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Die Akte Tanner

von

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Sein und Schein

"Jetzt hab ich euch, ihr zwei Hübschen!", rief Tom von aussen.

"Unbemerkt an mir vorbei zu kommen, ist keine schlechte Leistung.

Alle Achtung. Aber ich hab eine Videokamera hier unten, tut mir

leid."
 

Rally knirschte mit den Zähnen. Jetzt sassen sie und May im

Lagerraum fest. Das wäre an sich ja nicht tragisch gewesen, denn

Rally zweifelte keine Sekunde, dass sie hier problemlos

ausbrechen konnten. Viel schlimmer war, dass sie überhaupt

entdeckt worden waren. Dieser Vorfall war vielleicht genug, um

Stevenson zur Evakuierung des Gebäudes zu bewegen. Und wenn das

geschah, wäre alles umsonst gewesen. Irgendwie musste sie ihn

davon überzeugen, dass von ihr keine Gefahr ausging.

Tom meldete sich wieder: "Also Mädels. Ich hatte gerade den Boss

am Draht, und der will euch persönlich sprechen. Fühlt euch

gefälligst geehrt. Oh, und ich habe eine Wache vor dem Raum

plaziert. Seit also so nett, und haut nicht ab."

Rally konnte hören, wie Tom sich lachend entfernte. Sie sah sich

kurz im Raum um, und entdeckte rechts oberhalb der Tür eine

Kleinstkamera. Mit einem gezielten Schuss setzte sie sie ausser

Funktion.

"Äh, Rally?", fragte May.

Rally drehte sich zu ihr um.

"Was soll ich jetzt eigentlich damit machen?"

May hielt die Bombe in Händen.

"Installier sie", entschied Rally.
 

Stevenson hatte beim Aufbau seines Syndikats ein paar kapitale

Fehler gemacht. Aber der wohl schlimmste war eine völlige

Fehleinschätzung der Gefahrenquellen. Er fürchtete die Polizei,

und er misstraute seinen Angestellten. Aber er dachte kaum an die

Gefahr, die von den anderen Syndikaten ausging. Im Gegenteil: Er

sah sich bereits als Handelspartner. Er ahnte nicht, dass die

anderen Syndikate lediglich daran interessiert waren, ihn

möglichst schnell aus dem Weg zu räumen. Oder dass sie Vector auf

ihn angesetzt hatten. Oder dass dieser sein Labor überwachen

liess. Genau so aber war es. Daher war Vector über die Situation

an diesem Abend recht gut im Bilde. Als er erfuhr, dass Stevenson

frühzeitig zurückkehrte, wusste er, dass die Dinge anders liefen,

als geplant. Er rief John, seinen Assistenten, zu sich:

"Es scheint, als wäre irgend etwas schief gelaufen. Wir gehen zu

Plan B über. Wie lange brauchen wir für die Vorbereitungen?"

"Der Computerspezialist meinte, er brauche etwa eine

Viertelstunde, um die Daten einzugeben", antwortete John. "Von da

an können wir die Aktion jederzeit starten."

"Gut. Sag ihm, er soll sofort damit anfangen. Und ich brauche

meinen Wagen."

"Sir?"

"Wir ziehen dass noch heute Nacht durch."

"Alles klar."
 

May hatte neben den Stapeln eine Stelle gefunden, wo die Bombe

nicht ohne weiteres sichtbar war. Dort hatte sie die Bombe mit

einem Packetklebeband befestigt. Sie drückte den Knopf, und, wie

versprochen, leuchtete die LED kurz auf. May ging wieder zu Rally

hinüber.

"So, das wärs", sagte sie. "Die geht jetzt auf jeden Fall hoch."

"Fang!", rief Rally.

Sie warf May zwei Päckchen mit Kerosin zu.

"Wir überzeugen Stevenson davon, dass wir lediglich ein paar von

den Päckchen klauen wollen", erklärte sie.

May war das nicht ganz geheuer. "Ist das nicht etwas riskant?",

fragte sie.

"Hast du eine bessere Idee?"

"Wie wärs mit abhauen?"

"Wenn wir das machen, dann macht sich Stevenson mit Sicherheit

aus dem Staub. Er darf den wahren Grund unserer Aktion nicht

mitbekommen."

"Schon klar."

Mays Unbehaglichkeit wurde langsam augenfällig. Rally konnte ihre

Neugier nicht länger zügeln:

"Sag mal, warum bist du so nervös? Wir waren schon in

gefährlicheren Situationen."

May seufzte. "Es ist wegen der Bombe", sagte sie schliesslich.

"Wegen der Bombe? Seit wann hast du Angst vor Bomben?"

"Darum geht es nicht. Weisst du, wie Aerosol wirkt?"

Rally schüttelte den Kopf.

"Nun, Aerosol sind feinste Tropfen einer Flüssigkeit. So fein,

dass sie in der Luft schweben. Für Bomben nimmt man etwas

Brennbares. Wenn das ganze entzündet wird... Bumm!"

May sagte nichts weiter. "Und?", fragte Rally nach einer Weile.

"Bei einigen tausend Grad Celsius", ergänzte May. "Wenn wir noch

im Raum sind, wenn die hochgeht, kann man uns bestenfalls noch

aufgrund der Zahnabdrücke identifizieren. Mal ganz abgesehen

davon ist der Explosionsdruck gewaltig. Falls Ken die Dosis

falsch berechnet hat, könnte das ganze Gebäude einstürzen."

Rallys Augen weiteten sich. Bisher hatte sie nicht gewusst, was

für ein Monster von Bombe Ken da gebaut hatte. Jetzt wusste sie

es, war sich aber nicht sicher, ob sie über dieses Wissen

glücklich war.
 

