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be my magician

von

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1870: Worte, die die Dunkelheit durchdringen

1870

1. Worte, die die Dunkelheit durchdringen
 

Über den Himmel schoben sich langsam silberweiße Wolken, ein sanfter Wind trug den Duft von Rosen und frischer Erde um das Haus. Die Luft selbst war noch feucht von einem morgendlichen Regenschauer, aber auf den Blättern der Sträucher und Bäume waren nur noch wenige kleine Tropfen zu sehen. Harmony tippte eines dieser Blätter an und freute sich über das aufhüpfende Wasser und den dünnen Sonnenstrahl, den es bündelte. Der Junge erhob sich und klopfte die Erde von seinen Hosen. Er genoss den Wind und die Sonne, die sein Gesicht wärmte, und war froh, dass der Sommer gerade erst im Begriff war zu beginnen. Anfänge waren ihm immer lieber als Enden, besonders die Enden des Sommers. Er war in einem solchen geboren und hatte stets golden-orangefarbene Erinnerungen an diese Zeiten, in denen die Schatten unscharf verschwommen wie hinter einem Tränenschleier. Abschied. Das lag ihm nicht. Er sammelte Spaten und die kleine Harke ein und lief den gepflasterten Weg zum Haus. Das schulterlange schwarze Haar, das er zu einem Schwanz nach hinten gebunden hatte, wippte bei jedem Schritt, und mit einem Lächeln überhörte er fröhlich die bebende Stimme seines Meisters. »Harmony!!«, setzte dieser verärgert noch einmal nach. »Hast du die Abschrift fertig?!« Der Junge trat gerade in den kühlen Schatten des Gebäudes und antwortete entsprechend frostig: »Schon seit gestern Mittag.« Er stellte die Geräte in die Abstellkammer und begab sich auf den Weg durch die Küche auf der Suche nach dem Ursprung der Stimme.

»Wo hast du sie versteckt?«, tönte es weiter.

Der Junge wurde beinah ärgerlich und stieg die Treppe zur zweiten Etage hinauf, wo sich unter anderem auch sein Zimmer befand. »Auf dem Schreibtisch, wie es sich gehört?« Er lehnte sich an den Türrahmen seines Zimmers, in welchem sich tatsächlich sein Meister zu schaffen machte. Es herrschte Chaos. Sämtliches Papier, das sonst unter dem Bett ruhte, war grob aus seinem Schlaf gerissen worden. Ähnlich war es vielen Büchern, Enzyklopädien und auch Kleidungstücken ergangen. »Du kannst es nicht ertragen, wenn ich meine Freizeit genieße, was?« knurrte Harmony.

Ellary Mare richtete sich etwas mühselig aus dem Papiermeer auf und schaute seinen jugendlichen Schüler grimmig an. »Wie stellst du dir bitte vor, soll ich in dieser Unordnung etwas finden?« Er war groß, aber dünner als seine kräftige Stimme vermuten ließ. Sorgenvolle Jahre hatten ihm dunkle Ränder um die Augen gemalt. Das Haupthaar war kurz und glatt und von grauer Farbe, und auch der angestaubte Mantel, den er trug, war lange nicht mehr schwarz. Jetzt stapfte der Meister aus dem Zimmer hinaus in den düsteren Korridor. »Ordnung ist das halbe Leben, das sage ich dir schon dein ganzes Leben lang, so kurz es bis jetzt auch ist. Aber du hörst ja nie auf mich.«

»Nur immer mit halben Ohr, ganz genau.« Angesichts der traurigen Szenerie in seinem Zimmer seufzte der Junge, schwang einmal mit der Hand und erhielt augenblicklich die von seinem Meister gesuchten Dokumente, eine vierzig Jahre alte Erstausgabe eines Romans und die durch Harmony selbst angefertigte handschriftliche Kopie. »Wirst du sie jetzt ausliefern?« fragte er, während der Ältere ihm mit misstrauischen Fingern die Bücher abnahm und sie sorgfältig untersuchte.

»Heute ist der ausgemachte Termin. Ist also anzunehmen.«

»Kann ich mitkommen?«

Sein Meister verstaute die Bücher ordentlich in einer Tasche in seinem Mantel, und schaute Harmony streng an, sagte aber kein Wort.

»Rue hat gesagt, Mrs. Chershire ist eine gebildete alte Dame und sogar etwas lustig. Es wäre doch sicher nur förderlich für mich, ab und zu die Gesellschaft gebildeter Damen genießen zu dürfen anstatt immer nur deiner.« Er lief seinem Meister hinterher ins Erdgeschoss.

