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Once upon a time

Eine Sammlung von märchenhaften Kurzgeschichten
von

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Das Schicksal der Götter

Das grausame Wolfsgeheul dröhnte in meinen Ohren und der eisige Nordwind peitschte mir ins Gesicht, aber ich musste weiter. Weiter nach vorne, wo Kriegsgeschrei und Waffenlärm die Luft erfüllten, wo das Blut der bereits Gefallenen den Schnee rubinrot färbte.

„Vorwärts!“, schrie ich mit rauer Kehle und spornte mein treues Tier noch schneller an. „Vorwärts!“ Der Ruf wurde mit zahllosen Stimmen erwidert. „Vorwärts! Vorwärts!“

Mein Eber Hildeswin preschte nach vorne, direkt auf das Kampfgeschehen zu. Die Walküren liefen dicht hinter uns. Mit funkelnden Augen und eiserner Entschlossenheit folgten sie mir, trotz der Gewissheit, dass ich sie in ihr Verderben führen würde.

Unter uns stürmten die mächtigen Einherjer mit gezückten Schwertern in die Reihen der Riesen. „Überrennt sie!“ Meine sonst so milde Stimme war vor Anspannung verzerrt. „Schlagt sie zurück! Heute ist der Tag der Entscheidung. Kämpft für die Ehre Walhallas!“

Meine Rufe wurden über das Schlachtfeld geweht und mit den Worten „Für die Ehre!“ auf den Lippen warfen sich die mutigsten Krieger der Welt noch beherzter in den Kampf, ihrem Tod entgegen.

Denn dies war der Tag des Schicksals, dem Schicksal der Götter: Ragnarök!
 

Alles fing damals mit dem Tod Baldurs an. Er, der Sohn Odins, war hinab in die Unterwelt gestiegen und es folgten ihm nicht nur seine Frau Nanna und sein Bruder Hödur nach. Auch das Licht und die Güte verschwanden vom Angesicht der Erde.

Dann setzte der bittere Fimbulwinter ein. Über drei lange Jahre spendete die Sonne keine Wärme mehr und die Welten wurden mit Eis und Schnee bedeckt. Die Kälte kroch bis tief in die Herzen der Lebewesen und nistete sich dort ein. Noch heftigere Kämpfe entbrannten zwischen den Riesen und den Asen, bis die drei großen Hähne den letzten Morgen ankündigten.

Der feuerrote Hahn Fialar krähte in Utgard und spornte die Riesen zum Kampf an. Zur selben Zeit erweckte der rostrote Hahn der Hel die Toten in der Unterwelt zum Krieg. Schließlich erschall auch das Krähen unseres goldenen Hahnes Gullinkambi in Walhalla und bereitete die Einherjer, die gefallenen Krieger der Menschheit, für die Schlacht vor.

Der Ruf der Hähne hatte den beiden Wolfbrüder, die Söhne des Fenriswolfes, neue Kraft gegeben. Der Wolf Skalli, der seit Ewigkeiten dem Sonnenwagen der Sol folgte, holte immer mehr auf, obwohl Sol ihre Pferde zum Äußersten antrieb. Die Sonne verfinsterte sich im Schatten des riesigen Wolfes und verschwand endgültig im Wolfsschlund. Auch Skallis Bruder Hati, der den Mondwagen des Mani vor sich herjagte, verschlang diesen vollkommen.

Der Himmel war plötzlich finster und die Sterne fielen herab. Die Erde erbebte, dass die Berge einstürzten und die große Weltenesche Yggdrasil erzitterte. Damit war es den Feinden der Asen gelungen, sich nun vollständig aus ihren Gefängnissen zu befreien.

Die Midgardschlange wühlte das Meer auf, als sie ihren wuchtigen Körper an Land schlängelte, und überflutete die Welt, so dass das Schiff Naglfar, erbaut aus den Nägeln der Toten, aus den Untiefen der Ozeane emporstieg.

Der Fenriswolf zeriss seine Ketten, die Odin ihm einst auferlegt hatte. Auch die Hel verließ mit einem starken Heer die Unterwelt, um sich ihren Geschwistern anzuschließen. Denn Loki, der Gott der Lügen, versammelte seine Kinder um sich für den letzten Kampf gegen die Asen. Er bestieg das Schiff Naglfar und setzte Segel auf Midgard, der Welt der Menschen.