Stevenson erreichte das Labor. Er stieg aus seinem weissen

Mercedes, und gab dem Fahrer ein Zeichen. Dieser fuhr daraufhin

den Wagen in die nächste Garage. Der Mercedes war in dieser

Gegend fiel zu auffällig. Normalerweise wäre Stevenson in der

Garage ausgestiegen, und zum Labor gelaufen. Aber jetzt hatte er

es eilig. Er ging zum Eingang. Neben der Wache wartete Robert auf

ihn. Stevenson war nicht sonderlich überrascht. Der arme Robert

hatte schlicht kein Durchsetzungsvermögen. Darum erwischte er

immer die schlechten Jobs.

"Guten Abend, Sir", sagte Robert.

"Nett gemeint, Robert, aber der Abend ist auf jeden Fall im

Eimer", brummte Stevenson.

Er und Robert gingen zum Büro hoch.
 

Die Tür des Lagerraums öffnete sich. Tom stand im Eingang. In

seiner rechten Hand hielt er eine Uzi im lockeren Anschlag, als

wollte er damit sagen: "Ich bin kräftig genug, eine automatische

Waffe aus der Hüfte zu feuern." Rally erkannte aber auf den

ersten Blick, das selbst jemand, der so kräftig gebaut war wie

Tom, so unmöglich auch nur einigermassen präzise schiessen

konnte. Die meisten Schüsse wären vermutlich in der Decke

gelandet. Rally konnte der Versuchung, einfach abzuhauen, nur mit

Mühe widerstehen.

"Also schön!",rief Tom. "Der Boss ist jetzt da, und will euch

sehen. Aber vorher soll ich noch eure Waffen einsammeln. Also

los."

Ein weiterer von Stevensons Männern betrat den Raum. Er hielt

eine Kartonschachtel in Händen, welche er neben Tom auf den Boden

stellte. Dann ging er auf Rally zu, und streckte die Hand aus.

Diesmal juckte es Rally wirklich, denn nun stand er genau

zwischen ihr und Tom. Aber sie liess sich nichts anmerken, und

gab ihm die Pistole. Er warf sie achtlos in die Schachtel.

"Hände hoch", sagte er.

Rally tat, wie ihr geheissen. Der Mann ging um sie herum, und

griff ihr von hinten an die Brust.

"Was soll das!?", schrie Rally ihn an.

"Na, ich taste sie nach versteckten Waffen ab", war die Antwort.

"Ach was?", fragte Rally sarkastisch.

Tom kicherte: "Schon gut, mach weiter. Der Boss wartet."

"Okay", sagte der Mann grinsend, und tastete Rally nach unten ab.

Er fand die Kerosinpäckchen und die Ersatzmagazine. Beides warf

er zur Pistole in die Schachtel. Dann wiederholte er dieselbe

Prozedur bei May. Er fand auch ihre Kerosinpäckchen, drei

Granaten, das Klebeband, und das Werkzeug. Den Auslöser für die

Bombe fand er nicht.
 

"Also Robert, mal ganz von Anfang an."

Stevenson hatte sich in seinen Bürosessel gesetzt. Robert stand

ihm gegenüber.

"Zunächst einmal würde mich interessieren, wie die überhaupt rein

gekommen sind."

Robert nickte. "Das wissen wir nicht mit Sicherheit. Heute

Vormittag, kurz nachdem Sie das Haus verlassen hatten, ist zwar

jemand im vierten Stock durch den Notausgang eingedrungen, und

hat die Alarmanlage im Zimmer daneben überbrückt. Aber die

Überbrückung wurde entdeckt und entfernt. Ausserdem: Selbst wenn

sie dort eingedrungen sein sollten, stellt sich die Frage, wie

sie ungesehen in den Keller kamen. Wegen der Sache am Vormittag

hielt Tom nämlich bei der Treppe im ersten Stock Wache."

"Dann sind sie im Erdgeschoss eingestiegen?"

Robert zuckte mit den Schultern. "Keine Ahnung. Sie haben keine

der Alarmanlagen ausgelöst. Ausser dem Haupteingang ist alles

gesichert. Und ich bezweifle doch sehr, dass sie dort durch sind.

Überhaupt haben wir sie erst entdeckt, als sie in den Lagerraum

gingen. Dort haben sie die Kamera übersehen. Trotzdem recht

professionell, das ganze."

Stevenson nahm es mit Unbehagen zur Kentniss. "Das gefällt mir

überhaupt nicht", sagte er.

Es klopfte.

"Herein!", rief Stevenson.

Rally öffnete die Tür, und betrat den Raum. Danach kamen May und

Tom. Tom hatte seine Uzi auf die beiden gerichtet. Als Stevenson

May sah, klappte sein Kiefer nach unten. Auch Robert konnte seine

Überraschung nicht verbergen.

"Ja, das darf doch nicht...!", rief Stevenson.

"Hi", sagte May verlegen.

Tom war sichtlich verdutzt. Rally sah May mit ihrem "Was

verbirgst du wieder vor mir"-Blick an.

"Äh, können wir später darüber reden?", meinte May.

Tom räusperte sich: "Ahem. Das hier hatten die beiden bei sich."

Er hielt die Schachtel, mit Rally und Mays Sachen hoch. Stevenson

schaute zu Robert. Der holte die Schachtel, und gab sie

Stevenson. Der legte die Sachen auf dem Pult aus. Er kratzte sich

am Kopf.

"Nettes Arsenal habt ihr dabei", meinte er. "Wem von euch gehören

die Granaten?"

Rally machte eine Kopfbewegung zu May, worauf diese noch etwas

verlegener wurde.

"Hätt ich mir ja denken können", seufzte Stevenson.

Er räumte alles, ausser den Kerosinpäckchen, wieder in die

Schachtel, und stellte sie auf seiner Seite des Pults auf den

Boden.

"Hinsetzen!", befahl er.

Rally und May gingen auf den einzigen Stuhl zu, der auf ihrer

Seite des Pults stand. Stevenson warf Robert einen Seitenblick

zu, worauf dieser aus einer Ecke einen zweiten Stuhl holte, und

vor das Pult stellte. Rally und May setzten sich.