»Und sie hat eine hübsche Enkelin.«

»Jahaa. Was wohl der Grund ist, warum du sie so gern persönlich besucht, anstatt die Bücher einfach von einem ihrer Angestellten abholen zu lassen. Mir geht es eigentlich eher um Gesellschaft allgemein. Zum Beispiel die Stadt, in der sie bekanntlich wohnt. Wir sind so abgelegen, dass es langweilig ist.«

»Du hast also nichts zu tun?« Sie erreichten die Haustür.

»Nichts Bedeutungsvolles.«

»Dann räum dein Zimmer auf.« Der Alte warf noch kurz einen gemeinen Blick mit seinen grünen Augen zurück, dann machte er sich sichtlich beschwingt auf, den gepflasterten Weg entlang zum Rande des Grundstücks und weiter zur Hauptstraße, um von dort die zuvor bestellte Kutsche in die Stadt zu nehmen.

Harmony blieb leicht verstimmt zurück, unschlüssig, was er jetzt tun sollte. Sein Zimmer hob er sich gut und gern für einen späteren Zeitpunkt auf, er konnte auch im Chaos schlafen, lieber wollte er raus in die Sonne. Aber nichts tun viel ihm schwer. Eines der grässlichen Lehrbücher, mit welchen ihn Master Ellary seit seinem vierten Lebensjahr quälte, wollte er sich jedoch ebenso wenig zumuten und jegliche vernünftige Literatur, die im Haus existierte, kannte er bald auswendig. Bis der dritte Mann des Hauses, sein Lehrer in Schwertkampf und Gartenarbeit gleichermaßen, Rue Levian, zurückkehrte, hatte er nichts zu lesen. Master Rue war gerade einmal wieder dem obersten Rat der RA Bericht erstatten, der offiziellen Vereinigung europäischer Zauberer, die ihm einst den Auftrag erteilt hatte, den straffällig gewordenen Ellary Mare im Auge zu behalten. In den vierzehn Jahren, die er seiner Aufgabe aber nun schon nachging, hatte sich zwischen ihm und dem unwirschen Zauberer eine enge Freundschaft entwickelt.

Der Junge seufzte und ließ sich antriebslos auf der Seite der Haustürtreppe nieder, die die Sonne noch erreichte. Der Rosenduft machte ihn schläfrig. Oh ja, er liebte Master Rue für seine herrliche Art mit den Pflanzen umzugehen. Kaum eine Magie sagte ihm mehr zu als die, Blumen das ganze Jahr über blühen zu lassen. In die Tiefe von Büchern eindringen noch und. Wind. Die wunderbare Fähigkeit Wind zu machen, der Wolken bewegen konnte und so selbst in der dunkelsten Nacht die Sterne sichtbar werden ließ. Der einzige Grund, warum er Zauberer hatte werden wollen. Die Dunkelheit. Oder besser: Gegen sie. Er war eingedöst. Auf den Bäumen im Garten piepsten ein paar Vögel, aus dem leisen Rascheln der Blätter wurde in seinem Traum bald das kräftigere Rauschen des Meeres, dessen Geruch nach Salz sich mit dem der Blumen mischte. Es wäre schön, den Sommer mal wieder am Meer zu verbringen, fiel ihm noch ein, wie damals mit seiner Mutter und Tante Jinnee, bevor er ganz langsam bemerkte, dass aus dem Geräusch der Wellen das Geräusch der Stille geworden war, das Rauschen des Blutes in seinen Ohren. Als er endlich die Augen wieder öffnete, war es dunkel.

Ein kleiner alter Mann hockte ihm gegenüber. In der rechten Hand umklammerte er fest einen schön gearbeiteten Gehstock, die andere ruhte in seinem Schoß, welchen ein zerschlissener brauner Umhang bedeckte. Die Schuhe, die darunter hervor lugten, waren zwar sichtbar alt, aber gut gepflegt. Besser als es der Alte selbst zu sein schien, denn seine Haut hing müde und fleckig von seinem Gesicht herab. In den kleinen Augen jedoch glänzte durchaus noch der Schelm. Er reichte Harmony die Linke zur Begrüßung. »Verzeih, dass ich dich so plötzlich aus deinem Nickerchen reiße, aber du bist jung und wirst hoffentlich noch viel Zeit zum Schlafen haben ganz im Gegensatz zu mir. Mein Name ist Aubrey Vane.« Er sprach leise, aber bestimmt und in seiner Stimme klang sowohl Heiterkeit wie auch tiefer Ernst.

Der Junge ergriff die knochige Hand etwas zögerlich. Die dünnen langen Finger waren weniger gebrechlich als sie wirkten. »Aubrey … Vane? Der …«

»Der Wächter des Holy Dark. Ganz genau.« Der alte Mann lächelte sanft.

