June musste grinsen.

"Kann mir nicht vorstellen, dass man da so viel verdient", neckte sie ihn, als sie beschloss, das Spiel einfach mitzuspielen. Irgendwie war es angenehmen, hier mit ihm zu sitzen und sich zu unterhalten. Es lenkte sie ab und er wurde ihr von Minute zu Minute sympathischer.

"Oh, ich bin sehr zufrieden mit dem, was ich bekomme, ehrlich", nickte er aufrichtig und sie glaubte ihm. Sie war auch zufrieden als Floristin, und auch da war das Gehalt eher mickrig. Millionärin zu werden, das konnte sie sich zwar abschminken, aber seit wann war Geld denn alles?

Da er ihr seinen richtigen Beruf anscheinend nicht verraten wollte, beließ sie es dabei und leitete einen erneuten Themenwechsel ein.

"Sie haben es wohl mit Kindern, was?"

Seine Bernsteinaugen fingen an zu leuchten. "Oh ja, ich liebe Kinder." Plötzlich hielt er inne, blickte sich verstohlen um und senkte die Stimme. "Das meine ich nicht so. Ich bin kein Perverser oder so, ich meine nur..."

June konnte nun nicht mehr an sich halten und lachte schallend los. Es war gemein, aber er sah so besorgt aus und zu allem Überfluss meinte er es tatsächlich todernst, dass sie es einfach nicht mehr ausgehalten hatte. Dieser Typ war echt 'ne Marke!

Er brach ab und blinzelte sie verdattert an, wartete geduldig ab, bis sie sich wieder beruhigt hatte.

Noch ein letztes Mal schnappte die junge Frau nach Luft, strich sich wieder eine Strähne zurück und grinste den braunhaarigen Mann mit dem dunkelroten Pullover und dem braunen Schal entschuldigend an.

"Tut mir leid!" Wieder zuckte es um ihre Mundwinkel. "Ich weiß schon, was Sie meinen, und-"

"Ich bin froh, dass Sie wieder lachen", unterbrach er aufrichtig und seine Augen nahmen plötzlich die Farbe von dunklem Toffee an, als er sie so intensiv anschaute. "Das sollten Sie öfter tun." Mehr sagte er nicht und eine angespannte Stille legte sich zwischen sie, die June ein wenig unangenehm war.

Zu allem Überfluss spürte sie, wie ihr langsam, aber sicher, das Blut ins Gesicht gepumpt wurde. Sie errötete doch nicht etwa? Aber er war so nett, wie schon lange keiner mehr, und sie war so durcheinander, wie schon lange nicht mehr.

Schnell wandte sie den Blick ab und nahm noch einen Schluck von ihrem Getränk, das bereits komplett abgekühlt war und ihr so kalt auch gar nicht mehr richtig schmeckte. Sie hatte plötzlich ein ganz flaues Gefühl im Magen, ohne es richtig zuordnen zu können.

"Ich beweise es Ihnen", sagte er wieder ganz geschäftig und blickte sie herausfordernd an. "Wünschen Sie sich etwas!"

"Was?"

"Ich beweise Ihnen, dass Wünsche in Erfüllung gehen können. Es könnte vielleicht etwas dauernd, aber wie lange, das liegt an äußeren Umständen... nun... Wünschen Sie sich etwas", forderte er sie wieder auf.

June grinste schief. "Was soll das denn?" Gerade fing sie an, ihn zu mögen, und dann kam er wieder mit so einem Psychomist an, um sich in Nullkommanichts wieder in die Verrücktensparte zu befördern. Nun, zumindest war er unterhaltsam. Dann setzte sie noch einen drauf. "Ich werde mir NICHTS wünschen. So etwas wie den Weihnachtsmann oder eine Wunschfee gibt es schließlich nicht und ich werde mich hier sicherlich nicht der Lächerlichkeit preis geben!" Hoppla, jetzt sprach sie fast schon genauso geschwollen wie er!

Cal seufzte enttäuscht. "Ich sehe schon, Sie sind sehr unkooperativ. Dann muss ich eben warten."

"Wovon, in Dreiteufelsnamen, sprechen Sie denn da bloß? Wirklich, ich verstehe nur die Hälfte von dem, was Sie sagen", beschwerte sich die junge Frau verzweifelt und warf Cal einen vorwurfsvollen Blick zu, der sie seinerseits mit eben demselben Ausdruck musterte, schweigend, geheimnisvoll lächelnd.

Er ist wirklich attraktiv, schoss es June durch den Kopf. Obwohl er diesen konservativen Pulli mit der Schneeflocke darauf trug. Aber es war Weihnachten und sie hatte schon Männer in viel schrecklicheren Pullovern herumlaufen sehen. Mit großen, dicken Elchen, die mitten auf der Brust prangten, oder - noch schlimmer! - grünen Wichteln! Aber mal abgesehen davon war er echt süß. Das braune, kurze Haar wellte sich in seinem Nacken und sie ahnte schon, dass sich unter seinem Aufzug ein ganz ordentlicher Körper befand...

Darüber hinaus hatte er eine vollkommen arglose Art, was ihr auf die Dauer wohl auf die Nerven gehen könnte, oder würde, aber das konnte sie unmöglich im Voraus wissen. Im Gegenzug dazu aber war sie sich fast sicher, dass er eine absolut ehrliche Haut war und das, was er sagte, auch genau so meinte.

