Schatten in der Schwärze
Ihr habt Recht, auf die Hundebrüder warten eine Menge Unannehmlichkeiten:
11. Schatten in der Schwärze
Die Halbbrüder gingen getrennt in die beiden Gänge der Gabelung. Beiden war klar, dass irgendetwas außer ihnen ebenfalls anwesend war, aber sie hätten nicht sagen können, was. Es war nichts zu sehen, nichts zu hören, nichts zu wittern.
Inuyasha ließ die Hand an Tessaiga. Irgendwie fühlte er sich so sicherer. Das matte Licht der Algen schien immer dunkler zu werden. Dreihundert Schritte sollte er gehen, dann umkehren. Als er bis hundertfünfzig gezählt hatte, weitete sich der bislang eben dahinführende Gang zu einer Halle. Die Algen konnten sie nicht erleuchten. Er warf einen Blick hinauf. Die Decke war nicht zu erkennen, aber es roch nach einem großen Raum. Der Boden war weiterhin eben, soweit er sehen konnte. Aber etwas wie ein Kribbeln in der Wirbelsäule ließ ihn sich umdrehen, der uralte, menschliche, Instinkt, beobachtet zu werden.
Ein Schatten glitt hinter ihm über den Weg, den er eben gekommen war. Wo dieser vorbeikam, erloschen die Algen. Der Hanyou riss sein Schwert heraus. Was auch immer da kam, würde kaum gastfreundlich sein. Und dann wurde es um ihn vollkommen dunkel. Er aktivierte Tessaiga und wartete.
Seine empfindlichen Ohren vernahmen ein Knistern, dann das leise Klirren von Metall und er drehte sich in diese Richtung: „Wer bist du? Und was willst du?“
„Ich bin nichts als ein Kage, ein Schatten“, antwortete jemand: „Und es wird es dir schwer machen, mich mit deinem Schwert zu treffen. Du bist ein Youkai, aber so in vollendeter Dunkelheit kannst auch du einen schwarzen Schatten nicht erkennen. Du kannst mich nicht wittern, denn ein Schatten hat keinen Geruch. Kurz, du bist mir vollkommen ausgeliefert, Hundejunge.“
„Meinst du?“
„Oh, denke mal darüber nach. Du stehst hier allein, in der absoluten Schwärze, weißt nicht, wo und wann ich wie zuschlagen werde. Und ich bin sicher, wenn du darüber nachdenkst, wird die Angst in dir aufsteigen.“
„Wieso soll ich mich überhaupt auf dich einlassen? Wer bist du?“
„Willst du dich etwa vor einem Kampf drücken, Hund?“
„Keh!“ Inuyasha hatte jetzt die Stelle gefunden, von wo aus die spöttische Stimme kam und machte einen weiten Satz dorthin, schlug zu. Tessaiga prallte auf Stein.
Dem Schatten entkam ein höhnisches Gekicher: „Oh, nicht schlecht, Hundejunge, du versuchst, anhand meiner Stimme herauszufinden, wo ich bin. Nette Idee. Aber das wird nicht klappen. Und weißt du auch, warum? In einer Höhle wird der Schall reflektiert. Ich dagegen kann dich wahrnehmen und….“
Inuyasha fuhr herum. Irgendein unbekannter Instinkt ließ ihn mit beiden Händen seine Klinge empor reißen. Stahl knirschte auf Stahl. Dieser so genannte „Schatten“ schien auch über ganz gute körperliche Kräfte zu verfügen. Das würde nicht einfach werden.
Sesshoumaru war die dreihundert Schritte gegangen. Die Höhle hier hatte sich verändert. Immer wieder kreuzten Wurzeln den Weg, so dass er klettern, springen musste. Bedeutete dass, dass er sich dem Herzen des Wurzelwerks näherte? Dem Ort, wo er den Kessel vermutete? Denn ohne diesen würden sie hier nie herauskommen. Er stutzte. Hatte er gerade „sie“ gedacht? Doch, tatsächlich. Was war nur mit ihm los? Warum dachte er auf einmal so, ja, gemeinschaftlich? Aber eigentlich war es klar, warum. Während dieses gesamten Turniers und gerade in den erzwungenen gemeinsamen Kämpfen auf der gleichen Seite hatte er mehr an den Bastard denken müssen, als in den gesamten Jahren zuvor. Und er gab zu, dass Inuyasha im Kampf etwas konnte. Warum nur war er damals so weich und feig gewesen, die Ausbildung abzubrechen? Weil er ein Hanyou war? Weil er einfach zu schwach zum Leben war? Was sollte es. Er brauchte sich doch keine Gedanken um ihn zu machen. Der sollte seinen Teil übernehmen und dann würden Kessel und Schmied Geschichte sein. Nicht, dass er das nicht allein schaffen könnte, immerhin war er Sesshoumaru, aber es wäre angenehm, jemanden dabei zu haben, der einem den Rücken freihielt. Nicht notwendig, aber angenehm.