Harmony zog erschreckt seine Hand zurück. Wenngleich kaum darüber geschrieben wurde, hatte wohl jeder Zauberer davon gehört. Das Holy Dark, dieser uralte und unvergleichbar mächtige Zauber. Zahlreiche Menschen, und nicht nur diese, verlangten nach seiner Macht, hatten ihr Leben gelassen in den Kämpfen darum oder beim Versuch es zu beherrschen. Wer es nicht kontrollieren konnte, so hieß es, den fraß es auf. Aber das schien die wenigsten abzuschrecken. Daher gab es den Wächter, der das Holy Dark genau vor solchen Kämpfen und etwaigem Missbrauch bewahren sollte. Und jetzt stand dieser Wächter vor ihm, zerschlissen und alt … »Nein«, brach es aus ihm heraus. »Was auch immer Sie sich ausgedacht haben, ich gehöre nicht zu Ihrem Plan.« Er stand auf und blickte sich nach einem Ausgang um, um dann in Ermangelung eines solchen entschlossen in eine beliebige Richtung davon zu stapfen.

»Halt, halt, halt!«, rief der Alte und hechtete ihm mit seinem Stock hinterher.

»Wo sind wir hier eigentlich?!« entfuhr Harmony ärgerlich. Denn hier, wo alles gleichsam auf die seltsame Art finster war, die die Umgebung verdunkelte, die Personen jedoch nicht, konnte er kaum sagen, ob er sich auf offenem Feld befand oder in einer engen Höhle.

»Das ist ein Versteck, das ich mir zu Eigen gemacht habe«, antwortete der Alte zufrieden. »Wenn ich dir sage, wo und was es ist, ist es nur noch halb so versteckt. Wenngleich es inzwischen eh keinen Unterschied mehr macht …« Er holte laut Luft, wobei seine Lunge unangenehm rasselte, und griff mit seinen langen Fingern nach Harmony’s Arm. »Es ist unhöflich einem alten Mann davon zu rennen«, keuchte er.

»Es ist unhöflich seine Lunge rasseln zu lassen«, entgegnete der Junge, woraufhin der Alte vergnüglich blinzelte.

»Lass uns uns setzen, mein Junge«, sagte er noch und ließ sich schon nieder, worauf blieb sein Geheimnis. Dann griff er mit seiner Linken unter seinen Umhang und kramte ein in ein Tuch gewickeltes Buch hervor. Er wickelte es aus und strich liebevoll über den Deckel. Klein und unscheinbar lag es in seinen großen Händen. Harmony schauderte jedoch bei seiner Ausstrahlung. »Das hier soll deins sein«, begann Master Vane ohne aufzusehen. »Hier drinnen liegt der große Zauber verschlossen. Meine Lebenszeit geht zu Ende … Glaub mir, es fällt mir nicht leicht, es einem Fünfzehnjährigen anzuvertrauen. Fünfzehn Grundgütiger! Aber Tatsache ist, es gibt nur noch eine Hand voll fähiger Schwarzmagier. Doch die sind entweder von zwielichtigen kleinen Gilden oder den zwielichtigen Großen, Gotis und RA. Ich zweifle nicht an der Integrität Master Zenon’s, aber letztlich steht er wie damals Master Juno zu nah bei jenen, die ihre eigenen glorreichen Ideen mit dem Holy Dark haben. Dein Meister ist zurzeit der einzige unabhängige Schwarzmagier und er wäre der ideale Kandidat gewesen. Aber nach dieser Sache damals ist seine verbleibende Lebenszeit sehr fraglich, ja, es ist überhaupt ein Wunder, dass er noch lebt!« Er rasselte ein bisschen traurig und schüttelte den Kopf. Langes weißes Haar lag als Zopf auf seiner Schulter und wackelte in den Spitzen mit. »Und noch viel mehr, dass er tatsächlich einen Schüler aufgenommen hat. Er und ein Schüler! Ja, das ist wirklich was! Also vertraue ich dir den großen Zauber an, dass du ihn pflegst und auf ihn achtest. Solange dein Meister und Master Rue dir noch zur Seite stehen, wird es auch sicher nicht so schlimm …« Er hielt kurz inne, er wusste, dass es nicht stimmte. Und als er die zusammengeballten Fäuste seines Auserwählten sah, litt er einmal mehr unter seiner Aufgabe. »Natürlich ist es eine große Bürde und Verantwortung, aber es ist notwendig für die Welt, dass jemand Vernünftiges sich dieser annimmt …«

