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Mein ist die Dunkelheit

von

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Prolog

Das ist wieder einer dieser Tage, die man am besten aus seinen Erinnerungen streicht.

Dabei begann alles ganz harmlos. Seit dem Aufstehen und den Rest des Vormittags war da dieser undefinierbare Druck hinter seiner Stirn. Alles noch erträglich, nichts, worüber er mehr als einen Gedanken verschwendet hätte. Doch dann lief Ashiya Shirō alias Dämonengeneral Alciel, seinem Mitbewohner und selbsternannten Hausmann dieses kleinen Haushalts wieder irgendeine Laus über die Leber und er zeigte sein wahres, dämonisches Wesen, dass hinter dieser sonst so glatten, angepassten Fassade lauerte.

Selbst jetzt noch, eine halbe Stunde nach dieser Standpauke – an dessen Inhalt er sich nicht einmal mehr erinnern kann – klingeln Urushihara Hanzō noch die Ohren. Noch viel schlimmer ist allerdings, dass aus dem bislang gut erträglichen Druck in seinem Kopf jetzt ein pochender Schmerz wurde, der nun wie ein Eisenring seinen gesamten Schädel umklammert.

Weshalb er jetzt hier im Badezimmer steht und gequält in das helle Licht blinzelt.

Eine erneute Schmerzwelle läßt ihn aufstöhnend die Handballen gegen das Stirnbein pressen.

„Fuck." Fluchend durchkramt er den Medizinschrank, nimmt ein paar Tablettenschachteln heraus und versucht, sie zu entziffern. Leider ist das sehr mühsam, weil seine Sicht immer wieder verschwimmt.

„Fuck!" wiederholt er etwas lauter, stopft alles wieder zurück und wirft die Tür frustriert so heftig zu, dass der eingefasste Spiegel erzittert.

Mit derselben hilflosen Wut schiebt er die Badtür zur Seite.

„Alciel! Haben wir was gegen Kopfschmerzen da?"

Der großgewachsene, weißblonde Mann am Herd dreht nicht einmal den Kopf in seine Richtung und rührt weiter in der Pfanne auf den Herd.

Urushihara holt einmal tief Luft.

Ashiya“, berichtigt er sich. Das muß reichen, befindet er. Alciels nervtötender Spleen, auf seinem Menschennamen zu bestehen, selbst, wenn sie so wie jetzt unter sich sind, ist in diesem Moment einfach nur noch ein weiterer weißglühender Nagel für seinen armen Kopf.

„Im Medizinschrank", entgegnet Ashiya dann auch kurzangebunden.

Urushihara spürt eine leichte Welle der Übelkeit, als der würzig-süße Geruch von gebratenem Gemüse in seine Nase dringt.

„Die hab ich schon intus. Die helfen nicht."

„Das hast du davon, wenn du ständig vor dem Laptop hockst", kommt es ungerührt zurück. „Jeder weiß, wie ungesund das ist.“

„Ashiya..."

„Nein. Ich werde nicht in die Apotheke gehen und dir teure Tabletten besorgen wegen ein bißchen Kopfschmerzen. Nimm dir ein Kühlkissen." Mit diesen Worten öffnet er den Kühlschrank, holt aus dem Gefrierfach ein Kühlpack und reicht es ihm ohne sich dabei wirklich von der Pfanne abzuwenden.

Urushihara reißt das Kühlkissen an sich und wirft ihm dabei einen giftigen Blick zu. Doch Ashiya Shirō bemerkt es nicht einmal.

Leise vor sich hingrummelnd zieht sich Urushihara in seinen Rückzugsort - den Wandschrank - zurück. Dort hat er es sich einigermaßen gemütlich eingerichtet, außerdem kann er die Türen schließen und das Schmerzen verursachende Licht aussperren.

 

 

„Ich bin wieder da!" beschwingt betritt Mao Sadao alias Dämonenkönig Satan Jacobu - der sich hier auf der Erde in menschlicher Form gezwungen sieht, Miete und Essen durch einen Teilzeitjob bei einer weltbekannten Fastfood-Kette zu verdingen - die Wohnung, die hier auf der Erde sein Zuhause ist und die er sich mit seinen beiden Generälen teilt.

„Willkommen zurück, Mylord", begrüßt ihn Ashiya wie üblich.

Während er aus seinen Schuhen schlüpft und seine Jacke an den Garderobenhaken hängt, wirft Mao einen Blick an Ashiya vorbei ins Innere der Wohnung.

„Wo ist Urushihara?" Sein üblicher Platz an dem kleinen Tisch ist leer und sein Laptop zugeklappt. Das ist so ungewöhnlich, dass es Mao fast schon Sorgen bereitet.

„Als ich ihn das letzte Mal sah, klagte er über Kopfschmerzen und verzog sich in seinen Schrank", erwidert Ashiya und legt die letzte Schüssel auf den fertig gedeckten Tisch. „Und als ich vor fünf Minuten an die Tür klopfte, hat er mich nur angeknurrt."

Nachdenklich geht Mao auf den Wandschrank zu.

„Du hast nicht nachgesehen?"

„Mylord, er hat mich angeknurrt."

„Urushihara?" Zaghaft klopft Mao an den Türrahmen.

„Urushihara? Eh? Hallo? Lebst du noch?" Auf der anderen Seite der Tür ist ein schwaches Geräusch zu hören. Er spitzt die Ohren. Es klingt tatsächlich wie ein Knurren. Irritiert zieht er die linke Augenbraue in die Höhe.

„Lucifer?“ versucht er es erneut und diesmal in einem etwas einschmeichelnderem Tonfall. Und er benutzt Urushiharas wahren Namen – vielleicht hört er ja dann eher auf ihn?

„Wir essen jetzt.“

„Mylord, er wird schon da rauskommen, wenn er Hunger hat. Bitte setzt Euch."

Mao zögert.

„Mylord, wir sollten ihm wirklich keine unnötige Aufmerksamkeit schenken", mahnt Ashiya, immer noch deutlich leicht vergrätzt, denn er wurde angeknurrt. „Wenn es etwas Ernstes ist, wird er es uns schon deutlich und unmissverständlich kundtun. So lange sollten wir uns einfach zurückhalten."

Mao zögert zuerst, doch dann nickt er zustimmend und wendet sich vom Schrank ab.

 

Einen Monat später wird er sich vorwerfen, in diesem Moment nicht besser auf sein Bauchgefühl gehört zu haben.

 

 

I. Kapitel

 

 

Der Himmel ist bedeckt, doch manchmal reißen die grau-weißen Wolken auf und dahinter schimmert es hellblau. Die Sonne steht schon ziemlich tief, es ist vielleicht noch eine Stunde hell. Es war eine lange Fahrt, aber die Straßen sind geräumt und so schlängelt sich das kleine Fahrzeug auch unter Ausreizung des Tempolimits durch die hügeligen Ausläufer des Gebirges, das sich geradezu bedrohlich hinter dem Mischwald auftürmt.

Doch nicht das Gebirge und die üblichen Skigebiete sind das Ziel, sondern eine kleine, im Wald gelegene Blockhütte. Sie gehört zu einem Komplex aus einem halben Dutzend verschiedener Hütten, doch diese sind alle weit genug voneinander entfernt, dass eine gewisse Abgeschiedenheit garantiert ist. Außerdem ist es außerhalb der Saison und die anderen Gäste treffen erst in einer Woche dort ein, und dann sind sie schon längst wieder fort.

Es ist nur ein kleines Auto.Viel zu klein für fünf Personen und ein übermüdetes Kleinkind. Zum Glück musste Kamazuki Suzuno wegen einer Influenza ihre Teilnahme an diesem kleinen Urlaubstrip absagen, sonst hätten sie sich im Wagen stapeln müssen. Andererseits wäre ihre stets gelassene, vermittelnde Art gerade jetzt von Vorteil.

Sie sind schon seit sechs Stunden unterwegs und eigentlich grenzt es an ein Wunder, dass die kleine Alas-Ramus so lange durchgehalten hat ohne zu quengeln. Die ersten Stunden verbrachte sie auf Urushiharas Schoß, sah mit ihm aus dem Fenster und kommentierte auf ihre kindlich-naiv Art alles, was sie dort draußen sah.

„Da ist ein großer Brummi. Er ist blau und da ist eine Kuh auf der Seite.“

„Da ist ein großer Vogel am Himmel.“

„Die Wolke sieht aus wie Mama, wenn sie böse ist.“

„Pferdchen. Weiß. Schwarz. Braun-weiß. Da ist ein ganz kleines Pferdchen. Ein … ein … Pony? Pony!

