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Heilloser Romantiker

von

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Kapitel 15

Kapitel 15:
 

„Morgen ist es also so weit?“

„Ja“, antwortete Rick und hielt einen weißen Schal in den Händen, hielt ihn sich vor die Augen und schloss, als sein Blick verdeckt war, die Lider.

„Und das soll das Erkennungszeichen sein?“

„Auch das hast du richtig verstanden.“

„Dann kann ja gar nichts mehr schief gehen.“
 

Zwei Tage war es her, dass der Dunkelhaarige ’Einsame Seele’ einem Treffen zugesagt hatte. Seitdem hatten sie nur noch kurze Mails, die den Tag und den Ort verkündeten, hin und her geschrieben. ’Einsame Seele’ hatte es trotz der wenigen Worte irgendwie immer wieder geschafft, einen tieferen Sinn zu vermitteln, den Rick stets hatte nachdenklich werden lassen.

Nun saß ihm Joe gegenüber und ging mit ihm die Details durch, hatte sie nun schon zum zweiten Mal erfragt.
 

„Nun mag ich aber nicht mehr darüber reden,… wird schon alles klappen.“

„Dann schlage ein besseres Thema vor.“

„Wie wäre es damit, dass du mir verrätst, was du in den letzten zwei Tagen gemacht hast?“
 

Tatsächlich hatte Rick seinen besten Freund über achtundvierzig Stunden nicht mehr gesehen. Über all dem Grübeln, welches Ambiente perfekt für das Treffen mit ’Einsame Seele’ sei, hatte er kaum an Joe gedacht und es hatte ihn irgendwie auch nicht gestört, dass er sich nicht gemeldet hatte. Schließlich hatte es auf Gegenseitigkeit beruht und das war okay gewesen. Doch nun interessierte es ihn schon brennend, was der Blonde erlebt hat, denn das kleine Organ in seiner Brust verkündete, dass er das erfahren wollte, insbesondere um Joe glücklich zu wissen.
 

„War mit Julia unterwegs.“
 

Sonst antwortete Joe doch auch nicht so knapp, schmückte vielmehr seine Erlebnisse aus. Verwundert sah Rick sein Gegenüber an und spürte den sachten Schmerz, der von dem kleinen Stich im Herzen kam.
 

„Was habt ihr schönes gemacht?“
 

Rick konnte nicht anders. Wenn er nicht mehr herausfinden würde, würde ihn das nicht mehr loslassen.
 

„Wir waren in diesem neuen Museum, du hast sicher von seiner Eröffnung gehört.“
 

Was hatte Joe nur? Warum tat er die letzten Tage einfach ab, als ob nichts passiert sei? Rick vermisste den Joe, der seinen Mund nicht mehr zubekam, denn er selbst war doch schon still und nachdenklich genug, da konnte sein Freund nun nicht auch noch damit anfangen, sich mit Informationen zurückzuhalten.
 

„Geht das auch ein wenig ausführlicher?“

„Die Führung war schon toll, denn man durfte manche Ausstellungsstücke berühren und hochheben. Es ging nicht so streng zu wie in anderen Museen, wo man bei der kleinsten Annäherung an ein Werk von einem Wärter halb des Hauses verwiesen wird.“

„Wie läuft’s mit Julia?“
 

So schwer von Begriff konnte Joe doch gar nicht sein!
 

„Gut.“
 

Rick legte seinen Kopf auf den Tisch. /Das kann nicht wahr sein!/
 

„Schläfst du nun hier ein oder was wird das?“

„Selten so gelacht“, murmelte Rick in seinen nicht vorhandenen Bart hinein.

„Mh, tu dir keinen Zwang an, denn ich muss eh los.“
 

Mit einem Mal fuhr Rick hoch, glaubte, sich verhört zu haben. Joe wollte schon wieder gehen? Er war nicht mal eine Stunde da und wollte schon wieder ’Tschüs’ sagen?
 

