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Aícanar

von

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Warten auf Befehle

Die Alte erhob sich und ging hinüber zu der Feuerstelle der kleinen Hütte. Mit einem bereits rußgeschwärzten dicken Stock stocherte sie zwischen den glimmenden Scheiten des Feuerholzes herum. Flackernd erwachten die Flammen zu neuem Leben. Die alte Frau warf einen Blick über die Schulter auf das immer noch zitternde Mädchen. „Mein Name ist Iselda, ich bin die Heilerin dieses Dorfes.“ Nichts als Stille folgte diesen Worten; offensichtlich hatte das Mädchen nicht vor sich ebenfalls vorzustellen. „Also gut, dann nicht!“, meinte Iselda mehr zu sich selbst als zu dem Mädchen.

Von einem Regal, das eine ganze Wand der Hütte überspannte, holte die Heilerin eine gefüllte Wasserschüssel. Sie streute einige getrocknete, zerbröselte Blüten in das Wasser und schob die Schüssel an den Rand des Feuers. Als das Wasser sich erwärmte, verbreitete sich der Geruch von Kamille in der kleinen Hütte. Mit einem wachsamen Auge auf die Wasserschale, trat Iselda wieder zu dem Regal. Von einem der unteren Borde nahm sie zwei Tücher und betrachtete kritisch deren leicht gräuliche Farbe. Sie seufzte. Diese Tücher würden reichen müssen. Mit den Lappen und der dampfenden Schale ging sie wieder zu ihrer verängstigten Patientin. Vorsichtig als wolle sie sich einem wilden Tier nähern, ließ sie sich auf dem Bett nieder. Trotzdem zuckte das Mädchen zurück und zog die Decke nur noch enger um sich.

„Ich muss den Verband um deine Schulter wechseln“, erklärte die Heilerin. Das blonde Mädchen reagierte nicht, starrte nur auf einen Punkt an der gegenüberliegenden Wand. „Bitte komm her. Wenn ich den Verband nicht wechsle wird die Wunde sich entzünden. Das kannst du doch nicht wollen“, sagte Iselda nachdrücklich.

„Du tust mir doch nicht weh?“, fragte das Mädchen mit der Stimme eines kleinen Kindes.

„Nein, ganz bestimmt nicht“, log Iselda. Sie wusste das es schmerzhaft werden würde den blutverkrusteten Verband von der Schulter zu entfernen. Doch ihr war auch klar, dass die Wahrheit ihrer jungen Patientin nicht helfen würde – und dass sie diese ohnehin gleich zu spüren bekäme. „Nun komm schon aus der Ecke ´raus“, lockte sie. „Ja so ist´s gut.“ Ruhig, aber bestimmt wickelte Iselda das Mädchen aus ihrer Decke. Danach wollte sie dem Mädchen das Nachthemd von der Schulter streifen, überlegte es sich aber anders. Das Mädchen würde es womöglich falsch verstehen.

„Du musst das Nachthemd ein wenig tiefer ziehen, damit ich den Verband wechseln kann.“ Ohne darauf zu warten dass das Mädchen ihrer Aufforderung nachkam – oder dagegen protestierte – begann Iselda eine ganze Reihe von Fragen zu stellen. Wo das Mädchen denn herkomme, was ihr widerfahren sei und wie sie in die Rhunschluchten komme. Ihren Namen könne sie auch ruhig verraten – oder sollte man sie immer nur mit ‚Mädchen’ ansprechen? Auch wie alt sie war würde Iselda ja gerne wissen.

Anstatt zu antworten, schien das Mädchen angestrengt nachzudenken.

„Kannst du dich nicht mehr erinnern?“, fragte Iselda verwundert. Nur um gleich darauf zu begreifen, dass ihre Patientin sich in aller Eile noch eine Geschichte auszudenken versuchte.

„Ich heiße Mara“, stieß das Mädchen schließlich hervor. „Ich und mein Vater, der Holzfäller ist, leben am Rand des Waldes. Ich wollte einen Spaziergang machen . . .“

„Allein im Wald?“

„Nein . . . nein, ein Freund war bei mir . . .“ Während das Mädchen – Mara, berichtigte sich die Heilerin selbst – stockend ihre Geschichte erzählte, tränkte Iselda den roten Brokatstoff des Verbandes mit dem Kamillenwasser. Anschließend entfernte sie den kundig angelegten Verband Streifen für Streifen. Mara war so in ihre Geschichte vertieft, welche sie sich offensichtlich mühsam ausdachte, dass sie nur leicht zusammenzuckte als Iselda den Stoff von ihrer Haut löste.

„Ihr wart also Pilze suchen, du und dein Freund“, nahm die Heilerin den Faden der Geschichte wieder auf. „Was ist denn aus deinem Freund geworden? Du bist hier gelandet, doch wo ist er?“

„Er ist tot! Der Elb hat ihn erschossen.“ Wild schluchzend vergrub Mara das Gesicht in den Händen. „Erschossen . . . !“

„Welcher Elb?“, erkundigte sich die Heilerin verwirrt.

Danach hielt Iselda einen Moment lang schockiert inne, während ihre Patientin vom Tod ihres Freundes sprach und davon wie sie selbst angeschossen wurde und in den Wald zu fliehen versucht hatte. Doch Iselda fing sich schnell wieder und setzte ihre Arbeit fort. Sie wusch die Wunde aus, stellte zufrieden fest, dass sie nicht entzündet war und wickelte dann eines der Tücher um die Schulter – vorher hatte sie es in passende Streifen gerissen und mit einer Heilsalbe bestrichen.

