It's not over yet
Aro
Schon als ich Carlisle bei meinen Brüdern sitzen sah, seinen gequälten, oder vielleicht ein wenig ängstlichen Gesichtsausdruck registriert hatte, wurde mir klar, dass ich denselben Fehler wie bei Edward gemacht hatte.
Ich unterschätze sie.
Alice hatte mir Jahrzehnte zuvor einen Einblick in ihre Gedanken gewährt, der mir viel über sie und ihre Persönlichkeit verraten hatte. Eine Information, die ich bis heute sehr hilfreich fand war die, dass sie alles tun würde, um die, die ihr lieb waren, zu retten.
In diese Hinsicht war sie ihrem Bruder sehr ähnlich, nur dass er klarere Prioritäten gesetzt hatte. An erster Stelle hatte bei ihm seine Partnerin, das Menschenmädchen gestanden. Vielleicht war es ein Fehler gewesen denselben Rückschluss bei Alice zu ziehen und sie mithilfe von Jasper nach Volterra zu zwingen.
Oder vielleicht hatte sie sich auch einfach zu sehr verändert.
Oder dieser Jasper hatte mehr Einfluss und Überzeugungskraft, als ich angenommen hatte. Eine Schande, dass ich mich nie näher mit ihm unterhalten habe. Sogar als er sich zu der Hochzeit vor knapp hundert Jahren hier aufgehalten hatte, hatte ich meine Chance nicht genutzt.
Ich war ärgerlicher Weise zu selbstsicher gewesen. Wenn ich damals gewusst hätte, wie sich alles weiterentwickeln würde – so gar nicht nach meinem Plan – dann hätte ich mich damals schon mit ausnahmslos jedem Mitglied dieser Familie unauffällig um einiges näher vertraut gemacht.
Aber dann war diese ärgerliche Sache mit Bella dazwischen gekommen.
Ich hatte sie nicht umbringen wollen, wirklich nicht.
Dafür war ich viel zu neugierig gewesen, was wohl aus ihr werden würde, wenn die erst einmal die Unsterblichkeit erlangt hätte. Das einzige, was ich wieder ins rechte Licht hatte rücken wollen, war die Machtverteilung.
Die Cullens waren zu groß und durch zu mächtige Talente ausgezeichnet, als dass man sie unbeobachtet hätte lassen können. Gerade ihre Fähigkeiten hatten sie dazu verpflichteten sich der Garde anzuschließen, um die ihren zu schützen, aber bis zum Schluss hatten sie sich geweigert.
Es war Zeit gewesen dieser Willkür Einhalt zu gebieten.
Zu lange waren sie zu unabhängig gewesen, deshalb hatte ich darauf bestanden, dass sie hier in Volterra blieben, bis aus Isabella ein Vampir geworden war. Um sie auf ihre Position zurückzuweisen. Die Idee, dass ich sie selbst verwandeln könnte, war mir erst später gekommen.
Auf diese Art und Weise konnten die Volturi zeigen, dass sie das, was geschah, duldeten, aber jeder Zeit nach ihrem belieben darauf Einfluss nehmen konnte. Die Idee war wirklich gut gewesen, daran ließ sich nicht rütteln.
Aber ihr Blut…es war so unglaublich köstlich gewesen...
Während ich Platz nahm und Carlisle ein freundliches Lächeln schenkte, rief ich mir den Geschmack ins Gedächtnis.
Wahrscheinlich war es unhöflich, jemandem gegenüber zu sitzen und sich währenddessen daran zurückzuerinnern, wie gut seine Tochter geschmeckt hatte, als man ihr den letzten Tropfen Blut aus den Adern gesogen hatte.
Immer wenn ich daran zurückdachte, viel es mir schwer, es zu bereuen.
Sie hatte so gut geschmeckt.
Aber ich musste doch einräumen, dass es nicht gut gewesen war, dass ich sie schließlich doch umgebracht habe. Anfangs hatte ich es nicht für allzu schlimm gehalten, ich war mir sicher gewesen, dass Edward jetzt nichts mehr hatte, was ihn bei seiner Familie hielt. Ich war mir sicher gewesen, dass ihre Anwesenheit ihn nur an das erinnert hätte, was er verloren hatte und dass er sie deshalb meiden würde.