„Häuser. Eine alte Frau mit Hund. Der Hund trägt ein Mäntelchen. Das sieht witzig aus.“

„Wald. Uh, Lucifer, da sind ganz viele Bäume. Und sie sind soooo groß.“

So sehr Emi ihre Ziehtochter auch liebt, sie sitzt am Steuer und nach viereinhalb Stunden ging ihr das Ganze ziemlich auf die Nerven, und es war wie immer die sensible Sasaki Chiho, die das zuerst bemerkte. Also lockte sie Alas-Ramus mit einem Bilderbuch zu sich.

Das lief nur nicht wirklich gut, denn eine gute Stunde später quengelt Alas-Ramus und zwischen den anderen dreien auf dem Rücksitz ist Streit ausgebrochen. Und da Mao auf dem Beifahrersitz neben ihr zu schlichten versucht, wobei er die Stimme erheben muss, um sich überhaupt Gehör zu verschaffen, klingeln der Heldin von Ente Isla schnell die Ohren. Sie spürt Kopfschmerzen herannahen. Und dann reißt ihr endgültig der Geduldsfaden.

Abrupt tritt Emi auf die Bremse. Quietschend kommt der Wagen zum Stehen und rutscht auf der nassen Straße noch ein paar Meter nach vorne, bis er endgültig zum Stehen kommt.

„Raus!“ herrscht sie den üblichen Verdächtigen auf dem Rücksitz an.

Dort ist es plötzlich totenstill. Das laute Geschrei, das ihr in den letzten fünf Minuten jeden Nerv raubte, ist urplötzlich verstummt. Vier Augenpaare starren sie grenzenlos überrascht an. Eines davon gehört dem Dämonenkönig Satan Jacobu alias MgRonald's Mitarbeiter des Monats Mao Sadao auf dem Beifahrersitz.

„Emi“, beginnt er besorgt, doch diese achtet nicht auf ihn. Sie schnallt sich ab und verlässt das Auto. Während sie um den Wagen herumstapft, wechselt Mao beunruhigte Blicke mit Ashiya und Chiho, die sich mit Urushihara auf dem Rücksitz drängen.

In diesem Moment beginnt das Kleinkind auf Chihos Schoß herzzerreißend zu weinen.

„Shsh, ist ja gut, Alas-Ramus“, versucht er die Kleine sofort zu trösten. „Deine Mama ist nicht böse auf dich!“

„Nich' meine Mama“, bringt Alas schluchzend hervor.

Mao seufzt innerlich auf. Seit ein paar Wochen reagiert Alas-Ramus sehr ablehnend auf ihre Ziehmutter Emi und das zerrt zusätzlich an deren Nerven. In ihren Augen hat Urushihara nämlich der Kleinen diesen Floh ins Ohr gesetzt, kein Wunder also, wenn ihr jetzt endgültig der Kragen platzt.

Mao dreht sich ganz im Sitz herum, um Urushihara, der direkt hinter ihm sitzt, einen mitleidigen Blick zuzuwerfen. Und vielleicht ist sein Blick auch ein kleines bißchen anklagend, denn dessen ständiges „sind wir schon da?“, zusammen mit seiner sturen Weigerung auf Ashiyas Aufforderung, der quengelig werdenden Alas-Ramus etwas vorzulesen, hat letztendlich einen nicht unerheblichen Anteil an der ganzen aufgeheizten Stimmung hier.

Doch Urushihara ignoriert ihn geflissentlich und starrt nur auf dieselbe Art und Weise gleichgültig vor sich hin wie überhaupt immer in letzter Zeit. Dieses teilnahmslose Starren ist so nervtötend, dass Mao Emis Ausraster plötzlich nur zu gut verstehen kann.

In diesem Moment ist Emi einmal halb ums Auto herum und reißt nun die Tür auf Urushiharas Seite so heftig auf, dass dieser erschrocken zusammen zuckt.

„Ich habe die Nase voll von dir!“ schreit sie, packt ihn am Kragen seines Parkas und zerrt ihn rigoros aus dem Wagen. Sie ist größer als er, außerdem ist sie stark und er wiegt nicht viel und sie weiß das gut einzusetzen. Schwungvoll befördert sie ihn in den hohen Schnee am Straßenrand.

„Die letzten drei Kilometer läufst du zu Fuß!“

Umständlich rappelt sich Urushihara aus dem Schnee auf.

„Das kannst du doch nicht machen!“ protestiert er. „Was habe ich denn getan? Mao, hilf mir!“

Mao lächelt unglücklich. Er hat Emis Wutanfälle zu fürchten gelernt, vor allem, weil sie sich auch nicht scheut, ihrer beider Ziehtochter Alas-Ramus als Druckmittel einzusetzen. Glücklicherweise antwortet Ashiya für ihn und nimmt ihm daher die Bürde ab, sich eindeutig auf eine Seite stellen zu müssen.

„Es sind nur drei Kilometer, Urushihara. Etwas Bewegung tut dir ganz gut.“

Alas-Ramus heult regelrecht auf und Chiho versucht, sie zu trösten, drückt sie an sich und streichelt ihr über das Haar, während ihr die ganze Situation immer unangenehmer wird.

„Emi“, verteidigt Chiho Urushihara, „das ist nicht fair. Urushihara trifft keine Schuld. Ich habe den Streit angefangen.“

Doch Emi interessiert das nicht. Sie wirft die hintere Tür wieder zu, schleudert noch einen ihrer berühmten Todesblicke in Urushiharas Richtung und stapft zurück zur Fahrertür.

„Hey!“ Schwankend kämpft sich Urushihara auf die Füße. „Das könnt ihr doch nicht machen! Hey! Leute! Leute!

Er macht einen Schritt auf sie zu und streckt flehentlich die Hand aus, doch da fährt das Auto schon mit aufheulendem Motor davon.

„Hey!“ Er macht einen weiteren hastigen Schritt, stolpert und fällt dann der Länge nach in den Matsch. Eine Sekunde lang bleibt er einfach nur geschockt liegen, dann rappelt er sich langsam auf die Knie auf.

„Geht sterben, ihr Idioten!“ schreit er dem hinter einer Kurve entschwindenden Auto nach. „Ich wollte sowieso nicht mit!“

 

 

Scheiße!

Frustriert wirft Urushihara den Kopf in den Nacken und dann gellt sein lauter, durchdringender Schrei durch den Wald. Erschrocken flattern ein paar Vögel aus den Bäumen davon, kleine Zweige und Schnee rieseln zu Boden und ungefähr eine Sekunde, nachdem der Schrei verklungen ist, beschwert sich keckernd irgendwo ein Eichhörnchen.

Nachdem er sich all seinen Frust von der Seele gebrüllt hat, sackt Urushihara regelrecht in sich zusammen. Mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf kniet er im Schnee am Straßenrand und ringt sowohl nach Fassung wie auch nach Atem. Aus seiner Kehle löst sich ein Laut, es klingt wie ein ersticktes Schluchzen, doch er unterdrückt es schnell.

Ein paar Minuten lang kniet er nur da und versucht, sich zu sammeln.

Es ist nicht weit. Es sind nur drei Kilometer. Ich sollte maximal eine Stunde unterwegs sein. Das schaffe ich.

Es ist nicht leicht, gegen die beginnende Verzweiflung und die Angst anzukämpfen, aber wenn er eines in den letzten vier Wochen gelernt hat, dann, dass ihm gar keine Wahl mehr bleibt. Er muss sich dem stellen, was vor ihm liegt.

Und so atmet er ein paar Mal tief durch und konzentriert sich ganz auf seine Umgebung. Über das laute Pochen seines Herzens hinweg hört und spürt er den leichten Wind. Die Luft riecht rein und klar mit einem Hauch von altem Laub und leicht holzig. Sie ist trocken, aber er kann den nahenden Schneefall beinahe schmecken. Irgendwo hinter ihm raschelt es. Ein kleines Tier, vielleicht eine Maus oder ein Vogel.

Wenigstens gibt es hier keine gefährlichen Tiere, die mich auffressen wollen.

Um seine Lippen zuckt ein bitteres Lächeln, als er langsam aufsteht. Etwas geduckt macht er ein paar vorsichtige Schritte in die Richtung, von der er glaubt, dass sie ihn zur Straße führen.

Sehen kann er sie nicht.

 

II. Kapitel

 

„Du bist nicht meine Mama! Ich hasse dich! Ich hasse dich!

Emi beißt nur die Zähne zusammen und klemmt sich die wild strampelnde und laut schreiende Alas-Ramus noch etwas fester unter den Arm, während sie die vier Stufen zur Veranda hinaufsteigt, und dann etwas ungeschickt mit dem Schlüssel in einer Hand hantiert, um die Tür aufzuschließen.