„Er hat unsere Sprache gesprochen!“, sagte Mara immer noch unter Tränen. „Er hat mir gesagt, er würde mich nicht töten. Dann hat er mein Kleid zerschnitten . . . mein schönes Kleid . . .“

„Hat der Elb dir den Ring gegeben?“, unterbrach Iselda.

Mara hatte sich – sofort nachdem die Heilerin sie freigegeben hatte – wieder in die Decke gewickelt und an die Wand zurückgezogen. Jetzt hob sie das tränennasse Gesicht von den Knien. „Was für einen Ring meint Ihr?“

Die Heilerin deutete auf das silbern glänzende Schmuckstück, welches neben ihr auf einem kleinen Nachtisch lag – und absolut fehl am Platze wirkte. „Hat der Elb dir diesen Ring geschenkt?“

„Nein . . . vielleicht, ach ich weiß es einfach nicht. Ich weiß nur wie er mir den Pfeil aus der Schulter gezogen hat. Es hat so wehgetan . . . so weh . . .“ Erneut begann das Mädchen zu schluchzen.

„Bald wird die Wunde wieder heil sein“, versuchte Iselda zu trösten, dachte dabei jedoch an die anderen Verletzungen des Mädchens, die vielleicht niemals heilen würden. Vom Nachttisch nahm sie einen Becher und drängte ihn Mara in die Hand. „Hier trink das, dann wird deine Schulter nicht mehr so schmerzen und du wirst gut schlafen.“

Gehorsam leerte Mara den Becher und legte sich hin. Ihre Haare breiteten sich wie ein goldenes Tuch über ihr Kopfkissen.

„Wie ging es dann weiter?“, fragte die Heilerin

Mit weit aufgerissenen Augen blickte Mara hinauf zum Strohdach der Hütte, während sie versuchte sich an das Geschehene zu erinnern. „Ich weiß es nicht. Ich bin ohnmächtig geworden. Später lag ich auf dem Rücken eines Pferdes und es hat mich jemand festgehalten . . . vielleicht habe ich das aber auch nur geträumt. Danach . . . dann“, das Mädchen sprach nicht weiter. Ihre schreckgeweiteten Augen hatten sich geschlossen. Ihr Atem ging bereits langsam wie der einer Schlafenden. „Der Elb . . . er hatte so leuchtende Augen“, murmelte Mara noch, dann war sie wirklich eingeschlafen.

„Den Rest erzählst du mir dann ein anderes Mal, kleine Lügnerin“, meinte Iselda.
 

Die Heilerin fädelte den Ring auf einen der blutigen Brokatstreifen und steckte beides in eine der vielen Taschen ihres weiten Rockes. Dann nahm sie ihren Mantel vom Haken neben der Tür und verließ leise ihre Hütte.

Nachdem sie ihre Nachbarin gebeten hatte ein Auge auf ihre Behausung zu haben, machte sich Iselda auf den Weg. Ihr Ziel war das größte Haus des Dorfes, die Ratshalle, wie die Verbannten es hochtrabend nannten. Ebenso wie die meisten anderen Häuser, Hütten oder Schuppen, war die Ratshalle aus grob behauenen Balken gefertigt und mit Lehm verputzt. Sie maß gut zwölf Schritt in der Länge und acht in der Breite. Ihre sich kreuzenden Dachgiebel endeten in zwei geschnitzten Stierköpfen mit langen Hörnern. Die anderen Häuser, so schien es, hielten respektvoll Abstand von der Ratshalle, wodurch rund um diese ein schlammiger Anger entstand.

Hatten die Ratsmitglieder – zu denen auch Iselda zählte – etwas zu verkünden, war dieser Platz von den Verbannten gefüllt. Jetzt jedoch schritt nur ein einzelner Mann mit weit ausgreifenden Schritten vor der Ratshalle auf und ab.

„Gut das du gekommen bist, Magnar“, grüßte Iselda ihn.

Magnar stoppte sein Herumwandern. „Wurde auch Zeit das du erscheinst, Kräuterweib. Lass uns ´reingehen“, knurrte er mit tiefer Stimme.

Iselda lächelte. War es nicht gerade der heißeste Sommer, fror Magnar sobald er seine Schmiede verließ – soweit man das ärmliche Provisorium das ihm als Verbanntem zur Verfügung stand als Schmiede bezeichnen konnte.

Die Heilerin betrat hinter Magnar die Halle. Ein einzelnes Kohlenbecken stand am Kopfende des großen Tisches, der den Raum beherrschte. In dessen wärmendem Umkreis saß ein bereits recht gebrechlich wirkender Mann, ein Junge von kaum vierzehn Sommern wärmte sich über den glimmenden Kohlen die Hände. Ansonsten war die große Halle mit der verrußten Decke und den, bis auf einen Gobelin, kahlen Wänden, leer. Nur schwach beleuchtet von den Kerzen, die vor dem Alten standen, wirkte sie größer als sie es eigentlich war.

Zielstrebig ging Magnar auf den alten Mann zu. Er nickte dem Jungen nur kurz zu, dann wandte er sich zu dessen Lehrer. „Iselda ist hier, um . . .“, begann der Schmied, brach aber ab, als der Greis zahnlückig grinsend eine Hand ans Ohr hob. „Iselda will uns erzählen wer das Madchen ist, das gestern gefunden wurde“, sagte Magnar, diesmal lauter.

