Unerwarteter (Rechts-)Beistand
„Was denkst du, was du da tust, junger Mann?“
Sam hielt inne, die Hand am Türknauf, dann drehte er sich ertappt zu Dean um.
„Spazieren gehen?“, schlug er vorsichtig vor und erntete einen strengen Blick von Dean, der noch im Bett lag und eigentlich hätte schlafen sollen.
„Ach komm schon, Dean!“, entfuhr es Sam unwillkürlich. „Das mit der Banshee ist zwei Wochen her! Augenscheinlich lebe ich noch, und ich finde, du könntest so langsam ruhig wieder damit aufhören, dich wie eine Gluckhenne zu benehmen!“
Dean schob mit einem Ruck die Bettdecke beiseite, ignorierte die unverschämte Bezeichnung ‚Gluckhenne’ für sein männliches Selbst, ignorierte weiterhin, dass es im Zimmer schweinekalt war, und stand auf.
„Du wartest, bis ich mich angezogen habe, und dann gehen wir zusammen spazieren!“
Mit diesen Worten verschwand er ins Bad, und Sam seufzte und ließ sich gottergeben auf sein Bett fallen.
Dabei hatte er doch extra spazieren gehen wollen, um zumindest für einen Moment von Dean loszukommen.
Er brauchte endlich wieder ein wenig Zeit für sich selbst, wenn er nicht endgültig überschnappen wollte.
Dean war in den letzten zwei Wochen ohne Vorwarnung zur Super-Mutti mutiert und ließ ihn keine Sekunde aus den Augen, und auch wenn Sam verstand, warum er das tat, und den Gedanken, der dahinter steckte, ungemein schätzte, konnte er langsam aber sicher nicht mehr.
Ständig diese peinlichen Prinzen-Flashbacks, die – inzwischen nur noch geringfügige – Angst vor seinem durch die Banshee angekündigten Tod, und dann auch noch ein Bruder, der pausenlos um ihn herum schwirrte wie ein Glühwürmchen auf Autopilot, waren einfach zu viel.
Er vermisste den alten Dean, seine dummen Sprüche, seinen Galgenhumor, seine Abneigung gegen jegliche Form von Gefühlsduselei – aber vor allem seine dummen Sprüche.
Dean hatte ihn schon ewig nicht mehr mit einem Mädchennamen belegt, und das war einfach nicht richtig, so funktionierte das Universum einfach nicht – und jetzt wollte er ihn sogar auf einen Spaziergang begleiten und das, obwohl er Spaziergänge hasste, sie überflüssig fand und für grenzenlos überschätzt hielt, und bei allem, was recht war, das war zu viel!
Sam stand ruckartig auf, durchquerte das Zimmer mit zwei Schritten – hey, das Zimmer war klein, er war entschieden groß – und riss die Tür zum Bad auf.
Gerade, als er Deans Körper schemenhaft hinter dem hässlichsten Duschvorhang aller Zeiten erkennen konnte, schoss ihm ein Bild durch den Kopf, das ihn beinahe von den Füßen riss:
Er und Dean in einem dunklen Zelt, Dean bewusstlos, seine Lippen auf Deans.
Schon wieder so ein peinlicher Flashback – obwohl peinlich in diesem Fall nicht ganz das zutreffende Wort war.
Sam konnte sich nicht helfen, er wurde rot, und dann zog Dean den Duschvorhang ein Stück beiseite und lugte misstrauisch daran vorbei.
„Was machst du da?“
Sam wurde zu seinem eigenen Verdruss noch ein wenig röter, und es half ihm kein Bisschen, dass Dean auf der anderen Seite dieses blöden Duschvorhangs nackt war.
„Nichts.“
Das war ja nun sehr überzeugend und total unauffällig und unverdächtig noch dazu.
Sam gratulierte sich selbst, verlieh sich im Stillen eine goldene Himbeere und trat hastig den Rückzug ins Schlafzimmer an.
Das konnte doch jetzt nicht wahr sein!
Er war wieder normal geworden, weil er Dean geküsst hatte?!
Sam verspürte ein Schwindelgefühl und musste sich setzen.
Ausgerechnet Dean war also die ganze Zeit über seine Prinzessin gewesen – hier schlich sich ein trotz der erschreckenden Erkenntnis nicht zu unterdrückendes Grinsen auf Sams Gesicht – und wenn er ihn nicht hätte beatmen müssen, dann wäre er für immer ein Prinz geblieben?!
Das waren ja furchtbare Neuigkeiten!
Dean konnte nicht seine Prinzessin sein!
Dean war nicht im Mindesten prinzessinnen-tauglich und außerdem war er auch überhaupt keine Jungfrau mehr!
Sam verpasste sich eine mentale Ohrfeige – das war ja wohl kaum das Problem!
Dean war nicht nur prinzessinnen-untauglich, er war sein Bruder und somit völlig ungeeignet, zum Ziel romantischen Interesses jeglicher Art zu werden!