Aus dem Süden schlossen sich ihm Surtr und seine Feuerriesen an. Aus dem Norden stießen Hrymir und die Frostriesen hinzu. Diese gewaltige Armee zog eine Spur der Zerstörung und des Verderbens auf ihrem Weg durch Midgard.

In Asgard, der Welt der Götter, beobachteten wir angespannt die Zeichen des Schicksals, denn wir spürten, dass dieser Tag der letzte sein würde und die entscheidende Schlacht bevorstand. Wir würden kämpfen, bis wir nicht mehr konnten und dann in Ruhm und Ehre untergehen.

Die Riesen und Lokis Heer erreichten die Brücke Bifröst, die die Welten Midgard und Asgard miteinander verband. Mit grimmiger Beharrlichkeit uns zu stürzen, schritten sie über die Brücke.

Doch da blies Heimdall, der Wächter der Regenbogenbrücke, schallend in sein Gjallarhorn zu unserem Schutz und ließ Bifröst einstürzen. Jene Riesen, die bereits auf der Brücke waren, fielen hinab in die Tiefe. Doch die Zahl der feindlichen Krieger jenseits von Asgard war immer noch unendlich.

Bei dem Klang des Hornes versammelten wir uns in Walhalla und bereiteten uns auf die Schlacht vor, denn bald würden sie einen Weg nach Asgard finden. Frigg, die Gemahlin Odins, zog sich auf seinen Geheiß hin nach Wingolf, dem Sitz der Asinnen, zurück. Ihr folgten auch die anderen Göttinnen, während die Krieger aus Walhalla auf das baldige Schlachtfeld Vigrid schritten.

Allen voran ritt Odin auf seinem mächtigen Hengst Sleipnir, den unfehlbaren Speer Gungnir fest in der Hand und flankiert von seinen Wölfen Geri und Freki. Hoch über uns flogen mit rauschendem Flügelschlag seine beiden Raben Mugin und Hugin, um die Ankunft der Feinde melden zu können. Die unbesiegbaren Asen und die stärksten Krieger vereinten sich zu einem übermächtigen Heer, das am Ende der Zeit den Riesen trotzen würde.

Eigentlich hätte ich mich den anderen Göttinnen anschließen und sie in den Schutz des Wingolfs begleiten sollen, doch ich konnte nicht untätig herumsitzen und den Kampf aus der Ferne beobachten. Meine Mutter, mein Bruder, meine Freunde, sie alle würden schließlich bis zum letzten Atemzug kämpfen und es war eine Ehre mit ihnen in den Krieg zu ziehen. Daher bestieg ich meinen goldenen Eber Hildeswin und scharte die zwölf Walküren um mich, deren unendlicher Kampfgeist die Krieger zu Höchstleistungen anspornen sollte.

Das Krächzen der Raben zerriss die angespannte Stille des Feldes. Sie hatten es geschafft, die Riesen waren in Asgard und wir würden ihnen nun einen angemessenen Empfang bereiten. Die Erde erbebte heftiger als jemals zuvor unter den Füßen der gewaltigen Riesenarmee. Die Luft knisterte abwechselnd durch die immense Hitze des Feuers und die eisige Kälte des Frostes, welche von den beiden Riesengeschlechtern ausgingen. An der Spitze des Heeres standen Loki und seine Kinder. Die weltenumschlingende Midgardschlange versprühte ihr tödliches Gift, der riesige Fenriswolf bleckte seine scharfen Zähne und Hel, die Herrscherin der Unterwelt, führte ihr Gefolge aus Verstorbenen und Kreaturen an.

Odin erhob seinen Speer und rief mit donnernder Stimme: „Schwertzeit, Windzeit, Wolfszeit, ehe die Welt zerstürzt! Kämpft! Kämpft für Walhalla! Und vergeht in Ruhm und Ehre! Denn unser Gedenken wird ewiglich währen! Kämpft und der Sieg wird unser sein!“

Mit wildem Kriegsgeschrei stürmten die Asen und Einherjer den Feinden entgegen. Odin warf seinen Speer in die Reihen der Riesen und Gungnir traf gleich mehrere der gegnerischen Krieger, um dann in die Hand seines Herrn zurückzukehren. Auch Thor, der Gott des Donners, schmetterte seinen mächtigen Hammer Mjölnir in das Feindesheer und streckte sie nieder. Skadi, meine Mutter, Uller, ihr Gemahl, und Freyr, mein Bruder, schossen einen Pfeil nach dem anderen auf die Riesen und jeder Pfeil traf sein Ziel. Die Schildjungfrauen stürzten unter meiner Führung in die Schlacht. „Vorwärts!“
 