„Nah, sag das doch gleich“, meinte der Alte. Er deutete auf die Bank, auf der auch er selber saß – eigentlich ein halber, aufgebockter Baumstamm – und fügte hinzu: „So setzt euch doch.“

Die Heilerin kam seiner Einladung nach, der Schmied allerdings scheuchte lediglich den Jungen nach draußen und nahm dann dessen Platz bei dem Kohlenbecken ein.

„Wer sie ist, kann ich euch leider nicht genau sagen“, begann Iselda „nur wer zu sein sie vorgibt.“

„O nein, Geheimnisse“, stöhnte Magnar abfällig.

„Und wer gibt sie zu sein vor?“, fragte der Alte, ohne auf den Schmied zu achten.

„Sie sagte mir sie sei die Tochter eines Holzfällers und heiße Mara“, antwortete die Heilerin.

„Aber du glaubst ihr nicht.“ Es war keine Frage, sondern eine Feststellung des alten Mannes.

„Nein, Ragas, ich glaube ihr nicht. Sie sagt das eine, doch dies hier erzählt eine andere Geschichte.“ Bei diesen Worten holte Iselda den Ring und den Streifenroten Brokats aus ihrer Tasche. Sie reichte beides an den Schmied weiter.

„Den Ring hat sie, ihrer Geschichte nach, von einem Elben erhalten. Der Stoff stammt von dem Kleid, welches sie trug als man sie fand.“

Magnar reichte den Ring hastig dem alten Schreiber, ebenso den Stoffstreifen. Ragas nahm beides vorsichtig entgegen. Er hielt den Ring gegen das Licht der Kerzen und drehte ihn langsam, wobei er ihn die ganze Zeit prüfend musterte. „Das ist wirklich ein schönes Stück und sicherlich einiges wert. Ein Gewand aus einem solchen Stoff könnte Unsereins sich niemals leisten. Auch ist Mara ein sehr edler Name und keiner wie die Frauen des gemeinen Volkes ihn führen“, meinte er schließlich. Er gab ihn Iselda zurück und fügte hinzu: „Wenn er ein Geschenk an deine Patientin war, sollte sie ihn bald zurückbekommen; Elben können sehr rachsüchtig sein, wie man sagt.“

„Willst du damit sagen, dass du das glaubst? Diese Mär um einen Elb der einer verirrten Jungfer hilft und sie reich beschenkt nach Hause geleitet“, Magnar schnaubte verächtlich. „Das Mädchen hat sich das nur eingebildet, das mit den Elben. Du hast dir den Stoff doch schon angesehen, aus dem ihr Kleid war. Sie ist nur eine verwöhnte Adelige und hat das Kleid und den Ring eben von einem reichen Verwandten geschenkt bekommen. Das ist alles!“

„Erstens, war es erst der Elb, der sie in den Wald trieb“, erwiderte Iselda mit schwerer Stimme „und zweitens ist sie keine Jungfer mehr. Mara ist auf grausamste Art und Weise zur Frau geworden.“

„War’s womöglich auch der Elb?“, erkundigte sich der Schmied spöttisch.

„Zügle deine Zunge Magnar, dein Spott ist jetzt nicht angebracht.“

Iselda kam einem Streit der beiden Männer zuvor, indem sie sagte „Das es der Elb nicht war, ist die weit schrecklichere Möglichkeit, denn das würde bedeuten, dass Mara von einem unserer Männer geschändet wurde.“

„Das kann nicht sein“, ereiferte sich Magnar.

Iselda sah ihn nur stumm an. Ragas schwieg ebenfalls. Er blickte zum Vorhang in der Türöffnung der Halle. Der Stoff, viel zu schwer als das der Wind ihn hätte bewegen können, schwang sanft hin und her. Der alte Schreiber schüttelte den Kopf, seine Augen blickten sorgenvoll. „Bald wird das ganze Dorf die Geschichte des Mädchens kennen, welches das Lager mit einem Elben teilte und nun seinen Schmuck trägt“, meinte er.

„Was soll dass heißen . . . ?“, dann dämmerte es Magnar. Fluchend stürmte er aus der Halle um Ragas Schüler einzuholen.

„Magnars Loyalität ist bewundernswert. Ich fürchte allerdings, dass es sehr wohl ein Mann aus unseren Reihen war“, meinte der Schreiber.

„Wahrscheinlich.“

„Wie geht es dem Mädchen?“

„Sie ist sehr verstört, fürchtet sich selbst vor mir und will gar nicht mehr aufhören zu weinen“, antwortete Iselda. „Eine Pfeilwunde hat sie in der Schulter, unzählige Kratzer an den Armen und vor allen Dingen an den Beinen und einige Prellungen. Selbst die tieferen Schrammen machen mir aber keine Sorgen, auch die Pfeilwunde wird bald verheilt sein, bei allem anderen jedoch bin ich mir nicht sicher.“ Die Heilerin sah zu Boden. „Ihr Körper wird in zwei oder drei Wochen wieder genesen sein, doch sie wird niemals vergessen was man ihr angetan hat.“

„Ich zweifle nicht an dir, aber ich glaube trotzdem, dass sie zuhause, umgeben von vertrauten Menschen, schneller gesund würde.“

„Mit Freuden schickte ich Mara heim, wüsste ich wo es sich befindet“, erwiderte die Heilerin spitz.