„Was wartet denn so dringend auf dich?“

„Eher w-e-r!“

„Oh, okay.“
 

Voller Enttäuschung ließ er seinen Freund gehen und empfand eine Stunde einfach viel zu kurz, als dass er sich damit zufrieden geben könnte. Hätte er sich nur nicht nach dieser Kellnerin erkundigt, vielleicht wäre Joe dann noch bei ihm geblieben. Natürlich war das ein Hirngespinst von Rick, doch man konnte sich so vieles einreden, wenn man eine andere Tatsache einfach nicht wahrhaben wollte. Grummelnd nahm er das Glas in die Hand, aus dem Joe getrunken hatte, und hielt es sich selbst an die Lippen, nippte an der Flüssigkeit, die sich noch darin befand. Wehmütig floss das Wasser seine Kehle hinunter.
 

/Dann triff dich doch mit diesem blöden Weib!… Du weißt ja nicht, wie sehr du mich damit verletzt, weshalb ich dir keine Vorwürfe machen kann… Aber du solltest wissen, dass es weh tut, wenn du mir Dinge verschweigst… Wo ist deine Offenheit nur hin?

Du kamst zwar zu mir und sprachst eigentlich wie immer mit mir, aber als es um dich ging, weichtest du aus… Kannst du mir sagen, weshalb?/
 


 

Nach Stunden der verzweifelten Ablenkung klingelte sein Handy.
 

’Viel Spaß mit ’Einsame Seele’, Gruß Joe.’
 

Rick starrte auf das rote Display und den schwarzen Buchstaben, freute sich darüber, dass Joe an ihn gedacht hatte, auch wenn ein Satz alles war, was er empfangen hatte. Er zeigte aber, dass er ihm nicht egal war.

Nun konnte er leichteren Herzens zum Treffen gehen…
 


 

Mit dem weißen Schal vor sich auf dem Tisch wartete Rick ein wenig zu aufgeregt auf das Erscheinen von ’Einsame Seele’. Ja, er hatte ein paar Tage gebraucht, um sich zu dieser Entscheidung durchzuringen, aber nun saß er hier im Café und freute sich sogar ein wenig auf das Zusammentreffen. Da er nichts mit seinen Händen anzustellen wusste, griff er nach der kleinen Karte, die sorgfältig ausgerichtet in dem gläsernen Halter stand. Ruhelos schweifte sein Blick über die in feinen geschwungenen Lettern aufgelisteten Getränke, deren Namen er zwar las, sein Gehirn aber nicht verarbeiten konnte. Mit den Fingern seiner Rechten zupfte er sein seidenes dunkelblaues Hemd zurecht. Er dachte an die nette kleine Verkäuferin, mit der er vor gut zwei Wochen wirklich viel Spaß gehabt hatte. Ihre kritischen Bemerkungen zu all den Outfits, die er durchprobiert hatte, hallten in seinem Kopf, doch eine unter ihnen kristallisierte sich zunehmend heraus. Dazu mischte sich ihr hellauf begeistertes Gesicht, als er den roten Vorhang zum letzten Mal zurückgezogen hatte… Und nun wartete er gekleidet in Edel, anmutiger Ausstrahlung umgeben, auf einen Menschen, der ihm wirklich am Herzen lag, seine Liebe jedoch nie für sich gewinnen konnte. Er schien diesem Unbekannten eine Menge zu bedeuten, zumindest glaubte er das, und er hatte ihm keine Abfuhr erteilen können, das hatte er nicht übers Herz gebracht, zumal Joe ihm geholfen hatte, seinem inneren Twist Einhalt zu gewähren. Fürderhin war Rick neugierig. Nicht nur die noch offen stehende Frage, was der Vater dieser Seele verbrochen haben könnte, dass solch markerschütternde Mails die Folge waren, sondern auch seine aufkeimende Begierde, diesen Menschen kennenzulernen, waren Anlass für seine Gefühle.
 

„Hallo.“
 

Eine weiche Stimme ließ Rick aufblicken.
 

„Hi“, erwiderte er irritiert, wollte abwinken, doch sah der Person dabei zu, wie sie sich ihm gegenüber setzte.
 

/Ein Mädchen???/, schrie es in ihm und wollte sich dem Anblick widersetzen.
 

