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Die Akte Tanner

von

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Enthüllungen

Bevor Misty von Rally aufgenommen wurde, war sie eine berüchtigte

Diebin. Ihre Spezialität war das Schlösserknacken. Sie war dafür

bekannt, dass im Haus praktisch nichts auch nur auf einen Einbruch

hinwies. Misty versuchte eigentlich, dieses Kapitel ihres Lebens zu

vergessen. Aber gelegentlich half sie Rally beim "inspizieren von

potentiellen Verstecken". So auch diesmal.
 

Rally ging das ganze routiniert an. Sie und May waren über

Funk-Headsets miteinander in Verbindung. May hatte einen

Beobachtungsposten bezogen, Rally und Misty warteten in der Nähe. Das

bedeutete zwar, dass sie den Laden schliessen mussten, aber Rally

wollte sich diese Gelegenheit um nichts in der Welt entgehen lassen.

Sie warteten schon eine ganze Weile. Rally hatte kurz die Beobachtung

übernommen, damit May etwas zu Mittag essen konnte. Danach hatte sie

für sich und Misty ebenfalls ein paar Sandwichs und etwas Kaffee

geholt. Sie waren noch mit essen beschäftigt, als May sich meldete:

"Rally? Tanner hat gerade das Haus verlassen."

Rally schluckte einen Bissen herunter. Dann fragte sie:

"Bist du sicher?"

"Absolut. Er hat seinen blauen Corsa benutzt. Und ich habe seine

Silhouette erkannt."

"Mmmm... Naja, was solls. Wir gehen."

Hastig packten Rally und Misty die Sandwichreste weg. Wehleidig

blickend schüttete Misty den Kaffee den nächsten Gulli hinunter.

"Der ist kalt, bis wir zurück sind", erklärte sie.

"Lässt sich nicht ändern", meinte Rally.

Dann machten sie sich auf den Weg.
 

Tanners Wohnung war in einem unauffälligen Wohnblock. Die Haustür war

zwar verschlossen, konnte Mistys Dietrichen aber keinen nennenswerten

Widerstand entgegensetzen. Sie fanden keine Wohnung mit Tanners Namen.

Die Tür im zweiten Stock war aber als einzige nicht beschildert. Misty

betrachtete sie genauer.

"Soso. Dafür, dass die Wohnung unbenutzt ist, wurde die Tür in

letzter Zeit aber recht häufig geöffnet", meinte sie, nachdem sie

einen Blick auf Türklinke und Boden geworfen hatte.

Dann legte sie Latexhandschuhe an, und untersuchte die Türschlösser.

Es waren insgesamt deren vier. Während sie beschäftigt war, streifte

sich auch Rally Handschuhe über.

"Hmmm. Automatische Schlösser. Standardfabrikate. Mittlerer

Schwierigkeitsgrad. Ganz gut... Aber nicht gut genug."

Sie begann, die Schlösser, eines nach dem anderen, zu öffnen. Als sie

das letzte geschafft hatte, zog sie die Tür einen kleinen Spalt weit

auf.

"So, jetzt brauche ich den Spiegel, und den Stock", sagte sie zu

Rally.

Rally hatte beides auf Wunsch von Misty mitgenommen. Sie hatte sich

zwar darüber gewundert, aber Misty hatte nur gemeint, sie brauche

diese Dinge, wenn sie bei einem Profi einbrechen sollte. Misty

demonstrierte nun, wozu sie dienten. Sie führte den Spiegel, der an

einem Draht befestigt war, durch den Spalt in der Türe, und nutzte

ihn so als Periskop. Vorsichtig drehte sie ihn ein wenig, um einen

Rundumblick des Raumes zu erhalten.

"Dacht ichs mir doch", sagte sie triumphierend. "Big Brother links

neben der Tür."