Ragas lächelte beschwichtigend. „Gut, dann werde ich einige Männer losschicken nach dem Vater des Mädchens zu suchen; oder nach anderem Wissen über sie.“

„Und ich werde versuchen Mara etwas mehr über ihre Geschichte zu entlocken“, sagte Iselda. „Vielleicht ist sie tatsächlich eine Adelige wie Magnar es meinte. Oder eine Holzfällertochter, wie sie es behauptet. Oder die geliebte eines Elben.“ Iselda sah Ragas scharf an. „Du hast doch auch bereits deine Vermutungen, oder?“

„Was ich habe ist nicht mehr als der leiseste Verdacht“, erwiderte der Schreiber mit einem halben Lächeln.

„Nun gut. Wer auch immer Mara ist – oder wer wir glauben das sie ist – sie wird bei und bleiben bis Conar zurückgekehrt ist und entschieden hat was mit ihr geschehen soll.“ Die Heilerin erhob sich von der Bank und strich ihren Rock glatt. „Auf Wiedersehen, Ragas“, verabschiedete sie sich.

„Auf Wiedersehen, Iselda. Schick den Jungen her, falls du ihn siehst, ja?“ Der Alte wandte sich wieder den Papieren zu, die vor ihm auf dem Tisch verteilt lagen.

„Das werde ich“, meinte Iselda und trat aus der dunklen Halle in einen trüben Tag hinaus.
 

Als die Heilerin in die Gasse vor ihrem Haus einbog, sah sie Mara neben ihrer Nachbarin vor deren Hütte sitzen. Diese bürstete Wolle aus, um sie später zu Garn verspinnen zu können. Das Mädchen reichte ihr, wann immer sie es verlangte, noch ungekämmte Wolle aus einem Sack zu ihren Füßen.

Besorgt beschleunigte Iselda ihre Schritte. Sie lief eilig zwischen den kleinen Hütten ihrer Nachbarn hindurch, wobei ihre Stiefel immer wieder bis zu den Knöcheln im Schlamm der aufgeweichten Gasse versanken. Bald schon konnte Iselda die Stimmen der Beiden durch die Gasse hallen hören; was die Beiden sich erzählten konnte sie allerdings der Entfernung wegen nicht verstehen. Die Heilerin hoffte nur, dass es nicht um Maras – noch ungeklärte – Herkunft oder ähnlich heikle Themen ging.

Als Iselda noch etwa zehn Schritte entfernt war, sah ihre Nachbarin auf und rief: „Ah, sieh nur, da ist Iselda wieder! Sei gegrüßt.“

„Seid mir ebenfalls gegrüßt ihr beiden“, erwiderte die Herankommende. Dann blieb sie mit in die Hüften gestemmten Fäusten bei den Beiden stehen. „Mara, du gehörst ins Warme, hier draußen ist es viel zu kalt für dich“, tadelte sie das Mädchen.

„Ach was, so ein Unsinn, mein Mantel hält sie schon warm genug.“ Eine wegwerfende Geste unterstrich die Worte der Nachbarin. „Oder ist dir kalt, Kindchen?“

„Nein . . . Gelina.“ Das Mädchen blickte schüchtern zwischen den beiden älteren Frauen hin und her. An Iselda gewandt fragte sie: „Darf ich bitte noch ein Wenig draußen bleiben? Gelina hat mir gerade vom letzten Mittsommerfest erzählt.“

Iselda trat noch einen Schritt auf ihre Patientin zu. Vorsichtig legte sie Mara eine Hand auf die Stirn. „Mit deinem Fieber solltest du eigentlich im Bett liegen,“ Iselda blickte streng in die blauen Augen des Mädchens „aber ein Bisschen frische Luft wird wohl nicht schaden. Hör dir die Geschichte ruhig an.“

Mara strahlte über das ganze Gesicht. „Vielen Dank.“

„Gib mir mehr Wolle“, verlangte Gelina. „Wo war ich noch gleich . . . ach ja, die Männer standen also unter der Eiche dort hinten . . .“

Iselda ging zu ihrer Hütten und ließ den Vorhang, der ihr als Tür diente, hinter sich zufallen und sperrte so die Stimme ihrer Nachbarin aus. Aus ihrem Regal fischte sie ein Brettchen, eine Schale, den dazugehörigen Mörser und einige Kräuter. Mit den Sachen auf dem Arm ging sie wieder zu ihrer Patientin und Gelina nach draußen.

„ . . . der Kerl hat sich so sehr erschreckt, dass er rückwärts in den Schweinetrog gestolpert ist. Conar meinte zu ihm, wenn er jetzt noch genug fräße, könne er im nächsten Jahr unser Mittsommerbraten werden. Ach, wie wir alle gelacht haben, als er sich schwankend und triefend aus den Trog gehievt hat – nun ja, er hat nicht gelacht.“

Iselda die mittlerweile auf einem Schemel bei den beiden saß, fügte hinzu: „Wir haben ihn aber doch nicht gebraten in diesem Sommer.“

„Obwohl ja genug an ihn dran gewesen wäre“, gab Iseldas Nachbarin grinsend zu bedenken.

Mara lächelte ebenfalls, wenn auch verhalten. „Bei uns passiert so etwas nie“, meinte sie wehmütig.

„Wie feiert ihr denn die Mittsommernacht?“, erkundigte sich Gelina mit hochgezogener Augenbraue.

Mara senkte den Blick auf ihre im Schoß liegenden Hände. „Es gibt ein Festessen und Musikanten“, antwortete sie schließlich „aber wir sind alle sehr ernst.“

Iselda warf ihrer Nachbarin einen warnenden Blick zu, der ihr zu schweigen gebot, doch Gelina achtete nicht darauf.

