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Der letzte Drache

von

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Physales

Über eine Woche lang streifte Yelin weiter durch den Alten Wald, noch immer rast- und ruhelos. Ihn hielt es nicht einen Tag am selben Ort, lediglich zum Schlafen verweilte er länger als eine Stunde an einem bestimmten Platz. Doch ansonsten trieb es ihn immer weiter, die rätselhaften Worte der geheimnisvollen Dryade noch immer in den Ohren. War er tatsächlich an diesem verwunschenen Ort gewesen? Je länger er unterwegs war, desto mehr erschien es ihm wie ein vergangener, immer weiter verblassender Traum, von dem ihm lediglich noch die geheimnisvolle Weissagung blieb. Ein Baum, der das Zentrum der Welt darstellte und in so vollkommener Symbiose mit seiner Dryade lebte, dass sie beinahe eins waren......Der Anfang und das Ende. Sollte er wirklich dort gewesen sein?

Gib Acht auf dich und versprich mir, deine Suche nie aufzugeben! säuselte die leise Stimme des Windes nicht eben ihre letzten Worte? Oder war es nur wieder die Einbildung, die ihm einen Streich spielte......Lebe wohl, Prinz. Ja, dies hatte sie zuletzt zu ihm gesagt, mit eben jenem sanften Lächeln, das einen so sehr verzaubern konnte. Egal ob Einbildung oder nicht, er würde sie und ihre Worte für immer in seiner Erinnerung behalten, das wusste er. Dazu war diese Begegnung zu kostbar gewesen, zu einzigartig, um sie einfach wegzuwerfen.

Und das Treffen mit ihr hatte auch etwas tief in ihm verändert, das wurde ihm allmählich klar. Sie hatte ihn mit jener Art wilder, trügerischer Hoffnung erfüllt, die nur der haben kann, der weiß, was vor ihm liegt und trotzdem noch einen Lichtstrahl sieht. Er wusste nicht, ob er die Prophezeiung je würde erfüllen können, ob sie überhaupt wahr war, aber ihm war nun bewusst, dass er ein Ziel anstreben konnte, anstatt sich rastlos dem Zufall zu überlassen. Sein Ziel war es nun, wieder aus diesem Wald hinaus zu kommen, so gerne er auch noch ein wenig hier umher streifen würde, er musste die Sache in die Hand nehmen. Wie hatte Korell doch immer gesagt: Was du nicht anfängst, kannst du auch nicht zu Ende bringen.

Korell.....sein Name brachte wieder jene unbekannte, schwermütige Saite in ihm zum Schwingen, die er bisher immer mehr oder minder erfolgreich hatte verdrängen können. Wieder blitzten die Erinnerungen in seinem Geist auf: Das weiße Haar des Schwarzen Kriegers....das zischende Geräusch, mit der seine Klinge durch die Luft schnitt und immer wieder der eine Schrei, den sein Freund ausstieß, jenen verzweifelten, traurigen Schrei, den er nie wieder würde vergessen können.

Mit einem qualvollen Geräusch versuchte er, die Dämonen seiner Gedanken wieder zu vertreiben. Nein, er hasste es, an jenen alten Bruchstücken zu rühren, die den Wendepunkt in seinem Leben dargestellt hatten.

Gut und Böse werden sich wandeln unter deinen Schritten...wieder tauchten die Wortfetzen der Dryade vor seinem inneren Auge auf. So sehr er sich auch bemühte, er schaffte es einfach nicht, sie wirklich zu deuten. Er hoffte, dass sie später wieder einen Sinn ergeben würden, wenn er einmal auf diesen Moment zurück blickte.

Gedankenverloren wanderte er weiter durch die länger werdenden Schatten der hohen Bäume. Seit er von Yonami geschieden war, hatte er überall dieses sanfte Schimmern wahrnehmen können, wie er es auch in dem Raum verspürt hatte. Bloß dass es dort ungleich stärker gewesen war. An einigen Stellen schienen sich die dünnen Schleier jedoch ein wenig zu verdichten und er hätte schwören können, dass er schon ein manches Mal ein neugieriges Augenpaar erspäht hatte, dass durch die dünnen Äste von Strauchwerk zu ihm hinüber blickte. Aber noch hatte sich kein weiteres magisches Wesen blicken lassen, von denen es hier ja angeblich regelrecht wimmeln sollte.

