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Die verlorene Seele

von

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Errinnerungen

Ich errinnere mich noch gut an den Tag zurück. Es war ein verregneter, trübsinniger Dienstag, sogar an das Datum errinnere ich mich noch genau: Der 13.04.07 – und obwohl es Dienstag, der 13. und nicht Freitag, der 13. war, hatte ich das Gefühl, dieser Tag würde genauso viel Unglück bereiten, wie man es eben normalerweise jenem Freitag, den 13. nachsagt. Ich saß in meinem Lieblingscafé, so ziemlich der einzige Ort, an dem ich von der Gesellschaft akzeptiert wurde, doch auch nur, weil mich die Besitzerin schon seit Kindesbeinen an kannte. Lea war für mich praktisch wie ein Mutterersatz, obwohl sie selber sechs Kinder und daher wenig Zeit hatte. Sie war alleinerziehend und jedesmal fragte ich mich, wie sie ihre vier Mädels und zwei Jungs groß ziehen konnte, nebenher dieses Café leiten konnte und sich doch immer für mich Zeit nahm, auch wenn sie im Stress war, aber meine eigenen Eltern nicht einmal mit zwei Kindern und jeder Menge Kohle klar gekommen waren.

Am Anfang war mir Lea irgendwie komisch vorgekommen, denn sie war eine jener Frauen, die sich selber Blumensträuße mit Grußkarten in die Wohnung stellte, um den Eindruck zu verleihen, als häbe sie einen heimlichen Verehrer. Auch tat sie so, als würde sie intime oder heimliche Telefonate führen und ab und an machte sie sich richtig hübsch, ging die schmale Straße zu ihrem Haus hin und her, sodass alle Leute glaubten, sie würde ausgehen. Als ich erfahren hatte, dass sie dies alles nur vorspielte und es bisher kein Verehrer in ihrem Leben gab, musste ich zunächst lachen, doch schon bald merkte ich, dass Lea eigentlich genauso einsam war wie ich.

Lea´s Charakter ist schwer zu beschreiben, sie ist sehr temperamentvoll, weshalb manche Leute sie im ersten Moment unsympatisch finden. Sie ist verrückt, das ist wohl klar, aber ich kenne keine Person, die liebevoller und netter zu ihren Kindern ist wie sie. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass ich gerade das Gegenteil zu Hause mit meinen Eltern erfahren hatte. Doch eigentlich will ich mich nicht schon wieder verlieren...

Wie gesagt, ich errinnere mich noch gut an diesen Tag, es regnete wie in Strömen, ich rührte gedankenverloren meinen Kaffee um, den mir Lea mit einem Lächeln hingestellt hatte, wissend darüber, dass ich jetzt nichts dringender gebrauchen konnte als dies und mir zugezwinkert hatte, er würde mal wieder auf´s Haus gehen und ich soll nur keine Umstände machen und mein Geld rauskramen.

Ich saß da und hoffte er würde kommen. Ich hoffte, dass er den Brief gefunden hatte. Während ich dem Regen zusah und dem bunten Treiben auf der Straße; jene Leute, die gemütlich mit einem Regenschirm in der Hand, völlig ohne Sorgen und guter Laune durch den Regen liefen, hier und da stehen blieben, Schaufenster ansahen, mit anderen Leuten mit Regenschirmen quatschten und jene Leute, die entweder mit der Zeitung oder der Jacke über dem Kopf rannten, als wäre eine Horde Wildschweine hinter ihnen her. Diese Leute waren meist Geschäftsleute, die nicht zu spät zu irgendwelchen Terminen kommen wollten. Irgendwie hatte ich in den letzten Jahren eine leichte Abneigung zu diesen Leuten entwickelt, nicht dass ich sie vielleicht hassen würde, ich hatte nur auf der einen Seite Respekt und auf der anderen Seite wollte ich nichts mit ihnen zu tun haben. Meine Eltern waren Geschäftsleute gewesen.

Ich seufzte ergeben und wandte meinen Blick ab, legte den Löffel beiseite und nahm vorsichtig einen Schluck von dem heißen Kaffee. Gerade fiel mir ein besonders großer Mann auf, der Lea fast zum Explodieren brachte.

„Ja, ich will „Zwiebelbrötchen mit Bratkartoffeln und Rühreier“, nur bitte die Brötchen ohne Zwiebeln, die Bratkartoffeln nicht gebraten, sondern gekocht und statt der Rühreier bitte Spiegeleier“, sagte er mit seiner tiefen, rauen Stimme jetzt schon zum x-ten Mal.

„Jetzt hören sie mir mal zu: In den Brötchen sind die Zwiebeln im Teig drin, die kann ich nicht einfach rauspuhlen, wir haben keine gekochten Kartoffeln, es sind nur noch Bratkartoffel übrig, ich brate nicht extra Spiegeleier für sie und wenn sie ein Gericht bestellen, dann nehmen sie es auch so, wie es auf der Karte steht oder sie können irgendwo anders hingehen, wo man ihnen jeden Wunsch erfüllt“, sagte Lea schroff mit einem kleinen Funkeln in den Augen. Widerwillen und beleidigt erhob sich der Mann, nicht ohne ihr Café als „Sauladen“ zu bezeichnen, Lea einen Blick zu zuwerfen, der sie hätte töten können, mit einem lauten Knall die Türe zuzuschlagen und das Café zu verlassen. Als er draußen war, zog er seine Jacke über den Kopf und rannte die Straße entlang so schnell er konnte. Warscheinlich war er Geschäftsmann; schließlich sprach alles dafür: Perfektionismus, , ziemlich verwöhnt, feiner Anzug und die Tatsache, dass er die Jacke über den Kopf zog und wie ein Wilder über die Straße hechtete.

