Die Toten hören dir nicht zu
So, mein liebes Wichtelkind,
geplant war die Geschichte etwas anders (na ja, sehr anders trifft es eher). Ich hoffe, dir gefällt die Geschichte, ich habe nämlich bemerkt, dass ich nicht für andere Leute schreiben kann oder zumindest nicht einschätzen kann, ob es derjenigen Person gefallen wird. Ich hoffe auch, dass man den Inhalt einigermaßen versteht und es nicht allzu verwirrend wird. Na ja, genug geredet.
Ich wünsche dir viel Spaß beim Lesen! ^__^
"Out of the dark we came, into the dark we go. Like a storm-driven bird at night we fly out of the Nowhere; for a moment our wings are seen in the light of the fire, and, lo! we are gone again into the Nowhere."
H. Rider Haggard, King Solomon's Mines
Die Toten hören dir nicht zu
Es war ein schöner Tag. Der Himmel war nur ein wenig bewölkt und ansonsten azurblau. Eine frische Brise strich über den Hügel und spielte sanft in den hängenden Ästen und frühlingsgrünen Blättern der Trauerweiden, die am Ufer des kleinen Baches wuchsen. Die Luft war kühl, aber nicht kalt. Kleine Pfade aus weißen Kieseln führten zwischen den aufrecht stehenden Steinen hindurch, auf deren glatten Oberflächen sich das helle Sonnenlicht spiegelte. Es war still, nur das leise Rascheln der Blätter und das sanfte Gurgeln des Wassers waren zu hören. Irgendwo in einem der Bäume saß ein Specht und das dumpfe Hämmern seines Schnabels auf der Rinde untermalte das natürliche Schweigen.
Tenten ging langsam einem der schmalen Pfade nach und setzte bedacht eine Fuß vor den anderen um nicht auf eines der sorgfältig angelegten Gräber zu treten. Die meisten Steine waren umgeben von bunten Blumen und Gestecken, das Grab vor dem Tenten stehen blieb wirkte dagegen sehr schlicht. Es war von kleinen Steinen umrahmt und mit grünem Ahorn überzogen. Zwischen den spitzen Blättern wuchsen Azaleen mit rosafarbenen Blüten. Der Stein bestand aus weißem Marmor und hatte die Form eines Quadrates, wobei die obere Seite sich leicht nach außen wölbte. Er war schlicht und es gab keine Verzierungen, nur einen einfachen Schriftzug in neutralen Druckbuchstaben auf der spiegelglatten Oberfläche. Ein Name, der niemanden je erinnern und nach dem niemand jemals suchen würde. Es gab kein Geburtsdatum, auch keines des Todestages, denn die, die dennoch kamen, konnten sich an diesen Tag erinnern und alle anderen würden sich nicht dafür interessieren.
Es war dunkel, kalt und es regnete. Der Himmel lag versteckt hinter tiefschwarzen Wolken und die Welt verschwamm wie durch graue Schleier. Das dumpfe Trommeln der Tropfen auf den erdigen Boden und den Steine füllte die Stille der Nacht.
Seine Kleider waren nass, nicht einfach nur nass, sondern gänzlich durchtränkt. Die Sandalen hatte er längst ausgezogen, barfuss konnte er sich besser bewegen als mit den vom Wasser schweren und schmatzenden Schuhen. Seine Haare klebten ihm im Gesicht und es half nicht sie hinter die Ohren zu schieben, denn sie kamen immer wieder hervor. Er sah sich um, die weißen Byakugan aktiviert. Er sah sich um und sah nichts. Nichts, gar nichts, überhaupt nichts. Nur die Bäume, die Büsche, die Nacht und den Regen. Nichts.
Tenten ging in die Hocke und strich mit den Fingerspitzen über die kleinen Steine.
