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Namida Bandits

von

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Flügel

Bücher, was waren das noch gleich für Dinger? Ach ja, diese merkwürdigen, eckigen und schweren Teile, in denen sich Letter an Letter und Zeile an Zeile reihten, die, wenn man des Lesens dieser mächtig ist und es richtig macht, manchmal sogar einen Sinn ergeben. In Zeiten des Internets und der öffentlichen Medien verkam die Rolle des Buches immer mehr zu der eines Luxusartikels, an den die meisten Menschen, selbst wenn es ums Schenken geht, als Letztes denken. Wo waren sie geblieben, jene Meisterwerke, von Hand gesetzt, Seite für Seite, in Lederleinen, Broschur und Pappe, mit Federzeichnungen, Initialen und Vignetten verziert?
 

Hier in der Stadt konnte man sie noch finden. Unter dem Kastanienbaum, neben einer Gaststätte, ein kleines Antiquariat. Hier standen sie noch Reihe an Reihe und liebevoll von Hand entstaubt und archiviert. Jene Kunststücke, die einst das Leben vieler Menschen veränderten und ihnen als Inspiration galten. Von der handgeschrieben Sammlung eines großen Komponisten, bis zu den, in Passe Partout gefassten, Mezzo Tinto Zeichnungen eines der bedeutenden Künstler der Renaissance, neben allerhand Belletristik und Jugendstilblüten wie der „Insel“, stand hier einsam ein … Manga …
 

Ein Manga? Ein von der Größe her unauffälliges, dafür umso farbiger und bunter, weil neuwertig gedrucktes Taschenbuch, ein Comic, und doch gleichzeitig so viel mehr. Nie hat es eine Form der kommerziell Angewandten Kunst so liebevoll und sagenhaft leicht in die Herzen junger Leser in Deutschland geschafft. In ihrem Ursprungsland Japan gelesen von und konzipiert für alle Altersschichten, machen sie den größten Anteil an Einnahmen in Buchhandel und Exportlektüre aus. Dort in der U-Bahn, in der Mittagspause, beim Arztbesuch gelesen, von Konzernoberhäuptern, Hausfrauen, Bauarbeitern und Schulmädchen gleichermaßen geliebt, ist der Manga neben technischen Geräten und jenen heißbegehrten Automobilen wohl der größte Exportschlager aus dem Land der aufgehenden Sonne. Alles fing vor langer Zeit mit ausklappbaren Leporellos japanischer Künstler wie Katsushika Hokussai an, dann mit kleinen Bildunterschriften und einem inhaltlichen Zusammenhang versehen, entstanden schnell kleine Bücher, die der Unterhaltung der Obrigkeit dienten, und vielleicht vergleichbar mit den Werken von Wilhelm Busch sind.
 

Doch wie kam nun dieses kleine Buch in das Antiquariat?
 

„Vanessa! Zum dreißigsten Mal! Lass deine 10-minuten-Lektüre nicht immer im Regal für die Neubestellungen liegen!“, ein paar blonde Locken wippten rechts und links neben der spießigen Brille hin und her, als Frau Sabine Neumann das kleine aufwendig gestaltete Comicbuch vor ihrer Tochter auf den Tisch knallte. „Wie sieht denn das aus! Wenn das ein Kunde sieht!“
 

Vanessa bedachte dies zur mit einem Augenrollen, als sie aus dem Blickwinkel ihre Mutter mit schnellen Schritten zu einem anderen Regal gehen, ein altes Buch liebevoll in die Hand nehmen und eine schwärmende Maske aufsetzen sah. Wie konnte jemand, der Bücher dermaßen liebte, nur so mit ihrer derzeitigen Lieblingslektüre umgehen?
 

Sabine Neumann konnte eben nicht verstehen, was ihre Tochter an dem fand, was sie salopp als Schund abtat. Dabei hatte sie sich nie einen Manga auch nur aus der Nähe angesehen. Wenns hoch kam, warf sie von Weitem einen abfälligen Blick darauf, oder benutzte einen um arglos unschuldige Fliegen zu zerquetschen.
 

Vany rutschte auf dem Stuhl hinter dem Verkaufstresen, der ein antik anmutendes Stilmöbelstück war, hin und her. Sie wartete, wie jeden Tag um diese Zeit, dass ihre Schicht zu Ende war. Warum nur hatte sie ihre Mutter je gefragt, ob sie für eine Taschengeldaufbesserung im Laden arbeiten durfte? Mangafan zu sein war alles andere als billig, kosteten die kleinen Kunstwerke doch durchschnittlich fünf Euro, dazu kamen noch Sonderausgaben wie Art – und Postcardbooks, von Vanys Vorliebe für japanische Musik und den teuren DVD – Veröffentlichungen der „Manga in Bewegung“, den Animes, und den Games mal abgesehen. So viel zu dem Leben eines normalen Otakus.
 

Das Wort Otaku heißt eigentlich nichts anderes als Fan, da es aber japanisch ist, ist es überflüssig zu erwähnen, um welche Art Fan es sich handelt. Doch Vany war einfach nur allein mit ihrer Vorliebe. In ihrer Kleinstadt gab es kaum Otakus und in ihrer Schule, die vor Oberflächlichkeit, Gruppenzwang und Mainstreamgehabe fast aus allen Nähten platzte, war sie ein Nichts, nichts als ein Freak. Blass geschminkt, wasserstoffblond und einfach zu anders um interessant anders zu sein, zu abgehoben, zu extrem, zu verspielt, zu – ja, wir Otakus hassen diesen Ausdruck – „realitätsfern“ …
 

Man sollte eine gelegentliche Flucht in eine gute Geschichte, nicht als Realitätsverlust bezeichnen. Ansonsten hätte jede ältere Dame die abends in ihrem Sessel ihren Lieblingskrimi las und auch sonst jede Leseratte ein psychisches Problem. Ich glaube auch, dass es an den phantasievollen Darstellungen in den Mangas liegt, dass einige Menschen eine plötzliche Reizüberflutung bekommen, wenn sie das erste Mal einen solchen in Händen halten, da ihr kreatives Potential durch Film und Fernsehen, durch Arbeit, Stress und zu vielen Pflichten und Erwartungen - und das durch die Gesellschaft erwartete übermäßige Erwachsensein, was bei einigen eine unnatürliche Seriosität hervorruft, eingeschränkt ist.
 

Das lässt sie schnell in den Trugschluss verfallen, dass es sich um Lektüre für kleine Kinder handle, oder es sich um (um ein Fremdwörterbuch zu zitieren) „durch Darstellung kindlicher Gesichter mit übergroßen Augen verharmloste, gewaltverherrlichende und pornographische Inhalte“ handle – eine Aussage, die jedem Otaku Gift und Galle hervorwürgen lässt. Oder möchte irgendjemand behaupten, das Heidi, oder Biene Maya eben diese Beschreibung verdienen, handelt es sich hierbei doch um zwei der bekanntesten und beliebtesten Animes (!), die je im deutschen Fernsehen gezeigt wurden. Doch Mangas gibt es in jedem Genre und für jedes Alter, auch in Deutschland.
 

Viele eingefleischte Lesefans sind gerne der Meinung von Sabine Neumann: „Das ist doch nicht mal ein richtiges Buch.“ Oder: „Das ist für die, die lesefaul sind.“ Oder: „Da kann ich ja gleich Trickfilme im Fernsehen schauen.“ Sicher, geübte Leser sind mit einem Manga in einer halben Stunde durch , aber Kritiker sollten sich in Erinnerung rufen, für welchen Zweck, diese Bücher gemacht werden. Die Japaner haben keine Zeit, hatten sie nie, (wenn sie nicht in irgendwelchen Tempeln, fernab der Welt vor sich hinmeditieren,) wollten aber auf gute, packende Geschichten nicht verzichten, deshalb ist der Manga das denkbar beste Medium, um eben dieses zu erreichen.
 

Deutschen Schülern geht es oft nicht anders. Wird man doch in einigen Schulen zu Allroundgenies erzogen, die alles kennen, aber von nichts wirklich ne Ahnung haben. Und dass man die tollen und detailreichen Zeichnungen von anderen Menschen zu schätzen weiß, heißt nicht, dass man zu faul ist, selbst seine Phantasie spielen zu lassen. Siehe Fanarts und Fanfictions, in denen sich Otakus zu teilweise verblüffenden Interpretationen ihrer Lieblingsserien hinreißen lassen. Man merkt, das Leben eines Otakus ist kompliziert und facettenreich genug, um ein undurchdringliches Geflecht aus Zusammenhängen zu schaffen, dass für Außenstehende eine andere Welt darstellt.
 

Deshalb war Vany auch schon zu einer Außenseiterin mutiert, nicht zuletzt wegen ihrer extravaganten, von der japanischen Musikrichtung Visual Kei inspirierten Kleidung, die sie zum Großteil selber schneiderte. Sie hatte nicht viele Freunde, und keine die ihre Interessen mit ihr teilten. Also schaute sie wie jeden Tag nach der Schule und ihrer Schicht, das Nachmittagprogramm des Senders RTL 2, der, neben anderen Sendern, eine kleine Auswahl von mehr oder weniger erfolgreichen Animes zeigt, die sich aber eher an jüngere Zuschauer richten, oder durch aufwendige Retusche und einem Szenenschnitt dar an Verstümmelung herankam, dazu gebracht wurden.
 

Zur Zeit war Naruto der größte Renner, bei dem sogar die Synchronisation in die Bestimmungen der FSK gequetscht wurde, wobei jeder Harry Potter, sogar Heidi offener mit den Worten „Tod“ und „Hass“ umging. Hier wurde „verschleppt“, „sauer reagiert“ (*lach*), oder man „hatte Wut“. Es handelte sich dabei um eine Ninjaserie. Eigentlich ein Genre, bei dem man davon ausgehen konnte, dass es ein wenig herzhafter zuging, aber naja, die deutschen Fans bekamen halt nur das zu sehen, was von der US-Version noch übrig wahr. Trotzdem hatte die Serie Vany schon damals bei ihrer Erstveröffentlichung in der Banzai! einem Mangasampler, der mit der japanischen Ausgabe der Shonen Jump vergleichbar ist, in ihren Bann gezogen.
 

So saß sie halt jeden Nachmittag da und schaute, las nebenbei, zeichnete und spielte Bassgitarre. Die Musik war Vanys zweite große Leidenschaft. Inspiriert von J-Rock Bands und Visual Kei Acts wie Dir en Grey, Gackt, The GazettE, und ihrem Vorbild dem Mädchenschwarm und Gitarrengott -miyavi- und dem GazettE-Bassisten Reita, dessen Markenzeichen eine Nasenbinde war, die er ständig trug. So saß sie stundenlang da und übte vor sich hin, zum Leidwesen ihrer Mutter, die ihrerseits Violine und Klavier bevorzugte.
 

Vanys Eltern verstanden sich schon lange nicht mehr, stritten nur noch. Von einem harmonischen Familienleben war keine Rede. Vany hatte niemanden mit dem sie sich austauschen konnte, ihrem Vater war so ziemlich alles egal, er hatte seinen Job verloren und gammelte nur noch zu Hause rum, ihre Mutter war den ganzen Tag damit beschäftigt, sich darüber auszulassen, dass niemand mehr die gute alte Handarbeit an Büchern zu schätzen wusste, und die Zeit immer schnelllebiger und undurchsichtiger würde. Sie hasste die neuen Medien – paradoxerweise bezog sie die meisten Einnahmen aus Buchverkäufen im Internet.
 

