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Shiomari

Waffen, Brüder und andere Probleme
von

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Mondsilbertaufe

In fast schon guter, alter Tradition an dieser Stelle wieder einmal eine Warnung vorweg: Das folgende Kapitel enthält mit hoher Wahrscheinlichkeit Spuren von Kitsch, Schnulz und Sueness - ich hoffe allerdings, dass sich allergische Reaktionen darauf noch im erträglichen Rahmen halten werden und ihr mir infolge dieses Kapitels in Zukunft nicht untreu werdet.
 

LG
 

Zwiebel
 


 

Hinagiku und Inochiyume waren die Nacht durchgewandert, hatten am darauffolgenden Morgen nur eine kurze Rast eingelegt, um dem Pferd etwas Ruhe zu gönnen, und waren bald darauf wieder aufgebrochen. Inzwischen war es bereits wieder später Nachmittag und Inochiyume hatte zunehmend Mühe gegen ihre Erschöpfung anzukämpfen und weiterhin einen Fuß vor den anderen zu setzen. Aber noch dachte Hinagiku nicht daran erneut eine Rast einzulegen, da sie sich in den Kopf gesetzt hatte, ihren Bräutigam so schnell wie möglich einzuholen und ihm wobei auch immer beizustehen, denn dass er in Schwierigkeiten sein musste, davon war Hinagiku überzeugt. Allerdings verschwendete sie nicht eine Sekunde an den Gedanken, dass ihr angeblicher Verlobter alles andere als begeistert von ihrem Vorgehen sein könnte.
 

Am frühen Abend schließlich hatte die Prinzessin doch ein Einsehen und entschied, dass sie für diesen Tag weit genug gekommen waren, um in dieser Nacht ein Lager aufschlagen zu können. Allerdings hieß das für die Dienerin noch lange nicht, dass sie sich ausruhen konnte, stattdessen galt es auch einem nahen Gebirgsbach Wasser herbei zu schaffen und zu erhitzen, damit Hinagiku sich waschen konnte, anschließend musste Essen zubereitet und das Nachtlager für die Prinzessin gerichtet werden.
 

Nachdem das alles erledigt und auch der Rabe versorgt war, ließ Inochiyume sich todmüde auf dem Boden nieder, mit dem Rücken an einen Stein gelehnt und versuchte zu schlafen. Aber so müde sie war, konnte sie doch keine Ruhe finden und je mehr sie sich bemühte endlich einzuschlafen, umso weniger wollte es ihr gelingen, sodass sie schließlich mit einem Seufzen den Kopf gegen den Stein lehnte, die Augen wieder öffnete und hinauf in den sternenklaren Nachthimmel sah.
 

Der Mond war nur noch als schmale Sichel zu sehen, in ein, zwei Tagen würde Neumond sein, die dunkelste Zeit des Monats, hervorragend geeignet um zwei wehrlose Reisende zu überfallen. Inochiyume hoffte von ganzem Herzen, dass ihnen unerfreuliche Begegnungen erspart blieben, auch wenn Kaoru sie heimlich begleitete, wäre es besser wenn es nicht notwendig werden würde seine Anwesenheit zu enthüllen; und wenn es sich doch nicht umgehen ließe, hoffte Inochiyume, dass Kaoru allein gegen die Bedrohung würde ankommen können.
 

Da, sie tat es schon wieder: fruchtlose Hoffnungen nähren, statt sich mit dem abzufinden was war und das Beste daraus zu machen, wie es ihre Großmutter getan hätte. ‚Bā-chan…’, dachte Inochiyume mit einem wehmütigen Lächeln, wie es ihr jetzt wohl ging, ob sie, trotz der Einschränkungen die ihr das Alter aufzwang, vollkommen allein zurechtkam? Bestimmt, ihre Großmutter hatte schon ganze andere Sachen überlebt, als altersschwach in einem Dorf zu leben und ihre Nachbarn würden ihr doch sicher beistehen, wenn sie Hilfe brauchte.
 

Inochiyume fröstelte, die Nachtluft war unangenehm kühl und so machte sich das Mädchen die Mühe, noch einmal aufzustehen und aus ihrem schmalen Bündel eine dünne Decke zu holen, eingewickelt saß sie bald darauf wieder an den Stein gelehnt und hing Erinnerungen aus ihrer Kindheit nach. Wie ihre Großmutter ihr früher häufig Puppenspiele oder Tänze aus ihrer Gauklerzeit vorgeführt und auch beigebracht hatte, um sie aufzuheitern, abzulenken oder einfach weil Inochiyume sie darum gebeten hatte, ihr etwas vorzuführen.
 