Er blieb stehen: „Was willst du?“ fragte er, ohne sich umzudrehen.
„Deinen Kopf“, sagte eine Stimme höhnisch: „Auch schon gemerkt, dass ich hier bin?“ Es wurde stockdunkel.
„Hmph.“ Der Laut des Hundeyoukai drückte sein Missvergnügen aus: „Lebensmüde?“
„So sicher, dass du gegen einen Schatten in der Schwärze gewinnen kannst? Ich bin nichts als ein Kage, ein Schatten, entstanden aus den dunklen Gedanken meines Herrn. Du kannst nichts sehen, mich nicht wittern, mich nicht hören.“
„Du hast ein Schwert.“
„Oh, da ist jemand schlau. Woher weißt du das?“
Sesshoumaru sah keinen Grund, dem Wesen zu sagen, dass er das Metall wittern konnte. Man gab keinen Vorteil aus der Hand. Er drehte sich in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war, auch, wenn die winzigen Luftmoleküle des Metalls links neben ihm waren: „Und warum willst du mich töten?“
„Das ist mein Lebenszweck. Du bist ein Monster, ein Hundeyoukai. Der Herr will alle Hundeyoukai tot sehen.“
„Wo ist dein Herr?“
„Das möchtest du gern wissen, oder? Aber ich sag’s dir nicht.“
„Also glaubst du, dass ich gewinne.“
„Unsinn! Wie willst du gegen einen Schatten gewinnen, in der völligen Finsternis? Du bist ein Youkai, aber so in vollkommener Dunkelheit kannst auch du nichts erkennen. Du kannst mich nicht wittern, denn ein Schatten hat keinen Geruch. Kurz, du bist mir vollkommen ausgeliefert, Hundejunge.“
Sesshoumaru hob die Hand, ließ die Finger leise knacken. Was für ein Narr, soviel zu reden. Ihm war nun klar, dass die Stimme reflektiert wurde. Sie schien sich um ihn zu bewegen. Aber weitaus interessanter war die Stelle, wo sich das Schwert befand. „Wo ist dein Herr?“ wiederholte er. Vielleicht gab es eine Abkürzung und sie müssten nicht den Kessel suchen.
„Na schön…geht weiter, tiefer unter diesen Baum. Dort leben…egal. Und dort ist der Kessel. Springt ihr in ihn, kommt ihr in eine andere Welt. Dann geht Richtung Neumond.“ Der Schatten kicherte: „Aber das nützt euch alles nichts. Ich werde dich hier töten.“
„In der Tat.“ Der Hundeyoukai machte einen großen Satz nach links. Der Raum wurde plötzlich von einem grünen Licht vage erhellt. Etwas Großes, Schwarzes war vor Sesshoumaru, ein Schwert. Ohne jedes Zögern stieß er seine grün leuchtende Hand mitten in diese Dunkelheit, spürte Widerstand: „Dann stelle ich dir meine Dokkaso vor.“
Der „Schatten“ löste sich auf. Das letzte, was er hervorbrachte war: „Wie…?“
Der Hundeyoukai bemerkte, dass die Algen um ihn wieder leuchteten. Gut. Was hatte dieser so gennante Schatten gemeint? Wie er ihn hatte finden können oder wie er ihn getötet hatte? Das war gleich. Er war nun die vereinbarten dreihundert Schritte gegangen. Der Weg führte abwärts. Mal sehen, was Inuyasha herausgebracht hatte. Er wandte sich um und wanderte zurück.