Vany hingegen durfte das Teufelsnetzwerk nie benutzen. Weshalb sie auch noch nie über jenes mit anderen Otakus in Kontakt getreten war und sie war auch noch nie auf einer Convention gewesen. Ihre Mutter hatte dies einfach nur als Ansammlung von Freaks und Karneval abgetan, dafür würde sie ihrer Tochter kein Geld geben. Tatsächlich ging es auf Conventions bunt zu. Denn viele Otakus verkleideten sich hier als einer ihrer Lieblingscharaktere, und so wirkt das Treiben vielleicht ein bisschen wie Fasching, aber den Otakus ist das egal. Es ist eine Möglichkeit für einen Tag in eine andere Rolle zu schlüpfen, eine andere Person zu sein. Und da die meisten Teilnehmer an solchen Veranstaltungen die Charaktere kennen, scheint es so als wäre man selbst bekannt, jeder wird mit Namen angesprochen, man wird fotografiert und gebeten etwas in ein sogenanntes Conhon, eine Art Poesiealbum, dass jeder Congänger individuell gestaltet, zu schreiben oder zu zeichnen, was manchmal an eine Autogrammstunde herankommt. Es gab regelrechte Cosplay-Wettbewerbe, in denen die Darsteller, neben den Kostümen, auch ihre schauspielerischen Fähigkeiten zur Schau stellen und dafür mit von den Veranstaltern gesponserten Preisen belohnt werden.
 

Es gibt Videospielcontests, Showgruppen, die das Cosplay in Geschichten und Tänzen perfektioniert haben, Karaoke, Zeichenworkshops und vieles mehr, was das Otakuherz höher schlagen lässt. Vor allem aber gab es die Gemeinschaft. Man hatte einfach Spaß und scherte sich nicht drum, sich mal zum Deppen zu machen, oder anders zu sein. Hier war jeder ein Freak – und stolz darauf. Alle lachten über dieselben Witze und es war egal, wie alt man ist, oder woher, auch aus welchem Land, oder sozialen Umfeld man kam.
 

Auch Vany war ein Cosplayfan, sie bewunderte nur immer die Fotos in den Zeitungen für die entsprechende Zielgruppe der Otakus, wie zum Beispiel die AnimaniA, oder die Peach, ein J-Life-Style-Magazin, wie auch die Koneko, in denen sie sich ständig über alles Neue aus Japan informierte. Tatsächlich schneiderte sie gerade selbst an einem Kostüm für Rikku, einem beliebten Nebencharakter aus dem Videospielklassiker Final Fantasy X, dass in ihrem Zimmer vor einer Wand mit Postern von ihren Lieblingsbands und Keshir Nheira, den sie für seine Fotos und Zeichnungen vergötterte, auf einer Schneiderpuppe hing. Daneben die Play Station 2, die sie sich von ihrem Cousin aus Berlin ausgeliehen hatte, der jetzt nur noch Nintendo Wii spielte. Es bestand ja auch ein Unterschied darin, ob man nur ein paar Knöpfe drückte, oder sich gleich komplett interaktiv mit dem Controler in einer virtuellen Welt bewegen konnte. Vany war hingegen einfach nur froh über die Knöpfe.
 

Sie hatte vor langer Zeit, na ja, in ihrer präpubertären Zeit mit dreizehn, oder so, mit ihrer Mutter, die Vereinbarung geschlossen, dass ihr Zimmer ihr Reich war, in dem der Rest der Familie nichts zu suchen hatte.
 

Doch von Zeit zu Zeit missachtete Sabine Neumann dieses Abkommen. Sie klopfte nicht einmal. „Du, deine Tante Annelie hat angerufen, du möchtest auf ihrer Geburtstagsfeier spielen, tu ihr doch den Gefallen“, meinte sie mehr im Befehlston als fragend.
 

Wieder rollte Vany mit den Augen. Bei Tante Annelie zu „spielen“, bedeutete nicht Bass, sondern Flöte zu spielen. Es bedeutete eines von diesen kleingeblümten Kleidern ihrer Mutter zu tragen, keine Schminke…
 

Während Vany noch überlegte, ob alle in der Familie sie immer noch für eine Grundschülerin hielten, trabte ihre Mutter munter durchs Zimmer und zupfte vertrocknete Blattstücke aus der Zitronenmelisse, die auf dem Fenster stand. Sie schaute sich um. Und entdeckte natürlich die Poster, die Vany gerade erst aufgehängt hatte. „Ist das ein Mann?“, meinte sie und zeigte auf Gackt.
 

„Ja, natürlich ist das ein Mann!!“
 

„Der ist ja geschminkt…“
 

„Ja…und?“
 

„Reagier doch nicht immer so patzig!“, eigentlich war Sabine diejenige, die patzig reagierte. „Na ja, zumindest ist es ein Mann… Ich dachte schon, du stehst auf Frauen“, immer dieser abfällige Ton, der nach Intoleranz klang.
 

Vany konnte das einfach nicht ausstehen. Visual Kei Acts waren für ihren auffälligen und femininen Kleidungs- und Schminkstil bekannt. Das war aber genau das, was die Fans so liebten. Manchmal wurde sogar die Musik dabei zur Nebensache, aber Vany empfand beide Faktoren, als mindestens gleichwertig.
 

„Das werden ja immer mehr … Ich glaube, du hast zu viel Geld, junge Dame“, die Mutter deutete unmissverständlich auf das Bücherregal mit den Mangas.
 

„Du gibst doch auch zu viel Geld für Bücher aus“, eine Aussage die zweifelsohne stimmte. „Aber im Vergleich zu dir, kaufe ich Bücher.“
 

„Ach, Mama, mach dir doch mal die unsagbare Mühe, setzt dich´n Stündchen hin und lies mal einen.“
 

„So einen Schund les ich doch nicht!! Ich bin erwachsen und du bist langsam auch schon zu alt dafür…“
 

„Dafür ist man nie zu alt! Du liest doch auch noch Märchen.“
 

„Das sind wunderbar gebunden und illustrierte Meisterwerke, die pädagogisch wertvoll und romantisch sind.“
 

„Und ich lese wunderbar illustrierte Comicbücher, die pädagogisch wertvoll, romantisch und dazu noch spannend sind.“
 

Damit klappte auch schon die Tür. Vanys Vater kam nach Hause und mit ihm auch das Geschrei und die Scherben. Vany hatte längst aufgehört, sich in die Angelegenheiten ihrer Eltern einzumischen, ebenso wenig wie diese am Leben ihrer Tochter Teil haben wollten. Also setzte sie sich im Lotussitz auf ihr Bett, den MP3-Player an und mit voller Lautstärke ließ sie sich von den melodiösen Klanglinien, den Gitarrenriffs und der Stimme von GazettE-Sänger Ruki, die sich manchmal zu einem dämonenhaften Fauchen verzerrte, beschallen.
 

Später am Abend, als selbst ihre Eltern leiser wurden, war sie schließlich bei Déspair’s Ray angekommen. Mit dem Album [coll:set] hatte ihre Liebe zur japanischen Musik angefangen. Genauer gesagt mit dem Lied „Tsuki no Kyoku -fallen-“ Ein düsteres Lied, leicht erotisch angehaucht und schön. Erinnerungen an den Mond, so die Übersetzung. Sie hatte es sich immer wieder angehört. Schließlich schlief sie darüber ein.
 

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Das Klingeln des Weckers holte sie jäh aus ihren Träumen zurück. Schule, wieder dort hin, wo sie niemand so recht akzeptierte, niemand sie wollte und niemand sie verstand. Es gab einige Jungs, die Vany interessant fanden, aber auch Angst hatten, sie anzusprechen. Schließlich wollte niemand mit einem Freak zusammen sein. Vany war jetzt 18 Jahre alt und hatte noch nie einen Freund. Eigentlich war ihr das auch egal, aber sie wäre auch mal gerne ausgegangen.
 

Der Tag begann wie jeder andere auch. Mit Sticheleien aus der Tussiecke und den merkwürdigen Blicken der Jungs, und den Sprüchen von denen, die sich immer über sie lustig machten. In der Schule, so kurz vorm Abi konnte Vany es sich nicht leisten, sich über solche Dinge aufzuregen. Sie fand es wichtiger, gute Noten zu schreiben. Alle rollten schon immer mit den Augen, wenn die Kunstlehrerin ansagte, wer die beste Arbeit geschrieben oder die beste Zeichnung gemacht hatte. Und tatsächlich hatte sie ein besonderes grafisches Talent, was aus ihrer Vorliebe für das Zeichnen von Mangafiguren entstanden war. Auch ihre Singstimme konnte sich hören lassen. Die musischen Fächer und Astronomie waren ihre Lieblingsfächer. Die Lehrer hatten auch längst begriffen, dass sie nicht nur ehrgeizig und fleißig war, sondern auch, dass ihre soziale Intelligenz sehr hoch war, deshalb hatte sie auch keine Probleme sich mit ihnen auf eine reife Art zu unterhalten, nur der Kontakt zu Gleichaltrigen fiel ihr schwer.
 

Das einzige, wo sie sich ein wenig abreagieren konnte, war der Sportunterricht. Gerade hatten sie Judo. Aber wieder einmal hatte sie keinen Partner zum Trainieren. Das war manchmal ein richtiger Kindergarten. So blieb nur noch Sara übrig. Vany hatte kein Problem mit dem leicht übergewichtigen, schüchternen Mädchen, das offenbar Angst vor ihr hatte.
 

Irgendwie hatte sie die Zeit mit ihr rumbekommen. In der Umkleide unterhielten sich die Mädels über Kerle, Alkohol und Partys, damit konnte Vany auch nichts anfangen. Sie würde wieder einfach nach Hause gehen und sich langweilen, allein mit ihrer Musik, das Gebrüll ihres Vaters ertragen, die ewigen Phrasen ihrer Mutter und den Haussegen, der zweieinhalb mal schiefer hing als der Turm zu Pisa.
 

Sie schlenderte zurück zu ihrem Schließfach. Sie seufzte, fühlte sich wie immer einsam. Ihr war langweilig. Es war einfach frustrierend. Sie sah eine Horde ihrer Mitschüler auf sich zu kommen, eine rempelte sie an. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Sie warf derjenigen einen bösen Blick zu, was wieder ein paar Sprüche nach sich zog. Auch das noch … Sie hatte ihre Jacke beim Musikraum vergessen. So ging sie in den anderen Flügel zurück. Und plötzlich hielt sie inne.
 

Sie hörte Musik, ein Klavier spielte. Nicht irgendeine Melodie. Sondern… ihr Lied, Tsuki no Kyoku -fallen- … aber … Sie ging auf die Tür zum Musikraum zu. Träumte sie? Nein. Da spielte tatsächlich jemand dieses Lied. Unbewusst legte sie die Hand an die Tür. Sie überkam eine Gänsehaut. Wer schaffte es, dieses Lied so gefühlvoll zu spielen … und zu singen … wie sie kurz darauf fest stellte. Sie hörte eine weiche Frauenstimme, die sanft die japanischen Worte formte.
 

Sie schloss die Augen, musste wissen, wer das war! Ihre Finger krallten sich in den hellen Stoff der Jacke. Sie zitterte. Sollte sie einfach reingehen und schauen, wer da war? Einmal im Leben, sei kein Hasenfuß! Sie drückte die Klinke ganz leise herunter, und schaute um die Ecke. Ihre Herzschläge beschleunigten. Sie wurde unweigerlich ein wenig rot, als sie eine schlanke, dunkelhaarige Frau, mit einem lockigen Seitenzopf an den schwarz-weißen Tasten sitzen sah. Ihre Augen waren dunkel geschminkt und geschlossen, weil sie sich auf das Singen konzentrierte.
 