Ich musste irgendwie schmunzeln, in solchen Situationen konnte man nur sagen: Typisch Lea. Doch genau deswegen mochte ich sie: Weil sie sich nichts sagen ließ und selbstbewusst war. Eben irgendwie das Gegenteil von mir.

Sie schenkte mir gerade einen zweiten Kaffee ein, als die Türe wieder aufging und er rein kam. Er streifte seine Kapuze vom Kopf, hängte seine Jacke auf und sah sich um. Ich schaute ihn regungslos an, bis er meinen Blick bemerkte, mich erkannte, zu mir rüber lief und sich gegenüber von mir setzte. Schweigend sahen wir uns an, wir grüßten uns nicht einmal. Lea stellte auch ihm eine Tasse Kaffee hin und wir tranken beide, schwiegen und warteten.
 

Erst als es draußen schon leicht zu dämmern begonnen hatte, Lea das Café schloss und sich zurückzog, um uns allein zu lassen, fingen wir an uns zu unterhalten.

„Du hast den Brief also gefunden.“

„Ja.“

Ich hob meinen Blick und sah ihm ins Gesicht. Er sah müde aus, hatte Ringe unter den Augen und seine Pupillen waren glasig und größer als normal. Ich kannte seinen Zustand gut.

„Dann weißt du ja auch, was ich vor habe.“

„Ja.“

Seine Stimme war leise, kaum mehr als ein Flüstern, doch es reichte aus, um ihn zu verstehen. Ich schwieg, irgendwie hatte ich das Gefühl, er wollte nicht das durchziehen, was ich geplant hatte. Irgendwie wusste ich, er würde nicht mitmachen. Ich hatte schon alles geplant, alles vorbereitet, doch ich wusste auch, alles war umsonst. Er redete nichts, er schaute mich nicht an und seine Hände fingen an zu zittern. Er griff nach seiner Hosentasche, holte etwas heraus, schluckte irgendwelche Tabletten. Seine Krämpfe ließen allmählich wieder nach.

„Hör mal, Amy, ich schaff das nicht. Ich kann nicht mehr.“

„Du versuchst es nicht.“

„Ach komm schon, bitte lass diese Vorwürfe.“

Ich wollte etwas erwidern, wollte ihn zurechtweisen, doch dann wurde mir klar, dass er Recht hatte und eh schon arm genug dran war. Also saßen wir wieder da und schwiegen uns gegenseitig an. Warum sagte er nichts? Warum sagte er nicht, dass er nicht mitmachen würde? Ich sah es doch in seinen Augen, ich wusste doch, dass er Schwierigkeiten hatte – ich wollte ihm doch nur helfen. Auf einmal erhob er das Wort, ohne dass ich irgendetwas gesagt hatte.

„Ich wollte nur wissen wie es ist.“

„Ich weiß.“

Ich wusste es, doch er hatte es mir nie gesagt und es überraschte mich, dass er auf einmal so offen darüber sprach.

„Er hat gesagt, es würde mir helfen. Es war nicht seine Schuld.“

„Ich weiß.“ Was hätte ich schon anderes sagen sollen?

„Wenn die Krämpfe nachlassen, fühl ich mich eigentlich ganz ok.“

„Du kannst in diesem Zustand nicht weitermachen. Ich will dir helfen.“

„Ich weiß.“

Dann schwieg er wieder. Nach einigen Minuten erhob er wieder die Stimme:

„Amy..“

Jetzt kam es, ich kannte diesen Tonfall. Er würde mich zurechtweisen, würde mir sagen, dass es nicht ging.

„... Ich kann das nicht. Ich schaff es nicht, ich kann nicht mehr. Ich bin am Ende.“

„Aber was willst du tun? Lass dir doch helfen.“

„Du kannst mir nicht helfen, niemand kann das.“

„Das ist nicht wahr“, ich war den Tränen nahe. Ich wusste was er vor hatte. Doch so weit durfte es nicht kommen. „Du kannst doch nicht so weiterleben. Ich brauche dich“, meine Worte waren nur ein Flüstern.

„Welches Leben? Sieh mich an: Ich bin halb tot anstatt lebendig.“

Ein eiskalter Schauer lief mir über den Rücken, ich wollte nicht hören, was er sagte.

„Ich brauche dich eigentlich nicht. Ich komme gut allein zurecht, es klappt alles, mir geht es gut.“

Ich fing zu zittern an.

„Nein.. bitte sag das nicht.“

Nun begann er auch zu zittern, zuerst nur seine Hände, dann seinen ganzen Körper. Wieder griff er nach den Tabletten, nahm sie, schluckte sie. Das Zittern ging allmählich zurück, doch seine Hände zuckten immer noch. Er sah dass ich weinte.