Über diesen Erinnerungen dämmerte das Mädchen allmählich ein und ohne dass sie es noch bewusst bemerkt hätte, begann sie im Einschlafen davon zu träumen, dass sie wieder mit Ayako, Haru und Yūjō glücklich in der kleinen Hütte im Dorf lebte, vollkommen unbehelligt von menschenfressenden Monstern, heiratswütigen Prinzessinnen und schwertlüsternen Zauberern. Es mochte kein sonderlich aufregendes oder bemerkenswertes Leben sein, das sie führten, dennoch lag im Schlaf ein Lächeln auf Inochiyumes Gesicht, während sie tief in ihre Decke gekuschelt von einem lächelnden Blumenkönig, einer tanzenden Großmutter und einem fröhlich zwischen ihnen herum springenden Hund träumte.
 

Der nächste Morgen kam nur allzu schnell und mit ihm das Ende angenehmer Träume, stattdessen hieß es wieder gehorchen, dienen, wandern, aber all das war Inochiyume schon so gewohnt, dass sie es erledigen und gleichzeitig ihren eigenen Gedanken nachhängen konnte.
 

Allerdings war sie es nicht gewohnt, dass einer ihrer tierischen Patienten zu ihr sprach und so hielt sie das heisere Krächzen zunächst nur für einen Ausbund ihrer Fantasie, bevor sie realisierte, dass der Rabe, den sie erneut versorgte, nachdem sie die morgendlichen Wünsche der Prinzessin erfüllt hatte, tatsächlich zu ihr sprach. Im ersten Moment verblüfft hielt sie in ihrer Bewegung inne und starrte den Vogel in ihrem Schoß schweigend an, während der mit seiner krächzenden Stimme wiederholte: „Morgen ist Neumond.“ Ohne auf die Tatsache einzugehen, dass der Rabe plötzlich sprechen konnte, da sie in letzter Zeit zu viel Ungewöhnliches erlebt hatte, als dass sie sich über etwas Derartiges noch längere Zeit wunderte, blinzelte Inochiyume kurz und fragte dann erstaunlich ruhig: „Warum sagst du mir das?“ Statt einer direkten Antwort fuhr der Rabe fort, als wäre er nie unterbrochen worden: „Wenn es dir gelingt in dieser Nacht an den Chūzenji-ko zu gelangen, werde ich dir als Dank für deine Hilfe etwas zeigen, dass nur einmal alle tausend Jahre stattfindet.“ Inochiyume sah den Vogel zweifelnd an und erklärte: „Das ist sehr freundlich von dir, aber wirklich nicht nötig, ich habe dir gern geholfen.“ „Du solltest dir deine Entscheidung gut überlegen, denn sie wird Auswirkung auf deine Zukunft haben“, sprach der Rabe noch immer als hätte das Mädchen ihm die ganze Zeit schweigend und aufmerksam gelauscht. Da der Rabe offenbar ohnehin nicht an den Worten der Kahi interessiert schien und in diesem Moment Hingaiku zum Lager zurückkehrte, nachdem sie sich erleichtert hatte, schwieg Inochiyume auf die letzten Worte des Raben und kümmerte sich stattdessen darum das gepäck zusammenzupacken, sodass sie bald darauf ihre Reise fortsetzen konnten.
 

Während ihrer Wanderung zögerte Inochiyume gelegentlich, da sie das Dorf zuvor noch nie verlassen hatte und sich lediglich auf die Informationen verlassen konnte, die sie von Kaoru und ihrer Großmutter erhalten hatte, um den Weg nach Kinai zu finden. Einmal hatte sie sich bereits für eine Weggabelung entschieden und war auch schon einige Schritte gegangen, als Hinagiku ihr plötzlich befahl den anderen Weg einzuschlagen. Erstaunt sah Inochiyume kurz zu der reitenden Prinzessin auf, sich im nächsten Moment jedoch widerspruchslos fügend, während sie sich im Stillen darüber wunderte, warum Hinagiku-hime diesen Umweg in Kauf nahm, statt auf dem kürzesten Weg Richtung Kinai weiter zu reisen. Ihre Verwunderung wurde noch größer, als sie gegen Abend einen rings von Bergen umgebenen Fluss erreichten, der sich auf natürliche Weise zu einem langgestreckten See staute. Als sich Inochiyume bei einer kleinen Gruppe Händler, die ihnen entgegen kam, erkundigte, wie See und Fluss hießen, erfuhr sie, dass es sich um den Fluss Daiya und dessen See Chūzenji handelte.
 