Doch eines Abends, als er sich gerade zum Schlafen niederlegen wollte, kitzelte etwas ziemlich frech und unnachgiebig in seinem linken Ohr. Mit einem Stirnrunzeln wandte er sich um, erblickte aber nichts als Dunkelheit und er konnte auch keinerlei Gefahr verspüren. Lediglich das Flimmern schien sich an einer Stelle verstärkt zu haben.....Aber was war es gewesen? 'Wahrscheinlich irgendein vorwitziger, überhängender Ast' dachte er ärgerlich und legte sich endgültig wieder nieder. Dann zog er sich die Decke bis zum Hals hoch und blickte in ein kleines glattes Gesicht, irgendwo zwischen Troll, Fee und Libelle.

"Hallo", sagte das Gesicht zu ihm.

Mit einem Schrei fuhr Yelin auf und sah sich wild um, konnte aber wieder nichts entdecken.

"Auf deiner Schulter, du Idiot." hörte er wieder jene kleine, tiefe Stimme sagen. Als er rechts an sich herabblickte, sah er das winzige Wesen sofort, wie es auf seiner Schulter saß und vergnüglich zu ihm hinauf starrte. Yelin versuchte, seinen donnernden Herzschlag ein wenig zu dämpfen, ehe er die Luft zum Sprechen fand.

"Wer bist du?!" Er musste an sich halten, um nicht einfach loszuschreien. Doch so komisch es war, Angst konnte er im Angesicht zu dem Kleinen nicht wirklich empfinden. Sein Körper war nicht richtig einzuordnen, er schien spindeldürr zu sein, mit Armen und Beinen, die irgendwie alle so aussahen, als hätten sie nicht die richtige Länge. Der Kopf war ein wenig zu groß und vor allem die Augen traten weit hervor, so dass er wieder den flüchtigen Eindruck eines Insektes hatte. Dieser wurde durch die vier dünnen, durchsichtigen Flügel auf seinem Rücken nur noch weiter verstärkt. Da es dunkel war, konnte er nicht noch mehr Einzelheiten erkennen, aber er war sich gar nicht einmal so sicher, ob er das auch wirklich wollte. Indes er es musterte, hatte das geflügelte Männlein wieder zu sprechen angehoben.

"Mein Name ist Physales. Ich bin ein Gúdo, ein Erdgeist, der aber ganz offensichtlich auch Fliegen kann, wie du siehst." Aufgeregt schlug er mit seinen kleinen Flügeln in der Luft. "Und wie lautet dein Name?"

"Yelin" antwortete dieser fast schon automatisch. Physales? Das erinnerte ihn an einen Pflanzennamen.....

"Ganz genau." Ertönte das Stimmchen wieder. "Physalis, so lautet der Name meiner Pflanze, für die ich zuständig bin."

"Du...du kannst meine Gedanken lesen?" fragte Yelin besorgt. Ihm war nicht so ganz wohl bei der Tatsche, dass ein fremder Geist einfach so in seinem Kopf herumstöberte.

"Natürlich, was dachtest denn du?" erklang die Antwort, schon fast ein wenig beleidigt. "Alle Erdgeister können das, das ist ganz normal."

"Aha." Langsam fragte er sich, ob sein Verstand bei dem Besuch bei Yonami ernsthaft in Gefahr geraten war....

"Yonami?" sofort war das Interesse des Kleinen erwacht. Neugierig wandte er den Kopf und wiederholte noch einmal:

"Du hast wirklich Yonami gesehen? Die Dryade und ihren unsterblichen Lebensbaum?" Als er in ihm keinerlei Anzeichen von Lüge oder Unwahrheit entdecken konnte, wurden seine Augen noch größer als zuvor. "Das ist ja unglaublich! Du musst wirklich sehr wichtig sein, wenn sie dich einfach so einlässt..."

