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Heilloser Romantiker

von

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Kapitel 42

Kapitel 42
 

Sechs Jahre jung, ein Kind, das den Tod nicht einmal erahnen sollte, war Joe gewesen, als sein Vater von ihm gegangen war. Über sechzehn Jahre waren seit dem tragischen Ableben von Tristan Yera vergangen und kein Tag hatte sich dem Ende geneigt, an dem der blonde junge Mann einen anderen Menschen deswegen angegriffen hatte, auch nicht rein verbal. Bis zu diesem…

In wenigen Wochen konnte sich so vieles verändern, sich dermaßen viel ereignen, konnten Dinge geschehen, die für einen Menschen einfach zu viel waren. Man konnte mit Emotionen konfrontiert werden, die einem bis dato fremd waren. Man fühlte mit einer Intensität, die einen erschrak. Aus den Untiefen des Herzens kamen Regungen zum Vorschein, die man nicht für möglich gehalten oder von denen man gedacht hatte, sie auf ewig begraben zu haben. Man sah sich mit einem Mal Eindrücken ausgesetzt, die einen Sachen sagen ließen, die in einem schlummerten, doch nie ausgesprochen werden sollten. Umsonst gab es wohl das Sprichwort ’Sag niemals nie!“ nicht, was Joe an eigenem Leib erfuhr. Unentwegt quälten ihn Gewissensbisse, die immer stärker werden zu schienen. Die Stimme in seinem Kopf, die ’Entschuldigung!’ rief, war inzwischen so laut geworden, dass sie sowohl den Motor als auch die Musik, die Steven angedreht hatte, um ihr gegenseitiges Schweigen zu übergehen, übertönte.

Er war nie der Typ gewesen, der andere für seine Trauer verantwortlich machte oder sie sie spüren ließ. Eher machte er all seine Gefühlsschwankungen mit sich selbst aus und bewahrte sich nach außen hin ein unbeschwertes Lächeln. Meist jedoch konnte er schnell wieder die Beherrschung über sich erlangen und in der Tat so gut es ging sorgenfrei leben. Und dieser Eigenschaft hatte er zuzuschreiben, dass er Rick stets hatte helfen, ihm ehrliche Worte hatte zusprechen können. Er hatte all seine Aufmerksamkeit auf Ricks Zustand verwenden können, ohne sich selbst dabei zu vernachlässigen. Selbst den Tod seines Vaters hatte er allein verarbeitet und Steven fast von Beginn an in sein Leben treten lassen. Ihm war zu keinem Zeitpunkt in den Sinn gekommen, den neuen Mann seiner Mutter zu verachten oder einfach nur nicht zu mögen.
 

/Er hat mich nicht bedrängt und wollte mir seine Anwesenheit nicht aufzwingen. Wenn ich allein sein wollte, dann ließ er mich allein. Wenn ich meine Mutter unter vier Augen sprechen wollte, sie ganz für mich beanspruchen wollte, dann stellte er sich nicht quer, sondern ließ mich gewähren. Vielleicht habe ich auch wegen Rebecca nie eine Abneigung gegen ihn in mir aufkeimen lassen. Sie begriff nicht richtig, was mit Dad geschehen war und warum Steven mit einem Mal in unserem Haus lebte. Aber sie mochte Steven sofort und ich wollte ihr den Vater, den sie auf kuriose Weise endlich wieder hatte, nicht verwehren.

Ich war auch gerade erst eingeschult worden, als Dad aufgrund einer folgenschweren Lungenentzündung von uns ging. Mom erklärte mir, dass er nun im Himmel sei und von dort aus über uns wachen würde. Am Fenster sitzend sah ich aber nicht hinauf zu den Sternen, sondern in unseren Garten, in dem ich viel Zeit mit ihm verbracht hatte…

Ich sollte nicht daran denken, denn ich merke, wie mich die Trauer von damals zu übermannen versucht. Auch als Kind, und vermutlich vor allem dann, kann man einen Elternteil schrecklich vermissen. Man könnte behaupten, dass man mit knapp sieben Jahren nicht einzuordnen vermag, wie sich Trauer und Schmerz anfühlen, doch meine Erfahrung wirkt dieser These eindeutig entgegen. Ich glaube, die schmerzlichen Erfahrungen von damals haben mich in der Art geprägt, dass ich mir immer ein Lächeln bewahrte und manches einfach lockerer anging…

Dies galt zwar immer für meine Person, aber nicht für Rick…/
 

Gedankenverloren sah Joe durch die Windschutzscheibe, den Blick starr nach vorne gerichtet, ohne auch nur irgendwas aus seiner Umwelt wahrzunehmen. Die Autos vor und neben ihm, die Berge zu seiner Rechten gewannen seine Aufmerksamkeit nicht, egal wie getunt, sportlich oder idyllisch sie sein mochten. Auch der Mann zu seiner Linken glich nur noch einer Silhouette, die zwar zu seinem Blickfeld gehörte, aber keine Beachtung fand. Zwar war er in Gedanken auch bei Steven, doch seine körperliche Erscheinung war im Moment zweitrangig, sogar auf gewisse Weise unbedeutend. Viele Erinnerungen suchten sich ihren Weg in sein Denken und intensivierten das Chaos seiner Gefühle und entfernten ihn so aus der Realität.
 