„Nein, Amy. Ich hab es nicht so gemeint. Ich brauch das eigentlich nicht. Ich will nicht mehr so weiter machen.“ Er wusste nicht mehr, was er sagte, er widersprach sich selbst. Sein Zustand war schlimmer denn je. Es war erschreckend.

„Dann lass mich dir helfen.“

„Das kannst du nicht tun! Nein, Amy, nein!“, er schüttelte heftig seinen Kopf, ich spürte, dass etwas tief in ihm sich gegen ihn selbst sperrte.“Wenn dann müsste ich in eine Klinik, zu Experten, aber das kann ich nicht. Ich bin auf der Flucht.“

Ich stand unter Schock, auch wenn ich wusste, dass er es gewesen war.

„Ich war es.“

Ich schloss die Augen, fühlte wie die eiskalten Worte, die er sagte, sich durch meinen Körper und durch mein Blut schlängelten, bis sie meinen Verstand erreichten. Bevor sie das taten, wusste ich schon längst, was er sagen wollte. Ich wollte es nicht hören, ich wollte es nicht glauben.

„Ich muss gehen, es ist vorbei. Es tut mir leid.“

Er stand auf, nahm seine Jacke, ging zur Tür. Ich wollte ihn aufhalten, ich wollte schreien, wollte ihm hinterher rennen. Doch ich konnte nicht, ich saß wie versteinert da. Ich wollte nicht, dass es so weit kam, ich wollte nicht, dass das alles geschah.

„Bitte.. ich will dich nicht verlieren“, waren meine letzten Worte, doch die Türe fiel schon mit einem dumpfen Schlag zu.

Ich hörte, wie Lea von Oben runter kam und sich gegenüber von mir setzte. Ich starrte auf meine Tasse, wollte ihr nicht ins Gesicht blicken.

„Ist er weg? Hat es geklappt?“

„Ich werd ihn wieder sehen. Er wird nicht weg gehen. Er nicht, nein, er wird bleiben. Er wird mich nicht verlassen“, flüsterte ich, mein Kopf wurde schwer, es drehte sich alles, ich fühlte mich wie traumatisiert, doch ich hielt stand. Ich versuchte es und hielt durch. Doch irgendwann konnte ich nicht mehr, vergrub mein Gesicht in meine Hände und schluchzte erbitterlich.

„Er wird wieder kommen. Ich weiß es“, hauchte ich. Ich wusste, dass ich mich selbst belogen hatte, doch ich wollte das alles nicht glauben. Ich wollte nicht wahrhaben, was geschehen war.
 

Gedankenverloren lief ich nach Hause. Stille. Nur hier und da tropfte es von einer Regenrinne, von den Laternen oder von irgendwelchen Dächern. Während ich im dumpfen Schein der Straßenlaternen nach Hause lief, dachte ich darüber nach, was er gesagt hatte. Irgendwie konnte ich es immer noch nicht glauben. Lange Zeit hatte mich Lea in den Arm genommen, so gehalten, mein Herz getröstet, meine Seele gewärmt. Doch noch immer wollte ich schreien. Noch immer wollte ich alles aufgeben, alles um mich herum, mich verlieren, mich betrinken. Rauchen, Ritzen, egal. Irgendwas. Ich spürte meine dunkle Aura um mich, spürte mein schwarzes Herz ungleichmäßig schlagen. Ich wollte nicht mehr leben, wo ich doch wusste, was er getan hatte. Hatte er es schon getan? Würde er es wirklich tun? Hatte ich die Zeichen richtig gedeutet? Hatte ich seine Worte richtig verstanden? Tausend Fragen durchschwirrten meinen Kopf, doch mein Verstand wollte die Antworten nicht wissen.

Im Schein einer durchleuchteten Schaufensterscheibe blieb ich stehen. Ich sah mir den teuren Schmuck an, sah diese Zahlen. Früher waren solche Preise für mich normal gewesen – doch heute? Unvorstellbar.

Was sollte ich nur tun? Ich war verzweifelt. Ich errinnerte mich an Früher zurück, errinnerte mich an meine Kindheit. Ich hatte es nie schwer, und doch... hatte ich etwas in meiner Kindheit verpasst. Ich hatte alles bekommen was ich wollte. Spielzeug, Kleider, Möbel. Ich hatte Freunde, ich war beliebt, ich war eben die „Prinzessin“ in der Familie. Ich war bekannt, berühmt, ich stand oft im Rampenlicht. Nur eines habe ich vermisst, was meine Freunde und meine Familie niemals verstanden hatten: Liebe. Aufmerksamkeit, Vertrauen, Zärtlichkeit. Dann kam der Punkt, an dem alles zerfiel. Als Gefangene in meiner eigenen Traumwelt verlor ich alles. Mein Märchen zerbrach, die Scherben fielen klirrend auf den Boden und keiner wollte sie wegkehren. Keiner wollte den Boden wieder säubern. Bis ich schließlich von einer Scherbe in die Nächste getreten war. Bis ich blutend, allein und total fertig am Boden lag. Doch keiner wollte mich hören, keiner wollte sehen, was wirklich geschehen war. Dass unsere Familie zerriss. Und als ich nicht mehr so bekannt war, als alles publik wurde, verließ mich ein Freund um den anderen. Und ich war wieder allein. Allein – in dem kalten Zimmer, und die Einsamkeit wollte nicht schwinden, sie übernahm mich, wurde größer, bis ich schließlich jegliches Selbstbewusstsein, jegliches Vertrauen in meine Mitmenschen, in meine eigene Familie, meine Eltern verloren hatte. Meinem Bruder ging es ganz genauso wie mir.
 