»Die Welt kümmert mich nicht!« widersprach Harmony mit zitternder Stimme. »Ich will nicht ständig um mein Leben fürchten müssen. Ich will nicht, dass meine Entscheidungen die ganze Welt betreffen. Ich will so eine wichtige Verantwortung nicht! Ich bin nicht mal ein guter Zauberer …«

Der Alte packte ihn zornig erneut am Arm und zog sich daran hoch, um ihm ins Gesicht zu sehen. Doch seine Züge milderten sich, als er nicht etwa Trotz oder Ärger in den Augen des Jungen sah, sondern Angst. Es war nicht nur die Verantwortung oder die Unruhe und Kämpfe, die in sein Leben treten würden, sondern viel mehr die Angst vor der Dunkelheit selbst. Er war Zauberer geworden um der Dunkelheit davon zu laufen, seiner erblindenden Mutter, einer Neumondnacht ohne Sterne, und schon jetzt in der kurzen Zeit, die er mit dem Buch konfrontiert war, nagte dessen von Dunkelheit und Verzweiflung durchtränkte Aura an seiner Seele wie nie etwas zuvor. Aubrey Vane sah ihn eindringlich an. »Es stimmt, dass deine Fähigkeiten noch zu wünschen übrig lassen, aber Ellary hat dich auch noch wenig gelehrt und du hast durchaus Talent. Außerdem kennst du dich mit Büchern aus wie wenige Wächter zuvor und in meinen Augen ist das die vielleicht größte Gabe, die ein Wächter haben kann!« Er hatte recht, er hatte ja recht mit dem, was er sagte. Das Holy Dark war zu bedeutsam, um es einfach irgendwem zu überlassen, aber doch auch nicht ihm! Harmony konnte das Gefühl, das seine Brust zuschnürte, kaum ignorieren und allein der Gedanke, es würde immer so sein, sobald er das Buch besaß, ließ ihn den Kopf schütteln. »Harmony Snow!!«, fauchte der Alte und funkelte jetzt böse. »Ich verbiete dir Nein zu sagen!«

So sagte Harmony Snow gar nichts und wandte den Blick ins Ungewisse. Er wusste, er konnte nicht ablehnen, wenn er nur einen Funken Verstand hatte und diese Welt liebte. Ein anderer Teils seines Verstandes liebte aber das eigene Leben. Nach einigen Rasselgeräuschen fühlte er einen leichten Schmerz in der rechten Hand. Master Vane hatte für ihn entschieden, ihm in den Finger geschnitten und begonnen mit seinem Blut in das Buch zu schreiben. Auf der Seite stand schon eine ganze Liste mit Namen und Daten, die wohl den früheren Wächtern gehörten. „Aubrey Vane 1802 – 1870“ stand da im Blut des Alten. Und ganz frisch „Harmony Snow 1870 – “. Er pustete etwas, klappte das Buch dann zu, wickelte es wieder sorgfältig in das Tuch und übergab es in die Hände seines Nachfolgers. »Es gab nicht viele Wächter, die dieses Buch lesen konnten. Du bist mit Sicherheit einer von ihnen, also nutze dein Talent sorgfältig«, sprach er und schlurfte ein paar Schritte rückwärts. »Ansonsten gibt es nicht viel dazu zu sagen. Sei nachsichtig mit ihnen, sie wissen es nicht besser. Und pass gut auf dich auf. Auf euch.« Er musterte den Jungen noch einmal aus der Entfernung, wie um seine Entscheidung zu überprüfen. Er war schon recht groß, aber schlank, so schlank und zierlich, dass man ihn bald für ein hübsches Mädchen halten könnte. Das leicht gewellte schwarze Haar und die großen dunkelblauen Augen taten ihr Übriges dazu. Nein, der alte Zauberer war nicht glücklich mit seiner Entscheidung. Hätte es eine andere sinnvolle Möglichkeit gegeben, wie gern hätte er ihm dieses Schicksal erspart. Und doch war er glücklich, dass ihm wenigstens dieser eine Weg geschenkt wurde. Um ein Haar wäre Lord Ardath’s Plan erfolgreich gewesen … Er seufzte. »Ich werde dich jetzt wieder in das Haus deines Meisters schicken.«

