Ich hätte es wissen müssen
Er schaltete das Licht an und stellte seine Taschen einfach in den Flur. Erst drei nebeneinander, die andere schließlich obendrauf. Anschließend schmiss er noch seine Umhängetasche dazu. Er hoffte, dass sie eine Weile so stehen bleiben würden und nicht ineinander rutschten. Aber auch, wenn dies passierte, war es ihm egal. Heute würde eh niemand mehr hier lang laufen.
Es sei denn Daisuke war noch unterwegs und hielt die ganzen Bars, die es in der Stadt gab, am Laufen. Denn das tat er, wie Tooru wusste, sehr oft und sicher hatte sich daran auch nichts geändert. Vielleicht besuchte er sie jetzt sogar öfter und hatte schon eine Urkunde oder derartiges dafür erhalten, das er die Bars am Leben erhielt.
Aber darüber sollte er sich nicht lustig machen. Denn wenn dem so wäre, war es ja seine Schuld. Er war einfach verschwunden und hatte den rothaarigen Gitarristen in ein tiefes Loch gestürzt. Jedenfalls hoffte er das. Nicht, dass es ihm gefiel, dass es Dai so schlecht ging, aber so konnte er sich sicher sein, dass der Ältere ihn noch mochte. Auch, wenn er dies stark bezweifelte.
Als er sich von diesen seltsamen Gedanken losriss, zog er auch endlich seine Jacke und seine Stiefel aus. Er stellte die Stiefel ordentlich neben die vielen Schuhe von Daisuke und seine dünne, schwarze Jacke hängte er neben die dutzenden Mäntel seines Freundes. Danach ging er durch den Flur, öffnete leise die Tür zum Wohnzimmer, in welches er auch eintrat.
Er ließ die Tür einfach offen stehen und als er weiter in den nur vom Mondlicht beleuchteten Raum trat, musste er feststellen, dass der Rotschopf nicht hier war. Die Couch war leer, der Sessel ebenso. In der kleinen Sitzecke rechts neben der Tür saß auch niemand und an dem großen Fenster, an welchem sie früher immer gemeinsam standen, war auch niemand.
Er seufzte leise.
Er hätte sich denken können, dass Daisuke schon schlief. Den Gedanken, dass der Gitarrist noch unterwegs war, hatte sich eben schon nicht bestätigt, als Tooru sich seine Jacke und Stiefel ausgezogen hatte. Denn die Lieblingsjacke des Größeren hing an einem der Haken und ohne diese verließ Dai nie die Wohnung. Egal wie warm oder kalt es draußen war.
Er schritt nun zu dem Panoramafenster, stellte sich so dicht davor, dass sein Atem die Scheibe beschlagen ließ. Er legte seine rechte Hand an das kühle Glas, strich leicht darüber. Doch als er genug von den nur noch wenig befahrenen Straßen hatte, löste er sich von der Glasscheibe, drehte sich um und ging wieder durch den Raum.
An der Couch angekommen, ließ er sich auf dieser nieder, überschlug seine Beine und betrachtete den Tisch vor sich. Irgendwie sah noch alles aus, wie vor sechs Monaten. Der Aschebecher stand noch am selben Fleck, die Zeitschrift, die Tooru selbst auf den Tisch gelegt hatte, lag noch immer darauf - unangerührt. Und auch die vielen anderen Dinge, wie zum Beispiel der Strauß aus unechten, weißen Lilien, standen noch immer an Ort und Stelle wie damals.
Hatte Dai überhaupt nichts mehr hier angerührt? War er überhaupt noch einmal in diesem Zimmer gewesen? Der Sänger nickte, um seine Gedanken zu bejahen. Die Zigarettenstummel in dem Aschenbecher waren auf jeden Fall neu.
Also war der Rothaarige hier gewesen, hatte stillschweigend geraucht, sonst allerdings nichts angerührt. Weder hatte er auch nur einmal in die Zeitschrift hineingeschaut, noch hatte er die vielen anderen Gegenstände angerührt. Er war wohl nur in dieses Zimmer gekommen, um sich eine Zigarette anzuzünden, diese dann genüsslich zu rauchen und schließlich wieder das Wohnzimmer zu verlassen.