Langsam und fast mit Gewalt löste ich mich von dem Schaufenster, deren Diamanten und Juwelen, deren Glanz mir noch lange Zeit in den Augen widerspiegelte. Wie gerne würde ich jetzt in eine völlig fremde Welt flüchten.

Ich hatte Angst. Nicht etwa Angst davor, alleine nach Hause zu laufen. Nicht davor, dass mir irgendjemand etwas antun wollte, mich überfallen, entführen, verprügeln, vergewaltigen oder sogar umbringen wollte. Ich hatte Angst vor dem, was mich zu Hause erwartete. Doch.. zu Hause – was heißt das schon? Ist zu Hause denn nicht eigentlich ein Ort, an dem sich glücklich fühlt? An dem sich geborgen, verstanden, beschützt und sicher fühlt? An dem man Willkommen ist? An dem jemanden für einen wartet – und sei es nur sein eigenes Spiegelbild? Ich hatte nie das Gefühl, irgendwo glücklich zu sein. Ich konnte mein eigenes Spiegelbild nicht sehen.

Meine Mutter hätte jetzt gesagt, ich solle nicht allein nach Hause gehen. Es könnte schließlich gefährlich sein. Vielleicht hätte sie damit Recht, doch was heißt gefährlich schon? Eigentlich lebt man doch jede Minute, jede Sekunde, an jedem Ort, zu jeder Zeit in Gefahr. Nur ist man sich dessen vielleicht nicht immer bewusst. Sie wollte mich immer vor allem Schützen. Ich durfte alles kleines Kind nie ans Telefon gehen, wenn ich allein war – geschweige denn an die Haustüre. Sie ließ mich auch nur sehr selten draußen auf der Straße – oder auf dem Gehweg spielen. Ich musste immer im Haus sitzen, mit meinen Spielsachen spielen, die sie mir gekauft hatte. Und während ich zum zehnten Mal meine Barbiepuppe anders anzog, hörte ich draußen, wie andere Kinder sich im Dreck wühlten, im Sandkasten spielten und lachten.

Nur weil ich so verdammt überbeschützt wurde, hatte ich nie erfahren, was wirklich wichtig ist im Leben. Heute weiß ich es – natürlich. Aber früher war ich ein kleines Mädchen, dass immer nur spielte, schlief, aß, spielte, schlief, aß... und jeden Wunsch erfüllt bekam. Man könnte sagen, ich bin ein riesengroßes Sprungbrett hinaufgeklettert, habe heruntergeschaut, jemand hat mich losgelassen und ich bin von der Höhe in die Tiefe gefallen – nur dass das Becken in das ich fiel, kein Wasser in sich hatte, keinen Schutz – und ich auf den knallharten Boden der Realität – des wirklichen Lebens - knallte. Die Verletzungen sieht man heute noch.

In meine Gedanken vertieft, stand ich plötzlich vor dem Haus, in dem ich meine Wohnung hatte. Ich blieb noch eine Weile stehen, sah wie in Trance zu dem Hochhaus hinauf. Erst als ein älterer Mann, der die Fußgängerzone entlang lief, stehen blieb und mich fragte, ob alles in Ordnung sei, nickte ich und drehte den Schlüssel im Schloss herum, obwohl alles in mir drin sich dagegen sperrte. Ich lief das Treppenhaus hinauf. Als ich oben ankam, keuchte ich erstmal. Ich hasste diese Treppen. Einen Aufzug gab es keinen, es war ein altes Gebäude, in dem vorwiegend Arbeitslose, Penner und arme Familien wohnten.

Ich schloss die Wohnungstür auf und ein Gestank von Alkohol wehte mir entgegen. Ich rümpfte die Nase und stieg vorsichtig über einen Haufen von leeren Flaschen, die im Flur lagen. Bacardi, Wodka, Asbach, Jack Daniels, Bierflaschen. Hatte er die etwa alle allein ausgetrunken? Ich streifte meine Stiefel von meinen Füßen, warf sie achtlos in die Ecke und ging den Flur entlang, aufs Wohnzimmer zu. Mein Herz klopfte laut, ich hörte die Holzdielen knarren bei jedem Schritt, den ich machte. Meine Hände zitterten, mein Kopf pochte, mein Atem raste. Ich wollte seinen Namen rufen, doch ich konnte nicht. Ich wusste, er würde nicht antworten. Dann stand ich im Wohnzimmer, die Augen weit aufgerissen, starr vor Schreck, gelähmt. Mein Gesicht wurde fahl und ein gellender Schrei entglitt mir, den man wohl im ganzen Haus gehört haben musste. Ich sank auf die Knie. Ich fasste mir ans Herz, meine Tränen rannten mein Gesicht herunter, als ob sie irgendwo Zuflucht suchten. Ich schrie mir allen Schmerz aus der Seele, doch ich konnte nicht aufhören. „Nein! Nein! Das durfte nicht wahr sein!“ – „Aber du hast es doch gewusst.“ – „Neeeiiin!“ – „Du hast gewusst, dass es soweit kommen würde.“ – „Aber doch nicht so brutal! Nein! Ich will es nicht mehr sehen!“ Meine Gedanken schwirrten, während ich zuhörte, wie ich mit mir selber redete. Wie ich schrie und tobte. All das Blut.. ich wollte es nicht wahrhaben. Ich wollte es nicht mehr sehen!