Harmony starrte noch auf das eingewickelte Buch in seinen Händen und hörte kaum, was der Alte sagte. Das Haus seines Meisters, ja, das hier hatte eher den Geschmack eines schlechten Traumes, den er draußen auf der Treppe träumte, als den der Realität. Trotz allem fühlte sich das Pochen seines Herzens so wirklich an, dass es schmerzte. Als er aufblickte, sah er gerade noch den hinter Nebel verschwimmenden Schatten des ehemaligen Wächters und mit dem nächsten Wimpernschlag befand er sich wieder inmitten des Gartens seines Meisters. Rundherum grün und rosa und der betörende Duft der Blüten und der ganz blaue Himmel hoch über ihm. Wie erleichternd es war, wieder in den Himmel blicken zu können! Und so viel Luft. Nichts. Es schien, als wäre nichts passiert und doch war da dieses unangenehme Kribbeln in seinen Fingerspitzen und das schmale Büchlein mahnte ihn hartnäckig. So bemerkte er auf einmal eine flinke Regung in einem Augenwinkel, doch hatte er seinen Körper noch nicht so weit unter Kontrolle, dass er schnell genug reagieren konnte. Er stolperte rückwärts, versuchte noch sein Schwert zu ziehen, wurde aber gleichzeitig grob am Arm gepackt und von einem heftigen Stoß ins Gesicht zurückgeworfen. Sein Knochen machte ein grässliches Geräusch und ließ ihn laut aufschreien.

»Oha«, machte der Angreifer fast anerkennend. »Du bist nicht mal die Hälfte von dem, was ich erwartet hatte.« Er löste seinen Griff, woraufhin Harmony ins Gras fiel, und bückte sich nach dem Buch, das dessen rechte Hand noch immer festhielt. Doch der Junge teilte seine Meinung keineswegs. Er schnappte nach Luft und aus dem Kribbeln seiner Rechten heraus entstand aus einer kleinen Bewegung ein Luftzug wie eine Klinge und von einer Schärfe, die ihn selbst erstaunte und den Fremden an der Brust traf. Mit einem Fußtritt setzte er nach und das kurze Wanken des anderen war ihm genug, um wieder auf die Beine zu kommen und zur Flucht Richtung Haus anzusetzen. Ein anderer Weg kam ihm zurzeit nicht in den Sinn. Hinter ihm aber donnerte plötzlich eine zweite unbekannte Stimme. »Versuch erst gar nicht wegzurennen, Jungchen, dann passiert dir auch nichts!!« Noch im selben Moment schoss eine Flammenwand neben Harmony vorbei und setzte Master Rue’s geliebte Rosensträucher in Brand. »Gib uns nur das Holy Dark und wir lassen dich auch leben!!«

Endlich erreichte Harmony die Haustür. Sein linker Arm schmerzte zwar furchtbar, war aber, soweit er das beurteilen konnte, noch relativ einsatzfähig, also startete er einen erneuten Versuch sein Schwert erscheinen zu lassen. Er war kein wirklich guter Linkshänder, jedoch hatte er keinerlei Taschen in seinen Sachen, in denen er das Buch hätte sicher unterbringen können und entschloss sich deshalb, die gesunde, flinke Hand für die Magie und den direkten Schutz des Buches einzusetzen während die linke das Schwert führte. Oder es zumindest versuchte. Wenn doch seine Meister nur endlich aufkreuzen würden! Er biss sich auf die Lippen. Die beiden Männer kamen langsam die Treppe hinauf. Sie waren groß und kräftig, aber ordentlich gekleidet und überhaupt passte ihr Benehmen wenig zu ihrem Äußeren. Der zweite von ihnen mit einem schmalen Gesicht und rotem Haar trat zuerst ein. Er streckte die Hand aus und sprach fast versöhnlich. »Komm schon. Du wolltest das Ding doch gar nicht.«

Ist das so offensichtlich, dachte sich der Junge und ärgerte sich über sich selbst. »Tut mir leid, dass die Herren den langen Weg umsonst machen mussten«, antwortete er, »Sie könnten demnächst auch vorher ein Telegramm schicken, das ihren Besuch ankündigt.«

»Du dummer Bengel!!« brüllte der erste, zog seinerseits ein Schwert und hieb kräftig zu, dass Harmony und sein kaputter Arm selbst mit Hilfe des rechten Unterarms kaum standhalten konnten. Unter Schmerzen verzerrte er das Gesicht und Schweiß trat ihm auf die Stirn.

»Wenn Sie später wiederkommen, kann ich Ihnen vielleicht weiterhelfen.«, knirschte er.

»Was denn? Und warten bis du weißt, wie man das Ding benutzt?« fragte der Rothaarige. »Leider ist unser Meister nicht so geduldig. Er hat zu lange auf diese Chance warten müssen. Also sei endlich ein braver Junge.« Er holte aus und schlug Harmony mit der Faust ins Gesicht, sodass dieser zu Boden stürzte. Sein Schwert klirrte neben ihm, doch das Buch umklammerte er noch immer fest.