Vanys erster Gedanke war, dass sie glaubte, noch nie eine so schöne Frau gesehen zu haben. Es machte wahrscheinlich der Gesamteindruck und die Faszination, die von ihrer Performance ausging. Sie trug eine schwarze Jacke mit vielen silbernen Reißverschlüssen, mit kleinen Sternen als Anhänger, durch die sie eine rote Korsage blitzen sah, die mit schwarzer Spitze besetzt war, ein beigefarbenes Haarband und schwarze gekringelte Ohrringe. Ein kurzer Faltenrock, der aussah als würde er zu einer japanischen Schulmädchenuniform gehören und schwarze Stiefel, in denen sie schwarze hohe Strümpfe trug. Wie hypnotisiert starrte Vany auf die onyxfarben lackierten Nägel der Finger, die immer noch sanft über die Tasten glitten. An ihrem Ringfinger sah sie einen dicken, schweren Ring mit einem Wolfskopf. Sie erkannte dies schließlich schnell als Merchandiseartikel zu Final Fantasy 7 Advent Children.
 

Dann beendete die geheimnisvolle Sängerin das Lied und schon ging die Tür auf und einige der Musiklehrer und die Leiterin vom Schulchor, in dem auch Vany war, standen darin. „So, Sukaina, können wir dann anfangen?“, fragte sie und hatte auch in diesem Moment schon das blonde Mädchen auf einem der Stühle entdeckt. „Oh, hallo Vanessa, seid ihr befreundet?“, fragte sie und deutete abwechselnd auf beide.
 

„Nein, ich … ich … hab nur zu gehört.“
 

Sukaina lächelte.
 

„Ich dachte ja nur, ihr seid euch ähnlich“, meinte die dunkelblonde, schlanke Frau mit den kurzen Haaren und den sympathischen Lachfältchen an den Augen und bedachte sie mit einem vielsagenden Blick, denn sie wusste, dass Vanessa mit niemandem in ihrer Klasse so richtig warm wurde. „Du kannst gerne hier bleiben und zuhören …“
 

Bald schon klärte sich die Sache auf. Sukaina kam aus Hamburg, die Stadt, in der Vany wohnte war nicht weit entfernt von der Millionenmetropole. Ihre Musiklehrerin war eine Bekannte, die sie gebeten hatte, ein Solo bei der diesjährigen Übergabe der Abiturzeugnisse zu singen. So spielte sie also noch ein Lied an: “May be this time, I’ll be lucky, May be this time its fair, may be this time for the first time love wont’t hurry away…”, das Lied kannte Vany schon, doch diesmal traf es sie. Auch die Lehrer waren ganz fasziniert.
 

Am Ende waren vier Menschen berührt und applaudierten. „Ich würde sagen, du bist engagiert!“, schließlich wurde sich noch kurz über dies und jenes ausgetauscht und schon packte Sukaina wieder ihre Tasche, mit den Glöckchen dran und den vielen einlaminierten, bunten Animebildern und Fotos von einigen J-Rock und Visual Kei Bands, unter anderen auch von -miyavi-, die mit Sicherheitsnadeln darauf befestigt waren.
 

Sie blieb kurz bei Vany stehen und beschaute deren Anhänger an ihrem Ohrring, ein Lächeln verriet, dass sie das kleine rote Wölkchen mit weißem Rand sofort als das Symbol der Organisation Akatsuki aus Naruto identifizierte. „Ah, eine von uns… Ich bin Maki’-san.“, meinte sie nur, gab ihr die Hand und verschwand mit sagenhaft leichten Schritten im dunklen Flur. Kurz vor der Feuerschutztür blieb sie stehen. „Worauf wartest du?! Komm…“
 

Vany kam nicht drum herum einen Augenblick lang dumm aus der Wäsche zu schauen, dann verzog sich ihre Miene zu einem breiten Lächeln. Und sie stürmte hinter der neuen Bekanntschaft her. Eine von uns …
 

Sukaina… äh, Maki’ erklärte ihr, dass das ihr Mexx-Nick sei, ein Username bei dem beliebten Otakuforum Animexx. Es sei die Abkürzung für makige, was so viel wie Locke heißt, der Namenszusatz –san sei lediglich eine Höflichkeitsfloskel der Japaner, so wie bei uns das Fräulein, es wird sehr viel wert darauf gelegt, natürlich sah Maki’ das nicht ganz so eng. „Und hast du auch einen Nick?“
 

„Nein, meine Mutter lässt mich nicht ins I-Net.“
 

„Aber du kannst doch trotzdem einen Kosenamen haben … Dann erfinden wir einen für dich. Mal sehen …Was würde denn zu dir passen?“ Sie überlegten auf dem Nachhauseweg hin und her und nebenbei bemerkte Vany, dass Maki’ fast dieselben Serien und Musik mochte wie sie. Das löste etwas in ihr aus, dass sie lange nicht gespürt hatte. Glück. Ähnlichkeiten machen glücklich und sind Balsam fürs Selbstbewusstsein.
 

Plötzlich schien es so, als würde Vany weiße Schwingen tragen, zum ersten Mal hatte sie mit jemandem so etwas wie Insiderwitze, und sie war gar nicht mal schlecht darin, solche zu reißen. Diese Flügel waren Maki’ schon aufgefallen, als sie noch unsichtbar waren und so entschied sie irgendwann, das Hane gut zu ihr passen würde, was das japanische Wort für Flügel war.
 

„Bin ich dann Hane-san?“
 

„Wohl eher Hane-chan…“, meinte ihre neue Freundin und knuffte ihr die Wange. Chan war die Anrede für kleine Kinder und niedliche Personen… ^.^
 

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Dieser Tag hatte alles anders gemacht. Und als Vany nach Hause kam, war sie zu Hane geworden … Es war still. Ihr Vater hatte sich betrunken und war eingeschlafen. Und als sie durch die Küchentür schaute, sah sie ihre Mutter am Tisch sitzen mit blitzenden Tränen in den Augen und in ein Buch vertieft – in Clover, einem Manga von Clamp …

Rot

Auch in den nächsten Tagen hatte sich Hanes Leben verändert. Sie fuhr mit der S-Bahn nach Hamburg, um für ein Wochenende Maki’ zu besuchen. Diese lebte in einer Vier-Zimmer-Altbauwohnung zusammen mit zwei Mitbewohnerinnen, die sie noch nicht kannte. Sie schlenderte an den Landungsbrücken hin und her. Maki’ hatte ihr per SMS geschrieben, dass sie sie abholen würde. Hane war selten hier gewesen.
 

Ihr Handy klingelte. Es war Maki’. Sie entschuldigte sich und beschrieb ihr den Weg zu ihrem Arbeitsplatz. Also ging sie am Bismarckdenkmal und am Gruner und Jahr Pressehaus vorbei, an einer Kirche und weiter in Richtung Innenstadt. Bald schon stand sie vor einem tollen alten Haus, dass eine barocke Außenfassade und Säulen mit korinthischen Kapitellen hatte. Unten im ersten Stock, zu dem eine kunstgeschmiedete Wendeltreppe führte, war eine kleine Boutique.
 

Den Laden kannte Hane noch nicht. Dort verkaufte eine junge Designerin ihre eigenen, extravaganten Kollektionen. Hane traute sich erst gar nicht reinzugehen, aber dann sah sie Maki’ auch schon hinter dem Verkaufstresen stehen. Sie passte so perfekt in dieses Geschäft, dass Hane glaubte, sie hätte diese Kleidung entworfen.
 

Das Bimmeln eines Bambuswindspiels erklang und schon schallte ihr japanische Popmusik entgegen. Das war wieder eine neue Erfahrung für sie. Aber im Moment fand sie es einfach nur großartig. Überall hingen bunte und schwarze Klamotten und in den Regalen lagen tolle Accessoires. Das war genau das, was sie in den Mainstreammodeläden vermisste. „Hi, na, hast du gut her gefunden?“, eine weitere Frau tauchte auf.
 

Höchstwahrscheinlich das irre Genie, das hinter den schicken Kreationen steckte. Sie stellte sich als Yoshiko Hansaki vor. Eine kleine Japanerin, mit einem zu Schreien süßen Akzent, furchtbar nett und ebenso verrückt gekleidet, wie ihre Mode es versprach. Der Name klang ja schon nach Erfolg. Sie holte sich ihre Inspirationen direkt aus ihrer Heimatstadt Tokio. Weshalb ihre Boutique auch „Harajuku“ hieß, nach dem beliebten Viertel, in dem es die Jugendlichen mit ihrem Style auf die Spitze trieben, um aus der Konvention der japanischen Gesellschaft auszubrechen. Der völlig abgefahrene und verrückte Stil dieser jungen Menschen inspirierte viele verschiedene berühmte Personen und Designer. Zum Beispiel auch Sängerin Gwen Stefanie, die ein bekennender Fan der „Harajuku-Girls“ ist.
 

Auch an den Wochenenden im Park traf man sich in wilden Verkleidungen und Outfits, und bot manchmal sogar „Free Hugs“ (Gratisumarmungen) auf kleinen Schildern an. Eine Umarmung war etwas absolut Intimes für einen Japaner, der jemandem zur Begrüßung nicht einmal die Hand gab, sich stattdessen dezent verbeugte, um die Distanz zu waren. Harajuku und Shinjuku waren bei jungen Leuten aber auch deshalb total angesagt, weil es die Vergnügungs- und Shoppingviertel schlechthin waren. Überall Neonlichter und Werbetafeln, bunt wie Las Vegas und in jeder Ecke ein toller Laden neben dem anderen. Diese Boutique holte ein kleines Bisschen dieser Atmosphäre nach Deutschland.
 

Hane kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Maki’ arbeitete schon eine ganze Weile hier. „Hast du nicht gesagt, du bist Grafik-Designerin?“
 

„Bin ich auch, ich verdien mir hier halt noch was dazu.“ Wieder klingelte es und zwei Otakus betraten die Bildfläche. Typisch deutsche Otakus. Eigentlich eher unauffällig in Aussehen und Kleidung, dafür aber laut kichernd und sich noch lauter unterhaltend, über irgendwelche Manga- oder Anime-Inhalte.
 

Hane ließ es sich nicht nehmen das eine oder andere Mal mitzulachen, und die ganze Zeit ein seelig-breites Lächeln aufzusetzen, denn sie wusste ganz genau, wovon die beiden sprachen. Hier hätte sie zehntausendmal lieber gearbeitet als in dem verstaubten Antiquariat ihrer Mutter, aber sie traute sich nicht zu fragen. Tatsächlich hatte Maki’ sie mit Absicht nicht abgeholt, damit Hane zu diesem Laden kommen sollte. War zwar ein Spontanplan, hatte dafür aber hervorragend funktioniert. „Du … Hane-chan … Yoshiko-san“, sie schaute zu ihrer Arbeitgeberin und langjährigen Freundin herüber, „sucht noch eine zweite Verkäuferin, weil sie sich in den nächsten Monaten Abends immer um ihre neue Kollektion kümmern muss. Hast du nicht Lust, hier zu arbeiten?“
 

Verrückt! Konnte Maki’ Gedanken lesen? Offensichtlich.
 