/Seit ich Rick kenne, mag ich insbesondere seine emotionale Ader. Seine Art, die Dinge anders zu sehen als ich. Vor seinem Outing war er trotz seines intakten Familienlebens der zerbrechlichere Mensch von uns beiden. Und wenn er unglücklich war, dann wollte ich ihn wieder zum Lachen bringen. Jede seiner bedrückten Phasen ging mir nahe, obwohl ich selbst nicht zu klagen hatte. Er sprach aber kaum mit mir über seine Probleme, wohl zum einen aus dem Grund, dass er sich gerne verschloss, zum anderen, weil ich ihn immer abzulenken versuchte. Ich wollte ihm zeigen, wie schön das Leben sein konnte, wenn man scherzte und lachte. Und selbst nach dem Rauswurf konnte ich ihn immer noch zum Lachen bringen…

Vielleicht habe ich durch ihn den Tod meines Vaters immer weiter verdrängt und Steven vollkommen an seinen Platz treten lassen. Dadurch, dass ich mich um ihn kümmerte, wenn es nötig war, mit ihm spielen konnte, reden, Computer und Basketball spielen, hatte ich die Leere in meinem Herzen wieder gefüllt und konnte unbeschwert sein. Und unser Baum fungierte als Signum unserer Freundschaft… so wie heute noch…/
 

Mit einem Mal sehnte sich der blonde junge Mann gänzlich nach seinem Freund. Seine Haut begann zu kribbeln, als er an die intimen Berührungen dachte, die ihm der Kleinere in den letzten Wochen zugekommen hat lassen. An die heißen Küsse und Ricks Anlehnungsbedürftigkeit. Wie einsam sich der Dunkelhaarige wohl jetzt fühlen musste. Allein der Gedanke daran war bereits bitter… Allmählich klärte sich sein Blick wieder, denn er hatte seine Finger unbewusst dermaßen fest in seine Beine gegraben, dass die Schmerzen ihn aus seiner Art Trance zurückholten. Laute Musik umspielte sogleich seine Ohren, helle Töne, schnell und unbeugsam. Als er zunächst desorientiert auf die Anlage blickte, erhaschte er aus seinem Augenwinkel Steven und schlagartig meldete sich seine innere Stimme wieder zu Wort, die nach einer Versöhnung schrie.

Er konnte sich aber noch nicht recht zu einer überwinden, zumal sein Stiefvater nicht den Anschein machte, von sich aus ein Gespräch zu beginnen. Zweimal war er lediglich mit ihm im Laufe der Jahre aneinander geraten, zwei lächerliche Male. Eigentlich kaum der Rede wert. Aber trotzdem nur eigentlich, weil sich Steven in seine Privatsphäre eingemischt, die ihn nichts anzugehen hatte. An diesem Tag hatte Joe allerdings das gegenseitige Anschweigen zu verschulden. Allein er hatte überreagiert und war nicht Herr seiner Lage gewesen. Steven hatte nichts getan außer sich als Hilfsfaktor anzubieten. Und dafür war in der Tat eine Entschuldigung nötig, die jedoch nicht über seine Lippen kam. Noch immer spürte er förmlich die Schwermut, die von seinem Gegenüber ausging, was seinen Mund völlig austrocknete. Unbeholfen langte er hinter sich und suchte nach der Wasserflasche, die Veronica ihm, er hatte gedacht unnötigerweise, vor der Abfahrt in die Hand gedrückt hatte; nun sollte sie doch ihren Zweck erfüllen. Mit aller Vorsicht versuchte er, dabei Steven nicht zu berühren, und ihm damit erneut einen Anstoß zu geben, sauer auf ihn zu sein. Als seine Hand endlich das Plastik ertastete, seufzte er erleichtert auf. Während er sich immer wieder einen Schluck gönnte und die Flüssigkeit wohlig seine Kehle hinab rann, beobachtete er heimlich seinen Vater, der stur geradeaus, wenn nicht gerade in einen der Spiegel, blickte. Nach und nach legte er sich Worte zurecht, die er sagen wollte. Da sich in seinem Verstand aber alles heuchlerisch anhörte, blieb er noch eine Weile stumm. Rick hätte er einfach mal durchs Haar gewuschelt, um ihm zu zeigen, dass er ihn mochte, doch bei Steven war das kaum möglich. Plötzlich schmunzelte Joe. Allein die bildliche Vorstellung von dem entrüsteten und zugleich vollkommen verwirrten Blick erheiterte ihn und die Anspannung fiel mit einem Mal zum größten Teil von ihm ab.