Unwillkürlich kehrte ihr Blick wieder zu seinen Augen zurück und sie stellte fest, dass er sie amüsiert betrachtete, einen Mundwinkel fast unmerklich nach oben verzogen.

"Ach so", sagte er langsam, als hätte er so eben gerade etwas Wichtiges verstanden, und sein Tonfall klang fast schon anzüglich in ihren Ohren.

"Was?", wollte June irritiert wissen. Dieser Mann brachte sie langsam, aber sicher auf die Palme!

"Nichts", lächelte er. "Aber Sie müssen sich noch ein wenig gedulden."

"Was?" Stirnrunzelnd starrte sie ihn an. Hatte sie jetzt komplett den Verstand verloren, oder war er es, der sie nicht mehr alle hatte?

Um seine Augenwinkel legten sich ein paar wunderbare Lachfältchen. "Nichts", wiederholte er noch einmal mit sanfter Stimme und schaffte es nicht, sich sein Lächeln aus dem Gesicht zu wischen.

Misstrauisch betrachtete sie ihn, wagte es aber nicht, noch einmal nachzufragen. Irgendwie war er ihr doch suspekt, außerdem würde er es ihr ohnehin nicht verraten. Wer wusste schon, was sich in seinem Kopf abspielte. Also sie jedenfalls nicht!

"Ehrlich gesagt, Sie bringen mich da in einen ganz schönen Zwiespalt", beklagte er sich schmunzelnd.

Jetzt blieb ihr der Mund aber eindeutig offen stehen! "Ich hab doch gar nichts gemacht!"

Er schenkte ihr einen fast schon mitleidigen Blick und sie bekam mehr und mehr das Gefühl, dass er ihr selbst die Schuld daran gab, ihn nicht zu verstehen.

Frustriert sog sie die Luft ein und ließ sich in ihren Sitz zurückfallen.

"Ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon Sie da sprechen", machte sie dem Kerl verärgert klar.

Er gluckste. "Ich weiß." Das Ganze schien ihn auch noch zu amüsieren! Die Palme kam immer näher!

Wütend funkelte sie ihn an und er begegnete ihr gleichmütig, gleichbleibend freundlich, gleichbleibend geduldig und höflich.

June schnaubte und zog ihren Ärmel zurück, um auf die Uhr zu gucken, aber es blitzte ihr nur nackte Haut entgegen. Klar! Sie hatte ihre Armbanduhr beim Duschen abgelegt und war nach dem Aufstehen so müde und zerstreut gewesen, dass sie nicht mehr an sie gedacht hatte. Sie hatte – weiß Gott – anderes im Kopf gehabt!

"Äh, haben Sie zufällig eine Uhr?", wandte sie sich an ihren Gegenüber, der sie immer noch interessiert betrachtete. Er zog ebenfalls seinen Ärmel zurück und warf einen Blick auf eine silberne, aber sonst eher schlichte Armbanduhr.

"Noch 164 Tage und etwa..." Er runzelte die Stirn und hielt seinen Arm näher ans Gesicht. "Sieben Stunden."

Entgeistert glotzte sie ihn an. Nicht mal so eine einfache Frage konnte er beantworten, ohne ihr Rätsel aufzugeben! Er war eindeutig irre!

"Ich wollte eigentlich die Uhrzeit wissen", merkte sie vorsichtig an und rutschte ungeduldig auf ihrem Sitz herum.

Er lächelte verschmitzt. "Ich weiß. Wir haben gleich zehn."

Warum nicht gleich so?

"Um 12 fängt die Besuchszeit an...", erklärte sie zaghaft und wunderte sich selbst, warum sie ihm das überhaupt erzählte. "Meine Schwester hat zwar gesagt, ich soll mich nur noch zur Besuchszeit im Krankenhaus blicken lassen, aber ich weiß nicht, ob ich es so lange aushalten kann..."

Nachdem sie alle verrückt gemacht hatte, hatte ihre ältere Schwester sie aus dem Krankenhaus heraus verfrachtet und ihr Bruder hatte sie nach Hause gefahren. Obwohl sie ihnen das nicht verdenken konnte, weil sie sich wirklich unmöglich verhalten hatte – hatte Ärzte, Patienten und ihre eigene Familie verrückt gemacht -, war sie doch ein wenig verbittert über diesen unkollegialen Rauswurf. Na klar war es nicht richtig gewesen, dem Oberarzt fehlende Kompetenz vorzuwerfen und sämtliche Krankenpfleger und –schwestern zu vergraulen, aber ihr Vater war schon immer ihr Ein und Alles gewesen und sie ertrug den Gedanken einfach nicht, dass er für den Rest ihres – und seines - Lebens so bleich, so leblos an diesen piepsenden und summenden Geräten angeschlossen sein würde, bis zu dem Tag, an dem irgendjemand entschied, dass es nun genug war. Entsetzt schüttelte sie den Kopf, um dieses Bild wieder loszuwerden, dass seit Tagen in ihrem Kopf nistete und sie vollkommen banane machte.