„Ist doch zehntausendmal besser als der Laden deiner Mutter, oder?“
 

Eifrig nickte Hane mit einem Kleinkindlächeln. „Wirklich sehr gerne…“, in Hamburg arbeiten, in diesem Laden arbeiten und vor allem mit Maki’ zusammen arbeiten, das war wie ein Traum, der sich erfüllt hatte und von dem sie bis eben noch nicht einmal gewusst hatte, dass sie ihn träumte. Und wieder ging die Tür und neue Kunden kamen herein.
 

Am Abend gingen sie zurück zu den Landungsbrücken. Der Hafen sah sehr romantisch aus in der Dunkelheit, besonders die Lichterketten an dem Schulschiff Rickmer Rickmer’s und die König-Der-Löwen-Halle am anderen Ufer, zu der immer noch diese kleinen, niedlichen Boote mit den Gästen eines der erfolgreichsten Musicals aller Zeiten fuhren. Unter den Otakus gab es viele Musicalfans, weshalb auch einige Showgruppen welche auf den Conventions aufführten. Zum Beispiel die Gruppe Romance Kakumei, die für ihre grandiose Interpretation von „Elisabeth“ bekannt sind und dieses teilweise mit japanischen Texten aufführten. Hane mochte aber lediglich „Tanz der Vampire“. Ansonsten hatte sie nicht viel mit dem Thema am Hut.
 

Es gab aber auch Gruppen die eigene Musicals über Animes schrieben, hier sind auf jeden Fall Tsuki no Senshi zu nennen, allein schon für ihre unzähligen Shows zu Animes wie Sailor Moon oder Utena. Diese Gruppe begeistert schon mehrere Jahre Otakus aus ganz Deutschland auf verschiedenen Conventions.
 

Maki’ schleppte Hane noch kurz mit zu ihrem anderen Arbeitsplatz. Ein Grafik-Atelier namens „ReFlex22“, hier arbeiteten nur zweiundzwanzig Leute in einem Kompetenzteam zusammen, um komplexe Designaufgaben für verschiedenste Kunden zu übernehmen. Maki’ wollte noch ihren Schleppt… äh Laptop abholen.
 

Im Flur zum Gemeinschaftsbüro kam ihnen ein seltsamer Typ entgegen. Sein Name war Jo Feininger. Hane hatte gleich ein dummes Gefühl, als sie ihm das erste Mal begegnete. Er war ein Schleimscheißer ohne Gleichen, der keine Sekunde aufhörte, seinem Chef nach dem Posten zu trachten, der lustiger Weise auf den Namen Patrik Itten hörte (Feininger und Itten waren beide Künstler, die Maki’ während ihrer Zeit in der Ausbildung an einer privaten Höheren Berufs- und Fachschule im Fachbereich Farblehre behandelt hatte und sie regte sich jedes Mal wieder darüber auf, wenn sie es jemandem erzählte, da ihre Dozentin damals ganz besessen von diesen Künstlern war, und deren Bücher fast jedes Mal dabei hatte…(An dieser Stelle einen lieben Gruß an meine Dozentin Frau Kummert!^_^)
 

Jo Feininger hatte eine unfassbar eklige Aura und fing sofort an, Maki’ anzugraben, wie anscheinend jeden Tag, denn Maki’ hatte aus Gewohnheit ein paar schlagfertige Antworten parat. Als er ihr und Hane mit einem Zuhältergrinsen und rauchender Zigarette lässig im Türrahmen stehend, einen Dreier anbot, natürlich gegen Bezahlung, wurde es den beiden zu bunt und sie beeilten sich schließlich. „Vergiss diesen Idioten … Der hats einfach nötig …“
 

Hane nickte nur wie ein „ach so…“ und zog die Augenbrauen angewidert hoch.
 

In Maki’s Büro arbeitete noch ein weiterer Mitarbeiter zu so später Stunde. Mick. Er war ein liebenswürdiger Kerl, der ein ausgesprochener Heavy Metal Fan war und von sich selbst behauptete, ein Troll zu sein, was man ihm Dank Frisur und Kinnbart auch fast hätte abkaufen können. Er wurde sichtlich ein wenig nervös, als auf einmal noch eine hübsche Frau hinter Maki’ auftauchte und er verbarg seine aufkommende Gesichtsröte hinter den Gläsern der Brille, die ihn sehr kleidete.
 

Er erklärte Maki’ nur ein paar Details zu einem neuen Kundenauftrag. Die beiden verstanden sich blind und hatten wohl auch den selben Humor. Es fielen einige Insider- und Grafikerwitze… Na ja. Wieder draußen vor der Tür kicherte Maki’: „Du gefällst ihm“, meinte sie und sprang zur Seite, weil sie vermutete einen Seitenhieb zu kassieren.
 

Es kam aber nichts. „Wie sieht’s eigentlich aus? Hast du einen Freund?“
 

„Nein.“
 

„Was? Das kann ich gar nicht glauben. Du bist doch so eine hübsche Frau!“, Maki’ fiel buchstäblich aus allen Wolken.
 

Hane war ein wenig perplex. Sie war es nicht gewöhnt, als „Frau“ bezeichnet zu werden, wo sie doch alle in ihrer Familie immer noch wie dreizehn behandelten, allen voran Tante Annelie. „Und du?“
 

„Ich hab zur Zeit auch keinen Freund.“
 

„Zur Zeit“ hätte Hane auch gerne gesagt. „Das wiederum kann ich nicht glauben.“
 

„Die meisten Männer trauen sich nicht an mich heran.“
 

„Ach so…“ So gingen sie weiter und blieben schließlich im Thai Pan hängen, dem Restaurant mit dem längsten Sushiband in Europa, dass in der Nähe der Reeperbahn war. Hane hatte noch nie vorher Sushi gegessen. Doch mochte sie die kleinen Reishäppchen mit rohem Fisch in Bananenblätter eingewickelt, sofort und aß sich richtig satt. Sie hatte in den letzten Wochen nicht so viel erlebt, wie an diesem Tag und der war noch nicht zu Ende.
 

Dann kamen sie schließlich bei Maki’s Zuhause an. Auf der schönen Marmortreppe lag eine Katze, die auf den Namen „Dumpfbacke“ hörte. „Der alte Funzelkater gehört meiner Mitbewohnerin Kurai. Ist’n ganz komisches Viech… aber wir alle lieben ihn.“
 

Da kam dieser fette schwarze Kater an, schleimte sich an Maki’s Bein und legte sich dann neben ihr auf den Rücken, alle Viere von sich gestreckt und ließ sich kraulen… von Maki’s Fuß, der mit ihm rhythmisch und kreisförmig den Boden aufwischte. Und als er nach einer kleinen Weile wieder aufstand, kam es Hane so vor, als wäre er doppelt so dick, weil sein Fell sich elektrostatisch aufgeladen, zu einem Riesenbommel aufplusterte.
 

„Der steht da voll drauf…“ Hane kicherte. Die Mädchen wohnten im fünften Stock ganz oben. Das bedeutete ein schönes Beintraining jeden Tag. Hane hatte sich sowieso schon gewundert, warum Maki’ so fit war. In der Wohnung, zu der eine wunderschöne, aufgemöbelte Tür gehörte, an der ein Hello-Kitty-Schild hing, war es dunkel und still.
 

Hello Kitty war eine Kultfigur in Japan, ähnlich wie bei uns die Typen von der Sesamstraße oder Mickey Mouse. Die kleine niedliche Katze war wie Emily, Miffy oder dem Mädchen mit den Pandazöpfen Ten …äh, nein Pucca (Kleiner Naruto-Insider), ein beliebtes Motiv auf allem und jedem Gegendstand. Es gab alles an Merchandiseartikeln zu Kitty und ihren Freunden: Taschen, Geldbörsen, Tassen, Haarspangen, Stifte, Briefpapier, […] (Was? Auch eckige Klammern mit Punkten drin?), Gitarren, Sextoys, Klopapier… Dieses Phänomen ist wahrscheinlich in Deutschland vergleichbar mit Steff’s Sheepworld oder Kittys Lieblungsfutter den Diddle Mäusen… *diabolisch grins*
 

Aber zurück zu der Wohnung. Dunkel und still. Das hatte Hane nicht erwartet. Maki’ hielt inne: „Bist du bereit?“, sie tat so, als würde das, was gleich kam, Hane von den Socken hauen. Sie traute sich kaum zu nicken. Es machte Klick. Das Licht ging an und da war er: „Kai!!“
 

Ein drei mal viermeterdreiundfünfzig großes Poster des GazettE-Drummers hing unübersehbar, mit auf der davor stehenden Kommode aufgebautem Schrein, achtzehn Kerzen, einer dunkelroten Schärpe und einem vor sich hin rauchenden Räucherstäbchen, an der Wand. Hanes Mund klappte auf. Ihre Augen funkelten. Sie hatte nichts gegen Kai, im absoluten Gegenteil! Aber das war definitiv… krank!
 

„Das ist Kurais Schrein.“
 

„Hm“, machte es und ließ sich von Maki’ in die Wohnung ziehen. Nur nach dem sie den Anblick eine halbe Stunde verdaut hatte, war ihr endlich aufgefallen, dass der Rest des Flures unglaublich stylish war. Es gab eine schwarzrote Wand an der viele, viele, sehr viele Cosplayfotos der Mädchen hingen und Eintrittskarten von Conventions und J-Music-Konzerten.
 

„Hier ist die Küche“, wow, dass war eine süße Küche mit einem großen ovalen Tisch, auf dem eine Corpse-Bride-Vase stand, mit Hokuspokusrosen, darüber hingen schwarze, mit Samt überzogene Kugeln aus Keramikschnörkeln, an einem Kristalleuchter. „Hier ist das Badezimmer“, das war ein Shintotempel, eine Wellnessoase und ein Mädchenparadies zugleich. Eine große Badewanne, ein mit einer Lichterkette umrahmter Schminkspiegel mit Tisch, ein Aquarium mit asiatischen Kleinfischen und dann dieser fruchtige Duft.
 

„So, hier ist mein Zimmer, hier kannst du erst mal deine Tasche abstellen“, die Tür ging auf. Hane war baff. Maki’s Zimmer sah aus, wie ein Atelier eines großen Künstlers. Überall hingen Arbeiten und Malereien an den Wänden, Naturstudien und Aktzeichnungen, mit Kohle, oder Rötelkreide, oder Aquarelle. Auf der Staffelei stand ein Bild das Maki’ gerade erst angefangen hatte, es zeigte das Gesicht einer schönen Frau. Eine große Anlage mit noch größeren Boxen und ein offener Kleiderschrank mit allerhand abgefahrenen Klamotten. Viel Kleinkram, Schmuck, Künstlerbedarf und eine CD Sammlung, die einen umhaute. Überall Kabel und verschiedene Rechner, Scanner, Kameras und ein Lichttisch.
 

Und auch sie hatte eine Schneiderpuppe, auf der doch tatsächlich das schwarze lederne Kostüm mit der Pelzschärpe und einem selbstgenähten Moogle zu Lulu hing, einem weiteren Charakter aus der Final Fantasy Reihe. Das würde ihr zweifelsohne hervorragend stehen, daneben stand eine alte Nähmaschine auf einem noch älteren Tisch. An der Seite war ein kleiner Ständer auf dem ein Instrument seinen Platz fand, eine E-Violine mit einem transparenten Gehäuse. Maki’ teilte also die Leidenschaft mit Hanes Mutter, aber auf eine andere Art und Weise. „Hier ist Akais Zimmer… aber das kann ich dir nicht zeigen, weil sie nicht da ist … aber Kurais Zimmer kann ich dir zeigen.“
 

„Ku…ku…Kurais Zimmer?“, Hane erinnerte sich an ihr Kaitrauma.
 