Yelin nickte verwirrt. Langsam begann er, die ganze Tragweite dieser skurrilen Situation zu erfassen. Auf seiner Schulter saß unzweifelhaft ein magisches Wesen, das mit den Beinen baumelte, ehrfurchtsvoll zu ihm hinauf starrte und eindeutig seine Gedanken lesen konnte! Hatte er nicht schon die ganze Zeit einem magischen Wesen begegnen wollen? Nun, offensichtlich war sein Wunsch in Erfüllung gegangen....

"Warum bist du eigentlich überhaupt zu mir gekommen?" fragte er mit einem Stirnrunzeln.

"Na ja......" Plötzlich wirkte Physales ein wenig verlegen. "Weißt du, ich hatte so einen interessanten Duft in der Nase....da bin ich einfach mal losgeflogen und habe dich dann da sitzen sehen. Und je näher ich dir kam, desto größer wurde mein Bedürfnis, zu dir zu kommen.....ich weiß auch nicht, aber irgendwie fand ich dich ungemein anziehend."

Das war seltsam. Es war ja beileibe nicht das erste Mal, dass er Worte dieser Art aus dem Munde eines magischen Wesens vernahm.....die Dryade und der Drache hatten beide etwas Ähnliches gesagt.

"Der Drache?" Der brennende Heißhunger nach Wissen über ihn lag in den runden, hervor tretenden Augen des kleinen Wesens und seine Frage erinnerte Yelin wieder daran, dass er seinen Kopf nun ja nicht mehr so ganz alleine für sich hatte......

"Könntest du vielleicht bitte damit aufhören, einfach so meine Gedanken zu lesen ?!" fragte er schärfer als beabsichtigt. Aber über sein Erlebnis auf der kleinen Lichtung wollte er nicht reden. Nicht jetzt. Und schon gar nicht mit einem kleinen Mann mit durchsichtigen Flügeln und dem Aussehen einer verunglückten, menschlichen Libelle!

"Ist ja schon gut." meinte dieser beleidigt. "Ich weiß ja, dass ich keine besondere Schönheit bin, aber was soll ich denn machen? Ich höre deine Gedanken so gut, als würdest du neben mir stehen und sie laut aussprechen!"

Schuldbewusst errötete Yelin. Für einen kurzen Moment hatte er vergessen, dass der Gúdo genauso empfindsam war wie ein anderer Mensch. Seine Gefühle konnte nicht weniger verletzt werden, nur weil er so klein war oder ein wenig seltsam aussah.

"Es tut mir Leid," meinte er sanft, "ich habe es nicht so gemeint, wirklich nicht."

"Schon gut." Der kleine Erdgeist wirkte zwar noch immer ein wenig verletzt, doch seine Miene war lange nicht so abweisend wie noch vor ein paar Augenblicken. "Du bist nicht der einzige, von dem ich mir das schon anhören musste. Bei meinen Artgenossen bin ich auch nicht sonderlich begehrt.....aber jetzt mal zu dir: Was machst du eigentlich hier?"

Die Frage kam so unerwartet und plötzlich, dass Yelin einfach nicht anders konnte, als zu antworten.

"Ich bin auf der Suche. Ich weiß noch nicht, was ich zu finden gedenke, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich jetzt aus diesem Wald hier heraus muss...kannst du mir vielleicht helfen, den schnellsten Weg hier heraus zu finden?"

"Klar kann ich." Er zögerte kurz. "Sag mal.....das, was du suchst, du hast wirklich keine Ahnung, was es ist, oder?"

"Warum fragst du?"

"Nun ja....seit ein paar Tagen laufen gewisse Gerüchte durch den Wald....dass ein seltsamer Wanderer unterwegs sein soll, der den Drachen getötet haben soll, der hier gewohnt hat....außerdem soll er bei der Yonami gewesen sein und sie hat ihm angeblich sogar eine Prophezeiung gemacht! Du bist doch nicht etwa dieser Wanderer, oder?" Mit einem Mal erschien eine Spur von Angst auf seinem Gesicht.

Dieses Mal sparte es sich Yelin, seine Antwort laut auszusprechen und dachte: Du weißt die Antwort auf diese Frage doch schon längst, oder? Und der Drache.....