Nach ein paar Jahren der Trauer würde er gewiss nach Volterra zurückkehren, angelockt von der Macht, die ihm demonstriert worden war – ich war mir so sicher gewesen. Doch als er dann nach zehn Jahren tatsächlich zurückgekehrt war, hatte ich in seinen Augen nur eines gelesen: Hass.
Aber ihm schien klar gewesen zu sein, dass er den Volturi nichts entgegen zu setzen hatte. Als ich vor kurzem dann erfahren habe, dass er es tatsächlich geschafft hat, sich das Leben zu nehmen, wurde mir erst das volle Ausmaß meines Fehlers bewusst.
Er war nicht wie so viele andere Vampire gewesen, die ihren Partner zwar liebten, aber deren wahren Liebe der Macht galten…er war ein Vampir gewesen, der nichts anderes begehrte als dieses Mädchen.
Und in dem ich sie ihm genommen hatte, hatte ich mein einziges Druckmittel gegen ihn verloren.
Eine sehr ärgerliche Sache, wie ich inzwischen zugeben muss. Diese Fähigkeit des Gedankenlesens, die er besaß, wäre eine perfekte Ergänzung zu der meinen gewesen. Wer konnte schon sagen, wie lange ich jetzt würde warten müssen, bis mir wieder ein solches Schmuckstück unter die Finger kam?
Das einzige, was mir für den Moment noch geblieben war, war seine Schwester. Sie würde es mir ermöglichen in die Zukunft zu sehen, sie würde mir dabei helfen, unsere Sippe zu schützen.
Es war ihre Pflicht eine solche Gabe uns zur Verfügung zu stellen und trotz allem, was ihrem Bruder zugestoßen war, weigerte sie sich. Als Alice nach Volterra gekommen war, hatte ich mich für ein paar Sekunden der Illusion hingegeben, dass sie freiwillig zu uns kommen würde, aber mir war schnell bewusst geworden, dass dem nicht so war, dass ich sie würde zwingen müssen.
Und zwar bald, damit nicht noch einmal eine solche Tragödie geschah. Das sie allerdings Carlisle hierher geschickt hatte, anstatt selbst zu kommen um ihre Familie zu schützen, hatte ich nicht erwartet.
Dumm war sie nicht.
Wenn irgendjemand meine Brüder dazu überreden konnte ihre Familie ihren Frieden zu geben, dann Carlisle. Er war der einzige, dem die beiden eventuell zuhören würden und dass er sich als erstes an Gaius und Marcus gewandt hatte, war auch geschickt. Ja, ich musste mir wohl oder über eingestehen, dass ich diese Runde verloren hatte.
Aber was war schon eine Runde in einer ganzen Schlacht?
Für den Augenblick blieb mir auf jeden Fall nichts anderes übrig, als mich reumütig zu geben und Carlisle zu beteuern, dass es niemals in meiner Absicht gelegen hatte, seiner Familie schaden zu zufügen. Das entsprach sogar der Wahrheit. Ich wollte ihn nicht in irgendeiner Art und Weise verletzen, das einzige was ich wollte, was ich brauchte, war Alice.
Der Rest war lediglich Mittel zum Zweck.
Während ich den anderen Gesellschaft leistete, wurde schnell deutlich, dass Markus und Gaius sich vorerst auf Carlisles Seite geschlagen hatten. Ich wusste, dass sie ihn mochten, auch wenn sie ihn ein wenig seltsam fanden und dass sie die Gefahr, die seine bis vor kurzem immer größer werden Familie für uns bedeutete hatte, nicht hatten wahrhaben wollen. Außerdem hatten sie noch immer ein schlechtes Gewissen, weil sie sich mit dafür verantwortlich fühlten, dass Edward sich umgebracht hatte.
Auch wenn sie das niemals zugeben würden. Das würde eine zu große Schwäche offenbaren. Aber mir konnten sie nichts verheimlichen.
Es würde eine Weile dauern, bis sie das ganze aus den Augen lassen würden und ich wieder freier agieren konnte. Das bedeutete nicht, dass Alice gewann, es bedeutete lediglich, dass ich Zeit verlor.
An sich keine schlimme Sache, Zeit hatte ich mehr als genug, aber die jüngsten Ereignisse hatten gezeigt, dass sich einfaches warten nicht immer lohnte.
Nein, ich würde handeln müssen, sobald sich die Möglichkeit bot.
Sobald meine Brüder mich aus den Augen lassen würden, mich nicht mehr argwöhnisch betrachten würden, würde ich das tun, was schon immer meine Aufgabe gewesen war. Unseren Clan zu schützen, damit er die Vampire schützen konnte.