Maki’ grinste teuflisch. „Kurais Zimmer…“ Dann packte sie Hane am Arm. Irgendetwas in Hanes Innerem sträubte sich dagegen. „Sie ist da und übt.“
 

„Übt?“
 

„Halt dir lieber die Ohren zu…“ Maki’ öffnete eine Tür, dahinter war… eine zweite Tür. Maki’ schloss die erste. „Bereit?“
 

„Irgendwie hasse ich es jetzt schon, wenn du das machst…“
 

„He, he, he…“, Maki’ drückte ganz langsam die Klinke herunter, Hanes Puls beschleunigte wieder. Mit einem Mal schupste Maki’ die Tür auf und der visuelle Schock den Hane erwartet hatte … blieb aus. Stattdessen bekam sie fast einen Gehöhrsturz.
 

Kurai saß mitten im Raum, an einem Schlagzeug, und hämmerte sich die Seele aus dem Leib! Etwas Abgefahreneres und Wilderes hatte Hane noch nie gehört. Sie ahnte nicht, dass es jemanden gab, der so genial Schlagzeug spielen konnte. Und aus dem schmerzverzerrten, dann verblüfften Gesicht, wurde schnell ein breites Grinsen und ein Mitwippen, das Maki’ hinter ihr ein gewisses Lächeln aus den Lippen formte.
 

Kurai trug ein eher schlichtes schwarzes, ärmelloses Oberteil und eine dunkle Hose mit Ketten dran, die Haare wild und wuschelig, weil mindestens dreitausendvierhundertsechsundvierzig Mal hoch und runter gebangt. Wie auf Knopfdruck herrschte Stille, die allen Anwesenden jetzt mehr in den Ohren klingelte als der Lärm vorher. Sie drehte sich um. Hane schaute in ein hübsches verschwitztes Gesicht, mit Augen so dunkel, dass sie nicht einmal hätte sagen können, welche Farbe sie hatten. Ein Leberfleck zierte gut positioniert ihren Mund. „Du bist bestimmt Hane…“, es schallte ihr eine fraulich leichte Stimmer entgegen, gefolgt von einem Lächeln und einer ausgestreckten Hand.
 

Hane war zu fasziniert und zu verblüfft davon, dass ihr Gegenüber sie und Maki’ trotz der Lautstärke gehört hatte, um zu reagieren. Maki’ stupste sie ein wenig an. Hane gab Kurai die Hand, deren Haut ganz warm und an einigen Stellen vom Trommeln verdickt war. Sie hatte regelrecht Schwielen. Da war jemand mit absoluter Leidenschaft bei der Sache. Davor hatte Hane mehr als nur Respekt. Sie schaute zu ihr auf, und dass nicht nur, weil Kurai sie um einige Zentimeter überragte.
 

Das Zimmer war ebenfalls schlicht eingerichtet. Es gab ein riesiges Bett, dass aus zwei nebeneinander liegenden Futonmatratzen bestand. Auch hier wieder viel Technik, ein großer Computer mit Mikrofonen und Boxen, ein Totenschädel als praktischer Halter für bullige Kopfhörer. Auf einem im rechten Winkel angestellten Tisch standen Turntables. War sie etwa DJ? „Ich bin Kurai, fühl dich ganz wie zu Hause …“ –
 

„Bitte nicht …“, antwortete Hane mit Galgenhumor und die anderen beiden lachten nur verständnisvoll. Anscheinend wusste auch Kurai ein Lied davon zu singen. Kai, überall Kai… anscheinend verehrte sie den Drummer von The GazettE tatsächlich heiß und innig. Der Raum war von oben bis unten ledern schallisoliert. Deshalb hatte Hane nichts gehört. „Ähm… das ist wirklich nett von dir…“, Hane packte sie an einem Tuch, dass um ihren Unterarm gewickelt war und zerrte sie in den Flur, vor Kais Riesenportrait, „…aber was ist das?!“
 

„Das ist Maki’s Schuld … sie hat mir das Poster letztes Mal zum Geburtstag geschenkt.“ Hane bemerkte wie sich die dritte Person ganz leise nach hinten schlich. „Du brauchst gar nicht abzuhauen. Du bist Schuld, dass mich alle für krank halten …“
 

Hane erfuhr an diesem Abend nicht viel über Kurai, außer, dass sie auch Otaku war, war ja auch nicht zu übersehen und sie liebte die Farbe schwarz. Sie war tatsächlich DJ in einem Club auf dem Kietz, in dem auch Akai arbeitete, die sie später dort treffen würde. Ihr richtiger Name war Charlotta, wie sie weiter hieß, wollte sie nicht verraten. Kurai war der Name einer kleinen Dämonin aus der von vielen Otakus geliebten Mangaserie Angel Sanctuary von Kaori Yuki. Schwere Kost, aber ein absolutes Muss, nicht nur für Mangafans. Ansonsten machte sie ein ziemliches Geheimnis um sich. Wer war sie wirklich?
 

Hane fühlte sich hier irre wohl. „Es ist wirklich schön hier…“
 

„Wir haben noch ein Zimmer frei…“, meinte Kurai mit einem Lächeln, als sie ihre Deathnotejacke anzog und sich für diesen Abend verabschiedete. Tatsächlich hatten die Mädchen eine Vier-Zimmer-Wohnung. Das war verblüffend, aber naja, wenn sie sich die Miete teilten natürlich möglich, obwohl Hane gar nicht wissen wollte, was sie an Heizkosten zahlten, bei der hohen Decke und den großen Glasflächen.
 

„Wir können ja nachher noch mal im Club vorbeischauen.“ Der Tanzschuppen hieß „Rollercoaster”, Hane hatte schon mal davon gehört, ein paar Mädels in der Schule hatten sich darüber unterhalten. „Ich hab Lust zu tanzen.“
 

„V… von mir aus…“, Hane wusste nicht so recht, was sie davon halten sollte.
 

„Okay, aber ich fürchte, so kommst du da nicht rein.“
 

„Was?“
 

„Das war ein Scherz …“, Hane hatte an sich herunter geschaut. Was war denn falsch an ihrem Outfit? Gut, sie war heut schlichter gekleidet, weil ihre Mutter sie sonst nicht aus dem Haus gelassen hätte. Aber auf Party war sie nicht vorbereitet. „Du kannst auch ein paar Sachen von mir haben.“ Sachen von Maki’ tragen kam ihr vor, wie eine Auszeichnung. Aber eh sie sich versah, stand sie auch schon vor Maki’ Kleiderschrank und sah ihrer neuen Freundin beim Stöbern zu.
 

Und anscheinend wusste sie genau, was Hane stehen würde, denn sie brauchte nur ein paar Handgriffe, um etwas Passendes zu finden. Hane war ein flippiges, energiegeladenes Mädchen, deshalb passten die coolen Sachen sehr gut zu ihr, die Maki’ ihr in die Hand gedrückt hatte, die ihr natürlich ein wenig zu groß waren, was aber einen lässigen Eindruck machte und zu einem stimmigen Gesamteindruck beitrug.
 

Hane hatte befürchtet, sich nicht mehr wieder zu erkennen, wenn Maki’ mit ihr fertig war, aber im Gegenteil. Die Ältere hatte eine andere Seite an ihr herausgekramt. Die Sportlich-Elegante. Sie war immer noch sie, aber irgendwie fraulicher. „Also, wenn du jetzt nicht mindestens dreißig Nummern abgreifst, weiß ich auch nicht“, meinte Maki’ mit einem feisten Grinsen, während sie sich ihre Lieblingsjacke überwarf und Hane noch überlegte, ob sie das überhaupt wollte.
 

So schlenderten die beiden über die Reeperbahn, ein Ort, von dem sich Hane früher meilenweit entfernt gehalten hätte. War die Erotik-Vergnügungsmeile doch auch ein Ort von Gewalt und Verbrechen. Aber Maki’ ließ sie schnell die Zweifel vergessen, diese und alle anderen, die sie in ihrem Leben hatte, an sich, an dem, was sie tat und an dem, was sie liebte. Sie zuckte lediglich zusammen, als sie bemerkte, dass sie auf den Fame-Stern von Udo Lindenberg getreten war.
 

„Ganz ruhig Hane-chan, dass ist nur ein Trittstein, der ist dazu da, um drauf rumzutrampeln“, lachte Maki’ wieder und begrüßte im nächsten Moment einen Travestiekünstler. Hane wollte erst gar nicht wissen, woher sich die beiden kannten, aber er … äh… sie schien ganz in Ordnung zu sein.
 

Sie kamen schließlich am Rollercoaster an. Der Laden war gerammelt voll. Eine abgefahrene Location. Trotzdem sie ziemlich klein war, hatte Hane keine Mühe Kurai ausfindig zu machen, denn sie stand etwas weiter oben auf ihrem eigenen Podest, zwischen zwei Laseranlagen. Anscheinend mixte sie die Musik life… ja, natürlich… sie war ja auch DJ. Wieder war Hane beeindruckt. Kurai hatte ein unvergleichbares Talent alles tanzbar zu machen, was ihr je in die Ohren gekommen war.
 

Maki’ kam von der Bar zurück. „’Tschuldige, mich hat son Typ aufgehalten … Der hatte ein übergroßes Kinn, wie Wapol, nur ohne Metall und in schlank … na ja … schlaksig“, Maki’ schüttelte sich. Hane erinnerte sich an den fetten Gegenspieler von Monkey D. Ruffy aus One Piece.
 

„Also eher ein australo peticus…“, beide lachten, bei der Vorstellung dieses Urmenschen.
 

„Sein Kumpel war auch so …“

„Dann sind’s beide australo peticide… klingt irgendwie ungesund.“
 

„Klingt nach einem Coyote Ugly…“, meinte Maki’ sich halb krümmend vor Lachen und drückte ihrer Freundin ein Glas Bacardy Cola in die Hand. „Ah, guck… da ist Akai…“, Hane drehte sich um, als Maki an ihr vorbei durch die Menge auf einen Dancetable zeigte.
 

Was Hane als Erstes auffiel, waren dunkelrote lange Haare und ein Outfit, das an das einer indischen Kurtisane herankam, nur freizügiger … und ein Käfig … Das hatte Hane nicht erwartet. Sie hatte sich eine blonde Kellnerin vorgestellt. Akai war faszinierend schön und verbreitete einen verführerischen Hauch von Erotik. Sie war eine GoGo-Tänzerin, die ihr Handwerk verstand. Hane blieb die Sprache weg. Der Käfig der Akai umgab, war nicht dazu da sie einzusperren, sondern um die Männer von ihr fernzuhalten und wirkte neben ihr wie ein Accessoire. Hane konnte förmlich das Metall auf ihrer Haut klappern hören, während sie zu Kurais Musik die Hüften kreisen ließ.
 

Akai hatte die beiden bemerkt und begrüßte sie unauffällig mit einem Lächeln, ihre Augen funkelten Hane seltsam an, was ihr einen Schauer über den Rücken jagte… Sie waren das genaue Gegenteil voneinander. Das war also Akai. Der Name bedeutete nichts als Rot, das passte aber wie nichts anderes zu ihr, allein schon wegen der Haare. Hane schluckte.
 