Das Gepäck überlässt sie gerne den anderen, sie hat alle Hände voll damit zu tun, ihre wütende Ziehtochter zu bändigen.

Die Hütte ist sehr westlich und geschmackvoll eingerichtet, genau wie im Prospekt beschrieben, mit einem kleinen Garderobenflur, der sofort in die Wohnstube mit der offenen Küche führt und eine elegant geschwungene Bogentreppe führt in die oberen Räume, doch sie hat im Moment wirklich kein Auge dafür.

„Alas, beruhige dich doch endlich.“ Mit weitausgreifenden Schritten durchquert Emi die Wohnstube und eilt schnurstracks durch den kleinen Flur mit den beiden Türen, wovon eine ins Badezimmer und die andere in ein Schlafzimmer führt, das durch eine weitere Tür mit einem kleinerem Raum verbunden ist. Der kleinere Raum ist für Chiho gedacht, das Durchgangszimmer hat Emi für sich und ihre Ziehtochter reserviert.

„Schau, das hier ist unser Zimmer. Und sieh doch: ein Bett für dich ganz alleine. Ist das nicht toll?“

Alas-Ramus brüllt nur noch lauter auf und schnappt mit den Zähnen nach Emis Hand, als diese sie auf ihrem neuen, weichen Kinderbett abstellt.

Instinktiv zuckt Emi zurück und diesen Moment nutzt die Kleine, um ihr flink wie ein Wiesel zu entwischen. Doch ihre Beine sind zu kurz, sie kommt nicht weit. Immerhin hat sie schon fast die Haustür erreicht, bis Emi sie wieder einfängt.

Mao kommt gerade mit zwei Reisetaschen zur Tür herein, gefolgt von den ebenfalls schwer beladenen Ashiya und Chiho.

„Papa!“ Sofort streckt Alas-Ramus beide Ärmchen nach ihm aus. „Papa!“

Der läßt sofort alles fallen und eilt zu seiner bitterlich weinenden Ziehtochter. Emi lässt sie nur widerwillig los, aber sobald Alas-Ramus spürt, wie sich der Griff ihrer Ziehmutter lockert, springt sie. Und da sich der Griff Maos um sie noch nicht gefestigt hat, rutscht sie ihm aus den Armen. Geschickt wie eine Katze landet sie auf den Füßen und rennt los, Richtung Tür.

„Alas!“

Diesmal fängt Ashiya sie ein und sie quittiert es ihm mit einem Faustschlag auf die Nase. Es steckt natürlich kaum Kraft dahinter, aber der Schlag kommt überraschend genug, dass er kurz zusammenzuckt.

„Ihr seid gemein!“ Alas-Ramus tobt.

In ihren violetten Augen funkelt ein silbernes Licht, als für einen Moment ihr wahres Wesen hervorbricht. Sie ist ein mächtiges Wesen, gefangen im Bewußtsein und Körpers eines Kindergartenkindes, und kann ihr wahres Potential noch nicht einsetzen. Alles, was ihr bleibt, sind die Waffen eines Kindes.

„Warum seid ihr immer so gemein zu Lucifer? Ich will zu Lucifer! Ich hasse euch! Ich hasse euch!“

Chiho, die direkt daneben steht, versucht sofort, sie zu trösten.

„Lucifer kommt bestimmt gleich, keine Sorge, Alas.“

„Ja“, fällt Mao mit ein, der hastig zu ihnen geeilt ist und sie nun vorsichtig, aber mit festem Griff von Ashiyas Armen nimmt, „und bis es soweit ist, wollen wir nicht inzwischen deine Kuscheltiere ausräumen? Denk doch an deinen armen Okto, er und die anderen fühlen sich bestimmt schon ganz eingesperrt in deinem Köfferchen und haben Sehnsucht nach dir. Und du wirst sehen, wenn wir damit fertig sind, steht Lucifer vor der Tür.“

Alas-Ramus hört auf sich zu sträuben und starrt ihn aus großen, vertrauensvollen Augen an.

„Versprochen?“

„Ja, Alas, das verspreche ich dir.“

Sie schnieft, wischt sich das verrotzte Gesicht an seiner Jacke sauber und ist erst einmal beruhigt. Denn Mao hat sie noch nie belogen und er nimmt seine Versprechen sehr ernst.

 

 

„Ich hoffe, das hat keiner gesehen.“

Urushihara spürt, wie seine Wangen trotz der Kälte brennen – wahrscheinlich ist er vor Scham knallrot im Gesicht. Aber was blieb ihm übrig?

Es liegt an dieser Kälte. Er war ihr kaum ein paar Minuten ausgesetzt, schon meldete sich seine Blase und er kann sich ja wohl kaum in die Hose machen. Jetzt hofft er nur, dass der kurze Kontakt seines empfindlichsten Körperteils mit der Kälte keine bleibenden Schäden hinterlassen hat.

Hastig zieht er sich wieder ordentlich an und verflucht seine immer klammer werdenden Finger, die das Zuziehen des Reißverschlusses zu einer wahren Herausforderung machen.

Dann legt er seine Hände flach auf den Baumstamm vor sich, tastet sich über die rissige Rinde, bis er die tiefe Furche spürt, die ihm als Anhaltspunkt dient. Jetzt noch einen Schritt nach rechts, eine halbe Drehung und dann zehn Schritte und er sollte die Straße wieder erreichen.

Er konzentriert sich so stark, daß er die Kälte für diese wenigen Minuten ganz vergißt. Als er spürt, wie er wieder auf festem Asphalt steht, stößt er einen erleichterten Seufzer aus.

Jetzt wird es wieder leichter. Solange er mit seinem rechten Fuß auf der Straße geht und mit dem linken auf dem matschigen Schnee am Straßenrand, kann ihm gar nichts mehr passieren.

Als zusätzliche Orientierungshilfe dienen ihm die Leitpfosten, die alle fünfzig Meter seinen Weg kreuzen. Nach ungefähr sechzig Leitpfosten wird ein Weg von der Straße fortführen, dem muss er nur folgen, dann wird er (hoffentlich) auf die Hütte treffen, die Emi für diese eine Woche Urlaub im Schnee gemietet hat.

Urushiharas Lippen verziehen sich unter dem Schal abfällig, als er an die hitzige Diskussion zurückdenkt, die Emis Urlaubspläne im Haushalt ausgelöst hatten.

Wer sagt, du kannst mitkommen, du blöder Dämonenkönig?“

Emi war alles andere als begeistert, als Alas-Ramus ihr kleines Geheimnis brühwarm weitererzählte und Mao sich natürlich sofort in ihre Pläne mit einklinkte. Er würde es nie zulassen, dass Emi seine Ziehtochter und ihn voneinander trennt.

Er sah diese Urlaubspläne daher als das, was sie waren: eine Kriegserklärung an seinen Titel als bester Papa des Jahres.

Und er sagte Emi klipp und klar, was er von ihren Plänen hielt:

Du darfst nicht einfach ohne mich mit Alas wegfahren. Ich bin schließlich ihr Papa.“

Ich nehme Chiho und Suzuno mit, das reicht Alas als Rodel- und Ski-Partner. Nicht wahr, Alas?“

Alas-Ramus sah nur aus ihren großen Augen zu ihrer Ziehmutter auf.

Aber kommen Papa, Alciel und Lucifer nicht mit? Ich will, dass sie mitkommen.“

Und damit war die Sache eigentlich schon beschlossen, auch wenn danach noch eifrig auf beiden Seiten argumentiert wurde.

Er weiß nicht mehr, was genau alles an Sticheleien hin und her flog, glaubt aber, sich zu erinnern, dass Emi wie üblich allmählich von Mao als Hauptziel abwich und einen Nebenkriegsschauplatz in seine Richtung eröffnete, aber viel bekam er von ihren Beleidigungen nicht mit, weil da schon Alas-Ramus auf seinen Schoß kletterte und ihn bat, ihr im Internet die neue Folge ihres Lieblingsanimes zu zeigen.

Wenn er gewußt hätte, dass dies das letzte Mal sein würde, dass er Alas-Ramus sah, hätte er sich viel besser auf sie konzentriert. Jetzt bleiben ihm nur die Erinnerungen an das Strahlen ihrer Augen und ihr Lächeln und selbst das verblasst mit jedem Tag etwas mehr.

III. Kapitel

 

„Autsch. Fuck!“

Urushihara flucht auf, als er zum gefühlt hundertsten Mal über irgend etwas stolpert und bäuchlings im Schnee landet.