„Keiner hier im Dorf wäre reich genug Spielleute zu entlohnen“, sagte Gelina. Sie hatte aufgehört die Wolle zu kämmen und sah das Mädchen streng an. „Wie kommt es also, dass dein Vater es kann, als einfacher Holzfäller, der er ist?“

„Die Spielleute sind Freunde seiner Frau, die eine von ihnen war, bevor sie Maras Vater heiratete. Hast du es mir nicht so erzählt, Mara?“

Das Mädchen nickte eifrig. Innerlich seufzte Iselda, erleichtert darüber, dass Mara die Chance zum Rückzug erkannt und genutzt hatte.

Bevor Gelina, die nicht so recht überzeugt zu sein schien, etwas erwidern oder weitere Fragen stellen konnte, erinnerte die Heilerin daran, dass ihre Patientin Fieber habe und Ruhe brauche. Die Kräuter und Mörser und Stößel sorgsam mit der einen Hand auf dem Brett balancierend, half Iselda Mara mit der anderen Hand auf die Beine. Sanft, aber bestimmt schob sie das leicht schwankende Mädchen zu ihrer eigenen Hütte.

„Ich komme gleich wieder und bringe deinen Mantel mit“, rief Iselda über die Schulter zurück. Dann ließ sie den Türvorhang hinter sich und Mara herunterfallen. „Leg dich wieder hin“, wies sie Mara an. Sonst sagte die Heilerin nichts. Schweigend wartete sie darauf, was das Mädchen von sich aus sagen würde. Doch hinter Iseldas Rücken erklang nur das Rascheln der Decken als Mara ins Bett stieg.

Entweder ist sie genau daraufhin erzogen worden oder sie ist einfach stur, überlegte die Heilerin. Wäre Mara eine Adelige, könnte sie nur die Tochter des Herzogs Godhwar sein und als solche würde man sie dazu angehalten haben ihre wahre Herkunft zu verschweigen, damit man sie nicht als Geisel gefangen nähme. Ebenso, wenn sie die Tochter eines reichen Händlers wäre. Dementsprechend war es wohl zwecklos Mara – falls sie denn wirklich so hieß – mit Fragen zu bedrängen.

Iselda verstaute die Kräuter in den für sie vorgesehenen Krügen und schob diese wieder an ihre Plätze in dem Regal zurück. Danach versuchte sie durch kleine, überflüssige Tätigkeiten – mal schraubte sie jenen Tiegel auf und roch daran, mal setzte sie einen anderen ein Regalbrett höher oder tiefer, hier wischte sie eine Schale aus und dort prüfte sie die Schneide eines Messers – und ihre schweigende Anwesenheit, Mara doch noch zu einem Kommentar zu dem eben Geschehenen zu bewegen.

Als sich das Schweigen einige Minuten ungebrochen hingezogen hatte, gab Iselda auf. Sie wandte sich von dem Regal ab. Mara lag mit eng an den Körper gezogenen Beinen unter der Wolldecke, die Augen ein wenig zu fest geschlossen, den Mund leicht geöffnet.

Sie hat sich extra so hingelegt, dass ich ihr Gesicht sehen und mich davon überzeugen kann, dass sie schon schläft. Iselda schüttelte nur lächelnd den Kopf. Sie ging zum Bett hinüber. Aus ihrer Tasche holte sie den Elbenring und legte ihn zurück auf den Nachttisch. „Ich hoffe du verzeihst mir, dass ich den Ring ausgeliehen habe ohne dich zuvor zu fragen, schließlich gehört er dir.“ Nur gleichmäßiger Atem folgte als Antwort. „Wenn etwas ist, du weißt wo ich bin“, sagte die Heilerin. „Schlaf gut“, meinte sie noch, dann ging sie, als ob sie Mara tatsächlich schlafend glaubte, leise zur Tür. Iselda würde draußen ihrer Nachbarin bei den Vorbereitungen auf den nächsten harten Winter helfen.
 

Dieser brach eines Morgens weil zu früh über das Land herein. Eisige, schneebeladene Böen überzogen das Land mit einer weißen Decke, während die Bäume ihr farbenprächtiges Herbstlaub noch trugen.

Im Dorf der Verbannten wurden die letzten Tiere in ihre pferche getrieben, undichte Dächer mit einer weiteren Reetschicht bedeckt, die Früchte des Herbstes endgültig abgeerntet und eingelagert und alles sonst Notwendige getan.

Trotz der vielen Arbeit sorgte man sich um die Männer, die Ragas ausgeschickt hatte um etwas über Mara in Erfahrung zu bringen. Sollte der Schneesturm sie unvorbereitet getroffen haben, bestand die Gefahr, dass sie weder mit noch ohne neues Wissen wiederkehren würden.

Wie gewohnt taten die Verbannten ihre Arbeit – sechzig Jahre ohne größere Veränderungen ließen eine gewisse Routine entstehen – aber hin und wieder hielten sie inne um ihre sorgenvollen Blicke nach Süden zu wenden. Dorthin war Conar gezogen, der Mann, welcher als Oberhaupt des Rates seit Jahren die Geschicke des Dorfes lenkte, welcher den Verbannten den Mut, die Hoffnung und die Stärke gab, ihr hartes Leben zu meistern. Conar war nach Süden gezogen um dort einige erste Handelsbeziehungen zu knüpfen. Zwei Männer waren mit ihm aufgebrochen. Einer der Beiden, war bereits nach einem Monat bereits zurückgekehrt, die Nachricht im Gepäck, dass alles bestens laufe. Seitdem hatte man nichts mehr von Conar gehört.
 