"Gut", sagte Stevenson. "Das wär dann alles, Tom."

"Sie finden mich im Überwachungsraum", erwiderte dieser, und

ging.

Robert zog seine Pistole, und verschränkte seine Arme. Stevenson

wunderte sich.

"Nur zur Sicherheit", erklärte Robert ungefragt. Und zu den

Mädchen: "Ich trau euch nämlich nicht."

Stevenson zuckte mit den Schultern. Dann wandte er sich wieder

den Mädchen zu:

"Na schön. Ich nehme an, ihr wisst was sich in diesen Päckchen

befindet?"

Rally wollte antworten, aber May war schneller:

"Kerosin. Synthetische Droge. Wirkung ähnlich der von LSD. Hohes

Suchtpotential."

"Schön. Ich sehe, ihr habt eure Hausaufgaben gemacht. Ihr wolltet

wohl eure Kasse etwas aufbessern, was? Sind euch meine Preise

nicht tief genug?"

"Eigentlich hoffte ich, hier Stoff von besserer Qualität zu

finden", meinte Rally.

"Ach, reines Zeugs wollt ihr", sagte Stevenson. "Tja, Pech

gehabt. Mein Labor ist derzeit geschlossen. Nur meine

Lagerbestände sind noch da. Und die sind bereit für den Verkauf."

"Bereit für den Verkauf. So nennt ihr das. Nicht genug, dass ihr

dieses Gift in Umlauf bringt, ihr betrügt auch noch eure Kunden."

"Bitte?"

"Glaubt ihr etwa, ich habe es nicht probiert? Da drinn ist mehr

Zucker als sonst was."

Eine unangenehme Stille folgte, während der sich Rally und

Stevenson gegenseitig anfunkelten. Schliesslich ergriff Stevenson

wieder das Wort:

"Nun, immerhin wird es ja gekauft."

"Klar", konterte Rally. "Weil ihr es billig verscherbelt."

"Man kriegt, wofür man bezahlt."

Rally schüttelte den Kopf. "Ich gebs auf", seufzte sie.

"Schön", meinte Stevenson, und lehnte sich zurück. "Nachdem das

geregelt wäre, können wir ja zur Fragestunde übergehen. Also.

Frage 1: Wie habt ihr dieses Haus gefunden."

"Wir haben die Verkaufskette zurückverfolgt. Es war nicht all zu

schwer."

"Ihr habt keinen Tipp erhalten?"

"Nein."

Stevenson beäugte Rally misstrauisch. Doch Rally war bereits

öfters in derartigen Verhören. Sie hatte gelernt, zu bluffen.

"Verstehe", meinte Stevenson schliesslich. "Na schön. Frage 2:

Wie seit ihr hier rein gekommen?"

"Durchs Fenster neben dem Notausgang im vierten Stock", sagte

Rally.

"Ich hab die Alarmanlage überbrückt", ergänzte May.

"Ich dachte, die Überbrückung sei aufgehoben worden?", fragte

Stevenson Robert.

"So hat Tom es mir berichtet, Sir", verteidigte sich dieser.

"Das ist schon richtig", wandte May ein. "Nur leider war ich da noch

im Haus."

Stevenson schaute sie etwas scheel an.

"Also ich muss schon sagen... Ach egal. Frage 3: Mir ist noch

nicht ganz klar, was ihr mit den Drogen wolltet. Also?"

"Es schien einfach ein lukratives Geschäft zu sein. Der Markt ist

ausgetrocknet. Hochwertiges Material müsste sich da zu

Höchstpreisen verkaufen lassen", sagte Rally.

"Und da fiel euch nichts besseres ein, als bei mir einzubrechen?"

"Warum auch nicht? Es schien uns der einfachste Weg."

"Wieso versucht ihr es nicht mit dealen?"

"Damit lässt sich doch kein Geld mehr verdienen, seit die Preise

wieder runter sind."

"Es lässt sich immer noch recht gut davon leben. Und es wäre

wenigstens halbwegs anständig."

"Moment mal, wir reden hier von Drogen, nicht? Und dazu noch von

recht gefährlichem Zeugs. Ich sehe keinen grossen Unterschied, ob

ich das Zeugs jetzt 'ehrlich' erworben, oder geklaut habe."

"Nette Einstellung."

"Gleichfalls."
 

Stevenson und Rally funkelten sich eine Weile lang böse an. May

fragte sich bereits, ob Rally nicht vielleicht etwas zu weit

gegangen sei. Aber Stevenson beruhigte sich wieder.

"Also schön, ihr zwei", meinte er leicht verärgert. "Wenn ihr

hier heil raus wollt, solltet ihr besser mit uns kooperieren."

"Kooperieren?", fragte Rally. "Inwiefern?"

"Nuuun. Zum Beispiel hätte Ich durchaus noch Bedarf für

Zwischenhändler."

"Sir!", wandte Robert ein.

"Unter Überwachung natürlich", beruhigte ihn Stevenson.

"Das meinen Sie doch nicht im Ernst?", fragte Rally.

"Warum nicht?", fragte May.

"Was!?"

"Überleg doch mal", flüsterte May. "Es wär nur für ein paar Tage.

Wir brauchen das Zeugs ja nicht zu verkaufen."

"Und was, wenn die Polizei es bei uns findet?", flüsterte Rally

zurück.

"Dann tarnen wir es als Granaten."

"Sehr witzig."

May spielte damit auf das nicht gerade kleine und keineswegs

legale Lager an Granaten in Rallys Laden an. Sie waren deswegen

bereits einmal in Schwierigkeiten geraten.

"Was ist jetzt?", fragte Stevenson ungeduldig.

Rally überlegte einen Moment. Es war riskant. Aber andererseits

galt das für das ganze Unternehmen.

"Meinetwegen", meinte Sie schliesslich. "Wenn es keinen anderen

Weg gibt..."

"Einen anderen Weg?", fragte Stevenson. "Hmmm... nun ja...

vielleicht..."