„Scheiße!“

Vor Wut und Frust steigen ihm die Tränen in die Augen und für einen Moment bleibt er einfach liegen. Obwohl er in der Dunkelheit lebt, wurde ihm trotzdem kurzzeitig schwarz vor Augen – sein Gleichgewichtssinn mag die plötzliche Veränderung von vertikal zu horizontal gar nicht.

Dabei sollte er das wirklich langsam gewohnt sein, schließlich schlägt er alle paar Meter lang hin. Mal ist es eine Unebenheit im Boden, mal ein Ast oder ganz einfach ein Schneeklumpen, über den er zielsicher stolpert.

Allmählich ist er es wirklich leid!

Die Verlockung, einfach liegen zu bleiben, wird mit jedem neuem blauen Fleck größer, doch so kurz vor dem Ziel kann er doch nicht aufgeben! Mühsam rappelt er sich auf – zuerst auf die Knie und dann langsam auf die Füße.

Dieser verdammte Schnee ist einfach überall – mürrisch puhlt er sich das weiße Ungemach aus dem Kragen, bevor es schmelzen kann.

Er hat die Kälte noch nie gemocht und wünschte sich, er hätte genug Magie, um wenigstens seine Flügel zu materialisieren. Er könnte zwar nicht fliegen - das einzige Lebewesen, das unfallfrei blind fliegen kann, ist schließlich eine Fledermaus – aber die Federn könnten ihn warm halten.

Leider ist sein Magievorrat auf Null – das letzte bißchen brauchte sein Körper, um damals diese Krankheit zu überstehen. Es war nicht einmal genug, um ihn vor den Spätschäden zu bewahren, wie ihm jeder Tag aufs Neue beweist. Und Mao oder Ashiya darum zu bitten ihre Magie mit ihm zu teilen, kann er sich von vorneherein abschminken. Mal ganz davon abgesehen, dass er ihnen dann den Grund dafür nennen müsste … nein, das ist ein zu großes Risiko, dass er einzugehen noch nicht bereit ist.

Mit suchend ausgestreckten Armen macht er einen kleinen, zögernden Schritt nach vorne. Wenn er sich nicht irrt, sollte hier bald wieder ein Leitpfosten stehen.

Als seine Fingerspitzen kaltes, glattes Plastik berühren, kann er sich einen erleichterten Seufzer nicht verkneifen.

Jesses. Ich muss ein wahrlich erbärmliches Bild abgeben.

Wenn jetzt ein Auto vorbeikäme – würden sie anhalten und ihm helfen oder würden sie nur Gas geben, weil sie ihn für einen sturzbesoffenen Penner oder – schlimmer noch – einen Junkie halten?

Er wird es wahrscheinlich nie herausfinden, denn hier kommt bestimmt niemand vorbei, das hier ist eine wirklich einsame Gegend. Deshalb hat Emi diese Hütte mitten im Nirgendwo ja gebucht. Hier gibt es nur Bäume und einen leichten Abhang, der im Prospekt als „zum Rodeln und für Skianfänger“ angepriesen wurde. Er weiß das deshalb so genau, weil Mao und Emi lautstark darüber diskutiert hatten, ob sie den Schlitten nehmen, der quasi zum Inventar der Hütte gehört oder lieber einen neuen für Alas-Ramus kaufen sollten.

Ich trau der Sache nicht“, argumentierte Mao. „Da steht zwar, der Schlitten sei in tadellosem Zustand, aber wer garantiert uns, dass das stimmt? Nein danke, ich will das Risiko nicht eingehen, dass das Ding plötzlich unter Alas zusammenbricht und sie sich verletzt.“

DU würdest sicherlich deinen Gästen nur Schrott andrehen“, erwiderte die Heldin scharf. „Du bist schließlich ein DÄMON.“

Ich kaufe Alas einen eigenen Schlitten und damit basta“, schnitt er ihr gereizt das Wort ab.

Und von welchem Geld?“ wollte sie spöttisch wissen. „Du bist doch chronisch pleite.“

Mylord“, warf Ashiya da ein. „Wir haben doch noch den Erlös aus dem Verkauf von Urushiharas Computerkram. Ich bin sicher, Urushihara hat nichts dagegen, oder?“ wandte er sich lauernd an ihn. Urushihara hatte gerade Alas-Ramus auf dem Schoß und die Kleine malte voller Hingabe mit Buntstiften ihr neues Malbuch aus, doch bei Ashiyas Tonfall hielt sie kurz inne und er konnte ihr Stirnrunzeln regelrecht SPÜREN.

Doch weil er keinen Ärger heraufbeschwören wollte, in dessen Verlauf Emi bestimmt nur wieder einfiel, welch schlechter Umgang er für Alas-Ramus doch sei, ließ er sie nicht zu Wort kommen und beeilte sich, Ashiya zu versichern, dass er ganz und gar nichts dagegen hätte.

Und das war die reine Wahrheit.

Für Alas-Ramus würde er alles tun – wenn man ihm die Gelegenheit dazu gäbe.

Und sich nicht so krampfhaft bemühen würde, ihn aus ihrem Leben zu verbannen.

Er holt einmal tief Luft, strafft die Schultern und geht entschlossen weiter. Er sollte wirklich nicht so viel Zeit vertrödeln und sich jetzt mal am Riemen reißen, jede Minute, die er hier unnütz verschleudert, ist eine, in der er nicht bei ihr sein kann.

 

 

 

Kalt.

Ihm ist so furchtbar kalt.

Mit klappernden Zähnen verkriecht er sich noch tiefer in seinem Parka, vergräbt die untere Hälfte seines Gesicht so weit in seinem Wollschal, wie es nur geht und versucht, nur dort hinein zu atmen, um sich wenigstens so irgendwie ein wenig warm zu halten. Seine Mütze blieb im Auto zurück und die Kapuze ist nur ein schwacher Ersatz. Er muss froh sein, seinen Schal zu haben. Handschuhe hat er natürlich auch keine. Seine Finger sind schon ganz steif und inzwischen muss er alle paar Schritte anhalten und eine Pause einlegen, um sie in seinen Manteltaschen wenigstens ein kleines bißchen aufzuwärmen. Dass er dabei unabsichtlich mit seinen gefühllosen Fingern immer mal wieder alte Notizzettel, Bonbons oder alte Papiertaschentücher aus den Taschen zieht, ist nicht weiter tragisch. Auch der Packung Tabletten gegen Reisekrankheit weint er keine Träne nach. Er hat sie eh nicht gebraucht – er ist blind, da geraten Innenohr und Auge nicht in Konflikt.

Seine Füße sind noch trocken, aber das wird nicht mehr lange so bleiben, der Schnee ist ihm schon unter den Saum seiner Jeans gekrochen und hat seine Socken auf Knöchelhöhe durchnässt. Diese Boots sind nun einmal nicht für kniehohen Schnee gedacht. Er hatte auch nie vor, abseits der geräumten Wege zu gehen! Während die anderen sich beim Skifahren und Rodeln vergnügen, wollte er es sich im Inneren der Hütte gemütlich machen. Das hätte zwar auch bestimmt wieder nur zu Diskussionen und Streit geführt, aber letztendlich hätte er sich bestimmt irgendwie durchgesetzt. Auch, wenn er dafür den Rest dieser sogenannten Ferien ihre Gehässigkeiten und Sticheleien hätte ertragen müssen.

Er wollte schließlich von Anfang an nicht mit!

Eine scharfe Windböe lässt ihn auf der Stelle erstarren und nach Luft schnappen. Er zittert noch heftiger und schlägt bibbernd die Arme um seinen Oberkörper.

„Au...“ Ihm entweicht ein dünnes Wimmern, dessen er sich unter normalen Umständen furchtbar geschämt hätte. Er, Lucifer, der höchste aller Erzengel und mächtiger Dämon, jammert, weil ihm kalt ist.

Aber seine Finger schmerzen. Sie tun so furchtbar weh, dass ihm die Tränen kommen.

Aber das tut erst recht weh!

Egal, wie tief er sie in seinen Taschen vergräbt, und völlig egal, wie sehr er in seinen Parka kriecht – diese verdammte Kälte ist überall. Sie ist ihm regelrecht in die Knochen gezogen. Bei jedem Atemzug ziehen sich seine Nasenlöcher zusammen, so sehr beißt die Kälte.

Er fühlt sich schwach und elend und der dumpfe Schmerz in seinem Magen erinnert ihn daran, dass er heute außer dem Anpan, den Alas-Ramus mit ihm im Auto teilte, noch nichts gegessen hat.