Die Wochen vergingen. Der Winter zog seine kalten Klauen noch einmal zurück – durch das Dorf der Verbannten ging ein erleichtertes Aufatmen.

Iseldas Patientin wurde langsam gesund, die Wunde in der Schulter schloss sich und auch von den Kratzern an Armen und Beinen war nichts mehr zu sehen auf der weißen Haut des Mädchens. Doch Maras Misstrauen blieb, ja es wuchs sogar, so fürsorglich Iselda sich auch um sie kümmerte. Tagsüber war das Mädchen schweigsam und höflich, nachts schrie sie im Schlaf.
 

Seit vier Wochen war Mara nun schon im Dorf der Verbannten. Iselda hatte sie bei sich aufgenommen, und ließ sich im Gegenzug dafür von Mara helfen. Anfangs stellte sich das Mädchen, dessen zierliche helle Hände sichtlich noch keine schwere Arbeit getan hatten, recht unbeholfen an. Doch sie lernte schnell.

So kam es, dass die Heilerin Mara, die nu eher ihre Gehilfin, denn ihre Patientin war, eines Morgens auf einen Gang außerhalb des Dorfes mitnahm. Iselda führte sie in eine besonders breite bewaldete Schlucht. Auf der Anhöhe vor dem Tal stehend, gab Iselda zwei Beutel (der eine gefüllt mit Brot und einem Apfel, der andere noch leer) und ein kleines Messer an Mara weiter. Ihren eigenen Rucksack wieder auf die Schulter schwingend, deutete Iselda auf die silbernen Kaskaden eines Wasserfalls. „Bleib immer dicht am Wasser, dann verirrst du dich auch nicht“, beruhigte die Heilerin. Mara nickte zerstreut, ganz in den Anblick der urwüchsigen Landschaft vertieft.

„Wir treffen und mittags am Wasserfall“, fügte die Heilerin hinzu.

Wieder antwortete ein zerstreutes Nicken.

Doch dann richtete Mara den Blick plötzlich auf Iselda. „Wenn ich mehr Pilze sammle als ihr, darf ich mir dann einen Tee kochen?“

„Aber nur dann“, meinte Iselda und lachte.

Damit begannen die Beiden ihren Abstieg in das Tal. Mara hielt sich, wie von Iselda angewiesen, an die westliche Seite des Tals –jene mit dem Wasserfall. Die Heilerin selbst ging die Anhöhe in östlicher Richtung hinab. Kurz fragte sie sich, ob es wirklich in Ordnung war, das Mädchen allein losziehen zu lassen. Sie schaute Mara nach, die mit fröhlich pendelndem Zopf und schnellen Schritten zwischen den Bäumen verschwand, und beschloss ihr nicht zu folgen. Stattdessen ging sie auf die östliche Steilwand zu. So oft war Iselda schon hier gewesen. Dass ein schwach erkennbarer Pfad zu den Stellen führte, an denen jene Kräuter wuchsen, sie Iselda als Heilerin oft brauchte.

Auch dieses Mal folgte sie dem sich um Bäume und durch Unterholz schlängelnden Pfad. Im Zickzack ging es den geröllübersäten Abhang hinab. Zwischen den scharfen Gesteinsbrocken hatten Brombeersträucher Wurzeln geschlagen und waren zu dichten Hecken gewachsen, durch die sich nur Iseldas Weg wand. Mit grimmigen, kleinen Dornen versuchten die Brombeersträucher ihre Früchte zu schützen. Iselda pflügte nur die leicht zu erreichenden, bevor sie unter die Bäume trat, wo des abgeschwächten Lichtes wegen die Brombeersträucher erst weniger wurden und schließlich ganz zurückblieben. Dafür erstreckte sich im Schatten der Baumkronen ein ganzes Meer von herbstbraunen Farnwedeln, Hahnenfuß und Moos.

Jetzt im Herbst war die Zeit um Wurzeln zu ernten, wie Iselda wusste. Deshalb folgte sie dem Pfad zu einem kleinen, ebenfalls von dem Wasserfall gespeisten Teich. Zügig schritt sie aus und war bald angekommen. Sie legte ihren Rucksack zwischen die allgegenwärtigen Brennnesseln und begann mit der Suche nach geeigneten Wurzeln. Stets darauf bedacht die Pflanzen nicht zu sehr zu beschädigen, begann Iselda zuerst einige Brennnesseln auszugraben. Mit einem alten Tuch zwischen ihre Haut und den feinen Stacheln wusch sie anschließend die Erde von den ausgegrabenen Wurzeln. Danach wandte sie sich einer weiteren Pflanze und deren Wurzeln zu, der Schwarzwurz. Statt diese wie die Brennnesseln ganz aus dem Boden zu ziehen, legte sie nur die Wurzeln frei und schnitt soviel wie möglich ab; was Iselda zurückließ, würde der Pflanze reichen sich zu regenerieren. Als nächstes – und letztes an diesem Ort – suchte sie nach der versteckt wachsenden Pestwurz. In diesem Jahr wuchs diese so zahlreich, dass die Heilerin sich keine Sorgen über deren Erneuerung im nächsten Jahr machte. Mit wohlgeübten Handgriffen schnitt sie die Wurzeln. Ihr Rucksack war zur Hälfte gefüllt, als Iselda sich wieder von den Knien erhob und mit in die Hüften gestemmten Händen den steifen Rücken streckte.