An der Weggabelung angekommen, fehlte von diesem Bastard weit und breit jede Spur. War Inuyasha etwa auch einem Schatten begegnet? Und hatte es der Hanyou mit seiner minder entwickelten Sinnesausstattung nicht geschafft, den ausfindig zu machen? Steckte er in Schwierigkeiten? Nun, beschloss der Hundeyoukai, das ging ihn eigentlich nichts an. Obwohl, vielleicht könnte dieser Kage einem genauere Auskunft geben, wo man seinen Herrn finden konnte. So machte er sich auf den Weg.
Kaum hundert Schritte weiter konnte er Tessaigas Geruch wahrnehmen. Also kämpfte Inuyasha mit etwas. Aber im Dunklen, denn auch hier waren alle Algen erloschen.
„Gib schon auf, Hundejunge!“ sagte eine höhnische Stimme: „Du musst es doch selbst bemerken, dass deine lächerlichen Angriffen danebengehen.“
Der Hundeyoukai blieb stehen.
„Ach ja? Bis jetzt hast du ja auch noch nicht gerade viel gebracht!“ fauchte Inuyasha wutentbrannt zurück: „Und wer von uns beiden versteckt sich feige in der Dunkelheit?“
„Ich verstecke mich nicht, und schon gar nicht feige. Der einzige Feigling bis du. Ich kann doch sehen, wie du zitterst, dich hektisch umblickst, wo ich bin. Weißt du nun, was der Satz besagt, die Nacht hat tausend Augen, Hundejunge?“
„Keh! Als ich gelernt habe, was dieser Satz bedeutet, war ich noch ein Kind. Und wenn ich damals Angst vor der Dunkelheit gehabt hätte, wäre ich in dieser dämlichen Kappa-Kammer umgekommen, gefressen worden. Vergiss es. Mit Angst vor der Dunkelheit kommst du bei mir nicht weiter!“ Inuyasha versuchte erneut, das winzige Geräusch zu lokalisieren, als sein unsichtbarer Gegner das Schwert in Angriffsposition brachte, als ihm plötzlich ein vertrauter Geruch in die Nase stieg. Youki. Dieser Schatten besaß dämonische Energie. Erleichtert suchte er nun die Witterung die Windwunde. Warum nur war er nicht gleich auf diese Idee gekommen? „Genauer, du kommst überhaupt nicht mehr weiter, Vollidiot. Kaze no kizu!“
Na also, dachte der ältere Halbbruder und kam näher: „Was spielst du denn hier?“
„Sesshoumaru!“ Inuyasha fuhr herum: „Da war ein Schatten…“ Er brach ab: „Ich brauch mich doch nicht vor dir zu rechtfertigen!“
„Ich habe ebenfalls einen getötet.“
„Und natürlich schneller, als ich, oder, der ach so tolle Herr Halbbruder!“
„Ja.“ Der Hundeyoukai drehte sich um: „Der andere Gang ist der richtige.“ Er wollte keine fruchtlosen Diskussionen mit diesem Halbblut führen. Aber etwas anderes war viel interessanter. Inuyasha war als Kind in der Kappa-Kammer gewesen? Wieso denn das? Wie hatte er es geschafft, sich in eine derart tödliche Falle zu manövrieren? Die Kappa-Kammer lag unter dem väterlichen Schloss im Westen, wohlverschlossen. Dort lebten Kappa, die nicht, wie es allgemein üblich wäre, Menschen und Youkai gegen Geschenke über ihre Gewässer gelassen hatten, sondern sie gefressen hatten. Vater hatte sie eingefangen und dort eingesperrt. Sie bekamen Futter, Vieh, waren sie doch Fleischfresser, aber sonst ließ man sie in Ruhe. Und kein ausgewachsener Youkai ging dort hinunter, da die gut zwanzig Exemplare über ihn herfallen würden, ihn fressen würden. Zu allem Überfluss stand die Kammer unter Wasser. So klein, wie Inuyasha gewesen war, als er noch im Schloss lebte, musste ihm das Wasser bis zur Brust gegangen sein. Nun ja, er hatte ja gewusst, dass sein Halbbruder ein ausgesprochenes Talent dafür hatte, sich in Schwierigkeiten zu bringen. Aber irgendwie musste es ihm gelungen sein, da auch wieder herauszukommen, ohne gefressen zu werden. Nicht schlecht, für ein Halbblutkind. Seltsam. Warum dachte er nur schon wieder über den Hanyou nach? Aber er gab sich die Antwort selbst.