Woher hatte Hinagiku-hime geahnt, dass Inochiyume der Chūzenji als zukunftsentscheidend prophezeit worden war, hatte sie das kurze Gespräch zwischen dem Raben und ihrer Dienerin belauscht? Aber warum sollte sich die Prinzessin die Mühe machen, diesen Ort aufzusuchen, der doch für sie von keinerlei Bedeutung sein dürfte? Inochiyume erhielt vorerst keine Antworten auf diese Fragen, sondern hatte sich wie stets zunächst um die alltäglichen Belange zu kümmern.
 

Erst als es bereits dunkel geworden war, Hinagiku sich schlafen gelegt hatte und zwischen den Bergen tiefe Stille herrschte, hatte Inochiyume genug Zeit für sich, um über die früher aufgetauchten Fragen nachzudenken. Doch auch dieses Mal gab es jemanden der ihre Aufmerksamkeit verlangte.
 

Hüpfend hatte sich ihr der Rabe genähert, dessen Verletzungen irritierend schnell heilten. „Komm, lass uns gehen. Es hat bereits angefangen“, krächzte er dem Mädchen zu und schien zu erwarten, dass dieses ihm Folge leistete. Für einen kurzen Augenblick zögerte Inochiyume, ob sie Hinagiku tatsächlich allein lassen sollte, um zu dem See hinunter zu gehen, dann jedoch entschied sie, dass sie nah genug sein würde, um zu hören, wenn die Prinzessin nach ihr rief und außerdem war doch sicher Kaoru irgendwo in der Nähe, um auf Hinagiku Acht zu geben. Also erhob sich Inochiyume von ihrem Platz, hob den Raben auf und lief seinen Anweisungen folgend Richtung See, bis sie auf einer nahen Erhebung zu stehen kam, die ihr ein beeindruckendes Bild bot: Mitten im Chūzenji-ko lag hell leuchtend, groß und rund die milchigweiße Scheibe des Mondes, während sich am Ufer des Flusses in majestätischem Schweigen eine Vielzahl durchscheinend blasser und zum Teil geflügelter Wesen von unglaublicher Zartheit versammelt hatten.
 

Beim Anblick des Mondes im Wasser des Sees hatte Inochiyume zunächst verwirrt gen Himmel gesehen, aber da war nichts zu entdecken. Wie der Rabe vorhergesagt hatte, war in dieser Nacht Neumond, der Himmel nur von unendlich vielen Sternen übersät und doch war im Wasser des Chūzenji ganz eindeutig der volle Mond zu sehen. Wie war so etwas möglich?
 

Plötzlich war im Gebüsch hinter Inochiyume ein Knacken zu hören, erschrocken fuhr das Mädchen herum, um zu sehen, was dieses Geräusch verursacht hatte. Aber sie konnte nichts entdecken und da sich der Laut nicht wiederholte, noch sonst etwas Besorgniserregendes geschah, wandte sich die junge Frau wieder um und sah erneut auf den Fluss hinab, wo die durchscheinenden Wesen begonnen hatten im Mondlicht zu baden.
 

Als die ersten schließlich wieder das Wasser verließen, hatten sie sich auf überraschende Art verändert: Waren sie vorher blass und kaum wahrnehmbar gewesen, wirkten sie nun jung, voller Leben und waren sie in all ihrer übernatürlichen Schönheit vollkommen sichtbar.
 

Während diese dem See entstiegenen Wesen unterdessen begannen am Ufer ein rauschendes Fest zu feiern, erklärte der Rabe in Inochiyumes Armen ruhig: „Das ist die Mondsilbertaufe, einmal alle tausend Jahre versammeln sich die Senjo dieses Landes hier an diesem Fluss, um auf ihre Art wiedergeboren zu werden. Senjo sterben nicht so wie Menschen es tun, sie verblassen ganz allmählich mit der Zeit, lösen sich nach und nach auf wie Nebelschwaden in der Sonne. Sie sind Wesen der Dämmerung und Nacht, der Mond gibt ihnen ihre Lebensenergie. Aber einmal alle tausend Jahre müssen, sie dieses Ritual vollziehen, um ihre Verbindung mit dem Mond zu erneuern, ihr Alter zu verlieren und ihre Magie zu verstärken. Es gibt nur wenige Wesen, die das Glück haben diesem Anblick beizuwohnen.“
 

„Sie sind wunderschön“, flüsterte Inochiyume, während sie weiter verzaubert die Vorgänge am Flussufer beobachtete, wo ein Teil der Senjo inzwischen kompliziert aussehende Reigentänze mit einer Anmut darbot, die einen im Innersten berührte und das Gefühl erzeugte, gleichzeitig lachen und weinen zu wollen, die Welt zu umarmen, weil es so herrlich war, am Leben zu sein.
 