„Ich wollte dich nicht verletzen“, begann er sogleich, als er die Musik abgestellt hatte und ehe sich Steven darüber echauffieren konnte. „Die Worte sprudelten aus mir heraus, bevor ich sie überhaupt gedacht hatte.“ Abwägend fixierte er seinen Stiefvater, der ihn bisher nicht wieder beachtete, sondern sich weiterhin stur aufs Fahren konzentrierte. Dessen hellbraune Augen schweiften kein einziges Mal hinüber zu ihm. „Es ist noch nicht einmal ein Tag vergangen, als du mir erzähltest, wie sehr du meine Mom lieben würdest, und dasselbe empfinde ich für Rick. Wenn ich nur an den Mistkerl denke, der für alles verantwortlich ist, dann-“

„So ist’s recht“, meinte sein Gegenüber barsch, ohne Joe überhaupt ausreden zu lassen. Irritiert verengten sich die Augen des Blonden. „Die Verantwortung einfach auf einen anderen abwälzen“, fügte Steven ebenso schroff an.

Nun spürte Joe wieder Wut in sich aufkeimen, aber er versuchte sie sofort wieder zu unterdrücken. „Das möchte ich damit gar nicht zum Ausdruck bringen“, verteidigte er sich zunächst ein wenig hilflos.

„Sondern?“ Stevens Stimme trug weiterhin viel Aggressivität in sich.

„Dieser Mann ist zu Gott weiß was fähig und ich werde wahnsinnig, wenn ich nur daran denke, was er mit Rick anstellt! Darum möchte ich alles Erdenkliche tun, um ihn aus den Klauen dieses Irren zu befreien!“ Joe stieß die Worte förmlich hervor und fuchtelte unkontrolliert mit seiner rechten Hand herum. „In mir schlagen die Sorgen Purzelbäume, vernebeln meinen Verstand und lassen mich plötzlich Dinge empfinden, die ich zum einen verdrängt zum anderen nicht richtig gekannt hatte!“

„Das ist noch lange kein Grund, seine ganze Erziehung zu vergessen!“, entgegnete Steven.

„Ich wollte dich wirklich nicht vor den Kopf stoßen!“

Mittlerweile waren beide lauter als die Musik zuvor und sie konnten von Glück reden, dass sie allein im Auto saßen. Jeder andere hätte sie bereits entweder fluchtartig verlassen oder sie mit aller Gewalt zur Räson gerufen.

„Das fällt dir sehr früh ein!“

„Es tut mir leid!“

„Einem kommen solche Worte nicht von jetzt auf nachher in den Sinn!“

Für einen Moment warf Joe die Stirn in Falten. Hatte er ihn wohl doch nie als Vater angesehen?

„Ich war noch ein Kind! Und? Habe ich dich da jemals verachtet? Nein! Und das von vorhin tut mir wirklich leid!“ Seufzend ließ sich Joe zurück in seinen Sitz fallen. Irgendwas war in ihrer Unterhaltung mächtig schief gelaufen. „Du bist ein guter Vater“, meinte Joe nun um einiges leiser.

„Und das soll ich dir jetzt noch glauben?“

’Ja!’, schrie es in Joe, aber die Bestätigung drang nicht über seine Lippen. Stattdessen entwich ihm lediglich ein Stöhnen, dass Steven auch noch falsch auffasste. Ernüchtert blickte dieser ihn an, aber nur kurz, danach beschränkte er seine Aufmerksamkeit wieder auf das Fahren.
 

/Seit wann bin ich ein solcher Idiot?...

Ich sehe, wie enttäuscht er ist und schaffe es nicht, ihm die Wahrheit konkret zu vermitteln. Alle Sätze von mir klingen wie billige Ausreden und beleidigte Phrasen…

Das bin nicht ich!