Die Erde war blutgetränkt. Der Lärm der Schlacht schwoll immer mehr an. Die Luft brannte, doch der Schneesturm wütete weiter. Unzählige Riesen waren bereits durch unsere Hand niedergeschlagen worden, aber auch wir hatten hohe Opfer unter den Einherjer zu beklagen. Surtrs Riesen schleuderten gewaltige Feuerbälle in unsere Reihen, während Hrymir und sein Gefolge immense Eisblöcke warfen. Der Kampf tobte und würde erst verebben, wenn die Welt untergegangen war.

Skadi spannte erneut ihren Bogen, um den Riesen Einhalt zu gebieten. Da schlug sie ein riesiger Eisblock nieder. In ihren Händen hielt sie noch immer den Bogen, der den todbringenden Pfeil auf einen Feuerriesen abgeschossen hatte. Mein Magen verkrampfte sich. Heiße Tränen liefen über meine Wangen. Die stolze Göttin der Jagd würde niemals mehr durch den Wald reiten und ihr Jagdhorn anstimmen. Meine Mutter war nicht mehr.

Uller ließ seinen eigenen Bogen fallen und eilte zu ihr. Mit der Kraft der Verzweifelung schob er den Eisblock von dem leblosen Körper und kniete neben ihr nieder. Sein Gesicht war schmerzverzerrt, als er über den Verlust seiner Gefährtin trauerte. Doch seine Klage war sein Verhängnis, denn Loki trat an den noch knienden Uller heran. Bevor dieser sich zur Wehr setzen konnte, wurde er rücklings von dem Gott der Lügen erstochen.

Unendlicher Schmerz breitete sich in mir aus. In einem Moment hatte ich meine Mutter und meinen Ziehvater verloren. Doch die Schlacht ging weiter. Die Walküren mussten angeführt werden. Die Riesen mussten zurückgedrängt werden. „Vorwärts! Schlagt sie! Tötet sie! Lasst keine Gnade walten! Für die Ehre Skadis! Für den Sieg!“, schrie ich meinen Schmerz hinaus in die Welt und feuerte die Krieger zu neuen Leistungen an.

Der einhändige Gott des Krieges Tyr kämpfte verbittert gegen den Höllenhund Garm, der Lieblingskreatur Hels. Das starke Schwert des Tyrs hatte der Bestie tiefe Wunden hinzugefügt, doch dadurch ließ sie nicht von ihrem Gegner ab, sondern griff nur noch heftiger an. Mit einem Satz sprang Garm an die Kehle des Kriegsgottes und verbiss sich darin. Im Todeskampf umklammerten sich die Feinde und mit dem letzten rasselnden Atemzug hieb Tyr sein Schwert in den Höllenhund. Beide Widersacher schlugen dumpf auf dem Boden auf. Wieder war das Leben eines Gottes, eines Freundes, verwirkt.

Thor, der mit seinem Hammer große Lücken in die feindliche Armee geschlagen hatte, stellte sich nun der Midgardschlange. Wütend schlug die Kreatur ihren massigen Schwanz nach ihrem Todfeind. Aber jeden Schwanzschlag wehrte der standhafte Thor mit dem Mjölnirhammer ab. Die Bestie raste vor Wut. Mit geiferndem Schlund stieß die Schlange hinab zu dem Donnerkrieger und spuckte ihr Gift. Siegessicher ließ Thor seinen Hammer auf das Haupt der Kreatur niedersausen. Noch einmal wand sich die riesige Midgardschlange und rührte sich dann niemals mehr. Loki schrie wutentbrannt auf, dass sein Kind getötet wurde, und der Fenriswolf ließ sein grausames Geheul ertönen. Doch Thors Sieg währte nicht lang. Als er sich neun Schritte von dem massigen Schlangenleib entfernte, sank er zu Boden. Das tödliche Gift war selbst für den mächtigen Donnergott zu stark.

Bevor Loki seinen Triumph auskosten konnte, stellte sich ihm Heimdall, der Brückenwächter, in den Weg. Regen kämpfte gegen Feuer, Gut gegen Böse, Licht gegen Schatten, bis beide einander für immer auslöschten.