„Ich war lange nicht hier.“ sagte sie leise, doch in der Stille klang es viel lauter als eigentlich beabsichtigt. Es war egal, sie war ohnehin die einzige Besucherin. Zumindest hatte sie auf ihrem bisherigen Weg keine Menschenseele gesehen. „Tut mir Leid, ich hatte in letzte Zeit viel zu tun.“ Sie zog ihre Hand von den Steinen zurück und begann einige braun gefärbte Blätter aus den Efeuranken herauszuzupfen.
Er spürte die Kälte nicht, spürte die kleinen Äste nicht, die in seine Füße stachen, spürte den Regen nicht, der an seinen nackten Armen hinab lief. Er spürte nur diesen verzweifelten Drang endlich etwas zu sehen. Die kleinste Spur, irgendetwas. Er versuchte die Ruhe zu bewahren, diese verdammte Ruhe, die man ihm nachsagte, die immer da gewesen war, die ihn so lange nicht mehr verlassen hatte, dass er nicht daran geglaubt hatte sie könne es je einmal tun.
„Tante Jia hat mir erzählt, dass sie dich öfter besucht hat, damit du dich nicht so einsam fühlst und glaubst, wir hätten dich vergessen.“ fuhr die junge Frau fort und strich sich eine braune Haarsträhne aus dem Gesicht. „Ich gehe einmal im Monat zum Essen zu ihr, aber ich glaube, sie mag es nicht besonders. Ich glaube sie hätte es lieber, wenn ich nicht mehr kommen würde, trotzdem lädt sie mich jedes Mal wieder ein. Vielleicht sollte ich ihr eine Freude machen und einfach nicht mehr hingehen. Was meinst du? Aber du hast sie immer sehr gemocht, nicht wahr? Immerhin war sie deine Schwester.“
Er ließ seinen Blick weiter über die durch den Regen beinahe schwarzen Stämme gleiten und dann geschah etwas, dass lange, vielleicht zu lange, nicht mehr geschehen war: Ihn verließ die Geduld.
„Tenten!“ rief er laut in die Nacht und den Regen hinein während er seine Hände zu Fäusten ballte. „Tenten, wo verdammt noch mal bist du?“
Sie seufzte leise und zerrieb die Blätter in ihrer Hand. Ihre Augen streiften erneut über den Schriftzug auf dem schneeweißen Grabstein, als erwarte sie dort das Gesicht ihrer Mutter, das zu ihr zurückblickte. Aber der Stein blieb kalt und die steifen Buchstaben ungerührt.
„Ich hab ein Jobangebot in der Stadt bekommen, in Shanghai, weißt du.“ sagte sie schließlich. „Es hört sich gut an und die Menschen dort sind ziemlich nett, aber ich bin mir noch nicht sicher, ob ich die Stelle annehmen will. Es ist so weit weg von hier und ich will dich nicht alleine lassen. Wäre das in Ordnung für dich? Wenn ich nicht mehr so oft kommen könnte, meine ich. Vielleicht nur noch zwei- oder dreimal im Jahr. Wäre das sehr schlimm für dich?“ Sie seufzte und rückte mit dem Zeigefinger einen der kleinen Steine zurecht.
„Sie wird dir nicht antworten.“
Er fuhr wie von einem Blitz getroffen herum und starrte in das Gesicht eines Fremden. Wie hatte er ihn nicht bemerken können? Wie hatte er ihn nicht sehen können?
„Die Toten antworten nicht.“
Tenten zuckte erschrocken zusammen und fuhr herum, als die tiefe, etwas raue Stimme eines Mannes die friedliche Stille durchschnitt. Ihr Blick glitt über das Ufer des Baches bis hin zu einer Trauerweide, die unweit von ihr entfernt stand. Ein junger Mann, vielleicht ein wenig älter als sie selbst, saß mit dem Rücken gegen den dicken Stamm gelehnt und sah zu ihr hinüber. Überrascht stellte Tenten fest, dass sie ihn zuvor überhaupt nicht wahrgenommen hatte.