Da hing er – hatte sich davor noch den Arm aufgeschlitzt, das Blut offenbar gesammelt, in einem Gefäß, sich danach erhängt – doch zuvor noch mit seinem eigenen Blut an die Fensterscheiben folgende Worte geschrieben: „Ich sagte doch, dass ich nicht mehr so weiter leben kann. Es tut mir leid, kleine Schwester. Ich liebe dich, vergiss das nie!“
 

Niadala erwachte wieder aus Amy´s Errinnerung. Sie war schockiert. Alle Gefühle, die das Mädchen gehabt hatte, waren überaus negativ. Sie waren dunkel, kalt, verletzt. Amy´s Einsamkeit kroch Niadala´s Haut hoch und sie spürte, wie die Kälte sie übernahm. Dies war wohl einer der Momente, die am wichtigsten und am bedeutensten für Amy gewesen waren. Der Absturz in die Tiefe wurde durch diesen tragischen Vorfall, der ihr Bruder erlitt, nur noch mehr bestätigt. Doch noch längst kannte sie nicht Amy´s gesamte Geschichte und viele Errinnerungen waren zu verworren, zu sehr durcheinander, um sie richtig zu deuten. Niadala wusste nur eines: Wenn sie Amy´s Seele berühren wollte, musste sie deren gesamte Geschichte kennen. So blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als alle Errinnerungen, die für Amy wichtig schienen, anzusehen, sich daraus ein Bild zu machen und diese Errinnerungen letztendlich wie ein Puzzle zusammen zu fügen. Doch die Zeit drängte, das Tageslicht verwandelte sich erneut in hüllende Dunkelheit und ein Tag nach dem anderen verstrich.

Amy´s Gedanken waren für Niadala wie ein Tagebuch, bei dem einige Seiten rausgerissen wurden, und in ein völlig anderes Kapitel, eine völlig andere Zeit gedrängt wurden. Es war zum verzweifeln und doch wusste Niadala, die Seiten des Tagebuchs waren der einzige Schlüssel, der ihr dazu verhelfen würde, Amy zu verstehen und an ihre Seele, an ihre Existenz heranzukommen.
 

Ich saß auf dem Bett, starrte vor mich hin. Die Zeit verstrich, ich wusste nicht wie spät es war. Meine Gedanken lösten sich von meinem Verstand, schwirrten in dem kalten, einsamen Raum herum, als wären es nicht die meinigen.

Mein Bruder – warum? Warum hatte er mir das angetan? Was sollte ich jetzt tun? Ich war allein. Sollte ich zu Lea gehen? Sie hatte doch selber Kinder, für die sie sorgen musste und sie hatte ja auch wenig Geld. Geld – ja, das war der Punkt. Ich brauchte Geld, sonst würde ich nicht überleben. Sonst würde ich in ein Heim müssen. Oder zurück zu meinen Eltern? – Meine Eltern! Ich musste es ihnen sagen, ich musste ihnen sagen, was passiert war. Doch wo waren meine Eltern? Wer sind meine Eltern? Hatte ich je Eltern gehabt?

Meine Gedanken verworrten sich und je mehr Fragen ich mir selbst stellte, desto schlechter fühlte ich mich. Dann fiel mir ein, dass Matt etwas von 5000 Euro geredet hatte, er hätte sie geklaut. Er hätte sie irgendwo im Haus versteckt, er sagte mir auch wo, doch ich wusste es nicht mehr.

Ich stand auf und lief im Zimmer hin und her. Ich musste irgendwas tun, irgendwas. Doch mir fiel nichts ein. Also lief ich weiter durchs Zimmer, bis ich die Vase standen sah. Ohne groß nachzudenken, packte ich sie, mitsamt der kleinen Lilie darin und schmiss sie mit voller Wucht gegen den Spiegel. Mir entglitt ein Schrei der Wut, während die Scherben klirrend zu Boden fielen. Ich sank auf die Knie, erstaunt über mich selbst, über meinen Wutausbruch. Ich starrte mein zerbrochenes Spiegelbild an und sah mein verletztes Ich. War das ich? War das wirklich ich? Ein blasses Gesicht blickte mich an, Augenringe, die Pupillen glasig. Hier und da ein paar Schrammen, ansonsten war meine Haut etwas dreckig. Dunkelbraune, fast schwarze Haare fielen von meinen Schultern, in meinen tiefbraunen Augen war das sonst so vertraute Leuchten erloschen. Traurig und müde sah ich aus und ich erkannte mich kaum wieder. Schwarze Kleider zeichneten meine schlanke Figur ab. Alles an mir war eigentlich normal, und doch so anders. Ich stand wieder auf, setzte mich wieder auf´s Bett, wandte den Blick von den Scherben ab und schaltete den Fernseher ein. Nachrichten.