Er besitzt kaum noch schützendes Körperfett – er hat nie viel besessen, aber seit seiner Erblindung hat er rapide abgebaut. Nahrungsaufnahme wurde zu einer wahren Herausforderung, denn mit Stäbchen zu hantieren hat sich als nahezu unmöglich erwiesen. Er kann nicht sehen, was auf seinem Teller liegt – wie soll er es dann zwischen die Eßstäbchen klemmen? Einmal hat er es versucht, stellte sich dabei aber so ungeschickt an, dass er von allen Seiten nur Hohn und Spott erntete - auch von denen, die nicht zugegen gewesen waren, weil Mao und Ashiya natürlich alles weitertratschten.

Und wenn er sich heimlich aus dem Kühlschrank bediente, fiel das schnell auf und dann machte Ashiya ihm die Hölle heiß. Zuerst konnte er gut damit leben, aber schon nach zehn Tagen wurde ihm alles irgendwie zu viel und er brach mitten während Ashiyas Standpauke in Tränen aus – vor den Augen von Mao, Chiho, Emi und Suzuno. Und der kleinen Alas-Ramus.

Es gelang ihm zwar, sich mit migräneartigen Kopfschmerzen heraus zu reden, aber es war ihm so peinlich, dass er fortan darauf verzichtete, den Kühlschrank zu plündern.

Alas-Ramus ist die einzige, die weiß, wie es um ihn steht und sie hilft ihm auf ihre Art, indem sie ihn füttert, wenn sie zu Besuch ist. Da sie daraus ein Spiel macht – „Lucifer, mach die Augen zu. Rate, was das ist.“ - finden das alle nur süß. Außerdem teilt sie alles, was sie bekommt, mit ihm. So wie dieses Anpan heute.

Leider, Lucifer seufzt einmal schwer und krümmt sich kurz unter einem Magenkrampf zusammen, ist das letzte gemeinsame Essen schon fünf Tage her, weil sich Emi standhaft weigert, Alas-Ramus in seine Nähe zu lassen.

Eifersüchtige, dämliche Bitch.

Sein berechtigter Zorn auf die Heldin nimmt ihn so gefangen, dass er die Kälte fast gar nicht mehr spürt. Doch es dauert nicht lange, da legt sich dieser Zorn und zurück bleibt nichts als Leere.

Hat er sich zuvor noch auf jeden Schritt stark konzentriert, lässt seine Aufmerksamkeit zunehmend nach, und allmählich gleitet er in einen Zustand ab, wo sein Unterbewußtsein die Regie übernimmt. Seine Gedanken kommen zum Stillstand, sein Kopf wird völlig blank, während er robotermäßig einen Schritt vor den anderen setzt.

Als es ihm auffällt, ist es zu spät.

Er ist schon seit einer Ewigkeit gegen keinen Leitpfosten mehr gelaufen.

Die Erkenntnis versetzt ihm einen regelrechten Schock.

Scheiße.

Er spürt, wie sich seine Augen mit Tränen füllen. Er muss irgendwo einen Fehler gemacht haben und vom Weg abgekommen sein.

„Ich bin der Straße gefolgt. Ich bin ganz sicher der Straße gefolgt.“

Verzweifelt hockt er sich hin, macht sich so klein wie möglich ohne sich gleich in den Schnee zu legen und lässt die nächste eisige Windböe auf diese Art über sich hinwegziehen.

Prüfend tastet er den Grund um sich herum ab. Festgedrückter Schnee, so weit er es beurteilen kann. Ist das, was er für eine Straße gehalten hatte, vielleicht nur ein Weg? Ein Wanderweg? Ist er vielleicht gar nur immer tiefer in den Wald hinein gegangen?

„Scheiße.“ Verzweifelt vergräbt er sein Gesicht in seinen tauben Händen. „Ich finde hier nie wieder raus.“

IV. Kapitel

 

 

Alas-Ramus sitzt vor der geschlossenen Haustür, umklammert fest ihr Lieblingskuscheltier – Okto, einen selbstgestrickten Oktopus - und wartet. Sie läßt den Türknauf keine Sekunde aus den Augen und blinzelt kaum. Sie will den Augenblick, in dem er sich dreht und sich die Tür öffnet auf keinen Fall verpassen.

Sie würde gerne hinaus gehen und ihm entgegengehen, aber es ist dunkel draußen und Ashiya, der kluge Ashiya, auf den sie laut Lucifer immer hören sollte, sagte, dass Lucifer es bestimmt nicht gerne sähe, wenn sie wegen ihm hinaus in die Dunkelheit geht, weil kleine Kinder draußen nichts zu suchen haben, wenn es Nacht wird.

Und Alas-Ramus will nicht, dass Lucifer von ihr enttäuscht ist, also gehorcht sie.

„Alas“, hört sie Emis Stimme hinter sich. „Komm jetzt. Es ist Schlafenszeit.“

Alas-Ramus dreht nicht einmal den Kopf.

Alas-Ramus!

Wütend stemmt Emi die Fäuste in die Hüften, während ihr allmählich die Röte ins Gesicht steigt. In Gedanken verflucht sie diesen Nichtsnutz Urushihara ins dunkelste, schwärzeste Loch, das es gibt. Sie kann sich weiß Gott nicht vorstellen, wieso ihre Ziehtochter solch einen Narren an dieser kleinen Pest gefressen hat und sie hat wahrlich versucht, die Kleine von ihm fernzuhalten, aber selbst, wenn er nicht da ist, ruiniert er alles.

Mao erkennt die verräterischen Anzeichen von Emis aufbrausendem Temperament, erhebt sich von der gemütlichen Couch, auf der er mit Chiho und Ashiya gesessen und sich die Zeit mit einem Würfelspiel vertrieben hat und geht langsam zu Alas-Ramus hinüber. Ehrlich gesagt, findet er es rührend, wie sie dort auf seinen General wartet und verspürt so etwas wie ein schlechtes Gewissen, weil er sich nicht so viele Sorgen macht wie sie und einfach nur die Ruhe genießt.

Ohne Urushihara gibt es in ihrer kleinen Gruppe viel weniger Streit. Natürlich ist er sich dessen bewusst, dass der meiste Ärger von Emi ausgeht, weil sie Urushihara ganz einfach nur hasst für all das, was er auf Ente Isla getan hat. Aber wegen Alas-Ramus weist er lieber seinen General in die Schranken als die Heldin.

Außerdem ist er selbst aus der Schusslinie, wenn Emi Urushihara als Blitzableiter benutzt.

„Alas.-chan.“ Mao geht neben ihr in die Hocke und streichelt ihr über das silberne, lange Haar. „Komm, es wird Zeit, dir die Zähne zu putzen. Und morgen früh, wenn du aufwachst, ist Lucifer da.“

„Papa?“

„Ja, Alas-chan?“

„Warum seid ihr immer so gemein zu Lucifer?“

Diese Frage versetzt ihm einen regelrechten Stich. „Aber Alas-chan, wir sind doch nicht gemein zu ihm. Er stellt nur immer etwas an, verstehst du? Und wenn man etwas anstellt, muss man die Konsequenzen dafür tragen. Lucifer ist groß, er versteht das.“

Nervös leckt er sich über die Lippen. Er flunkert seine Ziehtochter nicht gerne an.

Alas-Ramus nickt einmal und legt dann fragend den Kopf schief.

„Wirfst du mich auch aus dem Auto, so wie Mama Lucifer?“

Entsetzt schnappt er nach Luft.

„Was? Nein, natürlich nicht. Niemals!

„Warum nicht?“

„Nun, weil ich dich lieb habe.“

„Auch, wenn ich etwas Schlimmes angestellt habe? Hast du mich dann auch noch lieb?“

„Ja, natürlich, Alas-chan.“

Sie schweigt einen Moment.

„Wär ich da draußen ganz alleine, würdest du dir Sorgen machen?“

„Ja, natürlich, Alas-chan. Aber Lucifer ist erwachsen. Du bist noch ein Kind. Das ist etwas anderes, verstehst du das?“

Sie verzieht das Gesicht zu ihrer – wie Chiho es immer nennt - niedlichen Denk-Schnute und starrt einen Moment lang einfach nur vor sich hin. Dann nickt sie einmal und steht auf.

Erleichtert, dass sie endlich Vernunft annimmt, erhebt sich Mao und greift nach ihrer Hand, um sie ins Badezimmer zu bringen. Doch zu seiner großen Überraschung schlägt sie seine Hand beiseite und weicht von ihm zurück.