»Bedauernswerterweise bin ich nie in den Genuss guter Erziehung gekommen.« Gerade heute, fügte er in Gedanken hinzu, und man konnte das beinahe als Grinsen deuten. Als wütende Antwort erhielt er von dem ersten Fremden dessen Schwert in den Bauch. Der Junge brüllte auf. Gleich darauf machte sich der zweite Mann daran, die schmalen Finger von dem eingewickelten Buch zu lösen. »Nehmen wir einfach die ganze Hand mit«, hörte er den anderen noch sagen, dann wurde ihm schwarz vor Augen. Da war sie wieder. Die Dunkelheit. Die er so verabscheute. Die sternenlose Nacht, die er fürchtete. Die Sterne, ja, wegen ihnen war er Zauberer geworden. Um die Nacht zu erhellen. Um das Dunkel zu erhellen … Ja … das war der Grund, weshalb das Holy Dark bei ihm war. Das war der Grund, den er brauchte, der ihm genügte. Noch spürte er seinen Herzschlag und das Blut in seinem Körper, ein definitives Kribbeln in den Fingerspitzen und die Luft, die bei jedem Atemzug in seine Lunge drang, und sich beim Ausatmen in Wind verwandelte. Sein Wind. Und seine Dunkelheit.

Er öffnete die Augen. Es konnten nur wenige Sekunden vergangen sein, denn noch besaß er beide Arme. Mit einem Atemzug und dem Kribbeln erzeugte er eine heftige Windböe, die die überraschten Männer in die Bücherregale an der Wand fegte. Er selbst drehte sich mühsam um und versuchte davon zu krabbeln. Plötzlich vernahm er ein leises Zischen und ein weiteres Krachen und Aufschreien der beiden. Erstaunt wandte er den Kopf zurück und ließ sich auf der Stelle wieder auf den Boden sinken, so groß wurden Erstaunen und einen Augenblick lang auch Erleichterung. Zwischen ihm und den feindlichen Zauberern stand ein schlanker junger Mann ganz in Schwarz, aber mit silberfarbenem Haar und einer langen weiß schimmernden Klinge in der Hand. Um ihn herum säuselte ein dünner schwärzlicher Nebel, der sich in anderen Stellen des Raumes verdichtete und Züge von Lebewesen erkennen ließ.

Der Fremde erwiderte den Blick einen Moment lang. Dann hob er sein Schwert an, der Nebel quirlte auf. Die Männer hatten sich inzwischen wieder aufgerichtet, aber an ihren Gliedmaßen klammerten schon die mehr und mehr grotesk abscheulich geformten Kreaturen aus dem Nebel und Schrecken trat in ihre Augen. Es folgte eine schnelle Bewegung und ein einziger schwungvoller Schwerthieb durchschnitt die Körper beider, sodass ihr Blut weit durch die Küche spritzte. Mit einem dumpfen Geräusch und dem Rascheln von Papier fielen sie nieder.

Ruhig ließ der junge Mann sein Schwert wieder in die Scheide gleiten und einen Moment noch verharrte er vor seinem Werk, bevor er sich umdrehte und auf Harmony zuging. Dieser saß wie erstarrt auf dem Boden. Aus seinem Gesicht war alle Farbe gewichen, stattdessen tropfte ihm Blut von der Wange und auch das weiße Hemd war übersät davon. In der rechten Hand hielt er das Buch, die Fingergelenke wurden bereits bläulich. Wortlos schaute der Fremde einige Sekunden auf ihn herab, dann wandte er sich zum Gehen und nah bei ihm sammelten sich die wieder in Nebel aufgelösten Gestalten mit leisem Wispern. Plötzlich machte er noch einmal kehrt. Harmony war aus seinem Schock erwacht und blickte ihn an. » Vielen Dank. Ich verdanke Ihnen mein Leben«, sagte er.

Der Silberhaarige sah ihn an. Die Sonne schien durch das Fenster hinter ihm und verdunkelte seine Vorderseite, ließ das Haar aufleuchten. In den hellgrauen Augen fand sich kein Zeichen einer Gefühlsregung. Aber genau das machte die unnahbare Schönheit und Eleganz seiner aus. Schließlich fragte er mit einer Stimme klar wie Eis: »Wie ist dein Name, neuer Wächter?«

»Harmony Snow«, antwortete dieser leicht überrascht und erneut kehrte eine Zeit lang Stille ein, in der sich beide anblickten. Dann löste der Fremde die Schwertscheide von seinem Gürtel und warf sie Harmony in den Schoß.

»Nimm es als Begrüßungsgeschenk des Dämonenprinzen.« Er trat einen Schritt zurück. »Von jetzt an solltest du dich davor hüten, noch einmal zu verlieren. Es wird dein Tod sein.« Ein Anflug eines Lächelns huschte über sein Gesicht und der Nebel um ihn herum drängte zum Aufbruch.