Eine zierliche Hand nahm seinen Schal und führte ihn zu einem rundlichen Gesicht, das von einem blassen Teint gezeichnet war. Die kleine Nase roch an dem weißen Stoff und ein zufriedener Gesichtsausdruck folgte. Rick war verdammt, schweigend zuzusehen, er fühlte sich seiner Sprache beraubt.
 

„Du wunderst dich bestimmt, dass ich ein Mädchen bin.“
 

Treffender konnte sie es gar nicht formulieren! Genau das und nichts anderes dachte Rick. Immer noch aller Worte ohnmächtig nickte er leicht.
 

„Ich wollte dir das nie verschweigen, doch es gab keine Gelegenheit, dir das zu schreiben.“
 

Ihr Finger gruben sich in Ricks Schal, den sie nicht mehr herzugeben wollen schien.
 

„Wenn du deine Stimme wieder findest, dann würde ich mich freuen, wenn du mir deinen richtigen Namen verraten würdest.“
 

Dunkle braune Augen, die erschreckender Weise vollkommen leer wirkten, sahen auf Rick, der einmal kräftig schluckte.
 

„Ich… heiße Rick“, entfuhr würgend seiner Kehle, die so trocken war wie ein Flussbett, das kein Wasser mehr führte.
 

„Amelia.“
 

Sie streckte ihm eine ihrer zarten Hände über den Tisch hinweg entgegen. Reflexartig ergriff er sie und spürte voller Entsetzen nur eisige Kälte, die sich unter seine Haut schlich.
 

„Wie… Ich meine… Die Online-Zeitung beinhaltet doch nur Annoncen von homosexuellen Männern… Wie kommt dann… ein Mädchen…“
 

Er schämte sich für sein Stottern, doch sein Hirn hatte das Arbeiten nicht wieder aufgenommen. Hundert Fragen schossen ihm durch den Kopf, von denen sich einfach keine einzige recht fassen ließ. Immer wieder entglitten die Worte seinem Verstand.
 

„Liegt das nicht auf der Hand?“
 

Sofort schüttelte der Dunkelhaarige den Kopf, er wusste wirklich nicht, was so offensichtlich daran sein sollte.
 

„Schwule Männer sind meist viel sensibler und netter“, begann Amelia zu erklären. „Sie nehmen einem Gefühle und tiefsinnige Worte nicht gleich böse oder tun sie mit einem verächtlichen Blick ab… Als ich deine Anzeige gelesen habe, musste ich es versuchen… Und hatte mit meiner Annahme ja wohl nicht so falsch gelegen.“
 

Die Sekunden dehnten sich zu Minuten und die weiche Stimme drang immer verzerrter an Ricks Ohren. Er war her gekommen, um den Mann, der hinter den Mails steckte, kennenzulernen, nur um festzustellen, dass es gar kein Mann war?

Mit einem Mal begann Rick zu lachen, was ihn irgendwie von seiner Befangenheit befreite. Er bettete seine Stirn in einer seiner Handflächen und sein ganzer Körper wippte auf und ab. Als die fröhlichen Klänge allmählich versiegten, besah er sich das Mädchen, das stirnrunzelnd den Blick erwiderte.
 

„Ich muss dir wohl Recht geben, Amelia. Damit müsstest du echt einen Preis verdienen.“

„Ach Quatsch, so denken viele Frauen.“

„Echt?“
 

Seine Überraschung tat sie mit einer lässigen Handbewegung ab und nahm dann die Karte, um sie zu studieren.
 

/Joe hat Recht, ich lasse mich viel zu leicht an der Nase herumführen, doch mit einem weiblichen Wesen habe ich nun mal nicht im Entferntesten gerechnet…/
 

„Wollen wir was bestellen?“ Amelia sah fragend auf.

„Warum eigentlich nicht.“

Mit einem Handzeichen verständigte Rick die Kellnerin, die mit einem leuchtend rosa Kugelschreiber die gewünschten Getränke notierte.
 

„Hast du den Schock überwundern?“
 

Die direkte Art von Amelia erinnerte ihn an ein kleines bisschen an Joe, der diese in letzter Zeit ja sehr zu seinem Bedauern größtenteils abgelegt hatte.
 