Sie blickte zur Sonne empor und stellte überrascht fest, dass sie bereits seit zwei Stunden in diesem Tal war – die Hälfte der Zeit hatte sie damit verbracht selbstvergessen die heilenden Wurzeln zu schneiden. Jetzt schulterte sie ihren Rucksack und machte sich auf den Weg zum Wasserfall, wo Mara – hoffentlich! – auf sie warten würde. Allerdings würde die Heilerin nicht den direkten Weg nehmen – soweit derartiges in einem Wald überhaupt möglich war – sondern unterwegs noch auf der einen oder anderen Lichtung halt machen, um zu pflücken oder auszugraben, was das Dorf für den Winter brauchen würde.

Geschäftig lief Iselda durch das Tal in Richtung Westen, Herbstlaub in Haar und Farn in den Falten ihres Rockes. Gerade kam sie an einem Haselstrauch an, der zwar seine eigenen Blätter verloren hatte, sich dafür aber in die Triebe der Misteln kleidete, da hallte ein Heller ein hoher Schrei durch das Tal. Durch das Echo klang es, als schrie gleich ein ganzer Chor vor Entsetzen.

So angstvoll der Schrei auch geklungen hatte, Iselda sammelte erst ihre Sachen ein, bevor sie losrannte. Ihr Weg war nicht mehr weit, das beständige Rauschen des Wasserfalls lag bereits in der Luft. Es wurde stetig lauter während die Heilerin eilig weiterlief. Es über tönte jedoch Maras panisch Stimme, die auf irgendjemanden einsprach, nicht. Plötzlich ertönte ein zweiter Schrei, diesmal eindeutig von einem Mann ausgestoßen, der Mara verstummen und Iselda schneller laufen ließ.

Das Rauschen des Wasser machte es unnötig sich vorsichtig zu nähern, daher schritt Iselda vom Knacken der Zweige unter ihren Füßen und dem Rascheln des Laubs begleitet auf eine sonnenbeschienene Wiese. Keiner der dort Anwesenden beachtete sie. Mara drückte sich mit weit aufgerissenen Augen und totenbleichem Gesicht an einen Baum. Vor ihr, die weißen Reißzähne weit gebleckt, stand ein großer rauchfarbener Wolf. Doch weder war er dem Mädchen zugewandt, noch schien Mara das Raubtier überhaupt zu bemerken. Sie starrte auf einen Mann, der, einen tropfenden Speer in der Hand, am Ufer des Beckens stand in welches der Wasserfall unablässig donnerte.

„T-tut mir n-nichts“, stotterte Mara. „Mein V-vater wird Euch reich entloh-lohnen, wenn Ihr mir nu-nur nichts tut. Mein Vater i-ist . . .“

Weiter kam ihre verängstigte Patientin nicht, denn Iselda trat unter der Tanne hervor, die sie verborgen hatte und herrschte den Mann an: „Mach das du wegkommst, Frigg!“ Der Angesprochene drehte sich um – ebenso wie der Wolf. Unter dem glühenden Blick des Tieres wäre Iselda am liebsten zurückgewichen, irgendwohin wo diese klugen Augen sie nicht finden konnten. Aber sie blieb. Widerstrebend wandte sie sich von dem Wolf ab und wieder Frigg zu. Dieser hatte seinen Speer mittlerweile auf den Wolf gerichtet.

„Ich habe gesagt du sollst verschwinden!“ Iselda sprach mit soviel Nachdruck wie möglich.

Versuchsweise machte Frigg einen Schritt auf das Ufer zu – er war vor dem Wolf so weit zurückgewichen, dass ihm das Wasser bis an die Oberschenkel reichte – was den Wolf erneut dazu veranlasste seine beeindruckenden Zähne zu fletschen. Den Speer schützend vor sich haltend, kam der Mann aus dem Wasser, langsam, Schritt für Schritt. Als er mit dem Wolf auf gleicher Höhe auf dem weichen, kurzen Gras des Ufers stand, verharrte er kurz und rannte dann plötzlich in den Wald davon. Seine Stiefel blieben einsam im Gras zurück.

Der Wolf schoss, ohne Iselda noch eines Blickes zu würdigen, in die entgegen gesetzte Richtung davon. Schnell gingen die Geräusche seines Laufes im Rauschen des Wassers unter.

Ein dutzend Schritte überbrückte die Distanz zwischen der Heilerin und Mara. Diese lag mit dem Gesicht gegen die Knie gedrückt und zur Kugel gekrümmt da. Ihre Hände zupften in abgehackten, zwanghaften Bewegungen am Saum ihres Rockes. Als Iselda sie berührte, schrie Mara auf.

Iselda trat einige Schritte zurück und setzte sich ins weiche Gras. „Der Mann ist weg, Mara, du brauchst keine Angst mehr zu haben . . .“ Mit möglichst ruhiger Stimme sprach sie auf das Mädchen ein. Währenddessen kochte in Iselda die Wut auf den nunmehr bekannten Schänder Maras. Wilde Flüche und Beschimpfungen schwirrten durch ihren Kopf, doch Iselda sprach mit sanfter Stimme beruhigende Worte. Als ihr nichts mehr zu sagen blieb, fing sie an eine alte Melodie zu summen.

„Als Dach die Himmelshalle weit . . .“, murmelte Mara mit tränenerstickter Stimme die erste Zeile des Lieds.