Sie war sich auf einmal nicht mehr sicher, ob sie in das Leben dieser Frauen passte. Da war Maki’, die wie eine große Schwester werden könnte und so unfassbar talentiert und versiert war, in dem was sie tat, da war Kurai, die eine geniale Drummerin und DJ war, und dann Akai, mit der sie auf den ersten Blick überhaupt nichts anfangen konnte und die ihr in punkto Sexappeal und Sinnlichkeit meilenweit voraus schien, und so blieb ihr nur zu hoffen, dass Letztere sich doch als angenehme Person herausstellen würde, sprich als „Maki’-ähnlich“.
 

Diese ließ ihr keine Zeit nachzudenken, denn schon schleppte sie Hane auf die Tanzfläche. Zum Glück hatte Hane damit kein Problem, nur mit Akai vergleichen durfte sie sich nicht. Doch ihre Tanzpartnerin ließ sie Akai schnell vergessen. Kurai war bekannt dafür Liedelemente aus bekannten Animes mit Mainstream und Housemusic zu mixen. Eine irrer Cocktail, in dem Hane völlig aufging. Die meisten anderen Leute im Laden auch. Ihnen gefielen gerade die Animeeinflüsse, obwohl sie diese gar nicht kannten. Das war typisch.
 

In dem von amerikanischen Künstlern überfluteten Musikbuissnes ging das Potenzial fernöstlicher Musik total unter. Es ging halt nur noch um fette Beats, Hiphop und shaking asses. Aber Kurai hatte gerade die richtige Mischung aus allem, um bei den Leuten anzukommen. Zudem war sie einfach ein cooler Typ Frau, wie sie da so hinter ihren Turntables mit ihrer sexy Leichtigkeit vor sich hin groovte und ihre Mähne schüttelte. Es machte ihr einfach Spaß den Menschen eine gute Zeit zu verschaffen und das wussten alle zu schätzen.
 

Der Abend verging wie im Flug und als Hane in ihre Tasche griff, um auf ihr Handy zu schauen, bemerkte sie, dass ihr tatsächlich einige Männer ihre Nummern zugesteckt hatten. Hane wurde etwas rot, aber insgeheim freute sie sch unheimlich, es war halt gut fürs Selbstbewusstsein und ging runter wie Öl, schade, dass sich keiner getraut hatte, sie anzusprechen. Es war doch tatsächlich schon vier Uhr morgens. Maki’ lotste sie durch die Menge zu einem Hinterraum. „Wir holen nur schnell Akai ab, Kurai kommt auch gleich.“
 

Akai… ja, die hatte sie ja völlig vergessen. Sie war zwischendurch verschwunden, was Hane beim Tanzen nicht bemerkt hatte. „Sie ist bestimmt hinten und spielt Gitarre.“
 

„Oh, wirklich?“, sie hatten also doch etwas gemeinsam.
 

„Ja, sie braucht das, um runter zu kommen“, Maki’ schaute vielsagend. Dann begrüßte sie einen korpulenten farbigen Türsteher mit einem Küsschen auf die Wange. „Hi, ist Akai hinten?“
 

„Jepp, die Kleine rockt schon wieder die Bude“, meinte er und lachte heiser.
 

Als Hane Akai zum ersten Mal spielen hörte, wurde ihr schlecht. Sie lief auf der Stelle kreidebleich an. Diese Frau spielte so fantastisch Gitarre, dass Hane sich wie eine Anfängerin dagegen vorkam und schließlich war sie ja „nur“ Bassistin.
 

Sie hätte locker mit miyavi mithalten können. Sie spielte ein Riff aus Vanilla einem Lied von Gackt… quasi zum „Runterkommen“… Als sie fertig war, tippte sie mit ihrem Stilletto gegen einen Schalter an ihrem kleinen Verstärker. Ruhe. „Ah… jetzt geht’s mir gut“, meinte sie und turnte über die Lehne zu Maki’ auf die Couch. Sie ließ den Kopf in den Nacken sinken und schloss die Augen. „Hallo, Maki’…“
 

„Hi, Akai…“, es kam nichts mehr. „Das hier ist Hane … das Mädchen, das ich im Christopherusgymnasium kennen gelernt habe … sie spielt auch Gitarre“, erst da wurde Akai aufmerksam und bequemte sich trotz Muskelkater aufzusehen.
 

„Naja, ich spiel eigentlich nur Bass …“
 

„Hi“, meinte die Rothhaarige fast schon gleichgültig.
 

„Akai spielt schon seit sie drei ist…“
 

„Das hört man …“, mehr traute sich Hane nicht zu sagen. Sie hatte die Flügel erst mal wieder eingeklappt.

Fünf

In den nächsten Wochen, hatte Hane immer wieder viel erlebt. Sie war Maki’ ans Herz gewachsen und es kam ihr schnell so vor, als wären sie schon immer Freunde gewesen. Auch mit Kurai war sie inzwischen dicke. Sie waren bei vielen Sachen einer Meinung, hatten zum Beispiel zusammen ein paar neue Mixe aufgenommen, was Hane wie eine kleine Ehre empfand. Sie arbeitete jetzt im Laden Harajuku für Yoshiko Hansaki und war ein fester Bestandteil der Clique geworden.
 

Nur mit Akai kam sie nicht zurecht. Vor allem, weil diese kaum zu Hause war. Sie arbeitete von früh bis spät und wenn sie zugegen war, schlief sie fünf Stunden am Tag. Hane hatte nur erfahren, dass sie als Tanzlehrerin in einer Tanzschule angestellt war, die so ziemlich alles an Kursen anbot. Wahrscheinlich würde sie GoGo-Kurse geben. Sie war keinesfalls unfreundlich und launisch, nur Hane gegenüber war sie so. Es kam ihr manchmal so vor, als würde sie auf sie herab schauen. Einmal hatte sie Hane beim Üben mit der Bassgitarre erwischt, sie hatte eine Weile in der Tür gestanden und ihr zugehört. Als Hane sie bemerkte, verspielte sie sich schrecklich und als sie sich umdrehte, sah sie nur wie Akai sich kopfschüttelnd umdrehte und ging.
 

In der Zwischenzeit hatte sie auch Suzu kennen gelernt. Ihr gehörte der Club Rollercoaster, sie war also die fünfte im Bunde. Eine ganz Liebe, die eher schlicht gekleidet und gestylt war und nur mit ihrem Charme und ihrer intellektuellen Frechheit überzeugte. Sie war kein Otaku mehr, zwar las sie ab und an noch ein paar Manga und konnte auch mitreden, aber sie hatte das Leben gezwungen sich mit anderen Sachen auseinander zu setzen. Irgendwie war sie weiter als der Rest der Mädchen. Das lag wahrscheinlich daran, dass sie schon verheiratet und vierundzwanzig Jahre alt war. Hane erfuhr, dass sie die Tochter einer Freundin von Maki’s Mutter war. Also waren beide Mädchen in diesem Club aufgewachsen. Es hatte eine Zeit gegeben, in der sie sich jeden Tag sahen und jeden Tag gespielt hatten.
 

Suzu hatte in den letzten Monaten sehr viel Pech gehabt. In ihrer Wohnung wurde eingebrochen und ihr Mann hatte sie verlassen, weil er nicht mit seiner Welt im Reinen war. Das letzte Mal hatte sie ihn gesehen, als er halb komatös nach einem Selbstmordversuch im Krankenhaus aufgewacht war. Er war in psychiatrischer Behandlung und seitdem hatte er sich nicht bei ihr gemeldet. Die Scheidungspapiere hatte er längst unterschrieben. Außerdem war Suzu im dritten Monat schwanger. Deshalb war sie aus einem Vorort wieder zurück nach Hamburg gezogen.
 

„Ach, ich hab das alles so vermisst“, meinte sie mit einem vielsagenden traurigen Blick, als sie mit den anderen vier im Café saß. Akai hatte sich heute frei genommen. Ihr war ihre Freundin wichtiger als ihre Arbeit. Das wusste Hane zu schätzen.
 

Sie erfuhr auch, dass die Mädchen damals vor Suzus Hochzeit eine Band gegründet hatten, lag ja auch nahe, bei so viel Talent auf einer Ecke. „Ich hab mich eines Abends an unsere Zeit mit „Namida Bandits“ erinnert“, ein Lächeln huschte über die Gesichter der anderen „und da wusste ich, dass ich nirgendwo anders auf der Welt sein will als bei euch.“
 

Hane empfand sie als eine unglaublich starke Frau. Mit Namida Bandits meinte sie natürlich die Band. Es bedeutete Tränenräuber. Maki’ hatte ihr, als sie eines Abends mit ihr auf dem Dach des Wohnblocks lag und die Sterne beobachte, erklärt, was es mit dem Namen auf sich hat. Den Mädchen ging es darum Emotionen mit ihren Liedern hervorzurufen. Der stärkste Ausdruck von Gefühlen sind Tränen. Aus Traurigkeit und auch aus Freude. Sie wollten den Menschen, die ihre Musik hören, eine Träne rauben. Denn an Tränen, egal ob aus Freude oder Trauer, beginnt man immer zu wachsen… Hane empfand den Gedanken aus dem Weinen heraus zu erstarken, großartig und das war es auch, was diese Mädchen ausmachte.
 

Sie hatten alle ihr Päckchen zu tragen. Maki’ vermisste ihren Bruder, der im Irak stationiert war und als ihre Eltern sich scheiden ließen, war sie gerade sieben Jahre alt. Über Akai wusste sie immer noch nichts, aber sie hatte so viel zu tun und arbeitete so hart, um über die Runden zu kommen, dass ihre Füße von Tanzen grün und blau waren und sie ständig Schmerztabletten schluckte und übermüdet war. Kurai machte auch immer noch ein großes Geheimnis um sich, aber Hane hatte lägst gesehen, dass hinter der lockeren Fassade eine lange Kette von Problemen lag und Kurais größtes Problem darin bestand, dass sie nicht darüber reden wollte. Und trotzdem verblüffte es Hane, dass Maki’ obwohl sie mit ihr schon zwei Jahre unter einem Dach lebte, genauso wenig über sie wusste wie sie, Hane selbst. Und Hane konnte sich mit ihrem alkoholabhängigen Vater und der Ehekrise ihrer Eltern gut in die Liga einfügen.
 

„Ja, und weil mir diese Zeit so unsagbar viel Kraft gegeben hat“, und nun legte sich doch ein glasiger Schimmer über Suzus Augen, doch sie lächelte, eindeutig Tränen der Freude, „wollte ich euch bitten, dass wir es noch mal versuchen.“
 

Hane wurde traurig. Da gab es etwas zwischen den anderen, von dem sie ausgeschlossen war. Ein unsichtbares Band, dass sie zusammenhielt und nie zerreißen würde.
 

„Ich hab schon mit Maki’ darüber geredet, am Telefon… und ich bitte euch wirklich darum… Ich brauche euch jetzt.“ Und von Geisterhand griffen alle nach ihren Händen, die aufgeklappt wie ein Buch auf dem Tisch lagen.
 

Hane nicht. Sie saß nur da und lächelte tapfer weiter. Das war ohne Zweifel ein ungesagtes, aber klares Ja. Maki’ drehte sich zu Hane um, sie sah sie erwartungsvoll an… Was sollte sie denn tun? Sollte sie einfach auch ihre Hand dazulegen?
 