In Physales' Stimme schwang ein sehr sanfter und mitleidiger Unterton mit, als er auf einmal ein paar ungewöhnliche Worte sprach:

"Du musst nicht darüber reden, wenn du nicht willst. Ich spüre, dass es dich sehr traurig macht; vielleicht willst du es mir ja irgendwann einmal erzählen."

Er konnte nicht anders, doch in diesem Moment war Yelin dem kleinen Mann auf seiner Schulter unendlich dankbar für seine verständnisvollen Worte. Er hatte keine Ahnung, wie viel er ihm gerade dadurch gegeben hatte. Mit einem leichten Lächeln fragte er ihn, ob er sich vielleicht an einen anderen Platz setzen könne als gerade auf seine Schulter, denn er wollte endlich schlafen. Ein kleines Gähnen war die unmissverständliche Antwort und wortlos flatterte er auf einen kleinen Ast, um sich dort zum Schlafen niederzulassen.

Yelin tat es ihm gleich und legte sich ebenfalls wieder hin, dieses mal ungestört. Und zum ersten Mal seit jenem schwarzen Tag vor sieben Jahren spürte er wieder einen Hauch jenes wunderbaren Gefühls, mit einem Gefährten an seiner Seite einzuschlafen.
 

Der nächste Morgen weckte ihn mit einem sanften Kitzeln von Sonnenstrahlen auf seiner Nase. Es war noch recht früh und die Pflanzen um ihn herum trugen noch immer ihr schillerndes Nachtkleid aus Tautropfen. Ebenso wie bei ihnen hatten sich auch auf den Flügeln des Gúdo ein paar silberne Tropfen angesammelt. Das kleine Wesen selbst schlummerte indes friedlich vor sich hin, die Brust hob und senkte sich im Takt zu einem leisen, kaum hörbarem Schnarchen.

Yelin wollte ihn nicht aufwecken und so schnallte er sich so leise wie möglich seinen Gürtel wieder um und begann damit, sein Frühstück im Wald zu suchen. Er hatte noch ein paar Reste Fleisch von dem vorletzten Tag, und bereicherte seinen kargen Speiseplan nun mit ein paar frischen Beeren, die er im Wald suchte. Als er wieder zurückkehrte, fand er den kleinen Geist inzwischen wach vor, wie er interessiert die Reste des Feuers von gestern Abend und seine Sachen begutachtete.

"Wozu braucht ihr Menschen das?" fragte er stirnrunzelnd und deutete auf die Decken, die noch immer aufgeschlagen am Boden lagen.

"Darin wickeln wir uns ein, damit uns nachts nicht so kalt wird." antwortete Yelin mit einem leisen Lächeln auf den Lippen.

Nachdem er so die Neugierde des Kleinen gestillt hatte, frühstückten sie zusammen, wobei Physales das Fleisch dankend ablehnte und sich dafür reichlich bei den Beeren bediente. Als sie geendet hatten, begann er damit, seine Sachen wieder zu einem Bündel zu schnüren, so dass er sie bequem auf dem Rücken tragen konnte. Der Erdgeist flog währenddessen durch die Kronen der dicken Bäume hindurch, um sich, wie er sagte "noch einmal zu vergewissern ob sie überhaupt in die richtige Richtung gingen".

Sofort, als Yelin mit Packen fertig war und die Spuren seines Besuches so gut wie möglich wieder verwischt hatte, sauste er auch schon wieder von den Wipfeln herab und verkündete stolz, dass er ganz genau wusste, wohin sie zu gehen hatten. Und als wollte er die Behauptung seiner Worte auch gleich unterstreichen, machte er sich sofort daran, voraus zu fliegen. Dies jedoch mit einem solchen Elan, dass Yelin ihn fast sofort wieder zurückrufen musste, weil er nicht mehr mit kam. So verbrachte Physales den Rest des Weges entweder langsam vor ihm herflatternd oder aber auf seiner Schulter sitzend und vergnügt mit den Beinen baumelte, wobei er sehr viel von sich und dem Alten Wald erzählte und fast ebenso viel von dem Volk der Menschen und der "Gegend außerhalb" wie er es nannte, hören wollte.