Rally gefiel das Grinsen, das sich auf Stevensons Gesicht

bildete, nicht. Es ging einen Augenblick, bis sie realisierte,

dass Stevenson die ganze Zeit auf ihre Brust starrte. Rally

konnte den Blutdruck förmlich ansteigen fühlen. Zwei solche Typen

an einem Abend waren ein bisschen viel.

"Ist... das... ein... Scherz...?", fragte sie, sichtlich um ihre

Beherrschung ringend.

"Ach wirklich?", fragte May zuckersüss.

Stevenson war baff. Während Rally jetzt den Eindruck eines

Vulkans kurz vor der Explosion machte, war bei May nichts mehr

von ihrer vorherigen Kindlichkeit oder Unschuld sichtbar. Rally

beruhigte sich wieder. Sie schaute May aber verächtlich an.

Natürlich wusste sie, das May damals in Chinatown nicht nur

Frühlingsrollen verkauft hatte. Aber solche 'Manöver' gehörten

ihrer Meinung nach bestenfalls zum Notrepertoire einer

Prämienjägerin. May war da freilich ganz anderer Ansicht.
 

May öffnete die Träger ihrer Latzhose, so dass das Vorderteil

herunter klappte. Den Gürtel liess sie noch geschlossen. Dann

lehnte sie sich langsam über das Pult, bis ihr Gesicht ganz nahe

an dem Stevensons war.

"Also", sagte sie, "entweder wir arbeiten künftig als Dealer für

dich, oder", sie stand etwas auf, so dass der Ausschnitt ihres

T-Shirts in Stevensons Blickfeld kam, "wir... leisten eine kleine

Kompensation für den verursachten Ärger".

Der Ausschnitt war recht gross, und erlaubte Stevenson einen

guten Einblick.

"Donnerwetter. Für ein Kind ist die aber gut gebaut", dachte er

sich.

Robert erkannte an Stevensons Blick, dass er gerade etwas

verpasste. Er versuchte, ebenfalls einen Blick auf das, was

Stevenson gerade so intensiv betrachtete, zu erhaschen. Aber von

seinem Standpunkt aus war das schlicht unmöglich.

"Ja", sagte Stevenson schliesslich, "darüber liesse sich

diskutieren."

"Darf ich noch eine dritte Möglichkeit vorschlagen?", fragte May.

"Was für eine denn?", fragte Stevenson zurück.

"Nun", sagte May, und schmiegte ihren Kopf an Stevensons, "wir

hauen einfach ab."
 

Dann ging alles blitzschnell: May griff sich eines der

Kerosinpäckchen, das noch immer auf dem Tisch lag, und zerriss es

mit einer schnellen Bewegung. Eine Granate rollte auf den Tisch.

Noch bevor Stevenson die neue Situation begriffen hatte,

explodierte sie. Es war eine Blendgranate. May hatte die Augen

natürlich sofort geschlossen. Auch Rally hatte rechtzeitig den

Typ erkannt. Stevenson hingegen schaute direkt in die Flamme, und

war komplett geblendet. Robert hatte sich immerhin instinktiv den

Arm vor die Augen gehalten, konnte für ein paar Sekunden aber

auch nichts sehen. Als sein Augenlicht zurückkehrte hatte Rally

von irgend wo her eine Kleinkaliberpistole in ihre Hand

gezaubert, und zielte damit auf ihn.

"Was?", fragte er. "Woher..."

"Die Pistole?", fragte Rally. "Die hatte ich im Ärmel. Nächstes

mal solltet ihr mich besser durchsuchen".

Robert starrte sie fassungslos an, was Rally sichtlich genoss.

Aber er überlegte nicht lange. Er liess seine Waffe fallen, und

rannte zur Tür hinaus. Rally liess ihn machen. Sie wollte nach

wie vor den Anschein von Professionalität vermeiden.
 

Tom war die Explosion natürlich nicht entgangen. Im ersten

Augenblick war er zu erschrocken, um zu reagieren. Dann sah er,

wie ein Alarm ausgelöst wurde. Die Türe des Notausgangs neben

Stevensons Büro war geöffnet worden. Tom schaute nach aussen, und

sah, wie Robert die Feuertreppe hinuntersprang, und auf die

nächste Seitengasse zu rannte.

"So leicht kommst du mir nicht davon", schrie Tom, obwohl er

wusste, das Robert in unmöglich hören konnte.

Er schnappte sich die auf dem Tisch liegende Pistole, riss das

Fenster auf, und schoss. Zu Roberts Glück hatte Tom nicht die

Uzi, sondern nur seine Magnum erwischt. Aber auch so musste

Robert die leidvolle Erfahrung machen, das eine grosskalibrige

Kugel im Bein meist eine sehr effektive Methode ist, jemanden am

wegrennen zu hindern.
 

Vector war mittlerweile am Ort des Geschehens eingetroffen. Er

wartete etwas abseits in seinem Wagen. Einer seiner Männer

meldete sich über Funk:

"Gerade ist im Gebäude eine Blendgranate losgegangen. Kurz darauf

hat eine Person, vermutlich einer von Stevensons Männern,

versucht, zu fliehen. Aber jemand aus dem Gebäude hat ihm eine

Kugel ins Bein verpasst."

"Verstanden", sagte Vector.

"Sir, was sollen wir mit dem Angeschossenen machen?"

"Lasst ihn laufen. Es ist besser für uns, wenn er davonkommt."

"Wie sie wünschen."

Vector schaltete das Funkgerät ab. "Was zum Teufel geht da

drinnen vor sich?", fragte er sich.
 

"Ich seh ihn", sagte May, die aus dem Fenster schaute. "Er

scheint ne Kugel abgekriegt zu haben."

"Du gehst ja nett mit deinen Mitarbeitern um", sagte Rally zu

Stevenson. Sie hatte sich mittlerweile ihre Waffen und

Ersatzmagazine zurückgeholt, und zielte nun mit der CZ-75 auf

seinen Kopf. Da meldete sich Tom über das Intercom:

"Chef? Was ist passiert? Sind Sie in Ordnung?"