„Ich verstehe, dass Lucifer uns braucht und ihr ihn nicht lieb habt“, erklärt sie in einem unerwartet erwachsenem Tonfall. Ihre nächsten Worte versetzen ihm einen Stich mitten ins Herz:

„Niemand von euch hat Lucifer lieb. Nur ich.“

Entschlossen ballt sie die kleinen Händchen zu Fäusten und geht hinüber zur Garderobe.

„Ich geh ihn jetzt suchen.“

Sie hat sich schon den ersten Stiefel angezogen und greift gerade nach dem zweiten, bis sich die anderen von ihrer Überraschung erholen. Mao ist der erste, der aus seiner Erstarrung erwacht. Außerdem ist er ihr am nächsten. Mit einem einzigen großen Schritt ist er bei ihr. Er widersteht seinem ersten Impuls, sie einfach auf seine Arme zu nehmen und sinkt stattdessen wieder neben ihr in die Hocke.

Er versucht, sich seinen inneren Tumult nicht anmerken zu lassen und spricht daher betont ruhig und sanft.

„Hör zu, Alas-chan; ich verspreche dir hoch und heilig, wenn er morgen nicht da ist, gehen wir ihn suchen.“

„Du lügst.“

Er zuckt kurz zusammen. Nie hätte er gedacht, dass Worte derart schmerzen können.

„Wann habe ich dich je belogen?“

„Du hast gesagt, er kommt, wenn ich meine Kuscheltiere auspacke.“

„Ja, das stimmt.“, gibt er betreten zu. „Aber weißt du, das kann man nicht lügen nennen, denn als ich das gesagt habe, war ich fest davon überzeugt, dass es die Wahrheit ist.“

„Alas, es schneit.“ Plötzlich steht Emi neben ihnen. Sie versucht, ruhig und sachlich zu klingen, doch es gelingt ihr nicht ganz, ihrer Stimme die Schärfe zu nehmen. „Und es ist dunkel draußen. Wenn wir ihn jetzt suchen, verirren wir uns nur selbst. Und du willst doch bestimmt nicht, dass einer von deinen Freunden verloren geht, oder?“

Alas-Ramus wirft ihr einen hitzigen Blick zu.

„Lucifer ist auch mein Freund! Ich hab ihn lieb!“

„Ja, natürlich hast du das, Alas-chan“, besänftigt Mao sie rasch. „Und weißt du was? Ich habe eine tolle Idee: wir stellen eine Kerze auf dein Fensterbrett, die leuchtet ganz weit und so findet uns Lucifer ganz bestimmt.“

Alas-Ramus starrt ihn an, als habe er den Verstand verloren.

„Papa, das ist Quatsch. Er wird die Kerze nicht sehen.“

„Doch, Alas-chan, ganz bestimmt.“

„Nein, Papa. Keine Kerze.“ Sie zieht wieder ihre Denk-Schnute und nach einer Sekunde des Grübelns hat sie die rettende Idee. Sie streift sich ihr Bettelarmband vom Handgelenk und reicht es Mao. „Papa, kannst du das bitte draußen aufhängen? Es klimpert. Lucifer sagt, er hört es immer und weiß daran, dass ich vor der Tür stehe. So findet er den Weg.“

Er findet seine Idee mit der Kerze zwar viel besser, doch er hütet sich, ihr zu widersprechen. Er ist nur froh, dass sie sich den Stiefel wieder auszieht und freiwillig mit ihm und Emi Zähneputzen geht.

 

 

„Hiiiiillllfeeee!“

Urushihara schreit so laut er kann, aber seine Stimme ist schwach und bricht bei der letzten Silbe immer wieder weg und dann muss er husten und das schmerzt in seiner Kehle. Der Wind ist kalt und schneidend und jeder Atemzug fühlt sich an, als würde er eisige Nägel einatmen. Anhand der Kälte schätzt er, dass die Sonne endgültig untergegangen ist und es war dieser Gedanke, nein, das Wissen, allein, blind und völlig hilflos im nächtlichen Wald herumzustolpern, das ihn jeden Rest von Stolz von Bord werfen ließ. Er fing an, um Hilfe zu rufen.

So lange, bis seine Stimmbänder versagten.

Es ist ein letzter, verzweifelter Akt.

Irgend jemand muss ihn doch hören, oder?

Er ist hier schließlich immer noch in der Zivilisation und nicht irgendwo auf dem Mount Everest. Auch wenn es sich so anfühlt.

Vermissen sie mich denn nicht?

„Mao! Ashiya!“ Er würde ihre Namen gerne rufen, aber mehr als ein heiseres Krächzen bringt er jetzt nicht mehr zustande. „Wo seid ihr? Bitte...“

Plötzlich, von einem Moment zum anderen, geben seine Knie unter ihm nach und er sinkt in den Schnee wie eine Marionette, der man die Fäden durchgeschnitten hat.

„Bitte“, seine Stimme ist nur noch ein ersticktes Schluchzen, und ohne daß er es bemerkt, fällt er in die Mundart der Dämonen zurück. „Rettet mich.“

„Wieso sollten sie?“ ertönt plötzlich Emis schneidende Stimme direkt vor ihm in derselben Sprache.

Ruckartig hebt Urushihara den Kopf und versucht instinktiv, die Dunkelheit vor sich mit seinen Augen zu durchdringen, bis ihm wieder einfällt, dass er das ja gar nicht mehr kann.

„Du bist ihnen egal“, fährt die Heldin unbarmherzig fort. „Niemanden interessiert es, wie es dir geht. Ganz im Gegenteil: Sie sind froh, dich endlich los zu sein.“

„Menti te … mihi“, - du lügst - stößt er stockend in seiner Muttersprache hervor.

„Non sun vultus tu“, - Sie suchen dich nicht - „Niemand sucht dich.“ Ihre leise, kalte Stimme ist ganz nah, er kann ihren Atem spüren, wie er ihm eisig ins Gesicht weht.

Panisch kriecht er nach hinten, fort von ihr. Doch sie folgt ihm. Schon eine Sekunde später hört er ihr leises, gemeines Kichern direkt an seinem linken Ohr.

„Armer Lucifer. Armes kleines gefallenes Engelchen.“

Abil rem!“ -Hau ab!- Verzweifelt tritt er nach ihr, doch diesmal kommt ihr spöttisches Kichern von der anderen Seite.

Hastig weicht er zurück und prallt mit seinem Rücken an etwas Hartes. Über ihm ächzt und knarrt es und dann spürt er, wie etwas neben ihm zu Boden fällt. Es streift seine Schulter. Erschrocken japst er auf, doch dann ertasten seine wild umherfliegenden Hände nassen Schnee und rauhe Rinde und er atmet erleichtert auf. Nein, kein Angreifer. Kein Feind. Das hier ist nur ein Baum, dessen stabile Sicherheit in seinem Rücken, ihm wieder etwas Mut macht. Und aus dessen Geäst eben eine riesige Portion Schnee gefallen ist.

„Emi?“ flüstert er, doch ihm antwortet nur Stille. Er lauscht angestrengt, doch da ist nichts. Als wäre sie nie dagewesen.

Oh, nur eine Halluzination.

Erleichtert zieht er die Knie an die Brust, umschlingt sie mit seinen Armen und macht sich so klein wie möglich.

 

 

V. Kapitel

 

Er spürt seine Finger und Füße nicht mehr.

Sein Gesicht ist völlig taub.

Aber wenigstens ist ihm nicht mehr kalt. In ihm entwickelte sich eine gewisse innere Wärme, als hätte er gerade eine große Tasse heißen Kakaos getrunken. Es ist fast angenehm.

Er hat sich zu den Wurzeln des Baumes zusammengerollt und versucht, sich im Schneegestöber so klein wie möglich zu machen. Er kann die Flocken natürlich nicht sehen und auch nicht hören, aber er spürt, wie sie um ihn herumwirbeln. Oder vielleicht bildet er sich das auch nur ein.

Um ihn herum ist es so still und friedlich, wie er es sich immer gewünscht hat und der Gedanke einfach nur einzuschlafen ist sehr verlockend. Und als er dann tatsächlich die Augen schließt, träumt er von dem Tag, an dem er sein Augenlicht verlor.

Er träumt oft von diesem Tag.

Er wünscht, er könnte die Zeit zurückdrehen, ist sich aber nicht sicher, ob er irgend etwas hätte ändern können.

Vielleicht, wenn er seine Kopfschmerzen und seinen steifen Nacken nicht so auf die leichte Schulter genommen hätte?

Wenn er, anstatt sich in seinem Schrank zu verkriechen und dort still vor sich hin zu leiden, sich ganz offen auf den Tatami-Matten vor Maos und Ashiyas Augen durch dieses Fieber gequält hätte? Hätten sie ihn überhaupt ins Krankenhaus gebracht?