Der junge Zaubererschüler dagegen fühlte sich noch völlig überrumpelt von allem. »Warte!« rief er hastig. »Der Dämonenprinz, wie ist sein Name?«

Wieder kurzes Schweigen. »Juval Reva.«

Da er mit der linken Hand nicht mehr greifen konnte, löste Harmony erstmals die rechte von dem Buch und legte das Schwert neben sich auf den Boden. Dann nahm er das Buch erneut und stand auf. »Ich verspreche, ich werde nicht wieder verlieren, Juval.«

Von draußen wehte ein leiser Wind herein. »Hmm«, machte der Dämonenprinz noch und mit einer Wolke, die sich eben vor die Sonne schob, waren er und sein Gefolge verschwunden.

»Was für ein Lächeln …«, echote Harmony zu sich selbst, tappte ein paar Schritte rückwärts bis er die Wand erreichte und ließ sich an ihr nieder. »Was für ein Tag …« Die vier Leichenteile vor zerschmetterten Bücherregalen, in Blut getränktes Papier. Ihm wurde übel und er schloss die Augen. Das Kribbeln seiner Finger ließ endlich nach, aber die Schmerzen blieben vorerst noch hintergründig. Im Moment fühlte sich er nicht in der Lage überhaupt etwas zu fühlen. Selbst das Holy Dark schien ruhiger geworden zu sein. Nach einer Weile war die Wolke am Himmel vorüber gezogen und die Sonne fiel wieder durchs Fenster auf sein Gesicht. So saß er und lauschte nur seinem Atem und dem kontinuierlichen Herzschlag und war bei jedem neuen erleichtert, dass er noch lebte.

Irgendwann drang eine Reihe von Geräuschen an sein Ohr und ein neuer Schatten fiel über ihn. Hände auf seinen Schultern, die ihn rüttelten. Eine vertraute Stimme. Er öffnete seine Augen und lächelte seinen Meister an. »Du kommst spät, alter Mann …«

Ellary Mare nahm seinen Schüler in den Arm und streichelte sein Haar. »Was hast du nur wieder angestellt, Junge.«

»Weil du mich nicht mitnehmen wolltest.«

»Ja …«
 

*
 

Eben noch hatten sie sich angeregt über die erstaunlichen Errungenschaften der Fotografie unterhalten, während sie einen weiten hellen Gang im Hauptgebäude der RA entlang schlenderten, als Master Zenon plötzlich stehen blieb und nach Rue’s Ärmel griff. Im selben Moment erlosch die Magieblase um sie herum, die den Schall auffing, und die zuletzt gesprochenen Worte echoten laut durch den Gang. Noch bevor Master Rue reagieren konnte, taumelte sein Freund und stützte sich an der Wand ab, die Augen geweitet und blutunterlaufen. »Zenon! Was ist los?!« Rue packte ihn an den Schultern.

Mit zitternden Händen und bleichem Gesicht sah Zenon ihn an. »Es schmerzt so sehr …«

»Was?«

»Du spürst es nicht? Sie sind so laut …« Er unterdrückte einen Würgereiz.

»Nein, ich spüre nichts. Was meinst du? Einen Zauber? Ein …« Er hielt inne. Zenon’s Reaktion ließ eigentlich nur auf eines schließen. Er lauschte. Jetzt nachdem er wusste, wonach er suchen sollte … Eine Gänsehaut fuhr über seinen Rücken. »Ja, du hast recht … Es ist da. Heftiger als sonst. Viel … heftiger.« In Rue’s Stimme legte sich ein leidvoller Ausdruck. »Dann ist es ein neuer Wächter …?«

Zenon schlug die Hände vors Gesicht. Seine Tränen mischten sich mit denen des Holy Dark.

»Es ist nicht deine Schuld, Zenon, so oder so …«, er versuchte ihn zu trösten, doch die richtigen Worte kamen ihm nicht in des Sinn. Es gab sie nicht. Er wusste, in gewisser Weise war es wohl Master Zenon’s Schuld gewesen, trotzdem … Es nach all den Jahren einen Fehler zu nennen … Der leise Widerhall von Schritten ließ ihn aufschrecken.

Bemerkt blieb der Mann stehen. Seine langen blonden Haare verschmolzen teils mit dem weißen Licht. »Doch die ist es«, erhob er seine Stimme, laut und klar. Wie die strengen Züge seines Gesichts. »Du siehst sehr glücklich aus, Zenon. Richtig, du hast allen Grund zur Freude.«

»Lord Ardath!« begann Master Rue, doch ein Blick des Zauberers ließ ihn verstummen.