"Natürlich, du Idiot!", schrie Stevenson. "Mal abgesehen davon,

dass ich halb geblendet bin, und jemand mit einer 9mm auf mich

zielt, ist es mir noch nie besser gegangen! Hättet ihr die beiden

nicht besser durchsuchen können?!"

"Weg da", befahl Rally knapp.

Sie winkte mit der Waffe zur rechten, hinteren Ecke des Zimmers.

Stevenson stand auf, und ging nach hinten. Rally ging ans

Intercom, wobei sie Stevenson nicht aus den Augen liess. Sie

drückte die Sprechtaste, und fragte:

"Mr. Bodybuilder, nehme ich an?"

"Ich heisse Tom!", kam die Antwort.

"Also Tom. Deinem Boss gehts gut. In ein paar Stunden wird er

wieder sein volles Sehvermögen zurück haben. Wenn ihr

ernsthaftere Verletzungen verhindern wollt, solltet ihr besser

machen, was ich euch sage."

"Und das wäre?"

"Ich will freien Rückzug über die Feuertreppe."

Es vergingen einige Sekunden der Stille. "Mach einfach, was sie

sagen, verdammt!", rief Stevenson schliesslich. "Um das bisschen

Kerosin ists jetzt auch nicht schade."

Tom gab nach: "Also schön. Gebt mir ein paar Minuten, um die

Scharfschützen zu verständigen."

"In Ordnung", meinte Rally.
 

Tom ärgerte sich. Hatte er die beiden doch tatsächlich

unterschätzt. Aber so einfach würde er nicht aufgeben. Er bot die

Scharfschützen auf, die innert einiger Minuten verfügbar waren,

und plazierte sie in seinem Büro, sowie den angrenzenden Zimmern.

Sie sollten versuchen, Rally und May auszuschalten, ohne den Boss

zu gefährden. Zur Sicherheit plazierte er auch noch ein paar

Leute im Gang des ersten Stocks. Er war sich sicher, die Mädchen

zu schnappen. Auch wenn sie gut darin waren, Waffen zu

verstecken: Profis waren sie nicht. Dachte er.
 

May hatte mittlerweile Stevenson mittels Klebeband an dessen

Stuhl gefesselt. Dabei hatte sie besonders darauf geachtet, dass

es nicht so einfach sein würde, ihn wieder zu befreien. Rally

hatte ihre Waffe und die Munition geprüft. Bisher hatte sie nur

einen einzigen Schuss abgefeuert. Das sollte genug Reserve

lassen, um hier auszubrechen.

"So. Schätze wir haben alles", sagte sie.

Ihr Blick wanderte über den Tisch.

"Ah, Moment. Das hatte ich ja fast vergessen."

Sie nahm die drei verbliebenen Kerosinpäckchen, und verstaute sie

in Innentaschen ihrer Jacke.

"Pah. Alles in allem seit ihr doch nur Diebe", brummte Stevenson.

"Glauben Sie etwa, es hat Spass gemacht hier einzubrechen?",

verteidigte sich Rally. "Ausserdem ist das Zeug hier sowieso

nicht viel Wert."

"Soll das vielleicht eine Rechtfertigung sein?"

"Entschuldige", sagte May betont freundlich, "aber könntest du

mal deinen Mund halten?"

"Und wieso?", fragte Stevenson missmutig.

May riss ein Stück vom Klebeband von der Rolle.

"Weil ich dir sonst den Mund nicht richtig zukleben kann. Und

wenn ich den Knebel wieder abreissen muss, tuts weh."

Stevenson murmelte etwas unverständliches, und ergab sich in sein

Schicksal. Der Lautsprecher der Gegensprechanlage knackste.

"Hallo?", fragte Tom.

Rally ging zum Gerät hinüber.

"Wir hören", sagte sie. "Ist der Ausgang frei?"

"Erst will ich wissen, wies dem Boss geht."

"Keine Sorge. Er hat keinen Kratzer. Wir haben ihn an den Stuhl

gefesselt."

"Also gut. Ihr könnt jetzt raus. Nehmt das Fenster."

"Danke!"

Rally schaltete das Gerät ab.

"Willst du wirklich die Feuertreppe runter?", fragte May.

"Schliesslich weiss er, dass du dort raus willst. Der hat doch

noch mehr Leute aufgestellt."

"Natürlich hat er das. Darum nehmen wir ja auch den

Haupteingang."

"Den was!?"

"Komm her."

Rally ging zur Bürotür. Sie horchte. Ein leises Gemurmel war zu

hören.

"Okay", sagte sie leise. "Ich hoffte eigentlich, dass er alle

Leute zur Bewachung der Feuertreppe einsetzt. Aber da scheinen

noch ein paar auf dem Gang zu sein. Bist du bereit?"

"Musst du fragen?", sagte May, und machte eine Granate bereit.
 

May drückte sich rechts neben der Tür gegen die Wand. Rally trat

die Tür auf. Auf dem Gang standen drei reichlich überraschte

Männer. Jeder mit einer Pistole in der Hand. Rally schoss dem in

der Mitte in die Schulter. Die anderen beiden reagierten schnell.

Sie zogen sich nach rechts zurück, wobei sie ein paar Schüsse in

Rallys Richtung abgaben. Die hatte sich aber bereits links neben

der Tür gegen die Wand gedrückt. Der einzige, der ernsthaft durch

die Schüsse gefährdet wurde, war Stevenson, welcher sich eine

mentale Notiz auf der Liste "zu entlassen" machte. Als die

Schiesserei aufhörte, wagte Rally einen kurzen Blick. Sie konnte

erkennen, das die Männer ins Treppenhaus flohen.

"Das Treppenhaus", flüsterte sie.

May nickte. Rally zählte mit den Fingern: Drei... zwei... eins...