Selbst dessen ist er sich nicht sicher - nein, bei genauerem Überlegen hegt er sogar starke Zweifel daran. Er glaubt sich zu erinnern, gehört zu haben, wie Ashiya zu Mao meinte, er wolle nur Aufmerksamkeit und wie dieser ihm zustimmte. Er weiß aber nicht, ob er das wirklich gehört oder sich nur eingebildet hat. Die Erinnerungen an diese Nacht sind sehr fragmentiert und der Rest davon liegt hinter einem dicken, verschwommenem Nebel verborgen.

Alles, was er weiß, ist: als er am nächsten Morgen aufwachte, hatten die Kopfschmerzen etwas nachgelassen, und er konnte seinen Kopf auch wieder ein wenig drehen, aber dafür wurde die Welt um ihn herum zunehmend dunkler.

Er war nicht von jetzt auf gleich blind, es dauerte ein paar Stunden. Es war, als würde jemand kontinuierlich das Licht herunterdimmen, bis er sich gegen Abend in stockfinsterer Dunkelheit wiederfand.

Aber immerhin war es Abend und vielleicht hatte Ashiya nur vergessen, die Stromrechnung zu bezahlen und da es ihm zu peinlich war, Ashiya und Mao danach zu fragen, hielt er lieber die Klappe - außerdem hätten sie sich bestimmt nur wieder über ihn lustig gemacht.

Außerdem hoffte er, es ginge von alleine wieder vorbei.

Nun, um seine Lippen zuckt ein bitteres Lächeln, etwas ging definitiv vorbei: sein Augenlicht.

„Lucifer!“

Der Klang seines Namens schreckt ihn aus seinen düsteren Gedanken. Schwerfällig hebt er den Kopf und versucht in der ersten Sekunde aus reiner Gewohnheit, die Dunkelheit vor seinen Augen zu durchdringen, bis er sich wieder erinnert.

„Lucifer!“

„Satan? Jacobu!“ Erfreut richtet er sich auf. „Jac-“, gerade noch rechtzeitig erinnert er sich, dass niemand mehr auf seinen wahren Namen reagiert, wenn er ihn damit anspricht. „Mao? Mao, hic sum! Ich bin hier!

Sein Hals schmerzt, als er es schwach in die Nacht hinauswispert, doch niemand antwortet. Oder kommt zu ihm. Die Welt um ihn herum ist so still und friedlich wie zuvor und würde da nicht ab und zu etwas Schnee von einem überladenen Ast rieseln, hätte er glatt gedacht, er wäre auch noch taub geworden.

Doch er ist nicht taub. Er ist nur blind.

Und sein erschöpftes Gehirn hat ihm einen Streich gespielt.

 

 

Die nächste Halluzination durchschaut Urushihara schon nach fünf Sekunden, weil er Satans und Alciels lächelnde Gesichter vor sich sieht. Er sieht sie in ihrer wahren, in ihrer dämonischen Gestalt.

Und trotzdem klammert er sich an diese Wunschvorstellung wie ein Ertrinkender an einen Strohhalm.

Er will glauben, dass sie ihn gesucht haben, und dass er wieder sehen kann. Er will daran glauben, dass alles nur ein schlechter Alptraum ist.

Er hält seine Augen nur für ein paar Sekunden offen und in diesen Sekunden glaubt er mit aller Macht daran, dass alles gut ist, und er glaubt es auch noch, als ihn die Müdigkeit wieder überwältigt und ihm die Augen wieder zufallen.

Er glaubt es so sehr, dass er das nächste Mal, als er die geisterhafte Berührung einer Hand an seiner Schulter fühlt und die besorgte, volltönende Stimme seines Dämonenkönigs hört, danach greift. Aber als seine Finger nur leere Luft – und ein paar Schneeflocken – berühren, ist es zuviel und etwas in ihm zerbricht.

Aus seiner Kehle löst sich ein trockenes Aufschluchzen.

Ergeben legt er sich in den Schnee und rollt sich dort zu einer Kugel zusammen.

 

 

Mao zupft noch einmal prüfend an dem Nylonfaden, den er um einen Querbalken der hölzernen Veranda-Überdachung geschlungen hat und knotet dann Alas-Ramus' Bettelarmband daran fest. Und als wolle ihn die Natur darin bestärken, kommt in diesem Moment ein scharfer Wind auf, wirbelt ihm Schneeflocken und beißende Kälte entgegen und rüttelt an dem kleinen Schmuckstück. Und sofort erfüllt ein feines, silbernes Klingeln die Luft.

Mao erstarrt und lauscht einen Moment lang andächtig. Es ist ein leiser, aber erstaunlich durchdringender Ton und trotzdem bezweifelt er, dass man ihn weiter als zehn Meter hören kann.

Mao klettert von dem Geländer herunter zurück auf die Veranda und starrt nachdenklich hinaus in die Nacht. Hinter dem leichten Schneegestöber kann er undeutlich die knorrigen Bäume des Waldes erkennen. Das Ganze wirkt unheimlich und bedrohlich wie aus einem Gruselfilm und jagt ihm einen noch kälteren Schauer über den Rücken als es der Wind je könnte.

„Ich habe über Alas' Worte nachgedacht“, sagt er leise zu dem geduldig neben ihm stehenden Ashiya. „Ich glaube, sie hat recht. Wir waren in letzter Zeit sehr gemein zu Urushihara. Wir stehen nie auf seiner Seite. Ich stehe nie auf seiner Seite. Als König ist es meine Pflicht, mich schützend vor meine Generäle zu stellen.“

Ashiya gibt ein unbestimmtes Brummen von sich. „Urushihara macht es einem aber auch nicht gerade leicht, Mylord.“

Das mag stimmen, aber das entschuldigt nichts von dem, was vorgefallen ist. Alas' anklagende Worte gehen ihm nicht mehr aus dem Kopf. Sie sitzen wie ein Stachel in seinem Fleisch und bohren sich mit jeder Sekunde tiefer. Es stimmt nicht. Es stimmt einfach nicht. Er mag Lucifer. Er mag ihn sogar sehr. Aber wenn die anderen dabei sind – vor allem, wenn Emi dabei ist – fällt es ihm schwer, auch dementsprechend zu handeln.

„Wo er wohl gerade steckt?“ murmelt er mehr zu sich selbst, doch Ashiya hört ihn sehr gut.

„Ich schätze, er ist umgedreht und zurück ins nächste Dorf gelaufen. Dort sitzt er jetzt sicherlich irgendwo im Warmen und lacht sich über uns tot, weil wir uns Sorgen um ihn machen.“

„Das glaube ich nicht“, erwidert Mao leise und wirft ihm einen langen Seitenblick zu. „Und du auch nicht.“

Für einen Augenblick wirkt Ashiya ertappt, doch er hat seine Miene schnell wieder unter Kontrolle. In Momenten wie diesen besteht seine Aufgabe darin, seinem König emotionalen Halt zu geben und Zuversicht auszustrahlen, seine eigenen Sorgen und Nöte haben daher im Hintergrund zu bleiben.

„Er ist nicht dumm“, erwidert er daher. „Er wird schon ein trockenes, warmes Plätzchen zum Unterstellen gefunden haben. Wir können jetzt nichts machen. Es hat gar keinen Zweck, ihn bei Nacht zu suchen. Lasst uns die Morgendämmerung abwarten.“

„Wenn wir nur mehr Magie hätten...“, murmelt Mao betrübt, streckt den linken Arm aus und lässt über seiner flachen Hand eine rötliche Leuchtkugel erscheinen, die alles in einem Drei-Meter-Umkreis in ein blutrotes Licht taucht.

„Lasst das, Mylord“, tadelt ihn Ashiya scharf. „Verschwendet nicht Eure wenigen Reserven für etwas Licht, das keine fünf Minuten hält. Und wäre Urushihara nur fünf Minuten entfernt, wäre er schon längst hier.“

Seufzend ballt Mao die Hand zur Faust und das Licht erstirbt gehorsam.

Natürlich hat Ashiya in allem, was er sagt, Recht, es ist nur so furchtbar frustrierend, zur Untätigkeit verdammt zu sein.

 

 

VI. Kapitel

 

In der Hütte ist es still geworden. Alas-Ramus schläft tief und selig und auch Emi und Chiho haben sich zur Ruhe begeben. Nur noch Mao und Ashiya halten Wacht. Keinem von beiden ist nach schlafen. Ashiya sitzt auf der Couch und nippt an einem Glas Wein, während er seinen König dabei besorgt im Auge behält. Seiner bescheidenen Meinung nach gehört Mao ins Bett, doch er hütet sich, ihn darauf anzusprechen. So wie er seinen König kennt, wird dieser diese Nacht sowieso kaum ein Auge zumachen.