Was sie damit meinte, war eine Überwachungskamera. Sie nahm den Stock

zur Hand. Der 'Stock' war eine Teleskopstange, die sich auf eine

Länge bis zu zehn Metern ausziehen liess. Damit konnte Misty auch

weit entfernte Kameras erreichen. In diesem Fall war die Kamera

allerdings gerade mal zwei Meter entfernt, was nicht das geringste

Problem darstellte. Vorsichtig, und mit Hilfe des Spiegels, führte

Misty den Stock zur Kamera, und drückte diese nach oben.

"Schiess mal ein paar Aufnahmen von der Decke", meinte Misty.

Dann öffnete sie die Tür vollständig, und sie und Rally gingen

hinein. Sie schauten sich um. Die Wohnung war nicht all zu gross.

Gleich hinter der Tür war ein relativ grosser Raum, der wohl

gleichzeitig als Wohnzimmer wie auch als Arbeitszimmer diente.

Daneben gab es eine kleine Küche, und ein separates Zimmer, welches

sich Tanner mittels Bett und Kleiderschrank als spartanisches

Schlafzimmer eingerichtet hatte. Das Wohn- und Arbeitszimmer war

wesentlich ausführlicher möbliert. Zunächst einmal fiel der Computer

auf. Es war eines jener Modelle, welche für Anfänger ausgelegt waren,

und passte farblich überhaupt nicht zum Rest der Ausstattung. Daneben

stand ein Fernsehgerät mit Stereoanlage und Videorekorder. Der

Videorekorder lief. Vermutlich zeichnete er nun Aufnahmen aus dem

aufregenden Leben einer Stubenfliege an der Decke auf, was

allerdings wohl auch nicht viel langweiliger war als das

Fernsehprogramm. Auf einem grossen Tisch schliesslich stand eine gut

ausgebaute Lötstation. Ganz offensichtlich war Tanner durchaus im

Fach der Elektronik bewandert. Ein Gestell in einer Ecke, welches

lauter Schubladen enthielt, weckte das Interesse der beiden. Zur

ihrer Enttäuschung waren die meisten Schubladen allerdings leer,

enthielten elektronische Bauteile, oder Papiere, von welchen Becky

schon längst eine Kopie besass. In der rechten unteren Ecke fand

Rally schliesslich etwas interessantes: Die Schublade war

vollgestopft mit diversen elektronischen Geräten.

"Was haben wir denn da", sagte sie vor sich hin. "Wanzen,

Kleinstkameras, elektronische Stetoskope... Alles für den kleinen

Abhörer. Und die Bauweise der Wanzen kommt mir doch sehr bekannt

vor."

Auch Misty erinnerte sich. Eine solche Wanze, wie sie in dieser

Schublade war, hatte sie vor kurzem im Laden gefunden.
 

Als sie die linke Schubladenreihe untersuchten, stiessen sie noch auf

Richtmikrofone, ein paar weitere Geräte, deren Zweck Rally nicht

erkennen konnte, sowie einen Funkempfänger. Ein zweites Exemplar, so

erkannte Rally jetzt, war an der Stereoanlage angeschlossen.

Anscheinend verwendete Tanner diese nicht nur, um entspannende Musik

zu hören. In einer der Schubladen schliesslich befand sich eine

schwarze Metallschatulle. Diese war, wie Misty schnell erkannte, von

der Innenseite her mit der Schublade verschraubt. Desweiteren war die

Schublade so gefertigt, dass sie sich nicht vollständig aus dem

Gestell entfernen liess.

"Ohne brachiale Gewalt kann man die nicht mitnehmen", sagte Misty.

Dann strich sie mit der Hand über die Oberfläche, klopfte an

verschiedenen Stellen, schaute aus verschiedenen Blickwinkeln darauf,

und betrachtete schliesslich das Schloss genauer. Es vergingen einige

Minuten, bis sie endlich etwas sagte:

"Gute Arbeit. Die Schatulle ist vermutlich aus mehrwandigem

Edelstahl. Man muss schon mit grobem Geschütz kommen, um den zu

durchtrennen. Ich glaube nicht, dass der Inhalt das überleben würde.