Maki’s Mund formte ein Lächeln. „Bist du dabei?“
 

Sie schaute die anderen an. Suzu lächelte ein Muttilächeln, „Cool, dann haben wir endlich wieder eine Bassistin …“, meinte Kurai und Akai funkelte sie böse an, dann warf sie einen Blick in Maki’s Gesicht und seufzte: „Von mir aus…“
 

Maki schaute wieder Hane an. „Bist du dabei…?“, diese zögerte. „Eine von uns… Hane“, langsam hob sie die Hand und legte sie auf Kurais, die oben war.
 

Suzu ergriff wieder das Wort: „Also sind wir von jetzt an fünf. Wir sind fünf… und … bleiben fünf.“
 

Diese Worte hatten etwas Magisches, denn für eine ganze Weile traute sich niemand etwas zu sagen. „Go…“, das japanische Wort für fünf.
 

Nach ein paar Minuten nahmen sie die Hände wieder voneinander und Maki’ holte ein Tuch hervor. Ein schwarzes halbtransparentes Tuch mit roten Stickereien. „Hane… ich wusste, du würdest dich uns anschließen, ebenso wie ich wusste, dass ihr alle damit einverstanden seit, Namida Bandits wieder zu beleben… also… das hier ist für dich … Das ist unser Erkennungszeichen. Es ist nur ein albernes Tuch, aber es ist unser Symbol und steht für so viel. Damit bist du … offiziell … eine von uns.“
 

Nun wurde auch Hane ganz anders. Ihr stiegen die Tränen ins Gesicht, so dass Maki’ ihren Arm um sie legte.
 

„Oh…“, machten die anderen, was Hane fast schon peinlich war. „Ich danke euch…“
 

„Ja! Ich bin nicht mehr das Nesthäkchen“, sagte Maki’, alle lachten, „Jetzt bist du auch eine Banditin.“
 

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Hane war komplett überwältigt von den Songs von Namida Bandits, die größtenteils auf Japanisch waren. Sie waren also tatsächlich eine Visual Kei-Band. Hane hatte zwar gewusst, dass Maki’ ziemlich fließend Japanisch sprach, doch dass sie sich auch traute Liedertexte zu schreiben, war toll. Suzu hatte die Musik komponiert. Sie war auch die Sängerin, was Hane zuerst gewundert hatte, aber sie merkte schnell, dass Suzu professioneller war als Maki’ und das wiederum diese ein Vorbild in ihr sah. Von ihr hatte Maki’ alles gelernt, was sie konnte, zumindest musikalisch.
 

Wegen ihrer Bassstimme hatte Hane sich doch tatsächlich mit Akai zusammengesetzt. Diese hatte in letzter Zeit einen ihrer Jobs verloren, weil das Restaurant, in dem sie arbeitete Konkurs ging. „Wir beide in einer Band… na, ob das gut geht…“, meinte sie und setzte sich mit ihrer Gitarre auf einen alten Barhocker, den sie wahrscheinlich immer zum üben nahm. Hane war nach zehn Wochen das erste Mal in ihrem Zimmer.
 

Hier sah es ganz anders aus, als bei den anderen Mädchen. Ihr Zimmer war leer. Es gab eine Matratze auf dem Boden, zwei Kommoden und einen Kleiderschrank. Einen kleinen Tisch und viel Platz … zum Tanzen. Das, was sie an Extravaganzen besaß, hatten ihr die Mädchen geschenkt. An der Wand hingen Bilder von ihr und ihrem Freund. Den hatte Hane noch nicht kennen gelernt. Auf dem Schrank stand ein schwarzer Schuhkarton. Irgendetwas Bedeutsames ging davon aus. Hane hätte gerne gewusst, was darin war. Es lag eine merkwürdige Atmosphäre in der Luft, die Hane fast die Kehle zuschnürte. Aber sie wusste, dass sie sich früher oder später mit Akai auseinandersetzen musste und sie tat es für die Band.
 

Akai war eine kühle Realistin, in ihrem Leben gab es keinen Platz für Traumtänzereien. Hane versuchte tapfer zu sein, doch Akais bloße Anwesenheit trieb ihr die Schweißperlen auf die Stirn. Sie verspielte sich oft, was Akai sichtlich nervte. Hane konnte nicht mal ansatzweise mit ihr mithalten, obwohl sie ihr Bestes gab. Das war unglaublich schwer für sie und es war ja nicht nur Akai, auch die anderem waren so talentiert, jede auf ihrem Gebiet. „Wenn du das nicht hinkriegst, hast du bei uns nichts zu suchen“, meinte Akai kalt, als sie bemerkte, dass Hane anfing zu zittern.
 

„Ich… ich werde üben, ich krieg das hin, ich versprechs dir.“
 

„Viel Glück“, meinte sie und schob Hane auf den Flur. „Wir machen Morgen weiter…“
 

„Gute N…“, die Tür klappte zu, „acht…“ Hane lief eine Träne die Wange runter. Doch dann erinnerte sie sich daran, was Maki’ gesagt hatte. Sie würde Akai beweisen, dass sie die Lieder spielen und sich verbessern konnte. Sie würde wachsen. Sie wünschte sich ihre benahe große Schwester herbei, und schon klickte ein Schlüssel im Schloss. Ein Lachen kam damit herein. Maki’ konnte wirklich Gedanken lesen.
 

Sie kam mit Kurai nach Hause. Zuerst kam ihr aber Dumpfi entgegen, der fette Kater hatte das Rascheln von Einkaufstüten gehört und Futter gewittert. Hane hatte den Schwarzen ja von Anfang an ins Herz geschlossen und nachdem ihre Mutter ihr immer was aus der Küche für den kleinen Drops mitgegeben hatte, beruhte diese Zuneigung auf Gegenseitigkeit. Maki’s Lächeln versagte sofort, als sie bemerkte, dass Hane den Kater etwas zu fest drückte und ihre verlaufene Schminke sah. Sie fasste an ihr Kinn und drehte wortlos das Gesicht ihrer Freundin zu ihr. „Was ist denn los?“, ein sanftes Streicheln über den Rücken folgte.
 

Etwas, dass Hane nicht kannte. Zu Hause kümmerte sich niemand um sie und es merkte auch niemand, wenn es ihr schlecht ging. Sie hatte es sich immer verkniffen, mit ihren Eltern über ihre Probleme mit den Mitschülern zu reden, weil sie sie nicht damit belasten wollte. Dass jemand sie von sich aus darum bat, ihr ein Problem zu schildern, kannte sie gar nicht. Auch Kurai kam dazu.
 

Maki’ bemerkte die Bassgitarre, die immer noch neben ihr an der Wand stand. „Akai?“, fragte sie geradeheraus.
 

Hane nickte, dann lehnte sie sich an Maki’s Schulter und ließ ihrem Kummer freien Lauf. Dieses Nicken hatte mehr als viele Worte gesagt. Sie hatten am Küchentisch gesessen und geredet und zum ersten Mal ging es in einem Gespräch um sie. Die Mädchen sprachen ihr Mut zu und versuchten Akais Verhalten zu erklären.
 

„Weißt du, was das ist?“ Maki’ und Kurai grinsten sich an.
 

„Das ist ein klarer Fall für…“, erweiterte die Zweite den Satz und beide beendeten: „Oko!!!“ Was folgte, war eine weitere Episode von „Kurai und Maki’ kochen Japanisch“, heute: Okonomyaki. Das war ein Gericht, das aus Kohl, Fleisch und einem eierkuchenähnlichen Teig mit einer speziellen Soße bestand. Die Besonderheit daran war, das Maki’ und Kurai das Rezept mit Zucker verfeinert hatten, was eine unwiderstehlich aufheiternde Wirkung hatte. Das gemeinsame Kochen mit den Beiden zauberte Hane wieder ein Lachen ins Gesicht, was ihr jäh im Hals stecken blieb, als Akai aus ihrem Zimmer kam, um sich was zu trinken zu holen.
 

Ihr Blick sagte so viel wie: „Wolltest du nicht üben?“
 

Hane verschluckte sich an einem Stück Kohl und auch Maki’ und Kurai schwiegen einen Augenblick. Dann verschwand Akai wieder.
 

Kurai seufzte. „Willst du heute Nacht in mein Zimmer? Da kannst du üben, ohne dass jemand dich hört. Ich schlaf dann bei Maki’“, meinte sie kurzerhand und die Freundin mit dem Seitenzopf willigte ein.
 

Auch Hane war einverstanden und sie machte sich auch gleich auf den Weg. Sie bemerkte, als sie ihre Gitarre von der Wand weg nahm, dass irgendjemand was an die Stimmmechaniken gehängt hatte. Eine kleine Rolle weißes Pflaster. Was hatte denn das zu bedeuten? War das Akai? Hane nahm sie erst mal mit ins Zimmer. Sie hatte offensichtlich eine lange Nacht vor sich.
 

Und sie spiele tatsächlich wie besessen und am nächsten Morgen irgendwann um sechs Uhr in der Frühe bekam sie plötzlich eine Ahnung davon, was Akai ihr mit den Pflastern sagen wollte. Ihre Finger taten furchtbar weh. Aber sie riss sich zusammen, sie würde es schaffen und sie merkte tatsächlich, dass sie immer besser wurde. Zwei der Lieder konnte sie bereits aus dem FF spielen. Einige der Stücke waren so raffiniert komponiert, dass sie manchmal glaubte, sich jeden Finger zu verdrehen, zumal sie offensichtlich zu kleine Hände hatte.
 

Nun war sie in der Phase angekommen, dass sie jedes mal vor Schmerz das Gesicht verzog, wenn sie eine Saite zupfte. Ihr kamen die Saiten irgendwie immer rutschiger vor. Als sie kurz Pause machte, um nachzusehen, was los war, merkte sie schnell warum. Ihr Daumen fühlte sich starr an, Zeige- ,Mittel- und Ringfinger bluteten, die Nägel kurz davor aufzugeben.
 

Ihr Blick fiel auf die kleine Rolle, die neben ihr auf dem Tisch mit den Turntables lag. Sie legte die Bassgitarre kurz zur Seite und umwickelte ihre Finger mit dem weißen Pflaster, dass anscheinend noch auf DDR-Zeiten stammte. Überraschend. Der Schmerz ließ sofort nach und als Nächstes nahm Hane ein Tempotaschentuch aus der Packung und wischte die Gitarre sauber. Sie trank einen Schluck aus ihrer Wasserflasche.
 

Dabei entdeckte sie einen kleinen Zettel, der an der Tischkante hing. Darauf stand ihr Name: „Hane: Summ die Bassstimme mit, und merk sie dir ohne Noten.“, daneben war ein kleines Bildchen von einem Auge und einer geschwungenen Linie, die sie sofort als Karikatur von Maki’ erkannte. Das sollte funktionieren? Aber Hane vertraute Maki’ einfach mal und versuchte es auf diesem Weg und es ging tatsächlich besser. Hane war wahrscheinlich wie Maki’ auch jemand, der sich Melodien eher nach Gehör merkte, als auf Noten zu achten und auch eher nach Gehör spielte. Maki’ hatte sofort gemerkt, dass es für Hane so einfacher würde, weil sie es schon im Chor immer so gemacht hatte. Suzus Notenfolgen erschienen ihr so komplex, dass sie den Überblick verlor. Aber so konnte es tatsächlich klappen.
 