„Ich glaube, dass ich das mit einem hundertprozentigen ’Ja’ beantworten kann.“

„Schön, dann sag mir, warum deine Entscheidung, mich zu treffen, so lange auf sich warten ließ. Oh, das tut mir leid, ich wollte nicht unhöflich erscheinen, doch ich dachte, dass dich meine Mails vielleicht zu sehr eingeschüchtert haben und du deshalb keinem Treffen einwilligen wolltest. Weißt du, ich hatte vorher nie jemandem geschrieben, geschweige denn gesagt, wie ich wirklich fühle…“
 

Betretenes Schweigen löste den Redefluss des Mädchens ab, das mit Wohlwollen die kleine cremefarbene Porzellantasse der Kellnerin abnahm, die ein ’Meldet euch, wenn ihr noch etwas braucht’ runterspulte und sogleich den nächsten Bestellungen nachging. Rick musterte sein Gegenüber, wollte Amelia einschätzen lernen, wollte sagen können, ob er sie mochte oder nicht. Ihre Mails waren ihm sehr nahe gegangen, er hatte ihr ein guter Ansprechpartner sein wollen und niemand, der sie verstößt oder ungerecht verurteilt. Dass sie nun ein Mädchen war, durchbrach seine fein säuberlich zusammengebaute Vorstellung, es passte nicht zu dem, was er erwartet hatte. Und was steckte zudem hinter ihren Worten? Er fand es verflucht schwer, ihren unbekümmerten und fast zwanglosen Rededrang den tiefgründigen Mails zuzuordnen. Aufgrund all dessen konnte er nicht mit Bestimmtheit sagen, was nun noch auf ihn zukommen würde.
 

„Ich war ziemlich überrascht“, begann der Dunkelhaarige endlich und brach damit die unangenehme Spannung, die sich zwischen ihnen aufgebaut hatte. „Du erzähltest mir Dinge, die mich erschütterten und ich versuchte dir… irgendwie ein Freund zu sein.“

„Das bist du auch!“, warf Amelia betont ein.

„D-Danke, dass du das so siehst. Ich… ich bin es nicht gewohnt, dass mich jemand so schnell als einer ansieht… oder überhaupt…“

„Du möchtest mir doch nicht gerade ernsthaft sagen, dass du keine Freunde hast!?“

Amelia klang so ungläubig, dass Rick nur die Hände hob und entschuldigend blickte. „Einen…“
 

/… der mir mehr bedeutet als alles andere…/
 

„Glaube mir, die Menschen, die dich missachten, sind vollkommene Idioten.“
 

Ricks Augen weiteten sich, er begann aber gleich darauf zu lächeln, von Amelias Aufgebrachtheit verleitet. Sie setzte sich für ihn ein, das war so viel mehr, als er mit Ausnahme von Joe von seinen Mitmenschen kannte.
 

„Übertreib’ nicht gleich.“

„Was heißt hier Übertreibung? Ich kann diese Ignoranz und Oberflächlichkeit meiner Umwelt nicht ausstehen. Wenn sie sich mal die Zeit nehmen würden, dich kennenzulernen, dann könnten sie man feststellen, dass es nicht nur egozentrische Selbstherrlichkeit auf der Welt gibt.“
 

Flüchtig nippten ihre Lippen am Tee, der ihre Aufmerksamkeit aber nicht auf sich zog. Vielmehr fixierte sie Rick, der berührt auf seinem Stuhl hin- und herrutschte.
 

„Gerade deine Zurückhaltung und Freundlichkeit“, Amelia setzte erneut an, „machen dich interessant, nur sehen das die Menschen von heute als Hindernis für Karriere und Zukunft. Was will man denn mit einem guten Job und viel Geld, wenn man die wahren Werte nicht kennt? Hach, das macht mich tierisch wütend!“
 

Tatsächlich ballte sie ihre Hände zu Fäusten und schlug eine davon auf den Tisch. Die Kraft, mit der sie das tat, verwunderte Rick, denn die Zierlichkeit, die sie ansonsten ausstrahlte, war einfach zu konträr. Irgendwie beeindruckte ihn das Mädchen. Sie brachte all das auf den Punkt, was er auch an der Welt bedauerte.
 