Erneut erklang ein Knacken, dieses Mal gefolgt von einem Rascheln hinter Inochiyume, ohne dass das Mädchen dieses Mal darauf achtete, viel zu gefangen von dem Schauspiel vor sich. So zuckte sie gleich darauf erschrocken zusammen, als auf einmal neben ihr die Stimme Hinagiku-himes erklang, die mit sachlicher Neugier auf das Bild am Fluss hinabsah und sich an den Raben gewandt erkundigte: „Sag mir, was geschieht, wenn ein Mensch in dem Mondlicht baden würde?“ „Das weiß ich nicht, es ist bisher noch nicht geschehen. Die Wenigen, die es versucht haben, wurden von den Senjo daran gehindert und für ihre Frechheit bestraft.“ „Wie bestraft?“, verlangte die Prinzessin interessiert zu wissen, ohne den Raben eines Blickes zu würdigen, sondern weiter die Vorgänge unter sich studierend. „Sie wurden in tote Bäume verwandelt, die erst von ihrem Schicksal erlöst sein werden, wenn sie blühen.“
 

„Ist das denn je einem von ihnen gelungen?“, fragte Inochiyume neugierig nach, ungewollt Mitleid mit den bestraften Unbekannten empfindend und zugleich von der Erzählung des Raben fasziniert, die sie an alte Märchen erinnerte. „Nur zweien, die anderen könnt ihr da unten am Festrand stehen sehen“, krächzte der Rabe gelassen als Antwort und tatsächlich, wenn man nicht auf die Senjo selbst, sondern ihre Umgebung sah, konnte man sechs schlanke Bäume erkennen, die den Festplatz umgaben, deren blattlose Äste sich gen Himmel streckten und in dieser Nacht von einer Unzahl an Glühwürmchen erleuchtet waren.
 

„Gibt es denn eine Möglichkeit sie zum Blühen zu bringen?“, erkundigte Inochiyume sich, noch immer von dem Thema und dem Anblick der Glühwürmchen erhellten Bäume gefesselt, erhielt von dem Raben jedoch keine Antwort, da Hinagiku ihm zuvor kam und kühl erklärte: „Das ist völlig uninteressant, du wirst sie mit Sicherheit nicht retten können. Aber ich will wissen, was geschieht wenn ein Mensch in diesem Mondlicht badet. Wenn man von hier aus springt, müsste man genau im Mondwasser eintauchen, ohne dass die Senjo genug Zeit hätten, etwas dagegen zu unternehmen.“
 

„Verzeiht, Hime“, wagte Inochiyume besorgt zu widersprechen: „Aber seit Ihr sicher, dass es eine kluge Idee ist, das zu tun?“ „Das werden wir sehen, sobald du gesprungen bist“, erwiderte die Prinzessin ruhig und entschieden. „Ich?“, Inochiyume klang entsetzt, „aber warum sollte ich in den See springen, ich kann doch noch nicht einmal schwimmen?!“ „Du wirst springen, weil ich es dir sage und so schnell wirst du schon nicht ertrinken. Dazu an Land zu paddeln, wirst du ja wohl noch in der Lage sein“, die letzten Worte klangen, als hielte Hinagiku Inochiyume für ein äußerst nutzloses Lebewesen, um dessen Verlust es nicht sonderlich schade wäre. „Aber…“, versuchte sich Inochiyume hilflos zur Wehr zu setzen, erhielt jedoch nur den lapidaren Befehl: „Kein Aber, leg deinen Yukata ab und tu, was ich dir befohlen habe.“
 