Und in dem Moment klopfte es schon wieder an der Tür und Maki’ stand natürlich darin. „Und, hast du meinen Zettel gefunden?“
 

„Um ehrlich zu sein, habe ich ihn gerade eben erst gesehen …“
 

Maki’ rümpfte kurz die Nase. „Aber hast du verstanden, was ich dir damit sagen will?“
 

„Ich denke schon.“
 

Sie setzte sich an das Keyboard, dass neuerdings für Suzu am anderen Ende des Raumes vor dem Fenster stand. Unterwegs dorthin hatte sie Hane die Notenblätter weggenommen. „Pass auf, ich spiele dir die Bassstimme vor und du spielst nach. Ich sing auch dazu, dann bekommst du ein besseres Gefühl für die Melodie, geht mir zumindest immer so.“ Sie lächelte. Maki’ war so lieb.
 

Also rückten sie beiden zusammen und fingen an zu üben. Hane war natürlich aufgefallen, dass Maki’ immer noch sehr müde war. Tatsächlich hatte sie sich die ganze Nacht lang Sorgen gemacht. Maki’s Konzept ging auf. Sie hatte sich gut in Hane hinein versetzt. Diese wiederum war ihr unendlich dankbar. „Von wem hast du denn die Pflaster? Die benutzt doch eigentlich nur Akai?“, fragte sie Maki’ zwischendurch.
 

„ …hing an meiner Gitarre.“
 

Maki’ lächelte in sich hinein.
 

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Am nächsten Tag hatten sie eine kleine Probe in Kurais Zimmer. Alle hatten sich versammelt. Hane dachte sich: Hab ich nicht schon genug Zeit in diesem Zimmer verbracht… so ganz allein mit Kai…?! Das einzigste, was ihr noch Probleme bereitete, war ihr Daumen, der immer noch weh tat. Und natürlich Akais Anwesenheit. Sie würde heute garantiert auf jeden Ton achten. Sie war routiniert genug, um ihren Part im Schlaf spielen zu können.
 

Hanes Herz schlug ihr mal wieder bis zum Hals. Sie fühlte sich wie bei einer Prüfung. Sie würde nie mit Akai zurecht kommen, das wusste sie. Auch wenn sie die Lieder perfekt spielen konnte, würde Akai sie immer wieder unter Druck setzen. Ihr war richtig flau im Magen und sie spürte einen eisigen Hauch, der von rechts kam. Sie war froh, dass Suzu noch dazwischen stand.
 

Sie fingen an zu spielen. Zum Glück war es eines der einfachen Lieder. Jetzt kam ihr Einsatz. Sie drehte sich um und schaute zu Maki’, die ihr zunickte. Hane war so froh, dass sie da war. Die ersten paar Takte waren gut. Es hörte sich toll an. Das gab Hane einen Schub. Sie war glücklich. In ihr sprudelten Endorphine hervor. Es hatte sich gelohnt. Dann verabschiedete sich Suzu kurz dach hinten, weil der Bridgeteil einsetzte.
 

Hane merkte dass Akai total in ihrem Element war und was sie tat sah so wahnsinnig professionell aus. Dagegen kam Hane sich vollkommen steif vor und Akais Talent schien so weit entfernt. Plötzlich merkte sie, dass Akai auf sie zu kam. Was hatte sie vor? Wollte sie sie etwa von ihrem Platz drängeln? Und es funktionierte tatsächlich. Hane versuchte ihr zu entkommen. Dabei übersah sie das Kabel neben sich und verhedderte sich darin. Plötzlich verlor sie die Konzentration und damit auch die Kontrolle über sich. Sie verriss die Saite und stolperte. Dann stürzte sie!
 

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Hane saß schmollend im Bett… im Krankenbett. Im Krankenhaus! Und ein dicker Verband zierte ihr Gesicht! Glatter… Nasenbeinbruch! Dieser Tag war ein absolutes Desaster!! Sie fühlte sich schrecklich. Das war eine absolute Niederlage, Akai gegenüber - eine tausendfache Demütigung. War das etwa das, was Akai wollte? Hoffte sie, dass Hane jetzt aufgeben würde? Den Gefallen würde sie ihr nicht tun… sobald sie diesen Tag irgendwie aus ihrem Gedächtnis streichen und ihren Stolz wieder aus dem Mülleimer ziehen konnte. Aber im Moment wollte sie einfach nur heulen.
 

Maki’ saß neben ihr. „Wenn du weinen willst, dann tus einfach. Vor mir brachst du dich doch nicht genieren.“
 

„Wie denn?!“, kam es fast ersterbend von ihr. Selbst weinen konnte sie nicht vor Schmerzen.
 

Es klopfte an der Tür und kurz darauf schauten rote Strähnen durch den Spalt. Das hatte Hane gerade noch gefehlt. Sie schaute schnell aus dem Fenster. Akai hingegen begab sich in Richtung Bett und bat Maki’ mit einem Blick kurz raus zu gehen. Maki’ hatte keine Bedenken jetzt zu gehen. Hane fühlte sich ein kleines bisschen verraten. Aber dann dachte sie sich, dass Maki’ das aus Höflichkeit tat. Die Tür ging zu. Akai setzte sich nicht auf den Stuhl, sondern auf die Bettkante.
 

„Was willst du? Mich weiter demütigen?!“, es gab für Hane jetzt keinen Grund nett zu sein, oder sich einzuschleimen. Dass Akai sie hasste, war ihr jetzt mehr als bewusst.
 

Doch diese lachte nur kurz auf. „Ich glaube, das kriegst du allein am besten hin.“ Hane hätte ihr jetzt am liebsten eine gefeuert. Aber der Arzt hatte ihr erst mal verboten hastige Bewegungen zu machen. „Schau mich mal an!“ Hane wollte nicht. Sie hasste dieses schöne Gesicht. Dann rang sie sich doch dazu durch, aber nicht ohne einen Todesblick loszuwerden. „Ich hatte nicht vor, dich von der Stelle zu drängen“, sagte sie und einen Moment lang kam es Hane so vor als wäre ihr Ausdruck ein wenig weicher geworden. Und tatsächlich. „Ich wollte dich eigentlich nur antanzen. Ich dachte ja nicht, dass du dich dadurch bedroht fühlst. Dass sich das so aus der Bahn wirft…“, fand Akai diesem Kalauer jetzt witzig?
 

„Antanzen?“
 

„Ja, das machen Gitarristen manchmal“, kam es von ihr mit einem Zwinkern.
 

„Du wolltest mir gar nichts Böses?“
 

„Nein. Ich wollte nur ein bisschen mit dir abfeiern, weil ich mich gefreut hab, dass du die Bassstimme mittlerweile und nach so kurzer Zeit so gut spielen kannst. Wenn ich an deine ersten Versuche denke… oh je…“
 

„Ich wollte dir unbedingt beweisen, das ich es perfekt kann.“
 

„Ja, aber du warst so konzentriert, dass ich dachte da steht eine Eisenstange neben mir. Wahrscheinlich hattest du deshalb so eine Anziehungskraft auf mich, dass ich dich antanzen wollte.“
 

„Ha, ha…“, machte Hane überzogen. Sie musste dann aber bei der Anspielung an Akais Job als GoGo-Tänzerin lachen. Was sie im nächsten Moment auch schon bereute. Weinen ging nicht, lachen auch nicht. „Au…“
 

„Hör mal, es geht nicht darum, dass du perfekt bist. Du musst einfach Spaß haben und dann ist es den Menschen auch egal, wenn du dich mal verspielst… du bist doch keine Maschine… Fehler machen dich sympathisch und wenn du dazu stehst, dann fängst du an über den Dingen zu stehen. Das hat eine unwahrscheinliche Wirkung auf andere. Das macht dich zu einem größeren Menschen.“
 

Hane musste an die Bedeutung des Namens Namida Bandits denken. Wachsen war genau das, was sie wollte.
 

„Das wollte ich dir zeigen. Es war ja gar nicht böse gemeint. Dass du dich von mir so einschüchtern lässt, hätte ich nicht gedacht, zumal du dich ja so gut vorbereitet und die ganze Nacht geübt hast“, sie warf einen Blick auf ihre Finger. „Aber es stimmt. Ich konnte dich am Anfang wirklich nicht leiden…“
 

„Aber warum denn, was habe ich dir getan?“
 

Akai lachte kurz in sich hinein und schaute auf die Decke, dann wieder in das Gesicht ihres Gegenübers. „Soll ich ehrlich sein?“, sie machte eine Kunstpause, „Ich war neidisch.“
 

Das hatte Hane nicht gedacht. „W-Wie meinst du das?!“
 

„So wie ich es sage…“, ihr Gesicht wurde ernst. „Ich bin neidisch auf dich… Sieh dich doch an. Du bist… so vielseitig talentiert. Du kannst so hammergut Zeichnen. Zumindest hat mich das umgehauen, was ich in Maki’s Conhon gesehen habe, du bist eine super Bassistin und ich hab dich vorhin kurz singen gehört, du hast eine schöne Stimme. Du wirst dein Abi wahrscheinlich mit eins machen. Du bist belesen und hast eine hohe Allgemeinbildung. Dazu bist du noch sehr hübsch. Du hast einfach so viele Möglichkeiten, etwas aus dir zu machen. Und jetzt sieh mal mich an. Ich hab gerade mit ach und krach meinen Realschulabschluss gemacht, weil ich einem Traum nachgejagt bin, der sich so wie so nie erfüllt hätte. Ich bin, was ich bin. Ich hab nichts außer meinem Aussehen. Ich kann nichts außer tanzen und Gitarre spielen. Ich wäre gerne wie du. Ich bewundere dich richtig.“
 

Hane saß wie versteinert da und ließ die Worte über sich regnen. Sie konnte nicht glauben, was sie da hörte.
 

„Das überrascht dich jetzt, oder?“
 

„Das hätte ich nie gedacht. Ich hab zu dir aufgesehen und das tue ich immer noch. Wenn du wüsstest, wie schlecht mir war, als ich dich das erste Mal hab Gitarre spielen hören.“
 

„Ha, ha… das glaube ich. Du hast wirklich noch eine Menge zu lernen, aber zieh dein Ding einfach durch. Ich hab gleich gehört, dass du dich wahnsinnig weiterentwickelt hast. Ich glaube, ich muss Angst haben, dass du mich einholst.“
 

„Quatsch, an sich komm ich doch nicht ran.“
 

„Na … sag das nicht zu laut. Komm, der Arzt hat gesagt du darfst gehen. Willst du mit zu uns, oder sollen wir dich nach Hause bringen?“
 

„Nee, ich glaube, ich möchte bei euch bleiben. Aber sag mal, es ist Samstag, hast du denn heute keine Arbeit?“
 

„Ich hab mir frei genommen, weil ich mit dir reden wollte.“
 

„Aber deine Arbeit ist doch so wichtig für dich…“
 

„Nicht wichtiger als eine Freundin…“, sie lächelte, dann wurde daraus ein Lachen.
 

„Was ist denn auf einmal?“
 

„Du… siehst jetzt aus wie Reita…“
 

„Sehr witzig!“



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Kommentare zu dieser Fanfic (1)

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Von:  eiko
2010-03-04T12:49:01+00:00 04.03.2010 13:49
*reinhopps*
huch?
so leer? *blinzel*
*sniff*
also... dann komm ich mal zur sache, ne?
*hibbl*
schöööö~n
*schmacht*
ach.. da fängt man wieder an zu träumen. wirklich sehr gelungen, auch wenn ich zugeben muss, dass ich die namen und die parts noch nette so drauf hab >>°
aber ich hoffe, hier gibts auch ne fortsetzung? *blinzel*

lg eiko

ps: *auch son großes kai-poster ham will* >//////<


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