Ihre beiden älteren Geschwister hatten schon eigene Familien mit Kindern, die in den Kindergarten oder zur Schule gingen, und auch, wenn sie nicht mehr zu Hause wohnte, versuchte sie dennoch, so oft wie möglich dort vorbeizuschauen, brachte ihrem alten Herrn das Abendessen mit und hin und wieder auch ein Blumensträußchen für den Esstisch, schaute sich mit ihm Fußball- und Basketballspiele an, spielte mit ihm Schach oder Mensch-ärgere-dich-nicht oder sie unterhielten sich schlicht und ergreifend. Ihr Dad war sehr einsam gewesen, nachdem seine Frau – June’s absolut nicht sesshafte Mutter – einfach abgehauen war und ihn mit zwei Erwachsenen und einem Kind, das bald das Teenageralter erreichen würde, zurückgelassen hatte. Ihr Bruder war sieben Jahre älter, ihre Schwester sogar zehn, und beide waren damals schon mit einem Bein aus dem Haus gewesen. Also mussten June und ihr Vater sich zusammenraufen, sich arrangieren, ihr Leben neu ordnen.

Es war nicht immer einfach, aber sie hatten es geschafft und sie beide verband mehr als nur die bloße, rein-äußerliche Vater-Tochter-Beziehung. Sie waren Freunde und Komplizen, stopften ihre schmutzigen Sachen unter das Bett, wenn Becky, June’s Schwester, mal vorbeikam, um nach dem Rechten zu sehen, bestellten viel zu oft beim Pizzaservice, beim Inder oder beim Chinesen, er verriet ihr die Ergebnisse ihrer Mathe-Hausaufgaben, wenn sie sich mal wieder mit dem Zeug quälte und nahm sie mit ins Stadion, zum Football oder zum Baseball, kaufte ihr Hot Dogs und diese riesigen Schaumstofffinger. Er unterschrieb ihre schlechten Zeugnisse und freute sich über die Guten und ihrem ersten Verehrer, der ihr damals furchtbar lästig gewesen war, hatte er an Halloween einen solchen Schrecken eingejagt, dass dieser sich vor lauter Angst die nächsten drei Monate nicht näher als 20 Meter ihrem Haus näherte. Sie waren dicke Kumpel, und der Gedanke daran, jetzt nicht bei ihm zu sein, brach ihr fast das Herz. Noch mehr, wenn sie darüber nachdachte, sich erinnerte, so wie jetzt...

"Sie sollten hingehen. Es ist schließlich Ihr Vater", nickte Cal ernst, gerade so, als hätte er ihre Gedanken gelesen, und seine Hand zuckte verdächtig in ihre Richtung, aber dann ließ er sie doch wieder langsam auf den Tisch zurücksinken.

Erschrocken stellte June fest, dass das Gefühl, das sie kurzzeitig verspürt hatte, Aufregung war, die nun von einer Welle der Enttäuschung überdeckt wurde. Was zum Teufel...?

Trotzdem war sie erleichtert, dass er ihrer Meinung war, und das Lächeln fiel ihr nun auch wieder etwas leichter, obwohl das ein heikles Thema war.

"Ihre Angehörigen warten sicherlich schon auf Sie", fügte er noch mit weicher Stimme hinzu.

Voller Hoffnung schaute sie ihn an. "Meinen Sie?"

"Na klar." Er lächelte. "Ich bin sicher, sie wissen, dass Sie sich nicht lange fernhalten lassen."

Da hatte er Recht. Obwohl er so viel unverständliches Zeug redete, schien er also doch ganz vernünftig sein zu können. Befreit nickte sie ihm zu und fühlte sich, als ob eine große Last von ihrem Herzen fiel. Sie würde hingehen und vorher noch beim Bäcker vorbeischauen, um ihren wartenden Geschwistern, die bestimmt ebenso ängstlich um ihren Vater bangten wie sie, ein kleines Frühstück zu besorgen. Warum war ihr das nicht sofort eingefallen?!

"Okay, June." Plötzlich war Cal vollkommen angespannt und schaute sich wieder verstohlen um. "Ich glaube, ich muss Ihnen etwas erklären, obwohl Sie mir wahrscheinlich sowieso nicht glauben werden..."

"Hm?" Neugierig blickte sie ihn an. Ihre Laune war schon um einiges besser, obwohl die Situation sich natürlich nicht verändert hatte und immer noch genauso traurig war, wie vor ihrem Zusammentreffen mit Cal, dem Meister der verbalen Verschleierung.

Fest blickte er sie an. "Ich bin nicht verrückt."

Sie lächelte unwillkürlich. "Das hatten wir doch schon?"

"Damit das funktioniert, muss ich ganz ehrlich sein, und es ist wichtig, dass du mir glaubst..."

"Damit was funktioniert?", hakte June argwöhnisch nach und die Tatsache, dass er sie plötzlich duzte, entging ihr dabei völlig. Er redete schon wieder von Sachen, die sie nicht verstand! Wie schaffte er es, von einer auf die nächste Minute so umzuschalten?

Wieder warf er ihr einen mitleidigen Blick zu, seufzte, erhob sich umständlich und zog sie ebenfalls auf die Beine, als er neben ihr stand. Wie betäubt ließ sie es mit sich geschehen und wehrte sich auch nicht, als er seine ergeben Stirn gegen die ihre lehnte.