Das Gesicht des Mannes war blass und stand in krassem Kontrast zu seinem langen, rabenschwarzem Haar, dass ihm offen über die Schultern und auch ein wenig über die Augen fiel. Er trug einfache, bequeme schwarze Hosen und ein weißes T-Shirt.
„Was?“ erwiderte sie schließlich aus Mangel an spontanem Geistreichtum. Tenten richtete sich langsam auf und musterte ihn noch einmal genauer. Er hatte hohe Wangenknochen und ein markantes Kinn, sein Gesicht wirkte seltsam starr und kühl, wie aus Marmor gehauen, doch das, was ihr am meisten auffiel war die sonderbare Farbe seiner Augen. Sie waren beinahe so weiß wie der Grabstein ihrer Mutter und besaßen nur einen leichten Fliederstich.
Der Fremde war verschwunden noch ehe Neji die Möglichkeit gehabt hatte etwas zu sagen, irgendwie zu reagieren. Er war weg. Einfach weg. Neji fluchte lautlos über seine eigene Unachtsamkeit. Er aktivierte die Byakugan erneut und diesmal sah er etwas. Durch die Bäume und den Regen sah er endlich etwas.
„Die Toten hören nicht zu.“ antwortete er und hob eine elegant gebogene Augenbraue, als wolle er sie darauf hinweisen, dass sie ihn noch immer anstarrte. Tenten, die die Botschaft verstand, blinzelte und sah dann leicht zur Seite. „Hast du niemand Lebendigen, der dir zuhört?“ fügte er hinzu und sah sie noch immer an.
Tentens Augen verharrten einen Moment lang auf den schmalen, blassgrünen Blättern der Weide bis sie schließlich aufsah und ein schmales Lächeln auf ihre Lippen zwang.
„Entschuldige, wenn ich dich gestört habe.“ sagte sie anstatt auf seine Frage zu antworten. „Ich dachte ich wäre alleine.“
Er nickte nur, schloss die Augen und lehnte den Kopf zurück gegen den Stamm.
Das Lächeln verschwand von Tentens Lippen und sie warf einen letzten Blick auf das Grab ihrer Mutter, bevor sie sich zum Gehen wandte. Sie unterdrückte den Drang sich von ihrer Mutter zu verabschieden und folgte schließlich dem Weg hinunter, den sie zuvor gekommen war. Sie ging nur ein paar Schritte, bis sie plötzlich stehen blieb. Im ersten Augenblick wusste sie selbst nicht wieso, bis ihr schließlich klar wurde, dass sie soeben zum ersten Mal seit Wochen ein Gespräch geführt hatte, das mehr als zwei Worte umfasste und sich nicht auf das Thema ‚Arbeit’ beschränkte. Langsam wandte sie sich um und sah zu dem jungen Mann zurück.
„Bist du hier um jemanden zu besuchen?“ fragte sie laut und wusste nicht, ob sie es vielleicht bereuen würde. Doch es tat tatsächlich gut, endlich wieder einmal mit einem anderen Menschen zu sprechen.
Er öffnete die Augen wieder und für den winzigen Bruchteil einer Sekunde glaubte sie so etwas wie Erstaunen in seinem Gesicht zu erkennen.
„Nein.“ antwortete er und sie musste ehrlich zugeben, dass sie das überraschte. Sie konnte sich keinen wirklich guten Grund vorstellen, warum ein Mensch auf einen Friedhof gehen sollte, wenn nicht um ein Grab zu besuchen.
„Was machst du dann hier?“ fragte sie schließlich und ging auf ihn zu, bis sie beinahe direkt vor ihm stehen blieb. Er starrte sie einen Augenblick lang ausdruckslos an, als wolle er herausfinden, was sie mit dieser Frage bezweckte, warum sie überhaupt mit ihm, einem Fremden, sprach, dann zuckte er lediglich die Schultern.