Gleichmäßig weitersummend erhob sich Iselda. Maras Messer lag nicht weit entfernt auf der Wiese. Die Heilerin ging hinüber, hob das Messer auf und entdeckte den Beutel, den Mara zum Pilze sammeln benutzt hatte zwischen den knorrigen Wurzeln einer Weide. Immer noch summend sammelte Iselda die Pilze ein, die das Ergebnis von Maras Such waren. Flüchtig registrierte die Heilerin welche Pilze durch ihre Hände zurück in den Beutel wanderten und dass das Mädchen erstaunlich gute Arbeit geleistet hatte.

„Werde ich mir einen Tee kochen dürfen?“ Mara hatte sich inzwischen aufgerichtet und beobachtete Iselda mit tränenfeuchten Augen und gerötetem Gesicht.

Verblüfft und so gerührt, dass sie Mühe hatte die eigenen Tränen zurückzuhalten, beeilte sich die Heilerin zu versichern: „Natürlich! Natürlich darfst du das!“

Eilig verstaute Iselda das Pilzmesser und den Beutel in ihrem Rucksack. Dann ging sie hinüber zu ihrem Schützling und dieses Mal zuckte Mara nicht zurück. Allerdings zitterte sie so sehr, dass sie ohne Iseldas Hilfe weder aufstehen, noch laufen konnte.

Also zog sie einen Arm des Mädchens über ihre Schultern und legte ihrerseits einen Arm um Maras Rücken. So machten sie sich auf den Rückweg. Auch dieses Mal folgten sie einem gewundenen Pfad durch den Wald, der hier auf der Westseite dichter und weniger von Unterholz durchsetzt war. Dennoch kamen sie nur langsam voran. In der frühen Walddämmerung stapfte Iselda entschlossen weiter und zog Mara mit, vorbei an den gewaltigen Stämmen alter Bäume und immer wieder über deren Wurzelgeflecht stolpernd.

Ich bin zu alt für so was, dachte Iselda, als sie Mara wieder auf die Füße zog – das Mädchen war über etwas gestolpert, was sich im Schatten der Bäume weder erkennen, noch überhaupt ausmachen ließ. Und sie ist zu jung für so etwas, fügte Iselda mit jäh wieder aufkeimendem Zorn hinzu; Maras schreckensbleiches Gesicht war das Einzige, was in der unter den Bäumen herrschenden Dunkelheit gut zu erkennen war.

Iseldas Gefühl nach brauchten sie lange um zum Waldrand und der daran anschließenden geröllübersäten Anhöhe zu gelangen. Darum war sie umso überraschter über das helle Licht, das sie empfing. Das Licht und der in den erstaunlichsten Farben getränkte Himmel, schienen auch dem Mädchen einen gewissen Auftrieb zu verleihen – angesichts solcher Pracht viel es schwer zu verzweifeln. Der Aufstieg über die losen Gesteinsplitter, zwischen den hartnäckigen Brombeeren hindurch, war weit einfacher als die Heilerin befürchtet hatte. Zwar stützte sich das Mädchen immer noch auf Iseldas schmerzende Schultern, aber sie lief nun mehr als das sie sich mitziehen ließ.

Auf der Kuppe der Anhöhe angekommen, ruhte Iselda sich kurz aus. Mara blieb, weiterhin mit wackligen Knien, neben ihr stehen. „Ich glaube ich kann jetzt wieder alleine laufen“, sagte sie, ohne den Blick von ihren Stiefelspitzen zu heben.

„Das ist gut,“, schnaufte Iselda „noch besser wäre es allerdings wenn du auch von alleine reden würdest.“

Genau das tat Mara auf dem weiteren Rückweg.
 

Der Fels der Canyons und das Ufer des Velduin beschrieben einen scharfen Bogen nach Norden – oder nach Süden, je nach dem aus welcher Perspektive man es betrachtete.

Auf dem sandigen Streifen zwischen Beidem liefen Mara und Iselda auf das Dorf zu, welches hinter der Kehre in Sicht gekommen war. Als sie näher kamen, hoben sich die gedrungenen Häuser des Dorfes deutlicher von den sie umgebenden Felswänden ab – ebenso die aufgeregt durch die Straßen wimmelnde Menge. Leise drangen freudig klingende Rufe an die Ohren der beiden Zurückkehrenden.

Die Heilerin und das blasse Mädchen waren noch einmal ein dutzend Schritte weitergegangen, als eine Frau sich aus der Menschenmenge löste und wild winkend auf sie zu gerannt kam.

Die Stimme der Heraneilenden übertönte noch die Jubelrufe aus dem Dorf: „Er ist endlich zurück! Oh Iselda, Mara, Conar ist gesund zurückgekehrt!“

Noch bevor Gelina bei ihnen angekommen war, raunte Iselda ihrem Schützling zu: „Du wirst sehen, jetzt kommt alles in Ordnung. Conar wird uns sagen was mit dir geschehen soll. Und wenn du ihm die ganze Wahrheit sagst, so wie du sie mir eben erzählt hast, wird er sicher dafür sorgen, dass du nach Hause gebracht wirst.“

Iseldas Freundin und Nachbarin kam bei ihnen an, bevor Mara die Zweifel äußern konnte, die ihr deutlich ins Gesicht geschrieben standen. Gelina war vor Aufregung und vom schnellen Laufen noch ganz atemlos, begann aber trotzdem einen der Ereignisse, die die beiden verpasst hatten.

Zu dritt gingen sie nun ins Dorf, die beiden älteren Frauen mit Freude in den Augen und einem erwartungsvollen Ausdruck im Gesicht, das Mädchen blass und ängstlich hinter ihnen. So gesellten sie sich zu der Menge, die sich jubelnd um einen hellhaarigen Mann drängte.



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