Ausserdem ist die Schatulle anscheinend verkabelt. Wahrscheinlich

durch den Boden der Schublade. Wenn die Kabel durchtrennt werden,

löst das wohl irgend einen Alarm aus."

"Und das Schloss?", fragte Rally.

"Eine echte Herausforderung", sagte Misty, und zückte grinsend ihr

Spezialwerkzeug. Es waren nicht die üblichen Dietriche. Misty machte

sich damit an die Arbeit. Vorsichtig, aber offensichtlich gut

gelaunt, stocherte sie mit den Werkzeugen im Schloss.

"Kommst du voran?", fragte Rally nach einigen Minuten.

"Geht schon. Aber ich brauche noch etwas Zeit", meinte Misty.

Wieder vergingen einige Minuten. Da meldete sich auf einmal May:

"Rally, er kommt zurück. Er war nur kurz weg."

"Verstanden. Behalt ihn im Auge", sprach Rally ins Headset. Dann

wandte sie sich an Misty: "Tanner kommt zurück. Beeil doch, oder lass

es bleiben."

"Ich habs gleich", sagte Misty.

Sie wusste, dass es nur noch eine Frage von Sekunden sein konnte. Und

sie wollte zumindest wissen, was in der Schatulle drinn war.

"Ich habs gleich", sagte sie nochmals...

Das Schloss klickte. Aber es klickte nicht so, wie Misty es erwartet

hatte. Daher wusste sie sofort, dass sie einen Fehler gemacht hatte.

Aber es war bereits zu spät. Die Schublade fuhr mit Gewalt zu, und

klemmte Mistys rechte Hand ein. Es knackste bedenklich. Misty wollte

schreien, aber Rally hielt ihr geistesgegenwärtig die Hand vor den

Mund. Erst, als Misty den Impuls überwunden hatte, nahm Rally die

Hand wieder weg.

"Sorry Misty", sagte Rally.

"Schongutbittemachdieschubladeaufdastutweeeeh", wimmerte Misty leise.

Rally zog an der Schublade, aber der Motor, der in die andere

Richtung zog, war stark. Erst, als sie ihr Knie gegen das Gestell

stemmte, gelang es ihr, die Schublade ein Stück weit zu öffnen. Misty

zog die Hand heraus, und Rally liess los. Die Schublade schloss sich

mit einem Knall. Misty betrachtete kurz ihre lädierte Hand. Selbst

durch den halbdurchsichtigen Handschuh hindurch konnte sie eine rote

Linie auf beiden Seiten erkennen. Dann fiel ihr etwas ein:

"Das Werkzeug ist noch in der Schublade", sagte sie.

Rally zog kurz daran, aber die Schublade war nun fest verschlossen.

"Keine Chance, da komm ich jetzt nicht ran", sagte sie.

Ihre Hand fuhr zur Sprechtaste des Headsets.

"May! Wo ist er jetzt?", fragte sie.

"Tanner ist bereits im Treppenhaus. Seit ihr etwa noch da drinn?"
 

Tanner schloss die Tür auf, und betrat seine Wohnung. Er hatte ein

paar Besorgungen gemacht, und wollte sie gerade in der Küche abladen,

als ihm auffiel, dass der Motor der Schublade mit der Kassette

surrte. Erstaunt stellte er die Tüten auf seinem Arbeitstisch ab, und

griff in eine Tasche auf der Innenseite seiner Jacke, von wo er eine

Fernsteuerung heraus holte. Ein Tastendruck später hörte das surren

auf. Tanner öffnete die Schublade. Darin fand er zwei feinmechanische

Werkzeuge. Er kannte sich auf diesem Gebiet zwar nicht aus, aber es

war ihm klar, dass sie dazu gedacht sein mussten, Schlösser zu

knacken. Also setzte er sich vor seinen Fernseher, spulte das Band

etwas zurück, und sah es sich an.

"Miss Vincent", sagte er nach einer Weile. "An ihrer Stelle würde ich

allmählich aus dem Wandschrank kommen. Im Übrigen wäre es, glaube

ich, besser, wenn ich mal einen Blick auf die Hand ihrer Freundin

werfen würde. Der Motor in der Schublade ist ziemlich stark."