‚Bā-chan, wo bin ich da nur reingeraten…’, dachte Inochiyume mit wachsender Verzweiflung, sie hätte sich in diesem Moment gern einfach der Prinzessin verweigert und wäre auf dem schnellsten Weg nach Hause zurückgekehrt, aber das wäre nicht nur ehrlos gewesen, sondern hätte auch den Tod für sie und ihre Großmutter bedeutet. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als zu tun, was ihr befohlen worden war, während ihr wieder einmal nichts anders als die Hoffnung blieb, dass die Sache gut ausging. Und so stand Inochiyume kurze Zeit später nackt auf der Erhebung über dem Chūzenji, während ihr Yukata ordentlich zusammengelegt neben ihr auf dem Boden lag und darauf der Rabe Platz gefunden hatte. Inochiyume zitterte leicht in dem kühlen Nachtwind, während sie hinab auf den See starrte und schließlich mit einem Stoßgebet an die Götter, sie diesen Sprung überleben zu lassen, dem Befehl Hinagikus Folge leistete.
 

Der Chūzenji-ko lag nicht weiter unter der Erhebung, es war also nur ein kleiner Sprung notwendig, um in das Wasser zu gelangen, aber dennoch schien für Inochiyume eine Ewigkeit zu vergehen, bevor sie schließlich in das kalte Wasser des Sees eintauchte und augenblicks in dessen eisiger Tiefe versank. Mit unbeholfenen Bewegungen, die noch zusätzlich durch die lähmende Kälte des Wassers erschwert wurden, versuchte Inochiyume wieder an die Oberfläche zu gelangen, während ihr gleichzeitig nur allzu schnell die Luft knapp wurde und ihre Lunge in dem Verlangen nach Sauerstoff zu schmerzen begann. Verzweifelt, weil sie trotz ihrer Bemühungen noch immer nicht die Wasseroberfläche erreicht hatte und in zunehmender Panik, weil sie keine Luft bekam, versuchte Inochiyume irgendwie aus dem Wasser herauszukommen, schließlich gegen den Reflex den Mund zu öffnen, um zu atmen, nicht mehr ankommend und auf diese Weise Wasser schluckend.
 

Gerade als sie glaubte, dass sie im Wasser des Sees, umgeben von milchweißem Mondlicht, sterben würde, spürte sie, wie jemand sie an den Armen packte, sie nach oben und schließlich Richtung Ufer zog, wo Inochiyume schließlich hustend und keuchend zusammengekrümmt liegen blieb und zu begreifen versuchte, dass sie noch lebte.
 

Unterdessen hatte Hinagiku gelassen die Vorgänge von der Anhöhe aus verfolgt. Als sie bei ihrer letzten Rast zufällig die Worte des Raben hörte, hatte sie, neugierig geworden, beschlossen herauszufinden, was es mit dieser Sache auf sich hatte; in der Hoffnung, dass sie die Andeutungen des Raben zu ihren Gunsten würde nutzen können. Im Moment schien es, als würden ihre Überlegungen von Erfolg gekrönt werden, während sie ruhig zusah, wie der schlanke Körper ihrer Dienerin Richtung Wasser fiel.
 

Die Senjo im See und am Ufer hielten erstaunt in ihrem Treiben inne, als könnten sie nicht glauben, was da geschah. Ebenso tatenlos zusehend wie Hinagiku, wie die Wasseroberfläche kleine Wellen schlug, nachdem das Mädchen darin versunken war. Dann jedoch kam wieder Leben in die Senjo, während die Prinzessin noch immer gelassen abwartete, ob Inochiyume wieder auftauchen würde. Als das nicht geschah, nahm Hinagiku für einen kurzen Moment verärgert an, dass das Mädchen doch ertrunken wäre, bis sie sah, wie zwei der Senjo, den Körper einer dunkelhaarigen, jungen Frau zwischen sich, dem Ufer zustrebten.
 

Als die beiden Nymphen Inochiyume aus dem Wasser zogen, weiteten sich Hinagikus Augen für einen Moment überrascht. Der gesamte Körper Inochiyumes schien für Augenblicke in einen silberweißen Kokon aus Licht eingehüllt zu sein, der sich schließlich wieder langsam in den Fluss zurückzog, als würde der Körper nach und nach von einem Stück verhüllenden Tuchs befreit werden. Was genau mit Inochiyume anschließend geschah, interessierte die Prinzessin nicht sonderlich, sie hatte gesehen, was sie sehen wollte: Das Mondlicht gab auch Menschen Schönheit, etwas anderes konnte der Lichtkokon nicht zu bedeuten haben und diese Schönheit wollte Hinagiku auch für sich haben, sicher dass ihr Haru anschließend umso mehr verfallen würde.
 