Dann sprang sie nach draussen, und feuerte wild zum Treppenhaus

hinüber. May nutzte die so gewonnene Feuerdeckung, um die Granate

zu entsichern, und zu werfen. Sie rollte genau ins Ziel. Sofort

hörte Rally auf zu schiessen, und rannte nach links den Gang

hinunter. May folgte ihr. Etwa auf halbem Weg zur Biegung konnten

Sie die Explosion hören. Daraufhin folgten rasche Schritte.

Mindestens einer der Männer war offensichtlich rechtzeitig

irgendwo in Deckung gegangen. "Halt!", konnte Rally jemanden

rufen hören. Aber sie hatte die Biegung fast erreicht, und dachte

nicht daran, anzuhalten. Ein Schuss fiel. Die Kugel traf Rallys

Rücken wie ein Hammerschlag. Sie stolperte, und wäre beinahe

hingefallen. Doch dann erreichte sie die Biegung, und rannte um

die Ecke. May folgte ihr gleich darauf.

"Die Kugel?", fragte Rally, während sie das fast leere Magazin

aus der Pistole zog, und es in einer Jackentasche verstaute.

"Ist in der Weste hängengeblieben", beruhigte sie May.

Rally atmete auf, und setzte ein frisches Magazin ein. Dem Schlag

nach zu urteilen war das ein ziemlich grosses Kaliber. Gut

möglich, das ein einzelner Schuss durch die Weste käme.

Vorsichtig schaute sie für einen kurzen Augenblick um die Ecke.

Zu ihrem Ärger sah sie, das beide Männer es geschafft hatten, der

Explosion zu entkommen. Einer kam langsam auf sie zu. Der andere

lief von Rally weg den Gang hinunter.

"Schnell!", rief Rally May zu.

Dann rannte sie weiter den Gang entlang zur anderen Seite des

Gebäudes. Ihr Ziel war das blockierte Treppenhaus, welches sie

und May bereits vorhin benutzt hatten. Es würde eine gute Deckung

bieten. Doch kurz bevor sie es erreichte, sah sie ihren Gegner um

die Ecke biegen. Beide bremsten scharf, und feuerten aufeinander.

Rally war einen Sekundenbruchteil schneller. Ihre Kugel traf den

Lauf seiner Waffe, und lenkte seinen Schuss nach rechts ab. Seine

Kugel flog an Rally vorbei, verfehlte May um ein Haar, und schlug

schliesslich harmlos in der Wand ein. Rally setzte sofort zwei

weitere Schüsse nach, diesmal in den Oberarm und den Oberschenkel

des Mannes. Der fluchte, und liess seine Waffe fallen. Rally trat

die Holzplatte ein, die die Treppe verstellte. Um

Geräuschentwicklung brauchte sie sich diesmal schliesslich keine

Sorgen zu machen. Sie griff May, die mittlerweile aufgeschlossen

hatte, am Arm, und zog sie ins Treppenhaus. Dann nahm sie die

Pistole in Anschlag, und zielte dem Gang entlang zurück zur Ecke,

um die sie gerade gekommen waren. Kurz darauf erschien der

Schütze, der in ihre Richtung gegangen war. Auch er erhielt je

eine Kugel in Oberarm und Oberschenkel.
 

Der Mann, der im Haupteingang stand, war cool. Völlig cool. Er

war so cool, dass er sogar nachts eine Sonnenbrille trug. Seine

Remington PumpAction, und der beeindruckende Patronengürtel,

würden jeden Menschen mit Verstand davon abhalten, all zu nah an

das Haus heran zu kommen. Aber im Augenblick hatte er eine andere

Aufgabe. Er musste zwei Frauen daran hindern, das Haus zu

verlassen, sollten sie es durch den Haupteingang versuchen. Die

Schiesserei im ersten Stock, die er hören konnte, verriet ihm,

das sie es wahrscheinlich versuchen würden. Aber das war kein

Problem. Schliesslich war er ja cool. Und er hatte sein

Schrotgewehr durchgeladen und im Anschlag. Und bei der

Streuwirkung seiner Munition würde es auch nichts ausmachen, das

obgenanntes Gewehr gewaltig zitterte.
 

Als er die Schritte auf der Treppe hörte, wusste er, das seine

Stunde gekommen war. Er tastete nach dem Abzug. Die Schritte

verklangen genau hinter der Holzplatte, welche das Treppenhaus

verstellte. Es folgte ein nervenzermürbender Moment der Stille.

Dann flog ihm die Platte entgegen. Er drückte ab. Die Salve traf

die sich noch in der Luft befindliche Platte, und schleuderte sie

zurück. Die Wache führte eine Ladebewegung durch, und feuerte

nochmals. Und nochmals, und nochmals. So wie er es unzählige Male

im Schiessstand geübt hatte. Er feuerte weiter, bis ihm ein

leises Klicken sagte, das sein Magazin leer war. Er atmete tief

durch. Niemand konnte das überlebt haben. Noch nicht einmal mit

einer kugelsicheren Weste. Irgend etwas berührte seinen Fuss. Er

sah nach unten. Es war eine Granate.
 

Zu seinem Glück war es lediglich eine Rauchgranate, die May da

gerade geworfen hatte. Rally hatte damit gerechnet, das in der

Tür ein schiesswütiger Kerl stand. Darum war sie sofort wieder in

Deckung gegangen, nachdem sie die Platte eingetreten hatte. May

hatte daraufhin den Rest besorgt. Als sich der kleine

Eingangsraum mit rosa Rauch füllte (Mays Markenzeichen), und die

Wache damit ihrer Sicht beraubte, stürmten die beiden nach

draussen. Jetzt mussten sie nur noch einen Block lang geradeaus

laufen, und dann nach links abbiegen, dann wären sie bei Mays

Wagen. Doch so weit kamen sie nicht. Sie hatten sich erst wenige

Meter vom Haus entfernt, als jemand "Halt!" rief. Rally blieb

augenblicklich stehen. Sie sah nach hinten, und erblickte Tom.