Rally wusste, wann sie geschlagen war. Missmutig öffnete sie den

Schrank, und ging ins Arbeitszimmer hinüber. Das Headset hatte sie

abgenommen, zusammengeklappt, und in einer Jackentasche verstaut.

Tanners Gesichtsausdruck zeigte weder Triumph noch Genugtuung noch

Verärgerung. Das Fernsehbild demonstrierte zumindest, warum sie

aufgeflogen waren. Aufgrund des Bildwinkels erkannte Rally, dass die

Aufnahme unmöglich aus dem Eingangsbereich heraus gemacht sein

konnte. Sie blickte nach oben, und fand zwischen Wand und Decke gut

versteckt eine Kleinstkamera.

"Sie haben also zwei Kameras", meinte sie resigniert.

"Nein, nur eine. Die im Eingang ist eine Attrappe", korrigierte

Tanner.

"Genau wie das Schloss, nicht wahr?", fragte Misty, die mittlerweile

nachgekommen war.

"Bitte?", fragte Tanner.

"Das Schloss der Schatulle", erklärte Misty. "Es ist eine Falle,

nicht wahr? Man kann die Schatulle dort nicht öffnen."

"Gut erkannt", sagte Tanner anerkennend. "Nur etwas spät, wie mir

scheint. Na, kommen Sie mal mit."

Tanner ging zur Küche hinüber, und setzte sich an den Esstisch. Mit

einer Handbewegung hiess er Misty, sich ihm gegenüber zu setzen.

Misty tat dies, und legte anschliessend die verletzte Hand auf den

Tisch. Tanner zog vorsichtig den Handschuh von Mistys Hand, was nicht

ganz einfach und auch nicht ganz schmerzfrei war, zumal der Handschuh

sehr eng anlag. Dann drückte er an verschiedenen Stellen leicht auf

die Handfläche.

"Sind Sie denn gar nicht wütend?", fragte Rally.

"Ach, ich dachte mir schon, dass die früher oder später hier

aufkreuzen würden. Nur das es so schnell gehen würde, dass überrascht

mich zugegebenermassen ein wenig."

An der nächsten Stelle, an der Tanner drückte, gaben die Knochen

etwas nach. Misty zog vor Schmerz die Luft ein.

"Tja, die ist gebrochen", sagte Tanner. "Miss Vincent. Seien sie doch

so nett, und holen sie meinen Erste Hilfe Koffer. Er ist im Gestell

im Arbeitszimmer, in der Schublade ganz oben links."

"Öh, ja klar", antwortete Rally.

Sie ging zum Gestell hinüber, und holte das Gewünschte. Dabei fragte

sie sich, was Tanner eigentlich für ein Spiel mit ihnen trieb. Ahnte

er tatsächlich schon, dass sie kommen würden? Und falls ja: warum?

Und warum rief er nicht die Polizei, oder schmiss sie zumindest aus

der Wohnung? Als sie mit dem Koffer in die Küche zurückkahm, holte

Tanner aus einer Schublade gerade einige kleine Holzspachtel hervor.

"Damit sollte es gehen", sagte er. "Ich werde die Hand jetzt

notdürftig schienen. Aber Sie sollten sie unbedingt einem Arzt

zeigen. Ah, danke Miss Vincent."

Tanner öffnete den Koffer, und entnahm ihm eine Schere und

Verbandszeug. Dann machte er sich daran, Mistys Hand zu schienen.

Rally erkannte, dass Tanner dies nicht zum ersten Mal machte, oder es

zumindest schon geübt hatte. Tanner führte die Arbeit sauber und

professionell durch. Danach nahm er das Gespräch wieder auf:

"So. Jetzt hätte ich doch eine kleine Frage an Sie: Was machen Sie

eigentlich hier?"

"Ich dachte, Sie hätten uns erwartet?", entgegnete Rally schnippisch.