Die Senjo unterdessen hatten sich um Inochiyume versammelt, sich leise raunend unterhaltend und sich offenbar nicht Recht im Klaren darüber, was sie nun mit diesem Menschenwesen in ihrer Mitte anfangen sollten, als sie unerwartet ein weiteres Mal das Geräusch eines auf die Wasseroberfläche treffenden Körpers vernahmen.
 

Anders als das am Boden kauernde Wesen vor ihnen, hatte diese neuerliche Störung ihres Festes jedoch kein Problem sich im Wasser schwimmend fortzubewegen und selbstständig ans Ufer zu gelangen. Mit stolzer Würde verließ Hinagiku kurz nachdem sie in das Mondlicht getaucht war, den See wieder, während sie es genoss zu spüren, wie sich der Lichtkokon auf ihrer Haut langsam zurückzog, als wäre er kostbarste Seide, die über ihre Haut glitt.
 

Sobald sie den Fluss verlassen hatte, trat die Prinzessin mit hocherhobenem Haupt auf die Senjo und Inochiyume zu und äußerte an Erstere gewandt mit fürstlicher Herablassung in der Stimme: „Verzeiht die Unterbrechung eurer Feierlichkeit. Wir werden euch nun nicht länger stören“, ohne sich im geringsten darüber Sorgen zu machen, ob ihr diese Wesen schaden oder ihr Benehmen als Beleidigung auffassen könnten. Sie war die Fürstentochter, demnach hatten alle anderen ihr zu gehorchen.
 

Im nächsten Moment war sie nah genug herangekommen, um Inochiyume aus der Nähe zu sehen, und hielt abrupt inne. „Wie kann das sein, du siehst nicht im Geringsten besser aus als zuvor?!“, erklärte sie dann zornig und schien Inochiyume persönlich für dieses Versagen verantwortlich zu machen, bevor sie zurück zum Ufer des Chūzenji eilte, um sich in der spiegelnden Oberfläche zu betrachten. Mit enttäuschter Wut musste sie feststellen, dass sie sich ebenfalls kein bisschen verändert hatte, sie sah noch genau so aus, wie vor ihrem Bad im Mondlicht.
 

Unterdessen waren die Senjo untereinander offenbar zu einer Einigung gelangt, was mit den beiden Störenfrieden in ihrer Mitte geschehen sollte, denn nun trat ein trotz seines kindlichen Aussehens königlich wirkender Mann vor, dessen Haar und Haut ein blasses Blaugrün aufwiesen. Im Gegensatz zu seiner kühlen Erscheinung klang seine Stimme angenehm warm, was dem Inhalt seiner Worte jedoch nichts von dessen Bedeutungsschwere nahm. „Ihr habt es gewagt unser Fest zu stören. Wenn es auch nur eine Winzigkeit gibt, von der ihr glaubt, sie zu eurer Verteidigung vorbringen zu können, dann tut es jetzt.“
 

Bei diesen Worten hatte sie Hinagiku noch immer verärgert herumgedreht und erklärt: „Ich habe es nicht nötig mich zu verteidigen. - Dieser Umweg war vollkommen sinnlos, ich werde nicht noch mehr Zeit mit euren Spielchen verschwenden. Inochiyume, steh auf, wir gehen!“ Damit wandte sich die Fürstentochter ab und wollte zu ihrem Lagerplatz zurückkehren.
 

Sie kam allerdings nicht weit, denn obwohl keine der Senjo sich bewegt hatte, hielt Hinagiku plötzlich mitten in ihrer Bewegung inne, als wäre sie festgewachsen, und begann sich langsam und allmählich zu verwandeln, während der blaugrüne Mann in ihrem Rücken ruhig erklärte: „Du magst in der Welt der Menschen Rang und Namen haben, in unserer bist du nicht mehr als eine von vielen Tausendschön.“
 

Offenbar war das der Urteilsspruch, denn Hinagiku wurde mehr und mehr zu einer zierlichen, kleinen Blume mit weißer, vielblättriger Blüte, während Inochiyume noch immer versteinert dahockte und für einen Moment nicht wusste, was sie tun sollte. Dann jedoch, warf sie sich vor dem Kindmann auf die Knie und bat: „Sennyo-ō-sama, bitte verzeiht Hinagiku-hime ihr Vergehen. Sie hat es nicht aus Böswilligkeit getan, sondern für ihren Kyokon.“ Der Angesprochene ging nicht auf die angeblichen Beweggründe Hinagikus ein, sondern erkundigte sich stattdessen: „Was ist mit dir, welchen Grund hattest du in das Mondlicht zu springen?“ Inochiyume schluckte nervös, schloss kurz die Augen und flüsterte schließlich leise: „Ich hatte keinen Grund, Sennyo-ō-sama. Ich werde jede Strafe akzeptieren, die Ihr für angemessen haltet, ich bitte Euch nur darum, Hinagiku-hime ihre Reise unbehelligt fortsetzen zu lassen.“
 