Langsam drehte sie sich um. Tom hatte sich neben den Eingang

gestellt. Er hielt seine Uzi auf die übliche Art und Weise. Rally

würde keine Mühe mit ihm haben.

"Wirklich gut, Mädels", sagte Tom. "Soviel Chuzpe hätte ich euch

nicht zugetraut. Einfach durch den Haupteingang abzuhauen. Dumm

nur, dass ich daran gedacht habe. Dumm auch", fügte er grinsend

hinzu, "dass ihr den Boss oben gelassen habt."

"Geiselnahme ist nicht unser Stil", erwiderte Rally

unbeeindruckt.

"Euer Pech. Jetzt wirf mir die Waffe rüber."

Rally sah ihn einen Augenblick lang mit gespielter Verärgerung

an. Dann warf sie ihm wortlos ihre CZ zu. Als Tom sie auffing,

nutzte sie die Gelegenheit, und rannte auf ihn zu. Tom liess

Rallys Pistole fallen, und nahm die Uzi in einen korrekten

Anschlag. Ein scharfer Knall erklang. Die Uzi wurde aus den

Händen des verdutzten Tom gerissen. Geistesgegenwärtig wollte er

noch eine andere Waffe ziehen. Doch da war Rally bereits bei ihm,

und versetzte ihm einen genau gezielten Schlag in den

Solarplexus. Stöhnend brach er zusammen.

"Bist du in Ordnung?!", rief May.

"Alles klar", sagte Rally, obwohl ihre Hand höllisch schmerzte.

Vermutlich war sie angestaucht.

Rally hob die CZ auf, und schaute zu Toms Uzi hinüber. Jemand

hatte den Verschluss durchschossen, und die Waffe so unbrauchbar

gemacht. Als sich Rally umsah, konnte sie auch die Hülse

entdecken. Der Schütze musste in der Nähe sein. Und ein Gewehr

benutzen, das die Hülsen noch vorne auswarf. Kurzentschlossen hob

sie auch die Hülse auf, und verstaute sie in einer Tasche. Dann

rannten Sie und May weiter die Strasse runter.
 

"Sie kommen", meldete sich Vectors Funkgerät.

"Verstanden. Danke", meldete dieser zurück.
 

Als Rally und May um die Ecke bogen, war dort keine Spur von Mays

Wagen. Statt dessen stand dort eine schwarze Limousine. Neben der

Limousine stand ein Mann in einem Geschäftsanzug, der mit einem

Revolver auf sie zielte. Neben dem Mann stand Vector. Und der sah

nicht besonders zufrieden aus.

"Scheisse!", rief Rally, denn das war genau das, worin sie jetzt

steckte.

"Nicht so vulgär, wenn ich bitten darf", meinte Vector. "Und

stecken sie bitte ihre Waffe weg. Das wäre der Atmosphäre mit

Sicherheit förderlich. Und sie, Miss Hopkins, lassen ihre

Granaten, wo sie sind."

Rally seufzte, und steckte die CZ zurück ins Halfter.

"Schön, das sie so einsichtig sind", sagte Vector.

Er ging hinter dem Mann mit der Waffe hindurch, und öffnete die

hintere, rechte Tür des Wagens.

"Nehmen Sie bitte auf der linken Seite Platz."

Rally ging zum Wagen. Die Tür führte zu einem separierten Abteil

mit einer Sitzbank hinten, und zwei Stühlen vorne. Die Stühle

waren so eingebaut, dass sie nach hinten zeigten. Auf diese Weise

konnten während der Fahrt kleine Konferenzen gehalten werden.

Rally setzte sich auf die Sitzbank, gefolgt von May, welche sich

neben sie setzte. Dann folgte der Schütze, und setzte sich auf

den Stuhl gegenüber von Rally. Jetzt konnte Rally noch einen

weiteren Vorteil dieser Konstruktion erkennen: Der Schütze hatte

sie beide im Visier, ohne den Fahrer zu gefährden. Als letzter

folgte schliesslich Vector, der sich auf den verbliebenen Stuhl

setzte. Er schloss die Tür. Dann streckte er die Hand aus.

"Dürfte ich um den Auslöser bitten?", fragte er.

"Oh nein", dachte Rally. "Das wars dann."

May schaute unsicher zu Rally hinüber.

"Rück in raus", sagte diese konsterniert.

"Du hast ihn", sagte May. "Es ist das Päckchen mit dem Kreuz drauf."

Rally griff in die Tasche, und holte besagtes Päckchen hervor.

Sie gab es Vector. Der öffnete das Päckchen äusserst vorsichtig.

Doch es war tatsächlich nur der Auslöser drinn.

"Sie werden es nicht verhindern können", sagte Rally.

"Was meinen Sie?", fragte Vector.

"Die Explosion. Auch wenn Sie den Auslöser besitzen, werden Sie

die Explosion nicht verhindern können. Die Bombe ist nicht zu

entschärfen."

"Lassen Sie das meine Sorge sein."

Vector verstaute den Auslöser in seiner Jacke. Dann nahm er

wieder das Funkgerät zur Hand:

"Bei mir ist alles klar. Schickt das Einsatzteam los, und zieht

die Beobachter ab."

"Verstanden", krächzte es aus dem Lautsprecher.

"Fahren Sie", befahl Vector dem Fahrer.

Langsam fuhr der Wagen an.
 

Der Fahrer fuhr nur ein paar Blocks weit, bevor er denn Wagen

wieder anhielt.

"Wir sind von einem schwarzen Motorrad verfolgt worden", sagte

er.

"Ein schwarzes Motorrad?", wunderte sich Vector. "Das muss wohl

Dantes sein. Der Typ traut mir wirklich nicht."

"Warum sollte er? Würde ich auch nicht", bemerkte Rally.

"Nana. Das müssen ausgerechnet Sie sagen. Wir hatten doch eine

eindeutige Abmachung, oder etwa nicht? Mal ganz abgesehen davon

war ihr kleines Kunststück vorhin nicht besonders professionell."