"Nun ja, mir ist durchaus aufgefallen, dass Ihr Interesse an mir über

eine normale Kundenbeziehung hinaus geht. Aber warum, das würde ich

schon gerne wissen."

Rally überlegte kurz, und entschied dann, in die Offensive zu gehen.

Sie nahm eine Wanze aus der Jackentasche, und warf sie auf den Tisch.

Es war diejenige, die Misty im Laden gefunden hatte.

"Das ist doch Ihre, oder?", fragte sie.

Tanner nahm die Wanze auf, und betrachtete sie ein wenig.

"Ja, das ist meine Bauart", sagte er schliesslich. "Ich habe eine

Reihe davon verkauft. Sie hatten wohl Ärger mit jemandem."

"Die haben wir unmittelbar nach ihrem ersten Besuch in meinem Laden

gefunden. Und die Batterie war noch taufrisch. Vielleicht möchten Sie

uns ja erzählen, warum Sie uns nachspionieren."

Tanner seufzte. Dann schmiss er die Wanze in einen bereitstehenden

Abfallkorb, und stand auf.

"Ich schätze, das wird etwas länger dauern. Kaffee?"
 

Ein paar Minuten später hatte Tanner drei Tassen dampfenden

Cappuccino auf den Tisch gezaubert. Misty war froh darüber, hatte sie

doch vorhin den Kaffee wegschütten müssen. Rally hingegen war

ungeduldig, und wollte endlich ihr Gespräch mit Tanner fortsetzen.

"So, das hätten wir", sagte Tanner, als er die Tassen abgesetzt

hatte. "Vorsicht, er ist noch heiss."

"Also, wie siehts aus?", fragte Rally.

"Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Sie dürfen mir einige Fragen

stellen, und ich werde sie wahrheitsgetreu beantworten, sofern dies

meine Sicherheit nicht gefährdet. Als Ausgleich dafür will ich von

Ihnen ein Ehrenwort als Prämienjägerin, dass sie mich nicht weiter

bespitzeln werden. Ist das ein Angebot?"

"Woher soll ich Wissen, ob Ihre Auskünfte für mich ausreichend sind?

", fragte Rally.

"Das kann ich natürlich nicht garantieren. Aber sie werden in

nützlicher Frist auch nicht mehr über mich rausbekommen. Ich bin ganz

gut darin, meine Spuren zu verwischen."

Das war keineswegs übertrieben, und Rally wusste das. Immerhin war

Becky bereits seit Wochen auf der Jagd nach Informationen über

Tanner.

"Also gut", sagte Rally schliesslich. "Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort,

dass ich Ihnen nicht weiter nachspionieren werde."

"Und auch niemanden damit beauftragen", sagte Tanner.

"Einverstanden."

"Miss Hopkins auch nicht."

"Gut."

"Und sie Miss...", sagte Tanner zu Misty.

"Brown", antwortete sie.

"Für Sie gilt dasselbe."

Misty schaute zu Rally, aber Rally nickte nur kurz.

"In Ordnung", sagte Misty.

"Na, dann schiessen sie mal los."
 

"Gut", sagte Rally. "Zunächst einmal: Wollen Sie denn überhaupt

nichts über mich wissen?"

"Nein", sagte Tanner. "Und selbst wenn, würde ich es auch so

herausfinden. Ich bin nämlich auch noch Informant, wissen Sie."

"So einfach bin ich nicht auszuspionieren."

"Und ob. Sie sind zwar eine hervorragende Prämienjägerin, aber vom

Spuren verwischen haben Sie nicht so viel Ahnung Miss Eileen

Vincent."

"Eileen?", fragte Misty.

Rally versuchte, es nicht zu zeigen, aber sie erschrack fürchterlich.

Eileen war ihr wirklicher Name. Wenn Tanner den wusste, dann kannte

er vermutlich auch ihr wahres Alter. Und damit hatte er etwas gegen

sie in der Hand, denn Rally war nach amerikanischem Recht eigentlich

noch minderjährig, und durfte somit keinen eigenen Laden führen. Von

ihrem Waffenbesitz, und ihrer Tätigkeit als Prämienjägerin ganz zu

schweigen.

