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Über die Mauer...

...oder: Neugier war der Katze Tod.
von

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Die Flucht

So dress a little dangerous

And modify your walk

Nothing wrong with sparrows

But try, to be a sparrowhawk

(Jethro Tull)
 

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Eine halbe Stunde später war der Sturm abgeflaut und Liams Plan gereift. Er wollte mit Talia geduckt zur Rückseite des Hauses laufen und sich mit ihr im Schutz der Dunkelheit davonstehlen.

Liam wollte mit der jungen Frau gemeinsam den Weg zurück nehmen, den er hergekommen war. Er war sich relativ sicher, dass dies von ihrem Standort aus der kürzeste Weg zur Mauer war.
 

Wenn sie rannten und das Tempo durchhielten, würden sie nur eine halbe Stunde brauchen. Liam wusste, dass er es schaffen konnte, aber er war sich bei Talia nicht sicher. Die junge Frau hatte zwei Tage lang nichts gegessen und war durch den Mangel an Energie und durch die extreme Kälte völlig entkräftet. Liam fürchtete, dass er sie nach einer Weile würde tragen müssen. Und dann würden sie wesentlich langsamer werden.

„Liam?“ Liam sah auf und begegnete Talias scheuem Blick.

„Ja?“

„Hast du Angst?“ Liam lächelte.

„Nein.“, sagte er und wusste, dass das tatsächlich die Wahrheit war. Er hatte keine Angst, weil er wusste, dass sie es bis zur Mauer schaffen würden. Dann würden sie hinüberklettern und auf direktem Weg zur Polizei laufen, um diesem Schwachsinn ein Ende zu machen.
 

Talia lächelte und wand ihren Blick wieder nach vorn. Sie bahnten sich einen Weg durch das Gerümpel und Liam öffnete vorsichtig die Hintertür. Der Schnee fiel jetzt in dicken, aber spärlichen Flocken.

„Bist du soweit? Wenn sie schießen, müssen wir die nächstbeste Deckung nehmen, die wir finden.” Talia nickte.
 

Und dann rannten sie los, noch immer geduckt. Durch den Schnee, der inzwischen alles weiß bedeckt hatte und im Zick Zack zwischen den Gebäuden entlang. Immer von einer Deckung in die nächste. Niemand schien sie zu bemerken. Immerhin wurde nicht mehr auf sie geschossen. Aber Liam hatte das sichere Gefühl, dass sie beobachtet wurden. Das man mit ihnen spielte. Vielleicht testete, wie gut sie waren. Sie einfach abzuknallen war schließlich langweilig.
 

Eine Viertelstunde lang ging alles gut, dann hallte plötzlich ein Schuss durch die Dunkelheit. Liam und Talia zuckten beide zusammen und Liam riss die junge Frau im Lauf herum. Er zog sie mit in einen Häusereingang und drückte sie gegen die Wand.

„Scht!“, zischte er und Talia nickte. Liam drehte den Kopf und versuchte, den Standort des Schützen ausfindig zu machen. Aber er sah nichts. Es war einfach zu dunkel. Er musste warten, bis er wieder feuerte. Das Mündungsfeuer würde den Schützen verraten.
 

Fünf Minuten lang geschah nichts, dann krachte ein zweiter Schuss. Die Kugel schlug direkt neben Liam und Talia in die Wand und Liam wusste, sie mussten verschwinden. Offensichtlich zielte dieser Schütze wesentlich besser, als der erste. Wahrscheinlich arbeitete er mit einem Nachtsichtzielfernrohr. Anders war es unmöglich, dass er so genau traf, schließlich herrschte noch immer tiefste Nacht.

„Ins Haus.“, wisperte Liam und Talia drückte die Tür. Doch sie öffnete sich nicht. Liam knurrte und schob Talia beiseite. Aber auch er bekam die Tür nicht auf.

„Scheiße.”, entfuhr es ihm und er drückte sich neben Talia an die Wand. Dann überlegte er es sich anders und zog die junge Frau zu Boden. Dort hockten sie, zusammengekauert und erwarteten den nächsten Schuss. Liam beobachtete die Häuserwand gegenüber. Ein Heizungsrohr mit gut einem Meter Durchmesser lief daran entlang. Stahlträger bildeten zwei schräg liegende Kreuze und die Fenster waren alle zerstört. Im zweiten Stock hatte das Mündungsfeuer des zweiten Schusses den Schützen verraten. Aber das half Liam nicht weiter. Jedenfalls nicht, wenn er hier unten und der andere dort oben war.
 

Liam schnaubte wütend. Talia sah ihn fragend an und wurde dann plötzlich mitgezogen. Liam rannte am Haus mit der verfluchten geschlossenen Tür entlang und überquerte plötzlich die Straße. Sie rannten auf das gegenüberliegende Haus zu und erreichten es ohne Zwischenfall. Talia zog zischend die Luft zwischen den Zähnen ein, als sie sich an die Wand drückten.