„Kämpft weiter!“ Der Tod dieser kriegerischen Asen bedeutete einen großen Verlust für unsere Streitmacht, doch wir durften nicht aufgeben. Obwohl ich Übermenschliches von unseren Kriegern forderte, schlugen sie langsam die Feinde zurück.

Der Feuerriese Surtr stürzte sich in den Kampf mit Freyr, meinem Zwillingsbruder. Verbissen schoss mein Bruder dutzende Pfeile auf seinen Angreifer, die in dessen Feuerhauch verglühten, bevor sie ihr Ziel erreichten. Mein Herzschlag hämmerte in meinen Ohren. Nicht auch mein Bruder, mein engster Vertrauter, mein zweites Ich. „Rettet Freyr! Besiegt Surtr!“ Auf meinen Befehl hin sollten ihm die Schildjungfrauen zu Hilfe kommen, doch es war zu spät. Freyr, der edelste Fruchtbarkeitsgott, wurde von Surtr gepackt. Sein unbarmherziger Griff um Freyrs Kehle schnürte ihm die Luft ab und setzte ihn in Brand. „Freya! Freya!!“, rief er in Todesqualen, bis er für immer verstummte. Seine letzten Gedanken galten mir.

Es bedurfte die Kraft aller Walküren mich zurückzuhalten. Ich schrie, ich tobte, ich weinte. Man hatte mir das Wichtigste im Leben genommen. Die Schlacht ging weiter, mein Herz schlug noch immer, doch ich fühlte mich tot und leer.

Der fürchterliche Fenriswolf stürzte sich auf Odin, der ihm seinen Speer entgegenschleuderte. Doch nichts hielt dieses Ungeheuer auf. Mit lautem Geheul riss der Wolf seinen riesigen Schlund auf und verschlang Odin mitsamt seinem treuen Hengst Sleipnir. Der mächtige Göttervater war gefallen. Über ganz Vigrid erschall die Klage Friggs, die um ihren Gatten trauerte, und in ihre Klage stimmten die Raben mitein.

Doch Odins Tod blieb nicht ungesühnt. Sein Sohn Vidar, der Rächer seines Vaters, nahm es nun mit dem Fenriswolf auf. Beherzt stürmte er auf das Tier zu und rang es nieder. Mit dem von Zwergen geschmiedeten Schuh zertrümmerte Vidar das Wolfsmaul und riss die Bestie in Stücke.

Der Kampf war vorbei, denn die Welt ging unter. Eine riesige Feuersäule stieg zum Himmel hinauf und verschlang alles, das sich ihr in den Weg stellte. Die übrigen Krieger und Kreaturen waren von dieser Feuersbrunst eingeschlossen. Vigrid war ein Flammenmeer, das auf die Weltenesche Yggdrasil übergriff. Dies war der Weltenbrand, dem alles zum Opfer fiel.

Einzig durch den Schutz meiner treuen Walküren konnte ich dem Feuer entkommen und rettete mich zum Idafeld, der einstigen Asenschmiede. Dort standen bereits die Söhne Odins Vidar und Vali, ebenso wie Thors Söhne Modi und Magni. Gemeinsam sahen wir fassungslos zu, wie die Welten verbrannten und mit ihnen alles, was wir je gekannt und geliebt hatten. Dann setzte der Regen ein. Der Himmel weinte über den Verlust der Welten und deren Bewohner.
 

Doch der immerwährende Weltgeist Fimbultyr erschuf die Welt erneut: Eine neue Erde tauchte aus der See auf, grün und schön, bereits mit Korn bewachsen. Eine neue Sonne trieb ihren Wagen über den Himmel und ein neuer Mond folgte ihr.

Die Asinnen verließen Wingolf und schlossen sich uns an. Auch die Brüder Baldur und Hödur kehrten vereint aus der Unterwelt zurück. Weinend lagen wir uns in den Armen. Der Schmerz über den Verlust unserer Angehörigen und Freunden saß tief, doch unsere Herzen dankten auch für den neuen Anfang, der vor uns lag.

Unter den Wurzeln der verbrannten Weltenesche hatte ein Menschenpaar Zuflucht vor dem Weltenbrand gefunden. Aus ihnen, Lifthrasir und dessen Frau Lif, entstand ein neues Menschengeschlecht.

Die Waagschale des Schicksals war zerbrochen, es würde nie mehr Leid auf der Welt geben. Ragnarök, das Schicksal der Götter, hatte sich erfüllt.



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