„Menschen behandeln einen nur solange gut, bis sie haben, was sie wollen“, bemerkte Rick, halb in seinen Gedanken versunken.

„Wenn sie dich ausgenutzt haben, werfen sie dich weg wie ein benutztes Taschentuch“, fuhr Amelia fort.

„Falls sie aber das nicht bekommen, was sie von dir begehren, dann trampeln sie auf dir herum und spielen mit dir, bis sie ihre Unzufriedenheit doppelt und dreifach gerächt haben“, sprach nun Rick wieder.
 

Ihn freute es, dass sie sich so gut verstanden. Aus der Erfahrung anderer wusste er, dass sich Menschen im Internet verstellten und real dann ganz andere Facetten an den Tag legten. Amelia war anders; ihre Worte spiegelten ihre Mails wider. Das imponierte Rick und er fand Gefallen an einem Mädchen, was er vorher nie für möglich gehalten hatte. Schließlich waren es die weiblichen Geschöpfe dieser Erde, die ihm sein Glück immer streitig machen wollten. Nun saß davon eines vor ihm, eines der Wesen, das ihn so oft Abneigung empfinden gelassen hatte, und es erfüllte sein Herz mit Wärme. Lächelnd fuhr er sich durch das dunkle Haar und nickte ihr zu.
 

„Und aus all diesen Gründen sitzen wir nun hier.“

„Ich könnte fast froh sein, dass alles so gekommen ist.“

„Sage so was nicht, denn das meinst du nicht so.“

„Da hast du wohl Recht.“
 

Sie lächelte schwach. Allzu deutlich erkannte Rick nun, wie leer ihr Blick tatsächlich war. Er entbehrte jedweden Glanz, ihre Augen waren einfach nur Zellen, die einem einzigen Zwecke dienten, nämlich zu sehen. Sie tat ihm leid, auch wenn er ein solches Gefühl als völlig falsch befand. Und dennoch empfand er es.
 

„Weshalb hast du dich entschieden, dich jemandem anzuvertrauen?“
 

Die Frage mochte indiskret sein und aller Höflichkeit entsagen, aber Rick wollte das Mädchen ein wenig mehr verstehen. Er wusste eigentlich rein gar nichts über sie. Dass sie der Groll gegenüber der Menschheit miteinander verband, war eine Sache, aber wer der Mensch dahinter war eine andere.
 

„Weil ich es allein nicht mehr schaffe, mich gegen die Dunkelheit zu wehren.“

„Sie verlockt…“

„Das habe ich geschrieben, ja. Und ich meinte das auch so. Stelle dir vor, von jetzt auch nachher verschwindet das Licht, das dich immer am Leben hielt, das dich schützend in seinen Armen wog. Was würdest du dann machen?“
 

Sofort dachte Rick an Joe und in ihm schnürte sich alles zusammen. Wenn Joe plötzlich nicht mehr da wäre, dann würde er mit einem Schlag alles verlieren, was ihm lieb und teuer und wichtig war.
 

/All mein Denken, all meine Gefühle sind auf ihn ausgerichtet. Er ist das Zentrum meines Seins, so wie die Sonne unseres Universums… Wenn die Sonne plötzlich implodieren würde, würden alle Planeten um sie herum sterben, so wie ich, wenn Joe mich verließe oder… ums Leben käme./
 

Seine Gedanken lasteten schwer auf ihm und er wollte sie sogleich wieder abschütteln. Ein paar Mal zwickte er sich ins Bein, wollte damit die Realität einholen, sich verdeutlichen, dass das Jetzt solch Unfassbares nicht bot.
 

„Ich würde innerlich sterben“, presste er zwischen seinen Lippen hervor.

„Würdest du noch am Leben festhalten können?“
 

Der Inhalt der Frage vernebelte Ricks Verstand. Er brauchte eine Weile, bis er ihn verarbeitete, dann zuckte er mit den Schultern, wollte ausdrücken, dass er das so nicht sagen konnte.
 

„Meine Zweifel, ob ich es noch lange kann“, setzte Amelia leise an, „trieben mich, jemandem zu schreiben. Dass dieser jemand du warst, war reiner Zufall. Aber ich bin wirklich froh, dass es dich getroffen hat.