Weil da etwas nicht stimmte, nicht stimmen konnte. Inuyasha war schwach gewesen, faul, zu undiszipliniert und feige, sich der Ausbildung eines vornehmen Youkai zu stellen, dazu widerspenstig. Und dennoch hatte er bis heute durchgehalten, das Kesselturnier soweit überlebt. Seine Kampftechniken waren beklagenswert, aber effektiv. Er musste sie in Kämpfen auf Leben und Tod gelernt haben. Also konnte er nicht so schwach sein, wie er, Sesshoumaru, immer vermutet hatte. Und wenn er als Kind in der Kappa-Kammer gewesen war, das überlebt hatte…Hm. Er würde ihn einmal genauer beobachten müssen.
Inuyasha ging etwas wütend hinter dem Hundeyoukai her. Da erledigte er einen Schatten in der absoluten Dunkelheit, nur um zu hören, dass Sesshoumaru auch einen getötet hatte. Konnte der nicht einmal auch sagen: gut gemacht? Aber das war wohl absolut zuviel verlangt. Leider hatte der Hanyou das Gefühl, dass er das wirklich einmal gern von seinem großen Bruder hören wollte.
Keh, dachte er gleichzeitig. Der Mistkerl verachtet dich, du bist nur ein Bastard, der im Moment die Ehre hat, hinter ihm hertrotten zu dürfen, weil er vielleicht Tessaiga brauchen kann und der Bannkreis ihn abweist. So sieht es aus. Finde dich damit ab. Er hat sich noch nie für dich interessiert und wird es auch nie. Sonst wäre er doch einmal gekommen, in den ganzen fünfzehn Jahren, die du mit ihm im gleichen Schloss warst, hätte einmal geguckt, was du lernst, was du für Fortschritte machst. Oder sogar mal gelobt, weil du diese Prüfungen überstanden hast? Träum weiter, Inuyasha. Er hat es doch selbst gesagt. Nur aufgenommen, damit der Kampf gegen dich ehrenhaft ist, fair. Er ist einfach ein eiskalter Mistkerl.
Und doch konnte er die kleine Stimme in seinem Hinterkopf nicht zum Schweigen bringen, die ihm sagte, dass da irgendetwas an diesem Bild nicht stimmen konnte.
In tiefem Schweigen wanderten die Halbbrüder hintereinander durch die Gänge. Immer öfter bildeten Wurzeln Hindernisse, die sie überspringen mussten oder sich gar bücken mussten, um darunter durch zu gehen. Sesshoumaru war versucht, die Wurzeln zu zertrennen, da er es als peinlich empfand, sich bücken zu müssen, aber die Vernunft sagte ihm, dass er nicht wusste, was geschehen würde, würde er den Gedankenbaum verletzen. Womöglich blieben sie dann hier in diesem unterirdischen Labyrinth gefangen.
„Geh mal beiseite.“ Inuyasha klang genervt.
Er wandte nicht den Kopf, blieb auch nicht stehen, sagte jedoch: „Wenn du den Baum verletzt, weiß niemand, was geschieht.“
Der Hanyou knurrte leise vor sich hin, nahm aber an, dass sein Halbbruder Recht hatte. Natürlich wusste keiner von ihnen beiden, was passieren würde, wenn er die Wurzeln mit der Windnarbe zerlegte. Aber einen Versuch wäre es eigentlich wert. Allein: hier gemeinsam mit Sesshoumaru bis ans Ende seiner Tage eingesperrt zu sein, war nicht gerade sein Lebenstraum. Er wollte den Schmied samt Kessel erledigen, dann zurück zu seinen Freunden. Aber hier in diesem Schummerlicht durch Wurzelwerk zu kriechen, war auch nicht gerade lustig. Obwohl - wenn er das schon unangenehm fand, müsste der hyperstolze Hundeyoukai das doch erst recht als peinlich empfinden. Also konnte man im Moment wohl wirklich nichts machen.