"Das mit uns", flüsterte er sehr leise, sodass nur sie es hören konnte, und noch bevor sie ihr verblüfftes - langsam für sie typisch-werdendes - "Was?" zum Besten konnte, legte er seine Hände auf ihre Wangen und zog sie langsam, aber bestimmt an seine Lippen, gab ihr diesen einen, unvergesslichen, zurückhaltenden, süßen, sanften Kuss. Den absoluten Mistelzweigkuss, von dem sie geträumt hatte, seit sie 13 geworden war, den sie aber - bis jetzt! - noch nie bekommen hatte.

Atemlos lösten sie sich voneinander und blickten sich an. Er geduldig, wartend, vielsagend. Sie irritiert, betört, durcheinander.

"Das war schön", sagte er dann leise, fast ein wenig überrascht, aber gewohnt aufrichtig und ernst.

Ja, das war es. Aber June schwieg, unfähig, all ihre Gefühle zu ordnen. Wusste nicht, wo sie welches verstauen sollte. Das war ein sehr unpassender Augenblick für einen Mann, der unpassendste überhaupt, aber dieser Kuss! Und dieser Mann! Und ihr Vater, ihr bester Freund, im Krankenhaus, und diese Angst um ihn!

Langsam, aber sicher glaubte sie sich in einem seltsamen Traum, aus dem sie bald aufwachen müsste. Zum einen wäre sie dann sicherlich froh, denn in der wirklichen Welt war ihr Vater gesund und munter, doch andererseits gäbe es diesen bemerkenswerten Typen nicht wirklich, an den sie sich in der kurzen Zeit schon so gewöhnt hatte. Irgendwie war er ihr ans Herz gewachsen und jetzt - nach seiner für sie absolut unerklärlichen Aktion - war da etwas, dass sie wie magisch dazu bewog, sich nicht von ihm lösen zu können, zu wollen, denn immer noch standen sie einander zugewandt inmitten des Cafés und immer noch hatte er seine warmen Hände in ihrem Nacken. Verräterische Hitze kroch in ihr hoch, aber seine Augen hielten ihre fest. Ernste, bernsteinfarbene, dunkle Augen.

Nicht mal die neugierigen Blicke der Menschen um sich herum nahm sie wahr, sie waren ihr so egal – das hier war irgendetwas Besonderes, etwas Magisches. Etwas, von dem sie bis dato nicht einmal gewusst hatte, dass es so etwas überhaupt gab.

Plötzlich klingelte ihr Handy und sie fuhr erschrocken zusammen, kramte in ihren Jackentaschen nach dem klingelnden Etwas, das die schöne Stimmung gerade zerstört hatte. Doch kaum, dass es ertönte, konnte sie nur an eines denken: waren es gute, oder schlechte Neuigkeiten, die dieses Bimmeln ihr bringen würde?!

Gespannt und furchtsam hielt sie sich das kleine Ding ans linke Ohr und beantwortete zögernd den Anruf. "Hallo?"

Es war ihre Schwester am anderen Ende der Leitung. Sie klang aufgeregt, aber nicht aufgelöst, und verkündete June, dass ihr Vater so gerade eben aus seinem Koma erwacht war und dass June sofort zum Krankenhaus fahren sollte.

Ohne ihre Schwester aussprechen zu lassen, beendete June das Gespräch, ließ das Handy sinken und fiel Cal fröhlich um den Hals. Sie fühlte sich frei und leicht und lachte ihre Erleichterung heraus.

Überrumpelt ließ Cal es geschehen, aber schnell löste sie sich von ihm und stopfte ihr Telefon in die Tasche zurück, zog den Reißverschluss ihrer Jacke zu.

"Vielen, vielen Dank, Cal. Ich muss sofort zum Krankenhaus... es ist ein Wunder!" Sie lachte wieder, ihre Stimme überschlug sich vor lauter Aufregung und dann bemerkte sie überrascht, wie ihr die Tränen kamen. Schnell wischte sie sich über die Augen, damit es niemand merkte.

"Ich habe es Ihnen doch gesagt", lächelte der junge Mann mit dem schönsten Pullover der Welt und sie hätte ihn am liebsten geküsst, aber das hatte er ja schon meisterhaft erledigt.

"Ja", strahlte sie. "Das haben Sie! Vielen Dank! Ich muss jetzt wirklich gehen, aber rufen Sie mich bitte an! Bis bald!", verabschiedete sie sich von ihm und stürmte aus dem Laden, ohne daran zu denken, dass sie ihm weder ihre Nummer gegeben, noch sie seine hatte.
 

Erst viel, viel später, wenn sich die Aufregung um ihren Vater gelegt hätte, würde sie daran denken und sich einen Idioten schimpfen. Letztendlich würde sie sich dazu entschließen, die Erinnerung an Cal, den Mann, der ihr Weihnachten gerettet hatte, zu pflegen und ihn im Gedächtnis zu behalten.
 

Cal währenddessen, der ihr gerade – wider besseres Wissen - die Wahrheit hatte erzählen wollen, blieb wie angewurzelt im Laden stehen, als sie fröhlich davonlief und ihm verkündete, er sollte sie anrufen.

"Die äußeren Umstände", seufzte er schicksalsergeben. Sie waren so unvorhersehbar und willkürlich, dass es ihn in Momenten wie diesen beinahe schon ärgerte. Aber so war es nun mal. Es gab Sachen, gegen die er machtlos war. Sogar heute.