Dean nahm einen Schluck Bier und lugte Sam über die Flasche in seiner Hand hinweg prüfend an.
Seit ihrem Spaziergang an diesem Morgen hatte er das zwingende Gefühl, Sam verschweige ihm etwas, und auch, wenn er dieses Gefühl nicht zum ersten Mal hatte und es für gewöhnlich schlichtweg ignorierte, dieses Mal war es irgendwie anders als sonst.
Sam wirkte irgendwie so komisch huschig-wuschig, und wenn Dean die Geschichte mit der Banshee inzwischen auch so gut wie abgehakt hatte, könnte das möglicherweise ein Anzeichen für etwas potentiell Ungesundes sein.
Dean bestellte seinem kleinen Bruder noch ein Bier und beschloss, ihn darauf anzusprechen, wenn sie später wieder allein in ihrem Motelzimmer waren.
Jetzt wollte er einfach nur seine Ruhe haben – die Ruhe, die einem eine gut besuchte Bar eben bot – und wenn möglich eine Braut aufreißen.
Er war die letzten Wochen so damit beschäftigt gewesen, sich um Sam zu sorgen, dass seine Libido entschieden zu kurz gekommen war, und diesem unzumutbaren Zustand wollte er an diesem Abend ein Ende setzen.
Dean ließ seinen Blick also durch das Lokal schweifen, machte mehrere potentielle Opfer aus und wollte gerade zum Angriff ansetzen, als Sams Stimme mit einem noch nie da gewesenen, extremst verschüchterten Unterton erklang.
„Dean … ich glaube, ich werde gerade angeflirtet.“
Dean blinzelte verwundert, weil er nicht ganz ausmachen konnte, warum Sam der Umstand, dass er angeflirtet wurde, derart in Panik versetzte – aber hey, es war Sam, und der war erwiesenermaßen komisch, wenn es um Frauen ging – dann folgte er Sams verhuschtem Haselmausblick hinüber an die Bar und machte einen Kerl in den Dreißigern aus, dessen Gesicht ein liederliches Grinsen zierte, das selbst Deans liederlichstes Grinsen an seinen besten Tagen in den Schatten stellte.
„Also … das …“
Eine Kurzschlussreaktion später lag seine Hand auf Sams Oberschenkel, der Typ warf ihm einen verdutzten Blick zu, den er mordlüstern erwiderte, und sämtliche Frauen im Raum seufzten enttäuscht auf.
Das hatte er ja jetzt ganz toll hingekriegt.
Dean gratulierte sich selbst zu dieser grandiosen Aktion, zog sich 10 Punkte auf der Männlichkeitsskala ab, verdrehte die Augen, gab sich 15 Punkte wieder dazu, weil er es zu Sams Verteidigung getan hatte, und bestellte sich noch ein Bier.
Wenn er sich schon keine Abendunterhaltung aufreißen konnte, dann wollte er sich wenigstens gepflegt die Kante geben.
Fünf Bier später ging es ihm ein wenig besser, und allein Sams Anblick, der den erheiternden Versuch unternahm, sich unsichtbar zu machen – und das bei einer Körpergröße von 1.93m – versöhnte ihn wieder vollkommen mit der Welt.
Drei weitere Bier später fühlte er sich in der ordnungsgemäßen Verfassung, die Bar zu verlassen und außerdem Sam auf den Zahn zu fühlen, was den schon wieder aus seinem empfindlichen emotionalen Gleichgewicht gebracht habe – mit genügend Alkohol intus war er bei sowas nämlich ganz besonders einfühlsam.
Kaum hatte Sam also die Tür zu ihrem Motelzimmer hinter ihnen Beiden geschlossen, drehte Dean sich unerwartet zu ihm um, verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihn auf diese gewisse Art an, bei der Sam jedes Mal der unangenehme Verdacht kam, Dean habe jetzt statt seiner übernatürliche Fähigkeiten entwickelt und beherrsche den alles durchdringenden Röntgenblick.
„Also Sammy, was ist mit dir?“, fragte Dean ihn auch prompt, lallte dabei ein ganz klein wenig, und Sam ertappte sich dabei, wie ihm der Klang seiner Stimme eine leichte Gänsehaut verursachte.
Wenn das jetzt zur Gewohnheit würde, war er in ernsthaften Schwierigkeiten.
„Wieso, was soll mit mir sein?“, gab er so unbeteiligt wie nur möglich zurück, und Dean machte einen Schritt auf ihn zu und kniff ihn in die Nase – schon wieder.
„Jetzt hör mir mal gut zu, Adelheid“, setzte Dean an, und Sam entglitten sämtliche Gesichtszüge. „Ich seh dir doch ganz genau an, dass mit dir was nicht stimmt, also kannst du auch genau so gut aufhören, es abzustreiten und einfach mit der Sprache herausrücken!“
„Adelheid?“, war alles, was Sam dazu sagen konnte, und Dean grinste stolz und nickte.