„Entschuldige.“ meinte sie schließlich ehrlich, zwang das blasse Lächeln zurück auf ihre Lippen und strich sich eine braune Strähne aus dem Gesicht. „Mir kommt es nur so vor, als hätte ich seit Tagen mit niemandem mehr gesprochen.“ Sie wusste, dass diese Worte auf einen Fremden seltsam wirken mussten. „Würde es dich stören, wenn ich noch eine Weile hier bleibe?“ fügte sie dennoch hinzu. Sie wollte nicht wieder so schnell in ihren tristen, eintönigen Alltag zurückkehren und mehr als ‚Nein’ konnte er schließlich nicht sagen. Sie erwartete eigentlich, dass er genau das tat, doch er überraschte sie erneut.
Er zuckte wiederum mit den Schultern und Tenten setzte sich ihm gegenüber ins Gras.
Der Stein war glatt. Grau und glatt und schimmerte im Sonnenlicht. Absurd, eigentlich sollte die Sonne nicht scheinen und irgendwo tief in seinem Herzen hasste er sie dafür. Dabei hätte Tenten dieses Wetter bestimmt gefallen. Sie hatte die Sonne immer gemocht. Er nicht. Ihm war das Wetter immer egal gewesen. Der Stein war grau und glatt und ihr Name stand darauf. Sonst wäre es vielleicht ein schöner Stein gewesen.
Das Grab lag an einem kleinen Bach. Einem sehr kleinen, doch lebhaften Bach, der ihr bestimmt gefallen hätte. Natürlich hätte er ihr gefallen, ebenso gefallen wie die kleine Weide die Lee und Meister Gai für sie gepflanzt hatten. Sie hatte Weiden immer gemocht. Er nicht, er hatte sie niemals gemocht, ihm waren sie immer egal gewesen, doch nun konnte er sie nicht leiden. Er mochte keine Weiden und er mochte den Bach nicht. Er mochte diesen Ort nicht, doch ihr hätte er gefallen.
„Du solltest mit ihr reden.“ sagte plötzlich eine sanfte, leise Stimme hinter ihm, die seiner Cousine Hinata gehörte. „Es wird dir helfen und sie wird sich bestimmt freuen.“
Unsinn, dachte er, sagte aber nichts. Die Toten hörten niemals zu und das war gut so. Es sollte ihr egal sein, ob er sie besuchen kam oder nicht. Sie sollte sich nicht darum kümmern, was er tat oder wie es ihm ging. Sie sollte ihn einfach vergessen, ihn vergessen und sich nie mehr über ihn Gedanken machen, sich keinen Sorgen machen, nichts
Er wollte nicht, dass sie ihm zuhörte. Sie hatte es verdient. Sie hatte es verdient endlich ruhen zu können, frei zu sein, frei von ihm.
„Unsinn“, bemerkte sie. „Ich glaube nicht, dass die Toten nicht zuhören.“ Er sah sie unverändert an. In seinem Gesicht zeigte sich nicht die kleinste Regung. „Ich stelle mir gerne vor, wie meine Mutter dort oben im Himmel ist und auf mich herb sieht und mich vielleicht beschützt. Das gibt mir Mut und hilft mir dabei immer weiter zu machen. Ich glaube auch nicht, dass sie uns vergessen wollen, dass will ich auch gar nicht glauben.“ Er regte sich noch immer nicht, sah sie weiterhin an ohne jeden Ausdruck in den weißen Augen.
„Ich würde niemals jemanden vergessen, der mir wichtig ist.“ fuhr sie fort, während er erneut die Augen schloss. „Ich heiße übrigens Tenten.“
Er schwieg, sagte nichts, antwortete nicht. Was sagte man den Toten? Dass es einem Leid tat? Dass man sie vermisste? Dass das Leben ohne sie weiterging? Was sollte das bringen? Was für ein Unsinn.
Nein, es war besser wenn sie ihn vergessen hatte. So viel besser.
„Vergiss mich.“ sagte er schließlich und schloss die Augen um sie nicht weiter sehen zu müssen. „Vergiss mich. Es reicht wenn ich mich an dich erinnere.“