Seine Gedanken wanderten wieder zu June, als er schlendernd, die Hände in die Jackentaschen vergraben, das Lokal verließ und an die frische Dezemberluft heraustrat. Weihnachten lag in der Luft. Das spürte er ganz genau!

Es war mehr als nur der Duft von Zimt, Äpfeln, Orangen und Nüssen, den seine feine Nase nur allzu deutlich wahr nahm. Viele Geschäfte verbreiteten diese Duftmischung in ihren Läden, um die Kunden in weihnachtliche Stimmung zu bringen und dazu zu bewegen, mehr zu kaufen. Mehr Deko, mehr Geschenke, mehr Süßes.

Nein, es waren die Wunder, die ringsherum passierten, kleine und große und so welche, die niemand bemerkte. Cal drehte sich um und hielt Ausschau nach dem frierenden Obdachlosen, dem er vorhin den Kaffeebecher überreicht hatte. Der alte Mann saß immer noch an derselben Stelle und hielt nun einen Bagel in der Hand, von dem er zufrieden abbiss. Auf seinem Schoß stand eine große Tüte vom Bäcker, vor ihm eine Blechdose für Kleingeld.

Cal lächelte und dachte wieder an June, als er seinen Weg fortsetzte, wohin auch immer dieser ihn führen möge.

Er würde so einiges umkrempeln müssen, um ihrem Wunsch gerecht zu werden, aber es war Zeit, und nichts war für immer. Trotzdem war er ein wenig enttäuscht. Er mochte Weihnachten, aber er merkte, dass er June noch viel, viel lieber mochte. Das war er also, der letzte große Wunsch.

Sein ganz eigener.

Er bemerkte einen älteren Mann an der Ampel stehen, der sich wünschte, im Kaufhaus an der Ecke noch ein schönes Geschenk für seine Enkelin zu bekommen; eins von diesen hübschen Armbändern in verschiedenen Farben, die momentan weggingen, wie warme Semmeln.

Er bemerkte einen jungen Mann am Hotdog-Stand, der sich wünschte, seine Freundin würde den Heiratsantrag, den er ihr heute Abend machen wollte, annehmen, und nicht schon wieder abschlagen, wie die beiden Male zuvor.

Er bemerkte ein heranwachsendes Mädchen innerhalb ihrer Mädchenclique, das sich wünschte, ihre Eltern würden nie erfahren, dass sie sich mit einem vier Jahre älteren Jungen getroffen hatte. Und die alte Dame, die sich Schnee wünschte, so wie früher, in ihrer Jugend, als sie in ihrem heißgeliebten, dunkelroten Mantel mit ihrem kleinen Bruder auf den verschneiten, weißen Feldern herumgetollt war.

Er lächelte. Und er gewährte die Wünsche, als die ersten, dicken Schneeflocken vom Himmel herabfielen und in seiner ausgestreckten Hand liegen blieben.
 

164 Tage und sieben Stunden später
 

An diesem Donnerstagnachmittag brannte die Sonne besonders gnadenlos auf die Erde nieder. June war kurz davor, den Blumenladen zu schließen und bastelte noch an einem letzten Strauß für den Esstisch ihres Vaters. Heute hatte sie Lust auf ein paar pinke Germinis, kombiniert mit ein bisschen Schleierkraut und drei, vier weißen Gerberas. Zufrieden betrachtete sie ihr Werk und drehte den Strauß in ihren Händen hin und her. Ja, das sah hübsch aus.

Da sie heute den ganzen Tag in der Sonne gearbeitet hatte, hatte sie ihren Strohhut auf und der Wind - besser gesagt, ein laues Lüftchen - umwehte ihren Rocksaum, ihre Beine. Der Stoff flatterte fröhlich in der Brise und sie sog gierig die Luft ein, in der der Geruch von Sonne, verbrannter Haut, heißem Asphalt und Blumen lag. Sie liebte das.

Erschöpf zog sie sich den Strohhut vom Kopf und ließ ihn auf eines der leeren Ladenbretter segeln, auf denen vor kurzem noch die Blumenkübel standen, die sie bereits in den Laden hereingeholt hatte.

June hatte ihr Haar zu einem lockeren Pferdeschwanz zusammengebunden, doch innerhalb des Tages hatten sich ein paar Strähnen gelöst und flatterten mit ihrem Rock um die Wette. In einer schon automatisierten Bewegung steckte sie sich einer der Strähnen wieder zurück hinters Ohr und gerade, als sie sich umdrehen wollte, um die Ladentür von innen zu schließen, bemerkte sie einen Mann, der direkt auf sie zugeschritten kam.

Die Sonne blendete und sie erkannte ihn nicht richtig, also schirmte sie ihr Gesicht mit der Hand ab und blinzelte ihm entgegen

Er trug eine einfache, helle Jeans, ein schwarzes Poloshirt und hatte die Hände lässig in seine Hosentaschen vergraben. Langsam schlenderte er auf sie zu. Ihr Blick glitt langsam hoch zu seinem Gesicht, doch sie konnte nur das Lächeln auf seinen Lippen erkennen. Angestrengt blinzelte sie weiterhin in die Sonne, bis schließlich eine weiße, wollweiche Wolke sich vor diese schob und June augenblicklich die Erkenntnis brachte.