„Weil du doch ein Prinz warst – Adel und so … Adelheid!“
Sam lachte leise, war glücklich, dass Dean ihm endlich wieder einen Mädchennamen gegeben hatte und vergaß völlig, dass er ja in Schwierigkeiten war.
„Und jetzt sagst du mir, was schon wieder mit dir los ist!“, brachte Deans tiefe, so wunderbar raue, einfach nur Gänsehaut verursachende – mein Gott, war er in Schwierigkeiten! – Stimme die unangenehme Erinnerung zurück, und Sam entschloss sich, einfach eine Version der Wahrheit zu erzählen.
„Ich kann mich wieder ein bisschen an meine Zeit als Prinz erinnern.“
Dean zog beide Augenbrauen in die Höhe, dann legte er den Kopf schief.
„Kannst du?“
Na fein, das war natürlich Grund genug, huschig-wuschig zu werden, ein Wunder, dass Sam nicht schon längst vor Scham gestorben war.
„… Und dann musst du hier drauf drücken – sag mal Sam, hörst du mir überhaupt zu?“
Sam zuckte zusammen und blickte Dean konfus an, der vor der neuen Grillmaster2008Deluxe stand und diese blöde Mikrowelle angeiferte, als sei sie ne Blondine mit nix an.
Eigentlich waren sie mit dem festen Vorsatz in dieses Geschäft gekommen, neue Taschenlampen und Batterien zu besorgen, und jetzt musste er sich schon seit einer geschlagenen Viertelstunde von Dean einen Vortrag über eine Mikrowelle anhören – kein Wunder, dass er da ein wenig abgedriftet war, er wäre nur wesentlich beruhigter gewesen, wenn er zu halbnackten Frauen und nicht etwa einem nur spärlich bekleideten Dean, der am Impala herumbastelte, abgedriftet wäre – so richtig schön verschwitzt und mit Ölflecken auf der Jeans und -
„Hattest du wieder einen Flashback?“, erkundigte Dean sich mit hochgezogener Augenbraue, und Sam griff die Ausrede dankbar auf und nickte, und dann kauften sie endlich Taschenlampen und Batterien, und Sam sah zu, dass er Land gewann.
Er hörte Dean hinter sich zostern, was er es denn plötzlich so eilig habe, stapfte jedoch verbissen weiter und atmete auf, als er sicher und trocken auf dem Beifahrersitz des Impalas Platz genommen hatte.
Dann setzte Dean sich allerdings auf der Fahrerseite neben ihn – irgendwie hatte er verdrängt, dass das passieren würde – warf den Motor an, der wie üblich melodisch grollend zum Leben erwachte, und fuhr zu den gediegenen Klängen von Metallica los.
Sam warf seinem Bruder einen unauffälligen Blick aus dem Augenwinkel zu und weidete sich einen Moment lang an dessen schmollendem Anblick, dann ging plötzlich ohne Vorwarnung Deans Handy los, das Radio wurde leiser gedreht, Dean nahm das Gespräch an und Sam konnte die Augen schließen und Laute wie „Mh ... hn?! … Aha … mhhm“ kombiniert mit tatsächlich existenten, sinnbehafteten Worten genießen, die er allerdings mal wieder geschickt ausblendete.
Dean beendete schließlich das Gespräch, Sam kam wieder zu sich, wandte seinem Bruder den Blick zu und war ein wenig verwirrt, weil dessen Gesichtsausdruck sich nur mit grimmig bis grantig umschreiben ließ.
„Was ist los?“, erkundigte er sich also irritiert, und Dean sah aus, als wolle er jemanden beißen.
„Das war Dads Anwalt.“
Sam hatte das Gefühl, ihm würden die Augen aus den Höhlen treten.
„Das war WER?!“
„Dads Anwalt!“, bellte Dean, und Sam zog den Kopf ein.
„Und was wollte er?“
„Dass wir zu ihm kommen – Dad hat ihm scheinbar irgendwas für uns gegeben!“
Sam, der die Angelegenheit noch immer nicht so ganz fassen konnte, schwieg, und Dean grummelte etwas wie „Wusste nichtmal, dass Dad nen Anwalt hat!“
„Und wo sollen wir hinkommen?“, fragte Sam schließlich, und Dean seufzte.
„Nach Lawrence.“
Sam runzelte die Stirn, drehte den Kopf nach vorn und starrte nachdenklich aus der Frontscheibe.
„Hat er sonst noch was gesagt?“, erkundigte er sich leise und er spürte es eher, als dass er es sah, dass Dean den Kopf schüttelte.
„Nichts wirklich Aufschlussreiches, nur, dass er meine Nummer von Dad bekommen hat – und das schon vor ein paar Jahren. Schätze mal, er wird Näheres erklären, wenn wir bei ihm sind.“
Und mit diesen Worten trat er das Gaspedal durch, der Impala beschleunigte mit einem Knurren, und als Dean die Hand ausstreckte und das Radio auf volle Lautstärke drehte, wusste Sam, dass er genau so beunruhigt war wie er selbst.