Manchmal war es notwenig solche Dinge zu tun, auch wenn dafür Opfer gebracht werden mussten, die nicht unbedingt wünschenswert waren.
Irgendjemand musste es tun und ich würde mich der Aufgabe annehmen. Irgendwann, auch wenn ich noch nicht sagen konnte wann, werde ich ihr gegenüber stehen und sie bitten, mit nach Volterra zu kommen. Und wenn sie sich weigern sollte, dann werde ich sie mitnehmen und wenn sie sich wehren sollte, dann würde ich sie töten.
Ich konnte nicht dulden, dass ein Vampir, der in der Lage war in die Zukunft zu schauen und die Pläne andere, insbesondere der Volturi zu sehen, außerhalb der Garde, in der ich ihn kontrollieren konnte, existierte.
Es war zu gefährlich.
Alice wusste genau, dass sie mir nichts entgegen zu setzen hatte, das war auch einer der Gründe dafür, dass ich jetzt Carlisle gegenüber saß und nicht ihr.
Ihr war bewusst, dass sie keine andere Wahl gehabt hatte, als sich zu verstecken.
Doch jetzt, jetzt da Carlisle die anderen auf seine Seite gezogen hatte, konnte sie mir sogar vor der Nase herumtanzen ohne dass ich etwas dagegen machen konnte.
Ich würde warten müssen.
Mindestens zwanzig oder dreißig Jahre.
Das war nicht geplant gewesen und das nervte mich.
Aber dennoch würde ich nicht aufgeben, irgendwann werde ich sie wieder treffen, wenn niemand sich mehr an die Sache erinnert und dann wird sie mein werden, damit unsere Talente endlich die Möglichkeit hatten sich zu ergänzen, so wie es schon seit Jahren sein sollte.
Alice
Ich spürte wie meine Muskeln sich kurz anspannten, aber schon nach ein paar Sekunden war es vorbei. Jetzt wusste ich immerhin, warum mir die Chance vergönnt war, eines Tages gegen Aro zukämpfen.
Sein Ego ließ nichts anderes zu.
Er wollte mich in seiner Garde haben und wenn er mich mithilfe meiner Familie nicht erpressen konnte, weil Markus und Gaius ihm einen Riegel vorschoben, dann würde er sich halt eine andere Möglichkeit suchen.
Und jetzt war er zu dem Schluss gekommen, dass er mich notfalls auch mit Gewalt dazu bringen würde, sich ihm anzuschließen. Ich öffnete die Augen und starrte vor mich hin.
Ich war alleine.
Nachdem ich den anderen erzählt hatte, dass Carlisle lebte und sein Ziel erreicht hatte, waren sie nacheinander verschwunden.
Auch Jasper.
Vermutlich wollte er mich für eine Weile alleine lassen, bevor wir nachher jagen gehen wollten. Ich war ihm dankbar dafür, denn ich hatte noch keine Ahnung, wie ich ihm erklären sollte, dass irgendwann der Tag kommen würde, an dem ich Aro im Kampf gegenüber treten musste.
Würde er mich gehen lassen?
Ich zog die Beine an meinen Körper und schlang die Arme um meine Knie.
Es war noch nicht vorbei.
Noch lange nicht vorbei.
Wenn sich dieser machtbesessene Vampir erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, ließ er so schnell nicht wieder davon ab, da war ich mir sicher.
Er würde nicht vergessen.
Niemals.
Er würde warten, wenn nötig, hunderte von Jahren nur um mir zu zeigen, wo ich hingehörte und dass ich seinen Befehlen Folge zu leisten hatte.
Auf Dauer würde nur einer von uns weiter existieren können, denn mir war von Anfang an klar, dass ich lieber sterben würde, als mich für den Rest meines unendlichen Lebens Aro anzuschließen.
Erst in diesem Augenblick wurde mir bewusst, was das eigentlich bedeutete. Egal wie es kam und wie lange es dauern würde, irgendwann würde ich Aro, den König der Vampire, töten müssen um selber überleben zu können.
Es gab keinen anderen Weg.
Ich musste ihn umbringen, um mich selbst zu retten, denn für uns beide war in seiner Welt kein Platz.
Einer würde gehen müssen.
Den Gedanken, dass auch ich es sein könnte, schob ich beiseite.
Daran wollte ich noch nicht denken.