Im Laufe dieser Gespräche erfuhr Yelin sehr viel über die magische Welt dieses uralten, geheimnisvollen Gebietes. Physales begann bei der Geschichte seiner Artgenossen. Jeder einzelnen Pflanze war ein eigener Geist zugeordnet; bei den Blumen seien es die Feen, bei den Bäumen die Dryaden und bei den anderen Gehölzen eben die Gúdo, wie er einer war. Dabei gab es nicht pro Pflanze einen Geist wie bei den Dryaden sondern es waren pro Art immer mehrere, die sich um verschiedene von ihnen zu sorgen hatten. Dann schweifte er weiter aus und erzählte ihm von den anderen Naturgeistern: Die Sylphiden, die die Geister der Luft waren und die Freiheit liebten, die Nymphen, in deren Bereich das Wasser fiel und für das Feuer kleine Elfen, die sich jedoch so gut wie nie blicken ließen. Dann gab es noch jede Menge anderer magischer Wesen, die in diesem Wald hausten und von denen es sich Yelin nie hätte träumen lassen, dass es sie überhaupt noch gäbe. Von anderen hörte er sogar das erste Mal. Doch das bei weitem Interessanteste war das, was Physales ihm über den König des Waldes erzählen konnte. Es gab ihn anscheinend wirklich, den großen und majestätischen, so viel konnte er ihm sagen. Doch selbst er hatte noch nie alles von ihm gesehen; seine Gegenwart überstrahlte angeblich alles andere, so dass selbst die stärksten Fabelwesen Schutz suchten sobald er in die Nähe kam. Das einzige, was er je von ihm erblickte hatte, waren seine Hufe, die tatsächlich aus Silber waren.

Doch auch umgelehrt wurde es der Gúdo nie müde, ihn nach den Geheimnissen des Menschenvolkes auszufragen, was teilweise schon groteske Züge annehmen konnte. Wenn er beispielsweise wissen wollte, warum man ihnen das Alter an der Gestalt ablesen konnte, so war es an Yelin, erstaunt den Kopf zu schütteln. Über so etwas hatte er sich bis jetzt kaum Gedanken gemacht; er hatte es eben so hingenommen, wie es war. Erst dadurch wurde ihm bewusst, wie klein die Welt, in der er damals gelebt hatte, doch gewesen war.

Drei Tage wanderten sie so durch den Wald und noch immer schien die Masse der Pflanzen sich nicht zu lichten. Allmählich begann sich Yelin besorgt zu fragen, ob sie überhaupt in die richtige Richtung gingen. Doch jedes Mal, wenn er etwas Entsprechendes andeutete, winkte Physales beruhigend ab und flog wie zur Bestätigung noch einmal empor, um gleich darauf zu verkünden, dass er den Rand schon sehen könne. An welcher Stelle genau sie jedoch heraus kommen würden, das konnte er ihm verständlicherweise nicht verraten.

Am Morgen des vierten Tages verlief wieder alles so wie immer: Es begann damit, dass Yelin wieder einmal früher wach war als der kleine Geist und dieses Mal aber zu seinem Leidwesen feststellen musste, dass sie keinerlei Fleisch mehr hatten - die letzten Rest des erlegten Rehs hatte er gestern zum Abendessen verspeist. Seufzend griff er in den Beutel, in der er seine pflanzlichen Nahrungsmittel aufbewahrte und förderte ein paar Beeren so wie ganz schmackhafte Wurzeln zu Tage. Sie würden mit Sicherheit für diese Mahlzeit ausreichen, aber er schätzte, dass er wohl noch vor der Mittagszeit Jagen gehen musste. Schulterzuckend legte er den Beutel auf seine Decken und ging zu der Quelle, die fröhlich neben ihrem Schlafplatz sprudelte. Dort wusch er sich erst einmal ausgiebig das Gesicht und begutachtete sich dann so gut es ging in dem strömenden Wasser des Baches, der hier entsprang. Früher war er einmal das gewesen, was man als einen "hübschen Burschen" bezeichnet hatte, mit nussbraunem Haar, das ein wenig in dunkelblond überging, funkelnden waldgrünen Augen, vollen Lippen und einer relativ schmalen Nase. Sein Körper war so gut gebaut wie bei jedem, der sich jeden Tag mehrere Stunden mit dem Schwertkampf beschäftigte und viel Wert darauf legte, die Wunder der Natur zu erfahren. Er selbst hatte es nie gemocht, wenn man ihn so bezeichnete und es war ihm zuwider gewesen, wenn kichernde Mädchen mehr oder weniger plump versuchten, seine Aufmerksamkeit zu erregen.