„Gestern Abend, am 13.04. wurde ein junger Mann tod aufgefunden. Es deutet alles darauf hin, dass er durch einen grausamen Selbstmord sein Leben beendet hatte. Er wurde etwa 2 Stunden nach seiner Tat von seiner Schwester gefunden, die spät in der Nacht nach Hause kam. Der junge Mann war gerade mal 17 Jahre alt. Er wusste offenbar keinen Ausweg mehr. Er wohnte alleine mit seiner 2 Jahre jüngeren Schwester, zu seinen Eltern hatten sie offenbar keinen Kontakt mehr. Nachdem er sich den Arm aufgeschlitzt hatte, um mit seinem eigenen Blut eine Nachricht an seine Schwester an die Fensterscheiben zu schreiben, hatte er sich mit einem Seil an der Wohnzimmerlampe erhängt. Die Polizei ist sich mittlerweile ziemlich sicher, dass es sich um den Sohn eines großen Geschäftsmannes handelte. Er war der gesuchte Mörder zweier Jugendlichen, ein 14-Jähriges Mädchen und ein 16-Jähriger Junge. Außerdem hatte er starke Drogenprobleme und war schon des Öfteren mit der Polizei in Konflikt geraten, unter anderem hatte er auch mehrere tausend Euro aus verschiedenen Häusern geklaut. Das Geld konnte derzeit noch nicht aufgefunden werden und die Schwester des Toten wollte keine Aussage zu all dem machen. Es wird in nächster Zeit noch dagegen vermittelt.“

Ich schaltete den Fernseher wieder aus, ich wollte mir das nicht länger anhören. Mein Bruder – ein Mörder haben sie ihn genannt. Er hatte zwei Jugendliche umgebracht. Ich wusste, dass er es war, aber ich wollte es nie glauben. Mein Bruder war kriminell gewesen, er hatte Drogen genommen. Nein – nicht nur das. Drogen, Alkohol, er hatte gestohlen, er hatte gemordet. Was war nur mit ihm passiert?

Ich konnte nicht mehr und fing erneut an zu schluchzen. Ich heulte, bis ich keine Tränen mehr hatte. Diese Leute im Fernsehen sprachen von meinem Bruder, als ob er ein Schwerverbrecher gewesen wäre. Doch sie verstanden nichts, sie sahen nicht die Hintergründe dieses ganzen Befangens. Sie sahen nur einen Mörder, sie sahen nicht einen verzweifelten Menschen. Sie urteilten über uns, ohne uns zu kennen, ohne dass sie nachfragten, ohne dass sie wussten, welches Leid wir erfahren hatten. Natürlich rechtfertigt nichts, was mein Bruder getan hat. Aber deswegen müssen sie uns doch nicht wie widerliche kleine Insekten behandeln! Doch das war schon immer so, seit wir von zu Hause abgehauen waren. Am schlimmsten war es, als wir auf der Straße gelebt hatten. Ich werde vielleicht mein Leben lang so behandelt werden. Als ob ich nichts wert wäre. Bin ich etwa nichts wert? Wer bin ich schon? Es gibt sicherlich Menschen, die schlimmer als ich dran sind, also sollte ich mich zusammen reißen. Doch ich wollte nicht mehr, ich konnte nicht mehr. Ich wünschte nur, diese Stimme in meinem Kopf, die in mir drin so laut schreite – die ganze Zeit über – wäre endlich still. Doch ich durfte mich nicht verlieren, ich darf nicht das gleiche tun, was mein Bruder tat. Ich hatte es Lea versprochen. Ich hatte es auch Dylan versprochen. Wieso nur? Wieso nur hatte sich mein Bruder umgebracht? Jetzt war ich wieder allein, ganz allein.

Eine Weile lag ich noch auf dem Boden, neben den Scherben und dachte über alles nach. Stellte mir Fragen, die unwichtig waren, gab mir Antworten, die nicht richtig waren und irgendwann war ich wieder so weit, dass ich in dieses schwarze Loch fiel. Ich kam nicht mehr heraus, so sehr ich es vielleicht versuchte – denn innerlich grub ich mich immer mehr in dieses Loch. Nach einiger Zeit nahm ich einen der Scherben in die Hand und sah auf meine Unterarm. Narben zeichneten sich ab, sie waren nicht tief, sie waren nicht groß, man sah sie nur schwach – aber sie waren da. Zitternd nahm ich die Scherbe, stach in meine Haut und fuhr damit meinen Unterarm entlang. Immer und immer wieder. Ich wusste, ich sollte das nicht tun, doch ich tat es. Mir war es egal, was die anderen wieder sagen und denken würden, mir war alles egal. Es zählte nur der Schmerz, ich spürte wie er meine Seele auffraß und ehe ich mich versah, rannte mein eigenes Blut meinen Unterarm herunter. Ehe ich mich versah, hatte ich es erneut getan. Ich hatte mir wieder selbst Schmerzen zugefügt. Ich hatte mich wieder geritzt.
 

Der Himmel weinte, der Regen fiel, als wollte er alles wegwischen – doch die Narben des Verlustes blieben. Ich saß vor dem Fenster und schaute nach draußen. Um meinen Arm hatte ich einen fetzen Stoff, notgedrungen als Verband genutzt, gebunden. Ich hörte dem unaufhaltsamen Prasseln zu, gleichmäßig, ruhig und traurig. Als würde sich diese Traurigkeit in meinen Augen widerspiegeln, liefen Tränen über mein Gesicht, die genauso unaufhaltsam waren. An der Tür klopfte es wie wild. Ich ignorierte es. Ich zog die Beine an, legte die Arme darum und sah hinaus. Zusammengekauert beobachtete ich einige Kinder, die gelbe Regenjacken anhatten und im Matsch rumtobten und lachten. Warum nur hatte ich versagt?