Ihre Augen weiteten sich, sie schnappte nach Luft und ließ die Hand sinken. Aus ihrer anderen entglitt ihr leise der hübsche Blumenstrauß und das Schleierkraut und die Germinis landeten verstreut auf dem warmen Asphalt.

Ein Lufthauch strich ihr den Rock an die Beine, fuhr durch Cal's Haar, und sein Lächeln vertiefte sich, bis diese Lachfältchen wieder sichtbar wurden, die seine Augenwinkel umspielten.

Nur wenige Meter vor ihr blieb er stehen, neigte den Kopf und betrachtete sie interessiert, stillschweigend fortlächelnd.

June jedoch hielt es nicht mehr aus und fiel ihm um den Hals. Wie sehr hatte sie sich gewünscht, ihm wieder zu begegnen, das Angefangene zu Ende zu bringen, noch einmal so geküsst zu werden!

Als sie ihr Gesicht grinsend in seiner Halsbeuge vergrub, drückte er sie fest und flüsterte: "Ich habe doch gesagt, es sind nur noch 164 Tage."

Dann nahm er ihren Kopf in seine Hände, lehnte die Stirn gegen ihre, ganz so wie damals, an Weihnachten, und sein bernsteinfarbener Blick begegnete ihrem, ganz kurz bevor er ihr wieder diesen ganz besonderen Mistelzweigkuss gab, nach dem sie sich so lange gesehnt hatte. Plötzlich lag der Duft von Zimt und Orangen in der Luft, der Duft von Wundern.
 

The Art Of Magic - Cal's Vorgeschichte. Jetzt online. ^^



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Kommentare zu diesem Kapitel (22)
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Von:  genek
2012-01-31T19:48:58+00:00 31.01.2012 20:48
Nachdem ich über die aktuelle YUAL-Geschichte gestolpert bin und sie grandios fand, sieh das hier einfach als Kommentar zu beiden, da ja auch die beiden One-Shots letztendlich Teile einer Geschichte sind.

Ich wiederhole nur schon vor mir gesagtes, wenn ich deinen Schreibstil lobe, fürchte ich, aber es muss sein. Es liest sich flüssig und wunderbar leicht und ungezwungen, auch Cals etwas gespreiztere Sprache klingt an keiner Stelle sperrig. Was auch sehr gut gelungen ist, ist das Spiel mit den Emotionen in beiden OS, zwischen Trauer und Hoffnung und Lachen und Weinen, und das immer nachfühlbar und irgendwie echt. Mit Cal hast du einen sehr sympathischen Charakter kreiert, und die Geschichte lässt einen rundum glücklich zurück.

Sincerely, genek.
Von:  Maginisha
2010-06-25T18:05:38+00:00 25.06.2010 20:05
Seit langem mal wieder eine Geschichte, die ich tatsächlich zu Ende gelesen habe.

Wenn ich es vergleichen sollte, würde ich sagen, die Geschichte ist wie eine Tasse heiße Schokolade.

Erst muss man ein bisschen warten und pusten, bis sich der süße Genuss endlich entfalten kann. Dann endlich kann man den ersten, richtigen Schluck trinken und will sofort mehr. Man stürzt sich förmlich in den Geschmack, das samtige Gefühl auf der Zunge, den heißen, unglaublich guten Genuss, man kann gar nicht genug davon bekommen, bis am Schluss der Bodensatz kommt. Die Krönung, die Steigerung der süßen Sünde, doch fast ein wenig zu viel. Aber eben nur fast. Und ganz am Ende schaut man ein bisschen wehmütig in die leere Tasse und wünscht sich, man hätte langsamer getrunken, nicht so geschlungen oder noch besser: Man hätte noch eine Tasse. Aber es ist, wie es ist. Und zu viel Zucker ist sowieso schädlich für die Zähne. Daher bleibt eine schöne Erinnerung, ein Hauch von Schokolade auf der Zunge und ein warmes Gefühl im Bauch, das einen jedes Mal, wenn man sich ihm bewusst wird, ein Lächeln auf das Gesicht zaubert.