„Wenn es das nicht hätte, dann säße nun ein anderer hier.“
 

Rick traute seinen eigenen Worten kaum. Seit wann war denn dermaßen unsensibel?
 

„Meinst du?“, entkam es ironisch ihren Lippen.

„Naja…“ So ganz glaubte er selbst nicht daran.

„Gut, dann haben wir das geklärt.“
 

Zum ersten Mal sah er nun ein ehrliches Lächeln auf ihrem Gesicht, das zwar nur kurz anhielt, aber doch existent gewesen war. Lediglich sein Selbstkomplex hatte es heraufbeschworen, doch was machte es schon, wenn er im Gegenzug ’Einsame Seele’ lächeln sehen durfte?

Beseelt griff er nach seinem Glas und trank einen Schluck Wasser, befeuchtete seine Kehle, die nach Flüssigkeit lechzte.
 

„Konnte ich deine Zweifel beseitigen?“ Seine Stimme klang fest und zeigte seine Unsicherheit nicht, die er beim Fragen empfand.

„Du bist auf gutem Wege… und doch füllt sich mein Sein nicht mit Kraft.“
 

Er verstand nicht ganz, was sie meinte, und runzelte die Stirn, legte den Kopf ein wenig schief.
 

„Mein Körper ist eine Hülle“, fuhr sie fort, „die der Finsternis keine Hindernisse zu bieten hat. Erst deine Mail brachte einen kleinen Funken zum Erglimmen… zu schnell erlosch er in dem Nichts.“
 

Obwohl Rick förmlich an Amelias Lippen hing und jedes ihrer Worte in seinem Kopf studierte, fühlte er selbst Blicke auf sich ruhen. Die von dem Mädchen konnten es nicht sein, denn sie hatte ihre Augen abgewandt, schaute auf ihre Hände, die gefaltet auf dem runden Tisch zwischen ihnen lagen. Ein kleiner Schauer lief ihm den Rücken herunter und er konnte sich diese seine Körperfunktion nicht erklären. Zu sehr folgte er den Ausführungen Amelias, als dass er dem Grund für die plötzliche Unruhe in ihm nachgehen konnte, wollte.
 

„Eine Silbe von dir genügt schon, um mich dem Dunkel ein kleines Stück zu entreißen… ich fürchte nur, es reicht nicht aus.“
 

Unbewusst legte Rick seine Hände auf ihre, suchte ihren Blick auf und sah sie fest an.
 

„Sag’ mir, wie ich dir helfen kann.“
 

Sie presste ihre schmalen Lippen aufeinander, zog ihre Hände unter seinen weg, faltete sie in ihrem Schoß. Falls er einen Moment lang Glanz in ihren braunen Augen gesehen haben sollte, dann konnte er sich davon nun nicht mehr überzeugen. Ihre Iriden glichen wieder dunklen Schatten, die ja keinen Ausdruck in sich tragen wollten.

„Du… kannst mir nicht helfen… außer…“

„Außer“, wiederholte Rick mit Nachdruck.

„Das kann ich dir nicht zumuten!“

„…vielleicht ja doch.“
 

Da war wieder dieses Gefühl des Beobachtetwerdens! Schon zum zweiten Mal und völlig ohne Vorwarnung und im unpassendsten Moment. Er wand sich von Amelia ab und suchte verstohlen das Café ab, konnte mit seinen flüchtigen, doch genau inspizierenden Blicken nichts Ungewöhnliches ausfindig machen. Da war keiner, der ihn anstarrte, geschweige denn überhaupt beachtete.
 

„Wie vermagst du so etwas zu sagen, wenn du mit deinen Gedanken woanders verweilst?“
 

Der Vorwurf ließ ihn zurück auf das Mädchen blicken, das seinen Schal verächtlich vor ihm auf den Tisch warf.
 

„Nein… bitte, es war nur, weil… es tut mir leid, ich…“

„Spar’ dir deine Ausflüchte.“

„Aber es sind keine, ich war nur… irritiert, dass…“

„Ich bin Ausreden leid!“

„Moment! Geh’ nicht!“
 

Verdammt! Was hatte sie auf einmal? Er hatte doch nur um sich gesehen, nichts weiter! Und doch schien sie es verletzt zu haben.
 