"Für wen Arbeiten sie denn als Informant?", fragte Rally etwas

nervös.

"Och, eigentlich nur noch für mich selbst. Früher hatte ich mal fest

für eine bestimmte Organisation gearbeitet, aber natürlich kann ich

ihnen nicht sagen, wer das war."

"Natürlich", sagte Rally erleichtert. Sie nahm einen Schluck vom

Kaffee, spie ihn aber beinahe wieder aus.

"Meine Güte, ist der stark!", rief sie.

Misty versuchte ebenfalls davon. Auch ihr zog es jeden Gesichtsmuskel

zusammen.

"Kann man danach überhaupt noch schlafen?", fragte sie.

"Natürlich", meinte Tanner leicht amüsiert. "In meiner Heimat trinkt

man den immer so stark. Nur halt nicht literweise. Der hier gehört

noch zu den Schwächeren."

"Können Sie uns Ihren Heimatort etwas genauer umschreiben", fragte

Rally, während sie vorsichtig am Kaffee nippte.

"Mitteleuropa", sagte Tanner kurz angebunden.

"Und ihr wahrer Name?"

"Meine Identität muss geheim bleiben."

"Ihre Pseudonyme vielleicht?"

"Ich hab noch ein paar weitere. Aber es sind aus gutem Grund

verschiedene. Die Leute, mit denen sie Umgang pflegen, kennen mich

alle unter dem Namen Tanner."

"Na schön. Warum sind sie überhaupt hier?"

"Ich musste aus Europa fliehen."

"Warum?"

"Vergessen Sies."

Rally seufzte. "Also, besonders kommunikativ sind Sie ja nicht!"

Tanner schaute sie einige Zeit eindringlich an. Rally hielt dem Blick

stand.

"Bleibt das unter uns?", fragte Tanner schliesslich.

"Natürlich."

"Keine Scherze bitte. Miss Hopkins können Sie von mir aus

informieren. Aber wenn sie es sonst jemandem sagen, bringen sie mich

in ernsthafte Gefahr, verstanden?"

Rally zögerte kurz, nickte dann aber. Das bedeutete natürlich, dass

sie Becky nichts sagen durfte. Aber sie war einfach viel zu

neugierig, um sich diese Informationen entgehen zu lassen.

"Gut," sagte Tanner. "Ich habe als Informant für ein Syndikat

gearbeitet. Ich hatte auch Verbindungen zu verschiedenen hohen

Tieren, sowohl in der Unterwelt, wie auch in offiziellen Stellen.

Tja, vermutlich hätte ich eine glänzende Unterweltskarriere vor mir

gehabt."

Rallys Augen verengten sich. Tanner war anscheinend ein

'Puppenspieler'. Jemand, der andere für sich die Drecksarbeit

erledigen liess, und selten selbst in Erscheinung trat. Sie mochte

solche Leute nicht besonders.

"Was ist passiert?", fragte sie.

"Tja, ich kannte unter anderem den Sohn eines Syndikatbosses. Er

hätte später höchstwahrscheinlich das Syndikat übernommen. Wenn er

nicht ermordet worden wäre. Irgendwie sind seine Mörder auf meine

Verbindung zu ihm gekommen, also haben sie versucht, auch mich zu

beseitigen. Ironisch, nicht wahr? Die Verbindung, die mir später

Kontakt zur absoluten Spitze garantiert hätte, wurde mir zum

Verhängniss."

Rallys Mundwinkel zogen sich etwas nach oben. Irgendwie befriedigte

es sie, das selbst jemand wie Tanner nicht unbesiegbar war.

"Die Mörder legten einen Brand, um den Mordversuch zu vertuschen,

nicht wahr?", fragte sie.

Tanner zuckte unmerklich zusammen.

"Ja, das haben sie", sagte er.

Dann nahm er einen grossen Schluck Kaffee.