Sesshoumaru tat einen weiten Sprung und blieb stehen. Inuyasha kam neben ihn. Beide betrachteten überrascht die Höhle vor sich. Soweit sie erkennen konnten, war hier unter den Wurzeln ein See. Er glitzerte in dem vagen Licht der Algen. Selbst der Grund schien zu schimmern.
„Was ist das?“ erkundigte sich der Hanyou, ohne allerdings eine Antwort zu erwarten.
„Der See der guten Vorsätze“, sagte jemand neben ihm.
Beide Halbbrüder fuhren herum, betrachteten das weiße nebelige Gebilde, das neben ihnen schwebte.
„Wohnst du hier?“ fragte Inuyasha, der nicht annahm, dass das ein Gegner sei.
„Ja. Ich bin das, was einst das gute Gewissen des Herrn war, ehe er….ehe er sich verwandelte.“
„Verwandelte?“
„Youki erhielt?“ erkundigte sich Sesshoumaru.
„Ja.“ Das gute Gewissen seufzte etwas: „Du bist auch ein Youkai. Haben Youkai kein Gewissen?“
Der Hundeyoukai zögerte kurz mit der Antwort, da er keinen Sinn in dieser Frage entdecken konnte, meinte dann: „Ein Youkai tut, was er tun will.“
„Also kennt er keine Reue.“ Ein erneuter tiefer Seufzer der Gestalt.
„Und was ist dieser See? Übrigens, weißt du, wo der Kessel ist?“ Inuyasha stellte lieber die Fragen, ehe dieses Wesen sich auch noch nach seinem Gewissen erkundigte.
„Das ist der See der guten Vorsätze. Alle guten Vorsätze, an die sich der Herr erinnern konnte, sind hier. Und der Schimmer kommt von dem Dämmerschein der ungetanen Taten. Der Kessel? Warum wollt ihr denn dahin?“
„Wir wollen aus diesem Baum raus und der Schmied sagte, dazu müssen wir ihn finden.“
„Ach so, ja.“ Das Wesen schien aufzusehen, soweit man das bei einem Nebel behaupten konnte: „Dann müsst ihr hier am See entlanggehen. Dort hinten kommt ein Schacht. In den springt hinein. Aber er ist tief.“
„Macht nichts. Und dann?“
„Dann seid ihr wahrscheinlich in Gefahr.“
„Keh! Ich ..wir haben die Schatten der dunklen Gedanken auch erledigt.“
„Mag sein. Und vielleicht sind sie auch nicht mehr da. Ich gehe dort nie hin.“
„Sie.“ Das war echt mühselig mit diesem Gewissen!
„Es sind Wesen, die die Wurzeln des Baumes fressen. Und mit jeder Wurzel, die sie abfressen, verschwindet eine Erinnerung des Herrn. Er vergisst.“
Ob das jeder hatte? Aber Inuyasha fragte weiter: „Wenn die Wurzeln fressen, werden sie uns schon nichts tun. Jetzt rede endlich weiter. Wo ist dieser Kessel?“
„Ja, der müsste da sein, irgendwie. An der tiefsten Stelle unter dem Baum der Erinnerungen. Aber seid vorsichtig. Ich möchte euch wirklich nicht in Gefahr bringen.“
„Nett von dir. Also, da lang.“
„Ja.“
Sesshoumaru setzte sich in Bewegung, unwillig, einem weiteren Gespräch zwischen diesem Wesen und dem Hanyou zuzuhören. Sie hatten die Informationen, die sie brauchten. Sein Halbbruder folgte ihm unverzüglich. Das ehemalige Gewissen seufzte ein wenig, als es ihnen hinterher blickte. Hätte es ihnen noch mehr sagen sollen? Aber was? Es war ja nie dort unten gewesen. Und von den Wesen, die die Erinnerungen fraßen, wusste es auch nicht mehr. Hoffentlich hatte es alles richtig gemacht.