Doch seit jedem schicksalsverhangenen Tag war er nicht nur innerlich rasch gealtert. Auch äußerlich war er härter geworden, asketischer. Seine Lippen waren nun schmaler, die Wangen ein klein wenig eingefallen und die Haare hatten ein bisschen von jenem Glanz verloren und waren dunkler geworden, genau so wie sein Herz. Mit Bartwuchs hatte er seltsamerweise nie zu kämpfen gehabt, was aber (wie gehört hatte) eine Eigenschaft der Sanuki war. Dennoch wirkte er nun reifer, erwachsener und lange nicht mehr wie der gutaussehende junge Prinz, dessen Klischee er vor langer Zeit einmal erfüllt hatte.

Gedankenverloren erhob er sich wieder und ging langsam zu seinem Schlafplatz zurück. Und wie immer schien Physales durch seinen Weggang erwacht zu sein. Auch wenn er noch so leise war, er brachte es einfach nicht fertig, den kleinen Erdgeist nicht aufzuwecken. Dieser war gerade eben dabei, genüsslich Teile seines Frühstücks zu verspeisen, wobei er mit vollen Backen kaute. Es hätte nur noch ein genüssliches Schmatzen gefehlt und das Bild wäre perfekt gewesen........zum Glück war er so mit Essen beschäftigt, dass er Yelins Gedanken ausnahmsweise einmal nicht zu lesen schien. Aber die Gelegenheiten, bei denen er von seiner Fähigkeit Gebrauch machte (zumindest so, dass Yelin es bemerkte) wurden auch von Tag zu Tag geringer, wofür er ihm sehr dankbar war. Ihm war einfach nicht ganz wohl bei dem Gedanken, dass jemand alles wusste, was er dachte...

Der Gúdo sah nicht einmal auf, als er sich neben ihm niederließ und ebenfalls nach dem griff, was ihn der Hungrige übrig gelassen hatte. In einhelligem Schweigen beendeten sie ihr kärgliches Mahl und bereiteten sich auf die Weiterreise vor. Dabei versuchte Yelin, Physales von der Notwendigkeit zu überzeugen, Jagen zu gehen. Der Kleine verstand einfach nicht, warum er so gerne Fleisch aß; er konnte dem nicht das Geringste abgewinnen, die Überreste toter Artgenossen zu verspeisen. Vergeblich erklärte Yelin ihm , dass Fleisch nun mal sehr gut schmeckte und er es brauchte, um zu überleben. Erst, als er sagte, dass Menschen im Prinzip genau das Gleiche wie Raubtiere seien, ließ ihn der Erdgeist gehen. Dies allerdings nicht, ohne ihm zuvor das Versprechen abzunehmen, seine Beute wirklich schnell zu töten und ja nicht leiden zu lassen.