*mit einem Lächeln die Geschichte ihren Favoriten hinzufügt*

Von: abgemeldet
2010-04-17T21:31:17+00:00 17.04.2010 23:31
Schönen, guten Tag :D
Danke für deine Teilnahme an meinem Wettbewerb.
Auch bei dir, muss ich mit meckern beginnen: Das war ein ernstgemeinter Wettbewerb, in dem eine schöne Geschichte mit der schönsten Kussszene gesucht war. Das heißt es ist kein Karotaler-Schnellverdien-Service für euch :D Ich hatte zwar nicht viele Vorgaben gemacht, aber ich finde es verfehlt den Sinn eines Wettbewerbs, wenn man Geschichten einsendet, die gar nicht für den Wettbewerb geschrieben hat, sondern die man schon ein Jahr vorher hochgeladen hat. Mir war nicht klar, wie viele so was machen D: Finde ich echt merkwürdig, aber okay. Geht nicht in die Bewertung ein =) Zu deiner Geschichte:
Ich muss einfach sagen, dass du einen grandiosen Schreibstil hast, bei dem das Lesen einfach Spaß macht. Das kann man anders gar nicht formulieren, da gibt es keine Rechtschreibfehler, sondern nur perfekte Formulierungen und somit ein toller Lesefluss. Was ich halt persönlich nicht so schön finde, sind Ausdrücke, wie: „Die junge Frau sagte“, wenn man eben diese junge Frau schon kennt :D Aber das war nur so eine Nebensache. Es ist eine wundervolle Geschichte mit wundervollen Charakteren, die total sympathisch sind. Ich habe das Lesen auch wirklich schon ab der ersten Zeile genossen und die Story gefällt mir gut, es ist alles grandios aufgebaut und super präsentiert :D Wirklich, Kompliment. Besonders für deinen herausragenden Stil. Allerdings hast du das Ganze so toll aufgebaut, dass ich vom Ende glatt etwas mehr erwartet hätte :x. Also es war ja schon recht früh klar, dass Cal etwas Besonderes war :D Und auch, dass er so eine Art Wünsche-Erfüller war. Was genau es mit ihm auf sich hat wurde nicht deutlich, was eigentlich kein Problem ist, aber damit verbunden, hat mich sein Handeln verwirrt. Er erfüllt Wünsche – schön und gut. Wahrscheinlich nur an Weihnachten. Und er verliebt sich in sie, weil er sie wohl zufällig trifft. Auch schön und gut und der Anfang ist sowieso grandios :D Du kannst einfach gut erzählen. Aber wieso ist er manchmal selbst überrascht, wenn das Schicksal seinen Lauf nimmt? Und wieso braucht er 164 Tage, eher er June wieder trifft? An ihr wird es kaum gelegen haben, da sie ja sowieso auf ihn gewartet hat. Also IHRE Geschichte hast du toll erzählt, nur SEINE hat mich irgendwie ratlos zurückgelassen. Er hat sich innerhalb des Gesprächs verändert, und zwar kurz vor dem Kuss. Das Ganze kam daher etwas plötzlich und der Kuss an sich hatte eine super Atmosphäre, wegen den tollen Charakteren und der dahinterstehenden Geschichte. Aber er war aus ihrer Sicht geschrieben, ging aber von ihm aus. Und sie hat ihn nicht mal richtig mitbekommen und war stattdessen danach total verwirrt und musste ihre Gedanken ordnen. Deswegen war der Kuss zwar schön, er kam aber etwas plötzlich und war auch ebenso plötzlich wieder vorbei. Er war irgendwie eine totale Nebensache, da man Cal auch nicht so einschätzen konnte und man über ihn auch zu dem Zeitpunkt nicht viel wusste. Aber trotz allem: Tolle Story :D
Viele Grüße,
Portgas.

Anhang: Du hast bei meiner Bewertung 12 von 15 Punkten erreicht und belegst Platz 1
Bei Fragen oder Anmerkungen, einfach bei mir melden ;)

Von:  belladonna_lily
2009-12-27T23:31:26+00:00 28.12.2009 00:31
OH OH! UH! SHIT!
Ich hab noch garkein Kommi hinterlassen bzw. das eigentlich geplante abgebrochen O.O

Also.... erst mal mein gespeichertes Kommi vom 23.12:
[aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaahhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhh
diese Geschichte ist so wunderschön!
so.... weihnachtlich :) einfach rührend... Ö.Ö
und ach....
warte ich muss mich kurz fangen bevor ich etwas konstruktives zustande bringe...
*wart*
*ach*
*schwärm*
*von eigenem Carl träum*
*ach*
*himmlisch*
*von eigenem Carl geküsst wird*
*ach*
*oh*
.
.
.
.

so das sollte es jetzt sein :D
Oh Mann! Dieser OS quillt fast über vor Weihnachtlicherstimmung und ich finds klasse! ;)
Genau SOWAS braucht man am 23.Dezember :D
Aber ich will dir jetzt mal ein hübsches ewiglaaanges Kommi schreiben... so wies einem dermaßen großartigen OS gebührt! =]
Fangen wir mit der Überschrift an...
"The Flavour of Magic"
Hört sich verlockend an, denn jeder will wissen wie Magie denn so schmeckt. Und wenn man so nachdenkt hat jeder doch garantiert schon irgendeinen magischen Moment gehabt und denkt dann dran... so im nachhinein wenn man sich Gedanken macht xD
Und jetzt zum Aussehen des OS :)
ich geh hier vor wie im Schulbuch, schon schön wenn man weiß wie ne Textbeschreibung geht ;) ]

So das hatte ich gleich nachdem ich gelesen hatte geschrieben, doch dann wurde ich vom PC verscheucht, also abspeichern und ein andermal posten... also jetzt

Leider wird der Kommi wahrscheinlich nicht so lang wie geplant doch naja, man wird sehen... :)

*hust* wo war ich? ach ja! Aussehen! Ich glaube so vom optischen her hat das Titelbild mich am meisten dazu bewogen den OS zu lesen ;)
Naja, mehr Bilder gibt es ja auch nicht xD
Dass du alles schön schlicht gehalten hast ist gut, keine übeladeten einführungen oder überflüssige zu viel information enthaltene Steckis. Obwohl es schon geil wäre einen Carl so zu >sehen< einen Carl wie du ihn beschreibst und wie du ihn dir vorstellst xD