»Noch hast du die Möglichkeit deinen Fehler zu bereinigen, Zenon.«

Der junge Mann blickte auf. Seine Brust war noch immer schmerzverkrampft, doch mithilfe der Wand stand er aufrecht. »Das kann ich wirklich nicht tun, Meister.«

»Du kannst nicht …«, wiederholte Ardath regungslos. »Nun gut, heute ist erst der Anfang. Solltest du deine Entscheidung noch einmal überdenken, lass es mich wissen. Im anderen Fall gibt es zahlreiche Personen, die diese Aufgabe gerne annehmen werden.« Er schweifte die beiden mit einem kalten Blick, wandte sich ab und entfernte sich mit leisen Schritten.

»Rue, du solltest dich beeilen und nach ihm sehen …«, richtete sich der dunkelhaarige Zauberer an seinen Freund und machte nebenbei eine Handbewegung, die den Zauber wiederherstellte, welcher die Worte davon abhielt durch den ganzen Gang zu hallen.

»Hm. Vivyan ist sicher schon da. Außerdem …« Er lächelte leicht verzerrt. »… hab ich etwas Angst vor ihm.«

»Rue …«

Er sah zu Boden. »Es ist nur … dich so zu sehen … Allein der Gedanke daran, dass es ihm noch viel schlimmer geht … Ich … Ich kann es wirklich nicht gut ausdrücken.« Er seufzte und nahm Zenon’s Hand, deren Blutgefäße noch deutlich hervorstanden. »In jedem Fall, sieh es nicht als Fehler an. Ich kenne dich gut genug, um zu wissen, dass du es nicht fertigbringen wirst, es von ihm zu fordern. Deswegen werde ich dich auch nicht bitten müssen, nicht das Schwert gegen ihn zu erheben. Aber das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum du es plötzlich so intensiv spürst. Deswegen sieh es nicht als Fehler an. Für dich und für mich ebenso. Denn die vergangenen elf Jahre waren die besten meines Lebens, sie einen Fehler zu nennen …« Das weiße Licht schimmerte sanft in den blauen Augen. Er hatte sich entschieden. »Es ist egal, wer es sein wird, der ihn herausfordert. Vor Harmony wird er mir begegnen.« Er ließ Zenon’s Hand los und wandte sich ostwärts zum Gehen. »Im Gegensatz zu dir, werde ich das, was ich fürchte, mit ganzer Liebe umarmen.«

Nach kurzer Zeit verschwammen Rue’s Umrisse im Licht und Zenon blieb allein zurück. Er glitt an der Wand hinunter und blieb sitzen. In der weiten, Licht durchfluteten Einsamkeit dieses Ganges irgendwo auf dem großen Gelände der RA. Irgendwo. Sein Körper schmerzte noch immer leicht, wie ein Echo. Sein Herz fühlte sich betäubt. Unfähig eines klaren, in Worte fassbaren Gedankens. Nur Schemen, in weiß verhüllte Dunkelheit. Er ließ den Kopf auf seine Knie sinken. Das Zittern der Finger. Nichts als Weiß.



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  Kazu-chanX
2009-09-03T13:11:39+00:00 03.09.2009 15:11
Hm, also bisher verstehe ich auch noch nicht gerade viel. Es sind so viele Namen, ist schwierig, sich die alle zu merken. Aber die sind total toll, wie kommst du auf solche Namen, supa.^^ Auch die bildliche Sprache gefällt mir. :)
Ich les bald weiter.^^
Von:  mikar
2008-12-16T20:49:38+00:00 16.12.2008 21:49
So, der zweite Teil ist da. Was soll ich sagen? Man erfährt irgendwie viel und irgendwie auch nicht xD. Das ist spannender als ein überzogener Spannungsbogen. Ich frag mich gerade, warum Juval ihm geholfen hat. Und was genau Zenon damit zu tun hat. Und Rue (toller Name übrigens, auch wenn sich das deutsche "Straße" irgendwie seltsam anhören würd). Die Namen allgemein sind tollig *-*. Ich mag weiterlesen =)
mikki
Von:  mikar
2008-12-03T16:56:31+00:00 03.12.2008 17:56
Gut, das ist ganz anders und doch völlig ähnlich. Bücher in einer Geschichte, die kann nur gut sein. Und ich mag Harmony <3 (allein schon der Name...). Und ich glaube, von der Geschichte möchte ich mehr wissen. So etwas habe ich noch nie gelesen, das kommt nicht oft vor und sehr gut. Deine Charaktere gefallen mir, du hast einen wahnsinnigen Schreibstil, den ich so auch noch nie gelesen hab und ich freu mich nach diesem Cliffhanger schon auf die Fortsetzung.
mikki


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