"Hoffentlich nicht. Sonst kriegt Stevenson am Ende noch Angst,

und haut ab."

"Sie meinen, sie haben sich absichtlich dilettantisch verhalten,

damit Stevenson sich nicht weiter in Gefahr glaubt?"

"Exakt."

"So schnell kommt er ohnehin nicht weg", meinte May. "Er ist

derzeit... gebunden."

"Gebunden?", fragte Vector.

"Jepp", bestätigte May grinsend. "Und zwar mit Klebeband an einen

Stuhl. Die brauchen allermindestens eine Viertelstunde, um ihn da

raus zu kriegen."

Vector zog die Augenbrauen hoch.

"So ist das also... Aber egal. Die Jungs sind jetzt unterwegs.

Sie müssten jeden Moment hier sein. Wenn alles glatt läuft, will

ich mal nicht so sein, und euch zwei laufen lassen. Ihr könnte

wirklich von Glück reden. Ich bin nicht immer so grosszügig."

Rally hatte eine Erwiderung auf der Zunge, liess es dann aber

sein. Wenn sie tatsächlich die Chance hatten, hier nochmals mit

heiler Haut davon zu kommen, dann würde sie diese Chance nicht

leichtfertig verspielen.
 

Es vergingen noch etwa zwei Minuten, bis etwas passierte. Dann

fuhr in der Nähe ein Wagen mit hoher Geschwindigkeit vorbei.

"Da sind sie ja", bemerkte Vector.

Ein zweiter Wagen folgte kurz darauf. Beim dritten Wagen erkannte

Rally den Typ.

"Aber... das sind ja Polizeiwagen", sagte sie.

"Das ist ja auch die Polizei", meinte Vector.

Und während sich Rally noch fragte, was Vector damit meinte,

hatte dieser bereits den Auslöser wieder aus der Jackentasche

geholt, und auf den Knopf gedrückt. Etwa zehn Sekunden später war

ein dumpfer Knall hörbar. Der Fahrer hatte mittlerweile den

Polizeifunk eingeschaltet. Sie hörten einen Offizier über ein

Feuer im Keller berichten. Ein anderer regte sich über die

Vernichtung von Beweismaterial auf. Irgendwann dazwischen kam

auch die Meldung von der erfolgreichen Festnahme Stevensons

durch.

"Das reicht, danke", sagte Vector nach einer Weile.

Der Fahrer schaltete den Polizeifunk wieder ab.

Rally war baff. Und das sah man ihr auch an. Schliesslich

schaffte sie es, ein einzelnes Wort zu artikulieren:

"Warum?"

"Warum ich die Bombe gezündet habe?", fragte Vector.

Rally nickte. "Ich dachte, sie wollten die Drogen stehlen."

"Ja, das war ursprünglich meine Absicht. Aber grundsätzlich ging

es mir nicht darum, in den Besitz der Drogen zu kommen, sondern

den Marktpreis zu erhöhen. Das war nämlich auch Teil des

Auftrags. Um das zu erreichen, ist es besser, die Drogen zu

vernichten, als sie zu stehlen. Als ich also gehört habe, dass

sie eine Bombe rein schmuggeln wollen, habe ich sie einfach

machen lassen."

Rally griff sich an die Stirn.

"Ich... Idiot. Ich habe Ihnen voll in die Hände gespielt!"

"Allerdings."

"Aber woher wussten Sie die Sache mit der Bombe?"

"An ihrer Stelle", antwortete Vector, "würde ich mal ihr Haus

untersuchen."

Rally dämmerte etwas: "Sie haben mich verwanzt?!"

"Na, was glauben Sie denn?", fragte Vector, als ob es das

natürlichste der Welt wäre.

Rally fühlte ihren Blutdruck ansteigen. Mal wieder. Es wurde

allmählich zum vertrauten Gefühl, wenn Vector in der Nähe war.

"Lassen sie mich bitte hier raus", sagte sie gepresst.

"Sie können jederzeit gehen."

Rally öffnete die Tür, und stieg aus. Als sie die Tür schliessen

wollte, fiel Vector noch etwas ein:

"Ach, Miss Vincent! Ich vergass noch zu erwähnen, dass ich ihnen

10'000 Dollar auf ihr Konto überweisen werde. Für die Mühe."

"Was?", fragte Rally.

Der Mann, der die ganze Zeit den Revolver in der Hand gehalten

hatte, zog die Tür von Innen zu. Dann fuhr der Wagen los. Rally

schaute May an, die auf der anderen Seite ausgestiegen war.

"Ich werd nicht schlau aus dem Typen", sagte Rally.

"Ich auch nicht", meinte May.

Zwei Scheinwerfer wurden eingeschaltet. Sie gehörten zu einem

Motorrad, welches ein paar Meter weiter in der Richtung stand,

aus der sie mit Vectors Wagen gekommen waren. Vermutlich jenes,

welches der Fahrer erwähnt hatte. Das Motorrad machte eine

scharfe Wendung, und verschwand in der Dunkelheit.

"Soll ich fahren?", fragte May.

Rally drehte sich verwundert um. Dann sah sie Mays Fiat. Vectors

Männer hatten ihn offensichtlich hier abgestellt.

"Oh, ja. Danke", sagte sie.

Sie stiegen ein, und May fuhr los. Rally rief Ken auf das

Autotelefon an.

"Hallo Ken... Ja, sie ist bereits hochgegangen... Sie haben

bereits heute Abend zugeschlagen... Nein, keine Probleme... Wir

sehen uns bei mir zuhause... Bis dann."

Danach lehnte sich May im Autositz zurück. Die Sache, so dachte sie,

würde noch ein Nachspiel haben. Sie ahnte nicht, dass es gerade erst

begonnen hatte.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: abgemeldet
2003-01-29T19:50:54+00:00 29.01.2003 20:50
gut, gut, gut!!! ich fand sie wirklich gut!!!


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