"Bis hierhin und nicht weiter. Mehr werde ich Ihnen dazu nicht

sagen."

"Schon gut, wechseln wir das Thema."
 

"Wir haben Sie beobachtet, wie sie mit einem Mann aus dem Vector

Syndikat gesprochen haben. Was ist Ihre Beziehung zu diesem Syndikat?"

"Oh, dann waren *Sie* das gestern. Nun, ich arbeite gelegentlich für

das Syndikat."

"Haben die Wanzen im Laden damit etwas zu tun?"

"Nur zum Teil. Ich habe einige an Vector verkauft, und er hat sie

offensichtlich gegen Sie eingesetzt. Ich selbst habe lediglich

routinemässig zwei platziert, als ich hinter Tom her war."

"Zwei?"

"Ach ja, wenn ich mich recht entsinne, haben Sie nur die an der Theke

gefunden. Die andere ist am Schaukasten mit den alten Pistolen."

"Hmpft. Na schön. Aber warum arbeiten Sie überhaupt für ihn?"

"Weil ich ein neues Beziehungsnetz brauche, wenn auch diesmal nur für

Informationen. Vector ist häufig einer der ersten, der von Bewegungen

im Untergrund erfährt. Ausserdem... brauche ich das Geld. Die Flucht

hat mich viel gekostet."

"Waren Sie damals der Schütze, der auf Arthur Cogan geschossen hat?"

"Ja, das war mein Auftrag. Ich sollte sicherstellen, das Cogan

geschnappt wird, ohne ihn selbst zu töten. Eigentlich hatte ich mit

Stevensons Leuten gerechnet, die allesamt Amateure waren, also ging

ich auf Nummer Sicher."

"Und was war mit dem Schuss durch Thomas Martins Uzi vor Stevensons

Hauptquartier? Waren Sie das auch?"

"Ja. Vector wollte, das sie sicher wieder raus kommen."

Das überraschte Rally. "Vector wollte uns helfen?"

"Naja, so wie ich ihn kenne, war nicht die Sorge um Sie im

Vordergrund. Ich vermute eher, er hat sich Sorgen um das Gelingen der

Mission gemacht. Wenn sie geschnappt worden wären, hätte das nicht

mehr zur Story gepasst, das Stevenson die Vorräte selbst vernichtete,

damit sie nicht der Polizei in die Hände fallen."

"Ja, das entspricht eher Vectors Charakter. Und die Jagd nach Tom,

nachdem er geflohen war, war wohl auch auf sein Kommando hin?"

"So ist es. Eine erfolgreiche Flucht hätte die Untersuchung weiter

verzögert. Und Vector wollte sie so schnell wie möglich abgeschlossen

haben."

Rally trank den Kaffee aus. Sie vermutete zwar, dass sie damit den

Koffeinbedarf für die gesamte, nächste Woche abdeckte, aber sie

wollte auch nicht unhöflich erscheinen.

"Nun gut, mehr will ich gar nicht wissen", sagte sie, und stand auf.

"Danke für den Kaffee."

"Sie sind jederzeit willkommen. Jedenfalls, solange sie keinen

Dietrich verwenden, um hier reinzukommen."

"Das brauchte schon mehr als einen Dietrich", sagte Misty mit einem

doch etwas gekränkten Unterton.

Sie trank ebenfalls aus, und stand auf, vergass aber für einen

Augenblick die Bandage, und stützte sich auf die rechte Hand. Der

Schmerz liess das Wasser in ihre Augen schiessen.

"Vergessen Sie nicht, Ihre Hand einem Doktor zu zeigen", erinnerte

sie Tanner. "Oh, und Miss Vincent: Falls Sie mein Gespräch mit dem

Angestellten Vectors mitgehört haben sollten: Halten Sie sich besser

aus dem Fall raus. Er ist eine Nummer zu gross für Sie."
 