„Was zum Teufel tust du denn?“, fragte sie Liam und stieß ihn wütend gegen die Schulter. Liam zischte ihr zu, sie solle still sein und zog sie ins Haus.
 

Nun waren sie im selben Haus wie der Killer. Liam konnte nicht umhin, zuzugeben, dass das Gefühl aufregend war. Talias Angst störte ihn. Sie zerstörte seinen Nervenkitzel.

“Keine Sorge, ich bring uns hier raus.”, sagte er so voller Inbrunst und Überzeugung, dass Talia sprachlos schwieg.

Liam fasste Talia an der Hand und führte sie. Sie liefen die Treppe hinauf, bis in den zweiten Stock. Von dort war der Schuss gekommen und vielleicht wurden sie erwartet.
 

„Wir werden ihn suchen und sehen, ob wir ihn loswerden können.”, schlug Liam vor und Talia blieb schockiert stehen.

„Was?!“, entfuhr es ihr und Liam musste ihr die Hand auf den Mund legen, damit sie nicht weiter zeterte.

„Vielleicht schaffen wir es ja!“, gab er zurück und lächelte. Talia schüttelte den Kopf.

„Das schaffen wir nie. Wir haben keine Waffe, schon vergessen?” Liam schüttelte den Kopf.

„Wir werden so oder so erschossen, oder etwa nicht?“ Talia zuckte mit den Schultern.

Liam lächelte und zog die Frau mit sich. Sie liefen den Flur entlang, aber im zweiten Stock war niemand außer ihnen. Liam zog Talia mit zur Treppe, die aufs Dach führte. Talia hatte das Sprechen aufgegeben. Sie lief schweigend neben Liam her und starrte vor sich hin.
 

Als sie das Dach erreichten und auf die geteerte Fläche traten, schlugen ihnen dicke Schneeflocken ins Gesicht. Talia zitterte wieder und sie schluchzte leise. Liam sah sich um, konnte aber niemanden sehen. Gerade wollte er das Dach überqueren, als er hinter sich ein Geräusch hörte. Auch Talia hatte es gehört. Ein leises Knacken, dann ein scharrendes Geräusch. Füße, die über Teerpappe liefen.
 

Liam wirbelte herum und stand plötzlich einem der Männer gegenüber, die sich laut Talia ‚Reaper’ nannten. Der Mann war einen halben Kopf größer, als Liam und er trug eine Waffe. Es war ein automatisches Gewehr und der Lauf war direkt auf Liam und Talia gerichtet.

Bevor Liam überlegen konnte, lief er plötzlich los. Er zog Talia mit sich, die wie in Trance nicht einmal den Versuch machte, sich zu wehren. Liam rannte direkt auf den Schützen zu. Und offenbar war dieser so überrascht, dass er vergaß, den Abzug durchzuziehen. Liam traf den Mann mit voller Wucht und warf ihn zu Boden. Aber er blieb nicht stehen, sondern zog Talia weiter, auf den Rand des Daches zu.

Die junge Frau starrte wie gebannt auf die immer näher kommende Kante und dann auf den Abgrund, der sich danach auftat.

„Wir werden hinunterfallen!“, schrie sie plötzlich und Liam musste sie mit aller Kraft festhalten, damit sie nicht einfach stehen blieb.

„Nein, werden wir nicht.“, schrie er zurück und sprang. Er hielt Talia noch immer fest und weil ihr nichts anderes übrig blieb, sprang sie ebenfalls. Einen schrecklichen Augenblick lang schien es, als behielte die junge Frau recht, doch dann bewahrheitete sich Liams Vorhersage. Er wusste nicht, woher er es gewusst hatte, aber sie fielen nicht. Stattdessen straffte Liam all seine Muskeln und schloss die Augen. Er konzentrierte sich mit ganzer Kraft darauf, in der Luft zu bleiben und als er nach einigen bangen Sekunden die Augen wieder öffnete, standen sie sicher auf dem gegenüberliegenden Dach. Talia hatte sich von ihm losgemacht und starrte ihn nun entsetzt an.

Liam lächelte sanft und hielt ihr seine Hand hin.

„Ich hab dir doch gesagt, dass ich uns hier raus bringe.“, sagte er ruhig und sah zufrieden zu, wie Talia langsam wieder an ihn herantrat und seine Hand nahm.

„Wie hast du das gemacht?“, fragte die junge Frau mit zitternder Stimme und sah Liam zum ersten Mal seit ihrer ersten Begegnung richtig in die Augen. Als suche sie dahinter nach der Erklärung für das Geheimnis, das den jungen Mann umgab.

Liam aber lächelte nur und zuckte mit den Schultern.

„Manche Dinge passieren einfach.“
 

Es war zehn nach eins.



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