Der Schimmer des Sees der guten Vorsätze erhellte ihren Weg, zumal an der Wand rechts von ihnen auch noch die phosphoreszierenden Algen wuchsen. Inuyasha warf einen Blick auf das leuchtende Wasser. Kagome würde das gewiss gefallen, sie mochte doch auch Glühwürmchen und so etwas. Ob es ihr wohl gut ging? Bestimmt machte sie sich Sorgen um ihn, das machte sie doch immer. Aber er hatte nicht mehr tun können, um sie zu beschützen, als sie zurückzuschicken. Er bemerkte, wie der Hundeyoukai vor ihm absprang, dann in einem Schacht verschwand. Ohne Zögern setzte er hinterher. Dieses Gewissen hatte gesagt, dass es ein tiefer Schacht war, und das stimmte. Er landete hart, stolperte dann und fiel. Für einen Augenblick war er verwirrt, als er feststellte, dass sein Gesicht in etwas Weichem gelandet war, dann erkannte er den Geruch und sprang hastig auf. Sesshoumaru riss im gleichen Moment sein Fell unter ihm weg, sah sich dann aber nur um.
Kein Kampf? Inuyasha stutzte, aber dann begriff er, dass sein Halbbruder im Augenblick nur den Kessel und dessen Schmied zu erledigen als Ziel hatte. Alles andere war zweitrangig, zumal sie danach ja sowieso gegeneinander kämpfen wollten. Dann sollte er auch nichts dazu sagen und lieber sehen, wo sie hier waren.
Der Raum, in dem sie gelandet waren, war eine Halle. Der Schein der Algen an den Wänden reichte kaum für mattes Dämmerlicht aus. Aber es war deutlich zu erkennen, dass hier unten keine Hindernisse waren. Die Wurzeln des Baumes bildeten über ihnen das Hallendach. Ob das die Tiere gewesen waren, die das gute Gewissen erwähnt hatte? Die, die die Erinnerungen fraßen? Aber er sah seitwärts: „Ich kann den Kessel nicht riechen.“
Sesshoumaru schwieg einen Moment, ehe er aus einem unklaren Gefühl, der ältere Bruder zu sein, heraus sagte: „Natürlich nicht. Es ist ja nicht der richtige Kessel, sondern nur ein Gedankenbild.“
„Oh.“ Hatte er sich gerade verhört, oder war das tatsächlich eine Erklärung gewesen? Das war ja für die Verhältnisse dieses Mistkerls direkt nett.
Der Hundeyoukai setzte sich in Bewegung. Wenn der Kessel am tiefsten Punkt des Baumes zu finden war, würde er sich hier in der Mitte der Halle befinden, nahm er an. Inuyasha folgte ihm, warf aber einen neugierigen Blick um sich. Irgendwie war das die größte Höhle, in der er je gewesen war. Und da bemerkte er, was von der Decke fiel und riss sein Schwert heraus. Sesshoumaru hörte es, witterte Tessaiga und fuhr herum. Als er sah, was sich ihnen da näherte, hob er die Hand, ließ die Finger knacken. Das schien nicht für ein Schwert zu taugen. Es war ein weißer Wurm, gewiss zwei Meter lang, mit braunem Kopf. Sein Maul zeigte scharfe Zähne, mit denen er vermutlich die Wurzeln des Baumes abfraß. Und der Wurm näherte sich ihnen, zischte etwas.
„Ist das ein Gruß, ein Heiratsantrag oder eine Drohung?“ fragte Inuyasha zurück, das aktivierte Tessaiga seitwärts erhoben. Falls das Wesen sie nicht angreifen wollte, brauchte er sich nicht zu verteidigen. Der Wurm öffnete sein Maul, schoss auf ihn zu und der Hanyou entschied sich, dass das eine Drohung gewesen war: „Kaze no kizu!“ Der Macht der Windnarbe hatte das Tier nichts entgegenzusetzen. „Na also.“
„Inuyasha.“
„Ja?“ Der Hanyou drehte sich seitwärts: „Bin ich dir schon wieder in die Quere…ja, so ein Mist!“
Denn von der Decke fiel nun Wurm um Wurm, vermutlich die gesamte trauernde Verwandtschaft. Und die Halbbrüder befanden sich im Mittelpunkt einer weißen, wabernden Masse.
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Es wird Zeit, aus dieser Gedankenwelt zu verschwinden. Aber ob es da, wo der Schmied auf sie wartet, wirklich besser ist? Das nächste Kapitel heisst: Schwarze Sonne.
Wer so nett ist, mir einen Kommentar zu hinterlassen, erhält, wie gewohnt, eine Nachricht, wenn ich sehe, dass das neue Kapitel freigeschaltet wurde.
bye
hotep