Doch als der Schwarzhaarige seinen Blick über die Couch, auf der er gerade saß, schweifen ließ, bemerkte er, dass dem nicht so war. Die schwarze Decke, die Dai immer auf seiner weißen Couch liegen hatte, damit sie nicht allzu dreckig wurde, war mehr als nur verrutscht.
Dort, wo Tooru saß, lag schon gar keine Decke mehr, sondern er saß auf dem weißen, weichen Stoff. Die Decke war zu Boden gerutscht und nur noch ein Stück von ihr verdeckte den edlen Stoff der Couch.
Also hatte der Rotschopf öfters hier gelegen, sich vermutlich Gedanken darüber gemacht, wann der Sänger wieder kam, sich am Ende noch die Augen aus dem Kopf geheult. Doch irgendwie konnte Tooru sich das nicht so recht vorstellen, weshalb er auch seinen Kopf schüttelte.
Wahrscheinlich hatte Dai hier gelegen und sich ausgedacht, wie er ihn am besten bestrafen konnte, weil er ihn ein halbes Jahr allein gelassen hatte. Und sicher war er auch auf eine Idee gekommen ihm alles heimzuzahlen.
Wieder schüttelte er den Kopf. Auch das konnte er sich nicht vorstellen. Dai war ein gutmütiger Mensch, der sich wirklich nur selten aufregte. Man musste seine Nerven schon arg strapazieren, damit er lauter wurde und einen anschrie. Und das hatte Tooru sogar öfters hinbekommen. Nicht, weil er ihn so genervt hatte, sondern einfach nur, weil er zu nichts Lust gehabt hatte.
Daisuke hatte ihm immer so viel vorgeschlagen, zum Beispiel, was sie tun könnten, aber jedes Mal hatte der Jüngere nur mit den Kopf geschüttelt oder überhaupt nicht reagiert. Und manchmal hatte er Dai so weit getrieben, dass er wütend geworden war, ihn angeschrieen hatte.
Jedoch war er nur einige Minuten böse, dann kam er meist wieder angekrochen und hatte sich entschuldigt. Tooru hatte ihn dabei nur mild angelächelt, beteuert, dass es seine eigene Schuld war, was ja auch stimmte. Er hatte ja nie Lust geäußert irgendetwas zu tun.
Und nachdem sie sich wieder vertragen hatten, hatten sie sich meist vor das Fenster im Wohnzimmer gestellt, welches der Gitarrist irgendwann gegen das Panoramafenster ausgetauscht hatte, und die Welt außerhalb beobachtet.
Aber das war schon lange her und sicher würde es auch nicht mehr so werden, wie zu dieser Zeit. Er hatte es kaputt gemacht, alles zerstört.
Wieder entrann ihm ein Seufzen und er zog eine Zigarettenschachtel aus seiner Hosentasche, nahm sich einen der Glimmstängel und zündete ihn an. Er zog genießend daran, setzte sich dabei breitbeinig hin und lehnte sich ein wenig nach vorne.
Er blätterte gelangweilt in der Zeitschrift, in der ein Interview über sie drin stand. Er las sich einige der Textpassagen durch, musste unwillkürlich lächeln, als er Dai's Foto sah und er neben ihm. Nur sie Zwei waren auf diesem Foto und er wusste noch genau, wie aufgeregt er damals gewesen war. Und das, obwohl sie nur nebeneinander saßen.
Schließlich schlug er die Zeitschrift wieder zu und drückte seine Zigarette in dem Aschenbecher aus. Er lehnte sich wieder leicht zurück, schloss müde die Augen.
Gerade als er sich ein wenig hinlegen wollte, vernahm er plötzlich eine Stimme.
„Tooru...?“, hauchte sie leise und er öffnete abrupt seine Augen, blickte auf die Person, die im Türrahmen stand.