Mit einem kleinen Lächeln versicherte Yelin ihm, genau das zu tun. Dann merkte er sich (so gut es eben ging) die Stelle, an der er den Gúdo zurück ließ und machte sich auf den Weg, um die Forderungen seines Körpers zu befriedigen. Er war noch nicht sehr weit gekommen, als er die Fährte eines Tieres ausmachte, ohne Zweifel ein Hase, der in eine bestimmte Richtung gelaufen war. Der Spur folgend gelangte er vor die Löcher eines Baus, in deren Nähe er sich geduldig nieder ließ und wartete. Nach einer Weile kamen ein paar der Nager zum Vorschein und als sie nahe genug heran waren, hatte Yelin sich blitzschnell einen gepackt und ihm das Genick gebrochen. Für den Moment würde das ausreichen und deshalb machte er sich auch bald wieder auf den Rückweg. Ausweiden konnte er das Tier immer noch heute Abend oder mittags, wenn sie rasteten. Er drehte sich um und ging wieder in die Richtung, in der er Physales vermutete. Nach ein paar Minuten gelangte er auch wieder bei der Stelle an, an der er den Kleinen verlassen hatte - doch er war nicht mehr da. Dabei war erkannte er diesen Ort eindeutig wieder! Stirnrunzelnd sah sich Yelin noch einmal um, ob er ihm vielleicht einen Streich spielen wollte und sich deshalb versteckte. Aber er konnte keine Spur von ihm entdecken. Auch der sanfte grüne Schimmer, der seit Yonami über seinem Blick lag und sich immer dann verdichtet hatte, wenn Physales bei ihm gewesen war, war überall gleich.

Sein Stirnrunzeln vertiefte sich noch weiter, als er ein paar Schritte machte und noch immer nichts bemerkte. Es sah dem kleinen Gúdo ganz und gar nicht ähnlich, sich einfach so davon zu stehlen, während er nicht da war.

Doch irgendein unbestimmtes Gefühl zog ihn fort, als wartete dort die Antwort darauf, wohin er verschwunden war. Langsam und zögernd ging er los, noch immer wachsam. Die eine Hand hatte er auf den Griff von Norai gelegt, die andere hielt immer noch das erlegte Tier an den Hinterläufen. Angespannt wie eine Feder ging er weiter, immer bereit, sofort seine Waffe zu ziehen, wenn sich auch nur ein einzelnes Anzeichen einer Gefahr zeigen sollte.

Schon nach ein paar Schritten sah er aus den Augenwinkeln, dass sich das Flimmern zwischen den Bäumen verdichtete und nur kurze Zeit später kam Physales selbst in sein Blickfeld. Kaum sah dieser ihn, kam er auch schon aufgeregt heran geflattert. Mit einem beinahe ungewollten Gefühl der Erleichterung registrierte er, dass er offenbar wohlauf war. Doch die Aufregung in seinem Gedicht sprach Bände.

"Sieh nur," flüsterte er leise, "da drüben, um Ufer des Sees! Da sitzt jemand von deiner Art...."

"Von meiner Art?" fragte Yelin erstaunt. Er hatte noch nie davon gehört, dass Menschen freiwillig in den Alten Wald gingen; und die Abenteurer zog es meist an noch verwunschenere und gefährlichere Orte als diesen. Außerdem war dieses seltsame Gefühl mit Physales' Auftauchen nicht verschwunden.....er kannte denjenigen, der dort saß, so viel war er sicher. Und es erinnerte ihn an etwas, an etwas, das er glaubte, schon längst vergessen zu haben....diese Person, sie war.....

Nein, das kann nicht sein! schalt er sich in Gedanken. Er ist tot, wenn er Glück hatte oder sie haben ihm noch Schlimmeres angetan als dies. Hör endlich auf, dich sinnlosen Hirngespinsten hinzugeben!

Tief durchatmend schob er ein paar Zweige zur Seite und sah nun endlich die Gestalt, die am Ufer eines kleinen Sees hockte und auf die spiegelnde Oberfläche hinab starrte. Er glaubte, ja er betete von ganzem Herzen, dass seine Erinnerung und seine Augen ihm einen Streich spielten, doch etwas tief in seinem Herzen sagte ihm, dass dem nicht so war. Er erkannte ihn, er hatte es im Grunde genommen schon von jenem Moment an gespürt, als er Physales nicht mehr an seinem Platz gefunden hatte. Und spätestens, als er den schwarzen, ebenmäßigen Bogen neben ihm liegen sah, da wusste er es.

Der junge Mann musste ihn längst schon bemerkt haben, wenn er wirklich der war, von dem Yelin glaubte, dass er es war. Doch erst jetzt drehte er sich langsam um, als könne auch er es nicht wahrhaben, was er dort sah.