Das Klopfen an der Tür wurde mit einem Mal lauter.

„Hallo? Ist hier jemand?“

Die Worte drangen nur leise durch den Türspalt zu mir.

„Können sie bitte die Türe aufmachen, Mrs. Armstrong? Wir wissen, dass sie da drinnen sind, wir haben sie am Fenster stehen sehen! Wir sind von der Kriminalpolizei, wir hätten gern noch einige Fragen disbezüglich ihres Bruders! Hallo? Hören sie uns nicht?“

Wider Willen stand ich auf, schob den Riegel der alten Türe vor, öffnete sie einen Spalt, spähte hinaus. Draußen standen zwei Männer, sie waren normal gekleidet, keine Uniformen. Sie sahen etwas verwirrt aus.

„Tut mir leid, im Augenblick ist es ungünstig.“

Das war alles was ich sagte, bevor ich ihnen einen Blick zuwarf, der sie annehmen ließ, dass ich über ihre Störung keineswegs erfreut war und schlug ihnen die Türe mit einem lauten Knall vor der Nase zu. Ich schob den Riegel wieder vor, schloss dreimal ab, nur damit sie auch wirklich merkten, dass ich die Nase gestrichen voll hatte. Polizisten, Beamte, Geschäftsleute, Reporter, Ärzte, gaffende Nachbarn und sonstige schaulustige Leute – alle waren sie gekommen, jeder hatte Fragen gestellt. Verstanden denn diese Leute nicht, dass man allein sein will, wenn man jemand verloren hatte, der einem am Herzen lag? Sollen sie doch alle zum Teufel fahren – mitsamt ihren Unterlagen, Durchsuchungsbefehlen, Fragen und besorgten Blicken. Mitleid brauchte ich jetzt keines. Das würde nur alles noch schlimmer machen. Ich wollte nur allein sein.
 

Die nächsten Tage waren die Hölle. Ab und zu brachte mir Lea was zu essen, doch ich konnte nichts essen. Auch Dylan kam vorbei, sagte mir, wie Leid es ihm täte und dass er das alles nicht gewollt häbe – doch ich wollte ihn nicht sehen. Ich spürte dennoch, dass Lea und Dylan sich Sorgen machten, also gewährte ich ihnen wenigstens eine Weile meine Gesellschaft, auch wenn wir nicht viel sprachen. Lea sagte mir, sie hätte versucht meine Eltern über alles zu verständigen, doch es wäre erfolglos gewesen.

„Sie sind einfach nicht zu erreichen. Niemand scheint zu wissen, wo deine Eltern sind.“

Das war mir klar. Seit damals, als alles in die Brüche gegangen war, waren beide wie vom Erdboden verschluckt gewesen. Meine Mutter war abgehauen – hatte uns im Stich gelassen. Sie hatte uns einfach bei unserem Vater gelassen und hatte sich nicht überlegt, welche Ausmaße ihr Handeln haben würde. Oder aber war es ihr egal gewesen. Später sind ich und mein Bruder von zu Hause abgehauen, wie hielten es nicht mehr aus – und schließlich sei auch mein Vater abgehauen und soll seither ebenfalls unauffindbar gewesen sein.

Manchmal fragte ich mich, ob das wirklich so war. Konnten zwei Menschen denn derart von der Bildfläche verschwinden, dass es niemand gab, der sich an sie erinnerte, außer den eigenen Kindern? Obwohl, immer wenn ich versuchte, mir meine Eltern genau vorzustellen, schienen sich ihre Gesichter nur spärlich in meinen Gedanken zu bilden. Fast so, als hätte jemand die Errinnerung an ihre äußerliche Existenz ausgelöscht. Außerdem hatte man die Auskunft angerufen, Nachbarn befragt, man hat nach ihnen gefandet, wirklich jedem Detail war man nachgegangen, doch nirgends hat man sie gefunden. Mittlerweile hab ich die Hoffnung aufgegeben und manchmal wünschte ich, es hätte sie gar nicht gegeben, denn dann würde es nicht so verdammt weh tun, zu wissen, dass sie irgendwo da draußen sein mussten, aber doch unauffindbar und dazu der Gedanke, dass sie uns einfach im Stich gelassen hatten, fraß einem innerlich das Herz auf.

An diesem Tag, an dem Lea zu mir kam – Dylan war gerade gegangen, weil er merkte, dass seine Gesellschaft mir nicht unbedingt gut tat –und mir erzählte, dass sie versucht hatte, meinen Vater zu verständigen und der Versuch erfolglos blieb, war wieder einer dieser Tage, an dem ich das Gefühl hatte, alles würde zerbrechen. Ich glaubte fast, es gäbe keinen weiteren Grund mehr, auf der Welt sein zu dürfen, und es hätte keinen Sinn mehr zu Leben, weil jede Hoffnung schwindete – weil ich nicht wusste, wofür ich noch leben sollte. Ich hätte mich beinahe wieder geritzt, aber Lea hatte mich daran gehindert und mich zur Rede gestellt. Sie machte mir etwas zu essen, während ich schweigend am Esstisch saß und vor mich hin starrte.