Jetzt zu deinen wundervollen Charaktern. :3
June ist interessant und ein wahres Sommerkind, das ist wahr, was mich jedoch irgendwie überhaupt nicht gewundert hat, ist 1. dass sie ein >Vaterkind< ist, denn sie scheint eine sehr starke Frau zu sein, die einem auch mal recht unfreundlich die Meinung geigen kann und durchgreift, desweiteren scheint sie niemand, der um den heißen Brei rumredet :)
2. dass sie Floristin ist! :D Ich weiß nicht genau, was einen dazu bewegt, aber es passt so perfekt. Ich persönlich kann mir bei ihr keinen anderen Beruf vorstellen ;D

Carl ist ein wirklich, nun ja süßer Chara. So süß, da bekommt man doch quasie einen zuckershock :D
Dieses Kindlicher, was mit einer gewissen Weisheit durchwoben ist, macht ihn einem sofort sympatisch, und selbst gestresst und ausgezehrte Menschen können einfach nur über ihn schmunzeln :]
Nur was ich mich jetzt frage, was ist er?
Ein Wünsche-und-Gedanken-lesen-und-wahr-machen-Mann mit genialen Küssen oder soetwas wie der Weihnachtsmann, oder gar ein Weihnachtsengel?

Seine Anmerkung zu ihrem Wunsch, welcher sich am Ende erfüllt -das ist kein Traum oder?- ist zu putzig :3

Nunja, irgendwie kann ich gerade nicht mehr sagen, hab n brett form kopf, aber du weißt, dass ich den ganzen OS HIMMLISCH & genial finde ;)
lg
bella

Von: abgemeldet
2009-12-27T23:23:42+00:00 28.12.2009 00:23
hey
das war echt eine total schöne geschichte :) einfach genial und so mitfühlend geschrieben <3 haaach toll
weiter so :D

ps.:
welches anagram? hab in einigen kommis davon gelesen und es scheint was mit der identität von cal zutun zu haben? ich wills auch wissen ><
Von:  Ur
2009-12-25T10:14:58+00:00 25.12.2009 11:14
Hey :)

Eigentlich bin ich kein Weihnachtsfan, aber deine Geschichte war wirklich niedlich. Am Anfang habe ich die ganze Zeit wild rumgerätselt, wer Cal denn sein könnte. Ein Engel? Irgendwas anderes? Bis ich mir dann den Namen ein bisschen genauer angeschaut hab. Ich hab das Anagramm gefunden :D Ich hatte IHN mir eigentlich immer etwas anders vorgestellt, aber er ist schließlich eigentlich eine Erfindung von Coca Cola *grübel*

Die Idee war jedenfalls klasse, es war was schön fluffiges für Weihnachten. Dass ich bei den 147 Tagen auf dem Schlauch stand, hab ich dir ja schon gesagt, aber da hab ich wohl wieder nur zu viel rein interpretiert xD Dein Schreibstil passt super zu der Atmosphäre, die du übrigens sehr gelungen aufgebaut hast. June war mir sehr symathisch ;)

Und das hier (steht ja auch als Leseprobe in der Kurzbeschreibung) war mein Lieblingssatz:
"Das geht sie gar nichts an, Mr. Staunes wie die Rolling Stones", ...
Vielleicht hab ich einen verkorksten Humor, aber ich liebe solche leicht sarkastischen Sachen *g*

Ich wünsche dir noch schöne Feiertage!
Liebe Grüße und Danke fürs Lesevergnügen,
Ur

PS: Herzlichen Göückwunsch übrigens. Ein gelungenes YUAL ;)
Von:  Rebell
2009-12-24T13:57:10+00:00 24.12.2009 14:57
Seeehr bewegend, sehr interessant, sehr flüssiger Still, sehr schön geschrieben, doch und doch emotional, einfach wundervoll.
Unbeschreiblich.
Du hast mir heute Weihnachten gerettet.
Danke

Schokonase
Von:  Inan
2009-12-16T17:59:40+00:00 16.12.2009 18:59
Schön!
Obwohl ich eher der shonen-ai fan bin,
aber das hier war cool^^
Die stelle, wo sie sich an ihren Vater erinnert hat, gefällt mir am besten, die war irgendwie rührend
Nur was es mit diesem Cal auf sich hat, ist ja nicht so richtig geklärt
Sone Art Weihnachtsmann vielleicht?
Naja wie gesagt, tollige OS^^
Von: abgemeldet
2009-12-12T18:26:57+00:00 12.12.2009 19:26
Woah!
Die Geschichte hat mich echt umgehaune *-*
An der Stelle als June an ihren Vater gedacht hat...das hat mich echt richtig berührt, weil ich genau so eine Beziehung zu meinem Vater habe (auch wenn ich meine Mami auch lieb hab :D)
Das hier ist die beste YUAL-Geschichte die ich je gelesen hab!
Und das Anagram ist übrigens echt gut ;)
Hab mich richtig in die Geschichte hier verliebt~

LG das Entchen
Von: abgemeldet
2009-12-10T20:44:26+00:00 10.12.2009 21:44
WTF??? O_O
Ich bin nich unbedingt der Weihnachtstyp und wollt die Geschichte erst gar nich lesen, aber ich bin froh, dass ich es doch getan habe. ^^ Sie ist unglaublich!
Ich hatte ziemlich schnell ein Dauerlächeln im Gesicht, weil ich begeistert bin von Cal und von seiner besonderen Art mit Menschen umzugehen... Er ist wirklich ein toller Charakter ^^
So eine gute ff hab ich schon lange nich mehr auf mexx gelesen und ich danke dir dafür.
lg deathly


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