Und obwohl er im Inneren fast darauf vorbereitet gewesen war, was er nun sah, so fühlte er sich doch, als würde ihm das Herz stocken. Das Tier und seine Waffe entfielen seinen starren Händen. Er hatte diesen Moment herbei gesehnt, Jahr um Jahr seit er ihn verloren geglaubt hatte.

Derjenige, der dort am Ufer gesessen hatte und ihm eben sein wohlbekanntes Gesicht zuwandte war niemand anderes als Korell, der Freund, den er so lange und schmerzlich vermisst hatte.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  MorgainePendragon
2008-02-04T13:31:08+00:00 04.02.2008 14:31
Oh und DAS ist jetzt allerdings eine Überraschung. Ich hatte, nach all den dunklen Andeutungen, wirklich angenommen, dass der gute Korell tot sei. Ich freu mich, dass er (wieder) auftaucht. Oder ist das am Ende nur ein Geist? Nein. Ich denke nicht.
Glaub ich iwie nicht.^^

Physales ist echt süß, da gibts nichts zu deuteln^^. Wonnig^^. Kann ihn praktisch vor mir sehen, wie er das Frühstück zufrieden vor sich hin mampft^o^. *in wange kneif*
Find ich gut, dass Yelin nun nicht mehr allein reist. Da kommt er vielleicht aus seinen Grübeleien etwas heraus.

Faszinierend, wie gut du dich mit Fantasie- und Fabelwesen auskennst. Das ist wirklich erstaunlich.
Von Dryaden hatte ich bis dato zwar schonmal gehört, hätte aber nicht sagen können, was das genau ist. Und über den Erdgeist so viel auch über andere fantastische Wesen zu erfahren ist ein gut gelungener Zug von dir.^^

Du ergehst dich wieder in Details, das ist wundervoll.^^ Dass Erdgeister Gedanken lesen können zum Beispiel. Oder die Art, wie du die Landschaft und den Wald beschreibst.
Das ist alles nach wie vor einfach nur erstaunlich und wunderschön.

Deine Geschichte lässt in keinster Weise nach! Auf keinen Fall! Und JETZT kommt das Wiedersehen! Ich bin sehr gespannt.^^
Von: abgemeldet
2008-01-15T04:07:50+00:00 15.01.2008 05:07
*hechel*
Du meine Güte. Du schreibwütiges Etwas!!! *lach* Deine Kapis sind wirklich monströs lang, war schon ganz schuldbewusst, so viel zu drucken.... *smile*

Also, zumindest hab ich ein weiteres Kapi endlich geschafft.
Und ich muss nach wie vor sagen: Meinen tiefsten Respekt. Deine Wortwahl, dein Satzbau und deine Art Sätze aneinander zu reihen. Es kommt einem wirklich so vor, als würdest du nie ein und das selbe Wort verwenden. Was allein schon ein Rätsel für mich ist. Und dennoch klingt es alles so...perfekt!
Wie in einem Märchen. Das waren so meine Gedanken bei diesem Kapitel. Absolut und wieder super bildhaft geschrieben.
Der Wald...erinnert mich ein wenig an Mononoke. Auch die Beschreibung von dem mysteriösen Waldgott. Aber das finde ich erst recht schön!!! ^^
Ist der kleine Erdgeist eine Erfindung von dir??? Wenn ja....muss ich mal wieder mit offenem Mund über deine Fantasie staunen. Richtig genial!!! Und sooooo knuff wie du ihn beschreibst.
Ein sehr leichtlebiges und kurzweiliges Kapitel, obwohl im Grunde ja nicht wirklich etwas passiert.
Mit Ausnahme vom Schluss versteht sich. ^^
Man fließt bei dir durch die Zeilen und Absätze. Und daran erkennt man, wie sehr du in dieser Erzählung lebst. Wie du für sie lebst und während des schreibens in ihr wandelst. Und das finde ich auch wundervoll, weil das eine tolle Gabe ist.

Das nächste Kapitel ist ausgedruckt und wartet aufs Lesen. Allerdings ist mein Nachtdienst gleich um. ~.^
Nur fleißig weiter so!


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