„Ich möchte dir helfen, ehrlich. Ich schwöre es.“

„Schwöre nie, was du nicht halten kannst“, waren ihre letzten Worte, bevor sie davonlief.
 

Perplex sah er ihr nach, konnte einfach nicht begreifen, was eben geschehen war. Sie war einfach gegangen und hat ihn hier sitzen lassen. Ihm war seltsam zumute. Er hätte es ihr hoch und heilig geschworen, ganz sicher sogar. War sein Wille unbedacht? Gar einfach nur dahergesagt?

‚Nein!’, meinte eine Stimme in ihm. /Ein Schwur ohne Überzeugung ist nicht deine Eigenart!/

War ihr das denn auch bewusst? Hatte sie das aus seinen Mails und seiner Anwesenheit hier nicht lesen können? Vor was lief sie davon? Wohl nicht vor ihm… oder doch?

Seufzend legte Rick einen Geldschein auf den Tisch. Als er nach seinem Schal griff, überkam ihn eine Welle des Versagt-zu-habens. Er sah auf den leeren Stuhl, der Amelia vor kurzem noch beherbergt hatte. Das nackte Holz stand ihm überhaupt nicht! Rick hätte sie am liebsten zurückgeholt, aber es war zu spät. Sie war gegangen und er konnte nicht mit Gewissheit sagen, ob er sie je wiedersähe.

Langsam stand er auf, löste sich aus der Melancholie des Anblicks und winkte der Kellnerin, dass sie Bescheid wusste, dass er nicht ohne zu zahlen gehen wollte.

Er war schon fast an der Tür, da tauchte dermaßen unerwartet ein großer, schwarzhaariger Mann in seinem Blickfeld auf, dass er ihn beinahe angerempelt hätte.
 

„Verzeihung“, nuschelte er und sah den Unbekannten dabei entschuldigend an, dessen markantes Gesicht und tiefdunkle Augen auf ihn gerichtet waren.
 

Schluck! Ganz langsam richteten sich Ricks Nackenhärchen auf, bescherten ihm ein Beben, das einfach nur gewaltig war. Er lief zwei Schritte zurück, tastete sich dabei mit seinen Fingern voran, um nicht irgendwo darüber zu stolpern. Er musste hier weg! Schnell! Mühsam senkte er den Blick und zwang seinen Körper, die andere Richtung, die, die nach draußen führte, anzusteuern. Er wankte, fasste sich dann aber irgendwie und huschte an dem Mann vorbei. Die Türglocke bimmelte freudig hinter ihm her.

Als er frische Luft in seinem Gesicht spürte, nahm er das Atmen wieder auf, das schlagartig ausgesetzt hatte. Nun wusste er, wessen Blicke er die ganze Zeit gespürt hatte! Mit einer Hand auf der Brust nahm er den Heimweg auf, fühlte seinen schnellen Herzschlag, der pochend in seinen Ohren vibrierte. Der Wind umspielte seine Haare und streifte sanft seinen leicht geöffneten Mund. Was ihm gerade durch den Kopf ging? – So vieles und doch nichts. Die letzte Szene wirbelte in seinem Verstand und ließ sich nicht recht fassen. Die Menschenmassen zogen rechts und links an ihm vorüber, waren nur Teil graustufiger Silhouetten, denen es auszuweichen galt. Den nebligen Schleier vor seinen Augen konnte er nicht durchdringen, er glich einem Gefängnis, aus dem er sich nicht befreien konnte…



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  inulin
2007-01-11T13:45:14+00:00 11.01.2007 14:45
Also mit einem Mädchen hatte ich jez absolut nich gerechnet.
Aber warum is sie so aufgebracht wieder weggelaufen und hatte Rick nicht ausreden lassen?
Und wer war dieser Kerl da? War das ihr Vater?
Ein tolles Kapitel. Auch wenn die Beziehung zu Joe irgendwie in den Hintergrund gerückt ist.
Ich frag mich was noch passiert.
Schreib schnell weiter, ja? ^^


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