Nach diesen Worten herrschte eine Weile lastende Stille, während die Senjo Inochiyume schweigend anstarrten. Schließlich ergriff der Feenkönig wieder das Wort: „So viel Selbstlosigkeit ist ungewöhnlich. Was bedeutet sie dir, dass du bereit bist, soweit für sie zu gehen?“

„Sie ist die Tochter meines Herrn und Fürsten, Sennyo-ō-sama, ich bin ihm verpflichtet. Nagasawa-kō wäre am Boden zerstört, wenn seiner einzigen Tochter etwas zustieße.“

„Du bist bereit für die, die dich gezwungen hat, zu bitten, nur aufgrund der Tatsache, dass du die Leibeigene ihres Vaters bist?“, der König klang erstaunt.

„Vergebt, Sennyo-ō-sama, sie hat mich nicht gezwungen und ihr Vater trägt dafür Sorge, dass die Menschen in meinem Dorf sicher leben können, wenn er nicht mehr in der Lage wäre, sie zu beschützen, was sollte dann aus ihnen werden?“

„Du bist also bereit, die Strafe auf dich zu nehmen, um das Wohlergehen deines Dorfes zu sichern“, fasste der Sennyo-ō Inochiyumes Worte noch einmal zusammen und erhielt darauf nur eine kurze, geflüsterte Bestätigung, während sie Inochiyume bemühte nicht vor Kälte mit den Zähnen zu klappern.
 

Unterdessen trat der Feenkönig ruhig auf Inochiyume zu, beugte sich zu ihr herab, legte einen Finger unter das Kinn der jungen Frau und hob auf diese Weise deren Gesicht an, bis sie einander in die Augen sehen konnten. „Ich werde deinen Wunsch erfüllen“, warm und sanft klang die Stimme des Kindkönigs, während er dem knienden Mädchen ernst in die Augen sah, „ich werde die Prinzessin verschonen und du wirst allein die Strafe für eure Tat tragen. Merke dir: Sie wird dir nicht dafür danken und das, was du dir am sehnlichsten wünschst, wird niemals in Erfüllung gehen.“ „Ich weiß, Sennyo-ō-sama“, erwiderte Inochiyume leise mit einem traurigen Lächeln, bevor sie hinzufügte: „Ich danke Euch.“
 

„Wissen und begreifen sind zwei verschiedene Dinge“, erklärte der Sennyo-ō kryptisch in gelassenem Tonfall, bevor er Inochiyumes Kinn losließ und wieder einen Schritt zurücktrat. Anschließend erklärte er: „Es steht euch frei zu gehen“, während sich zugleich Hinagiku wieder in ihr altes, menschliches Selbst zurückverwandelte und anschließend ohne ein weiteres Wort, als wäre sie nie durch den Zauber der Senjo aufgehalten worden, das Flussufer verließ und zu der Anhöhe zurückkehrte, auf der die beiden Frauen ihre Kleider und den Raben zurückgelassen hatten.
 

Hastig hatte sich Inochiyume erhoben, sich höflich verbeugte und war wortlos ihrer Herrin gefolgt. Auf der Anhöhe angekommen, hatte sie erstaunt festgestellt, dass der Rabe verschwunden war, es gab nicht den kleinsten Hinweis auf seinen Verbleib. Auch die Suche nach ihm, sobald sich das Mädchen wieder angekleidet hatte, blieb erfolglos. Inochchiyume kam nicht umhin bei ihrer Suche nachdenklich festzustellen, dass der Rabe so gut wie gar nicht versucht hatte, Hinagiku von ihrem Vorhaben abzubringen, sondern dass es im Nachhinein eher so schien, als wäre genau das, was Geschehen war, seine Absicht gewesen, auch wenn Inochiyume nicht verstand, was der Sinn hinter diesem Vorgehen gewesen sein mochte.
 