„Ach ja, ich war heute bei meinem Vater“, sagte Lea, stellte mir das fertige Gericht vor die Nase, dass ich teilnahmslos anblickte.

„Und?“

Ich wusste dass Lea sich mit ihrem Vater nur gezwungenermaßen gut verstand, in den Augen von ihrem Vater war Lea eine Versagerin. Mr. Fountain war ein reicher, gut angesehener Mann und er hätte Lea sein ganzes Geld und Vermögen vermacht, hätte sie denjenigen geheiratet, der für sie vorbestimmt gewesen wäre – ein ebenfalls reicher Mann. Doch Lea hatte sich unter dem Zorn ihrer Eltern gegen das Geld entschieden und einen mittelständigen Mann geheiratet, sich von ihm schwängern lassen, bis es schließlich doch zu Ende ging und ihr Mann sie verlassen hatte. Das gleiche passierte ihr zwei Jahre später, von dem sie dann ihre nächsten drei Kinder bekam – und auch der verließ sie. Trotz allem jedoch liebte Lea ihre Eltern, genauso umgekehrt – so also hatte Mr. Fountain seiner Tochter verziehen – das Geld jedoch hatte er nicht rausgerückt – so also hatte sie einen steinreichen Vater, aber selbst war sie arm. Deswegen redete sie auch nicht gerade oft über ihren Vater, geschweige denn, dass sie ihn besuchte.

„Ich musste etwas geschäftlich klären. Er ist bereit mir einen Teil vom Erbe jetzt schon zu geben, auch wenn es nicht viel ist.“

„Klingt doch nicht so schlecht – dann hat er es endlich eingesehen?“

„Ich musste ihn mehr dazu zwingen – aber dazu später. Da gibt es etwas, dass mich mehr beschäftigt.“

„Was denn?“, ich nahm letztendlich doch Messer und Gabel in die Hand, begann zu essen und hörte aufmerksam zu, was Lea zu berichten hatte.

„Als ich in das Büro meines Vaters ging, kam mir ein merkwürdig gekleideter Mann entgegen. Als ich nachfragte, wer das gewesen sei, sagte mein Vater, der Mann kenne er nur aus früheren Zeiten und sie hätten etwas wichtiges zu klären gehabt.“

„Weißt du auch was?“

„Ja. Mein Vater sagte, der Mann häbe nach dir gefragt.“

Ich verschluckte mich als ich hörte was Lea gesagt hatte, ich musste husten und als ich mich wieder beruhigt hatte, starrte ich Lea ungläubig an. Es wunderte mich, dass Lea´s Vater sich an mich errinnerte, wobei er mich nur einmal flüchtig gesehen und mich kaum wahrgenommen hatte – aber noch mehr wunderte es mich, dass gerade ein Mann, mit dem Lea´s Vater zu tun hatte, mich sprechen wollte.

„Was? Wieso wollte der Mann mich sprechen?“

„Das wollte mir mein Vater leider nicht sagen. Aber er sagte mir, dass ich dir sagen soll, dass der Mann morgen Abend bei dir vorbeikommen wolle.“

„Danke für die Auskunft. Was der Mann wohl von mir will?“

„Ich hab keine Ahnung. Aber was auch immer er will, bitte versprich mir, dass du auf dich aufpasst.“

Ich nickte.

„Ja, werd ich. Mach dir keine Sorgen.“
 

Noero. Ein seltsamer Name, dachte ich beiläufig. Doch der Name passte zu ihm. Er trug einen bodenlangen, schwarzen Mantel – und eigentlich war er von oben bis unten schwarz gekleidet. Seine schwarzen, langen Haare waren zu einem Pferdeschwanz gebunden, es passte zu seinem sonstigen äußerlichen Erscheinen und irgendwie hatte es etwas geheimnisvolles und unheimliches an sich. Doch am erstaunlichsten waren seine Augen. In den schwarzen Augen glaubte ich ab und zu ein dunkles Lila aufleuchten zu sehn, wobei ich mir nicht ganz sicher war, ob das wirklich sein konnte.

Der Mann kam durch die Wohungstüre geschritten und als er an mir vorbei lief, schlug mein Herz auf eine merkwürdige Art etwas schneller als gewöhnlich. Trotzdass ich den Mann noch nie gesehen hatte und er mir völlig fremd war, spürte ich etwas Vertrautes, dass ihn umgab.

Er stellte sich vor, sagte nur seinen Vornamen. Ich bat ihn doch im Esszimmer Platz zu nehmen. Er nahm das Angebot an, setzte sich und sah sich mit seinen eiskalten schwarz-lila Augen misstrauisch um. Auf der einen Seite war ich gespannt, was der Mann von mir wollte – auf der anderen Seite wusste ich nicht, ob ich ihm trauen konnte.

„Darf ich fragen, was Sie von mir wollen?“, fragte ich höflich aber bestimmt.

Er sah wieder zu mir, schien zu schmunzeln, griff in seine Manteltasche und holte einen Brief heraus. Er warf ihn auf den Tisch und schob ihn mir zu.

„Den Brief hier soll ich dir von deinem Vater geben.“

Mir stockte der Atem. Hatte ich richtig gehört? Von meinem Vater?



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