Tags darauf führte May wieder den Laden. Rally hatte Misty zu einem

Arzt gefahren, und danach ein Treffen mit Becky ausgemacht, um sie

über die Resultate ihrer Nachforschungen zu informieren. Sie war

schon den ganzen Vormittag weg. Kurz nach Mittag endlich hörte May

das vertraute Motorengeräusch von Rallys Cobra. Einige Minuten später

stand Rally im Laden. Sie sah etwas mitgenommen aus.

"Hallo Rally", sagte May. "Wo hast du Misty gelassen?"

"Tag May. Misty ist direkt nach Hause", antwortete Rally.

"Wie geht es ihr?"

"Den Umständen entsprechend gut. Sie hat ihre Hand fixiert bekommen.

In ein paar Wochen sollte alles verheilt sein."

"Tja, Tanner springt nicht gerade zimperlich mit Leuten um, die an

seine Papiere wollen, was?"

"May... Ach übrigens: Hast du die Wanze gefunden?"

"Ja. Sie war dort, wo Tanner es gesagt hatte."

Rally nickte, sagte aber nichts weiter.

"Sag mal Rally, wie hat es Becky eigentlich aufgenommen?", fragte

May.

Rally seufzte. "Nicht besonders gut. Sie hat mir eine Standpauke

gehalten, weil ich mich von Tanner habe erwischen lassen. Und dass

ich mich aus der Sache zurückziehe hat ihr erst recht nicht in den

Kram gepasst. Sie hat mir vorgeworfen, ich würde mich nur

zurückziehen, weil ich alle für mich selbst wichtigen Informationen

zusammen habe."

"Oh je. Und die Informationen, die du ihr gegeben hast?"

"Damit war sie natürlich auch nicht zufrieden. Naja, so viel wars ja

auch nicht."

"Hast du ihr die Sache mit Tanners Vorgeschichte verschwiegen?"

"Jaaa."

"Du weisst, wenn du es ihr gesagt hättest, wäre sie vielleicht

zufrieden gewesen."

"Ich pflege meine Versprechungen zu halten!", sagte Rally gereizt.

"Schon gut. Schon gut. Aber wie sieht es jetzt mit Kohle aus?

Immerhin haben wir einigen Aufwand betrieben."

"Becky hat mir fünf Riesen in die Hand gedrückt, und mich

rauskomplimentiert."

"5000?! Das ist wenig! Wir haben wegen der Sache mit Tanner

vielleicht Aufträge sausen lassen, die mehr einbrachten, und

einfacher gewesen wären!"

"Ich weiss. Es ist mit Sicherheit zuwenig. Es sind 10 Prozent vom

geschätzten Wert der Informationen, bevor wir unsere Nachforschungen

begonnen haben. Ausgemacht waren 20 Prozent vom entgültigen Wert.

Aber ich wollte Becky so schnell wie möglich loswerden. Tut mir

leid."

"Schon gut, das lässt sich jetzt wohl nicht mehr ändern. Wenigstens

haben wir jetzt erstmal wieder unsere Ruhe."

Rally nickte lächelnd, aber irgendwie hatte sie so ihre Zweifel.

Tanners Worte liessen sie darauf schliessen, dass irgend etwas

grosses im Anzug war. Irgend etwas, dass die Ruhe der Stadt

nachhaltig stören würde. Sie vermutete, dass die Geschichte noch

lange nicht vorbei war. Und wie so häufig, sollte sie damit recht

behalten.



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von: abgemeldet
2005-05-07T15:12:51+00:00 07.05.2005 17:12
Ist ne super Story wäre schade wenn du sie auf eis legst...hoffe du schreibt mal weiter
Von: abgemeldet
2004-12-11T13:30:28+00:00 11.12.2004 14:30
Eine gute Story gut ins detail geganen respeckt bei Tenners waffe hab ich schon lange überlegen müssen welche art er hatt. Bin schon gespannt auf die Fortsetzung hoffentlich dauert es nicht zu lange.
Von:  HorusDraconis
2004-10-25T10:48:56+00:00 25.10.2004 12:48
Gefällt mir. Wann gehts weiter? Bitte um kurze Info, wenns weiter geht.


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