Als die Kahi ihre Suche schließlich aufgab und bevor sie wie Hinagiku-hime wieder in das Lager zurückkehrte, warf sie noch einen letzten Blick auf den Chūzenji-ko und dessen Ufer. Die Senjo, ebenso wie der im See liegende Mond, waren inzwischen genauso spurlos verschwunden wie der Rabe, als hätte all das nie existiert, als wäre es nur ein bizarrer Traum gewesen, hervorgerufen durch schlichte Übermüdung. Den einzigen Hinweis darauf, dass die vergangenen Geschehnisse kein Traum sondern Wirklichkeit gewesen waren, gaben die sechs den Festplatz begrenzenden Bäume, deren tot gen Himmel ragende Äste auf einmal begonnen hatten zartes Grün zu treiben und Blütenknospen auszubilden, die so prall wirkten, als würden sie jeden Moment aufspringen wollen.
 

Inochiyume lächelte bei diesem Anblick. Wenn es toten Bäumen gelang Blüten zu treiben, würde vielleicht, trotz des Urteilsspruchs des Feenkönigs, eines Tages doch noch ihr sehnlichster Wunsch in Erfüllung gehen, die Hoffnung starb bekanntlich zuletzt und wer würde einfach verzweifeln, wenn das Leben noch so viele andere Möglichkeiten bot glücklich zu werden.
 

Mit einem Seufzer der Erleichterung hatte Kaoru die unbeschadete Rückkehr Inochiyumes registriert. So gern er ihr bei ihrer Suche geholfen hätte, galt seine erste Pflicht doch dem Schutz der Prinzessin und so hatte er während der gesamten Zeit angespannt dagesessen und auf jedes noch so kleine Geräusch gelauscht, bereit los zu sprinten, um Inochiyume beizustehen, wenn es nötig werden sollte.
 

Von den Vorgängen auf der Anhöhe und am Flussufer hatte er nicht allzu viel mitbekommen, da er stets einen gewissen Abstand zu den beiden Frauen einhielt, um Hinagiku-hime nicht misstrauisch werden zu lassen. Dennoch hatte er genug gesehen, um sicher sein zu können, dass Hinagiku nicht nur im Gesicht eine Schönheit war und Inochiyume unter ihrem Yukata ebenfalls einen durchaus angenehmen Anblick bot. Bei diesem Gedanken schlich sich ein zufriedenes Grinsen in Kaorus Gesicht, - manche Tage waren entschieden besser als andere.
 


 

P.S.

Senjo = Elfen, Feen, Nymphen



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Carcajou
2009-02-13T22:56:06+00:00 13.02.2009 23:56
Auch Kaoru muss mal ein paar schöne momente haben^^

Die Szenerie erinnert wirklich an einen Fantasyfilm... schön und tatsächlich irgendwie "Romantisch§ beschrieben.
Hinagiku wird mir allerdings immer unsympathischer... die Leibeigenschaft an sich lässt mich schon glücklich sein, hier und heute und nicht damals zu leben, aber dann auch noch mit so einem verwöhnten balg als Herrin gestraft zu sein... die Daimyo gewähren ihren Untergebenen wenigstens noch Schutz, tragen Verantwortung- das geht der Hübschen hier ja völlig ab.
Ich vermute ebenfalls noch nachwirkungen, im Zweifelsfalle für inochiyume, deren selbstlosigkeit einerseits lobenswert ist andererseits aber auch...*seufz+
ich hätte noch ein bisschen Dünger auf das Blümchen gegeben und wär gegangen^^
Die Androhung von vielleicht schwerwiegenden Folgen, aber dennoch mit einem Hoffnungsschimmer.. man darf gespannt sein. du hast das ja bestimmt nicht einfach so hier mit eingebaut...^^

(und ja, ich bin schon wider so elendig spät dran.. Gomen Nasaiiii!!)

lg,
Carcajou
Von:  Hotepneith
2009-01-29T17:01:43+00:00 29.01.2009 18:01
Karou ist ein Spanner:)
Irgenwie ein netter Abschluss des Kapitels.

Auweia, das hätte auch schief gehen können.oder ist es schon schief gegangen? Denn Inochiyume hat sich ja bereit erklärt, die Strafe auf sich zu nehmen....aber niemand sagt irgendwie, welche das genau das ist. Nur, dass ihr Traum nicht in Erfüllung gehen wird, aber das wiess sie ja selbst.
Eine wunderschöne Zeremonie, dieses Mondlichtbaden. Hast du sie erfunden oder gibt es da Sagen dazu?

bye

hotep



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