Verdammt! Was ist mit mir nur los?/
 

Bei Rick fand er doch auch immer die richtigen Worte, zumindest glaubte er das. Weshalb gelang ihm das nicht bei Steven? In seinem Kopf drehte sich alles und seinen Vater derart erbost und zugleich tief traurig zu sehen machte seine Situation nicht besser, bewirkte vielmehr, dass er sich in der Tat wie ein Trottel fühlte. Wenn er Rick nicht bald finden würde, würde er durchdrehen. Dabei waren sie nicht einmal in Veneawer angekommen…
 


 

Die Stille wurde zunehmend zur reinsten Tortur. Wie oft wünschte man sich ein wenig Ruhe und bekam sie nicht? Doch diese nagende Einsamkeit im Einklang war kaum zu ertragen. Verzweifelt schlug Rick auf die Tür ein; seine Hände waren bereits wund, doch er konnte einfach nicht mehr damit aufhören. Hörte ihn denn keiner? Er wollte hier raus! Raus aus diesem verwahrlosten, kalten, stupiden Raum!

„So helft mir doch!“, krächzte er. Aufgrund der vielen Schreie, die er schon von sich gegeben hatte, war er ganz heiser geworden.

Er wollte seinen Entführer nicht reizen, aber die Minuten wurden in diesem Zimmer zu endlosen Stunden. Quälend schlichen sie dahin und brachten nichts als aussichtsloses Schweigen und Trostlosigkeit. Der Drang in ihm wuchs unaufhörlich, endlich wieder an die frische Luft zu kommen und die Natur zu sehen, die momentan durch das Weiß strahlte. Die Bäume, die hoch in den Himmel ragten, die weiten schneebedeckten Grasflächen, den gefrorenen See… Aber ihm waren all die schönen Dinge verwehrt und das Gefühl der Isolation behagte ihm nicht, schnürte stattdessen sein Herz vielmehr immer weiter zusammen.

„Ich muss hier raus!“

Warum vernahm ihn denn keiner?

Nur vage konnte er sich an die Fahrt hierher erinnern. Er hatte kaum mitbekommen, wohin er gebracht worden war, denn alles war mit einem Mal verschwommen gewesen. Sein Kopf hatte sich ganz schwer angefühlt und dann hatte er wohl das Bewusstsein verloren. Denn das nächste in seiner Erinnerung war das Wachwerden in diesem lieblosen, beängstigenden Raum. Und nun hämmerte er seit einer kleinen Ewigkeit auf die Tür ein und wurde nicht erlöst. Seine Hände schmerzten, sein Kopf hatte damit noch gar nicht aufgehört und er war sich der Tatsache bewusst, dass er gefangen war. Festgehalten, ohne Trinken, ohne Essen, ohne Hoffnung, ohne Joe. Vermutlich würde er seinen Freund nie wieder sehen…

Kraftlos sank er an das Holz und glitt an ihm hinab, bis er auf dem Boden kauerte. Ein letztes Mal schlug er auf die Tür, die den erzeugten Laut einmal zurückwarf, der gleich darauf aber verstummte. Er wollte Joe noch einmal sehen, ihm noch einmal sagen, dass er ihn liebte. Wieso nur? Wieso war er hier? Was wollte dieser Kerl von ihm? Warum gab er ihm nicht wenigstens einen Grund, hier zu sein?

Die völlige Ungewissheit über sein Dasein hatte seine Verzweiflung erst so richtig genährt und ihn wie einen Verrückten auf die Tür einschlagen lassen. Er wusste nicht, weshalb er an diesem Ort war, gefangen wie ein Tier in einem Käfig. Diese Grundlosigkeit war wie ein Messer, das sich tief in die Brust bohrte. Wenn er wenigstens einen Anhaltspunkt hätte, einen winzigkleinen Hinweis, weshalb man ihm das antat, wäre der Schmerz vielleicht ein klein wenig zu ertragen gewesen. Doch er hatte keinen!

„Warum?“, presste er zwischen seinen Lippen hervor. „Warum?“ Er schloss die Augen. „Joe?“, wisperte er. „… Joe?“



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  smily
2007-02-28T15:32:11+00:00 28.02.2007 16:32
Irgendwie ist es doch klar, dass Steven sich so aufregt! Ich meine ich würde auch ausrasten wenn mir jemand, den ich seit Jahren zu meiner Familie zähle, so etwas sagt! Schon klar, Joe ist nur wütend gewesen, aber trotzdem ist es zu heftig!
Ich kann mir gut vorstellen, dass Rick so schnell wie möglich da raus will! Er ist ja auch in einer fast auswegloser Situation.
Ciao,ciao
smily
Von:  inulin
2007-02-28T15:21:50+00:00 28.02.2007 16:21
Ich kann Joe gut verstehen. Das einem die Worte in so einem Moment fehlen, wo sie wirklich wichtig wären.
Aber um Rick mach ich mir echt Sorgen... Diese Warterei macht einen ja noch ganz Tröte. @_@
Er wartet ja quasi nur auf den fremden Kerl, dass er zu ihm kommt.
Und Joe könnte wider Erwarten in eine vollkommen falsche Richtung fahren. *seufz* Aber das wollen wir mal nicht hoffen.


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