Mao steht am Fenster und starrt hinaus, als könne er den Vermissten allein durch Kraft seiner Gedanken herbeizwingen.

„Es schneit immer noch, Ashiya.“ Mao seufzt tief auf. „Wenn es so weitergeht, haben wir bald keine Spuren mehr, denen wir folgen können.“

„Wenn wir ihn nicht finden, Mylord, holen wir die örtliche Polizei zu Hilfe.“ Die Worte schmecken Ashiya wie Asche im Mund, aber so sehr sie es auch sonst immer vermeiden, mit den Behörden in Kontakt zu treten, ist die Polizei doch eine gute Alternative, wenn alle anderen Mittel erschöpft sind. Es ist das einzige Zeichen seiner eigenen Besorgnis, das er zu zeigen bereit ist. Sein König braucht schließlich einen starken Getreuen an seiner Seite, jemanden, der ihm Mut und Hoffnung schenkt.

„Mao-sama...“ aus den Schatten des Flures schält sich plötzlich eine kleine Gestalt in einem rosa Flanellpyjama.

Sofort zaubert Mao ein freundliches Lächeln auf sein Gesicht.

„Was ist, Chiho-chan? Kannst du nicht schlafen?“ erkundigt er sich besorgt.

Die Teenagerin lächelt schief und verlagert verlegen das Gewicht von einem Fuß auf den anderen.

„Mao-sama... ich...“, sie holt einmal tief Luft und dann sprudelt es regelrecht aus ihr heraus:

„Also, ich wollte nur klarstellen, dass es nicht stimmt, was Alas-Ramus gesagt hat. Ich habe nichts gegen Urushihara. Ich kann ihn sogar ganz gut leiden. Ich betrachte ihn als Freund … uhm, na ja, ich wollte nur, dass du das weißt.“

„Ich danke dir, Chiho-chan. Ich bin mir sicher, Urushihara wird sich freuen, wenn du ihm das sagst. Sobald er wieder bei uns ist“, fügt Mao dann mehr zu selbst hinzu.

Aber Chiho versteht jedes Wort und sie hört auch den traurigen Unterton heraus. Es klingt, als habe er schon aufgegeben. Nein, entschieden schüttelt sie den Kopf. Das darf nicht sein.

„Wir finden ihn. Ganz bestimmt sogar“, versichert sie ihm eifrig und zögert dann.

„Hm … Mao-sama“, räuspert sie sich, plötzlich ganz schüchtern. „Also, ich möchte euch morgen bei der Suche nach Urushihara helfen, wenn ich darf.“

„Natürlich, Chiho. Deine Hilfe ist uns sehr willkommen. Das ist wirklich sehr lieb von dir.“

Erfreut über das Lob, wünscht sie den beiden eine gute Nacht und eilt dann mit hochroten Wangen zurück in ihren Raum.

Mao sieht ihr lange nach und Ashiya mustert ihn besorgt. Ihm gefallen die Schatten nicht, die die Sorge in das junge Antlitz seines Königs malt, von dem grimmigen Zug um dessen Mundwinkel ganz zu schweigen.

„Mylord“, zieht er Maos Aufmerksamkeit auf sich. „Bitte, setzt Euch einen Moment zu mir.“

Tatsächlich folgt Mao seiner Bitte, wenn auch etwas zögernd, und als er schließlich neben ihm sitzt, hat Ashiya sein Glas wieder gefüllt und reicht es ihm nun mit einem auffordernden Lächeln.

Und Mao, froh, sich mit etwas ablenken zu können, mit irgend etwas, nimmt es nur zu gerne an.

 

 

Urushihara erwacht von einem ungewöhnlichen Gefühl: jemand streichelt ihm mit den Fingern durchs Haar. Es ist nicht das unbeholfene Tätscheln kleiner Kinderhände, also nicht Alas-Ramus, sondern das bedächtige Sortieren einzelner Haarsträhnen. Es fühlt sich überraschend gut an.

Und dann vernimmt er ein leises Glucksen. Doch es steckt keine echte Belustigung dahinter.

„Na, da hast du dich ja mal wieder in schöne Schwierigkeiten gebracht, hmmm?“

Beim Klang dieser Stimme zuckt Urushihara überrascht zusammen.

„Gabriel...?“

„Hm-hm“, kommt es in dem typischen, immer leicht verspielten Summton zurück, der eine falsche Oberflächlichkeit suggeriert, die schon viele zu dem Fehler verleitet hat, den ältesten aller Erzengel zu unterschätzen.

In stummer Frustration verkrallt Urushihara seine Finger im kalten Schnee. Dass ihn ausgerechnet sein ehemaliger Mentor in dieser Lage antreffen muss, ist mehr als erniedrigend!

„Schau dich nur an Luci“, tadelnd schnalzt Gabriel mit der Zunge und Urushihara kann sein vorwurfsvolles Gesicht fast schon vor sich sehen: die aristokratischen Gesichtszüge, die denen Alciels so ähnlich sind, dazu diese weinroten, ernsten Augen und das schulterlange, silberne Haar.„Liegst hier ganz allein im Schnee. Dabei hättest du ihnen doch nur die Wahrheit sagen müssen. Dann würdest du jetzt auf deinen zwei Quadratmetern privaten Paradieses im Warmen hocken anstatt hier jämmerlich zu erfrieren.“

Zwei Quadratmeter Paradies. Ja, stimmt, so hatte er seine Computerecke in Maos Wohnung bezeichnet, nicht ahnend, wie bald er doch aus diesem Paradies vertrieben würde. Um Urushiharas Mundwinkel zuckt ein bitteres Lächeln.

Langsam öffnet er die Augen, doch da erwartet ihn natürlich nur die übliche Dunkelheit.

Er hört das typische Rascheln vom schweren Stoff einer weißen Toga und spürt, wie sich jemand über ihn beugt und seine großen Schwingen über ihm ausbreitet. Gabriels Flügel halten den Wind und den fallenden Schnee gnädig zurück, unter ihnen ist es warm und trocken, fast schon gemütlich.

„Sag, Lucilein“, schnurrt Gabriel in sein Ohr, „was ist eigentlich schlimmer? Langsam im Schnee zu erfrieren oder auf einem Schlachtfeld im Nirgendwo zu verbluten?“

Das Schlachtfeld. Ungebeten kommen die Erinnerungen zurück. Sein Luftkampf mit Emilia, wie sie ihm ihr Schwert mitten durch die Brust stieß, wie er aus fünfzig Metern Höhe auf die Erde stürzte, wie der Schmerz erst kurz vor seinem Aufprall über ihn zusammenschlug, sein Aufprall, untermalt vom Bersten seiner Flügelknochen, auf denen er unglücklicherweise landete, gefolgt von weiteren unsäglichen Schmerzen und Blut...

Unwillig schüttelt Urushihara den Kopf - das heißt, er würde es tun, wenn er noch die Kraft dazu hätte.

„Wie sich die Dinge doch wiederholen, nicht wahr? Damals hat dich auch niemand gesucht.“

Das stimmt.

Urushihara spürt, wie der letzte Funken Widerstand ins einem Inneren erlischt, als er wieder an diesen unglückseligen Tag zurückdenkt, an dem er begriff, dass diejenigen, die er dreihundert Jahre lang als seine Kameraden angesehen hatte, die er sich gestattet hatte, zu mögen, ihm einfach so den Rücken zukehrten.

Das war viel schlimmer als all das Blut und die Schmerzen.

„Es tat weh, zu sehen, wie schnell sie sich mit den Menschen angefreundet hatten, nicht wahr? Wie schnell sie dich doch vergessen hatten. Sie dachten nicht einmal mehr an dich. Du warst nicht einmal eine Fußnote in ihrem Leben.“

Das stimmt. Alles in ihm zieht sich bei dieser Erkenntnis schmerzhaft zusammen und es ist, als würde sich ein großes, schwarzes Loch auftun, um ihn zu verschlingen. Eine Schwärze, dunkler noch als die Finsternis vor seinen Augen.

„Niemand vermisst dich.“

Doch. Ein kleiner Hoffnungsstrahl durchzuckt ihn.

„Alas...“

„Sie hat Mao und alle anderen und wird dich schnell vergessen haben. Sie braucht dich nicht. Ohne dich ist sie sogar viel besser dran, denn wegen dir gibt es immer Streit mit ihrer Mama.“

Oh.

Ja, das stimmt.

„Armer Lucifer.“ Plötzlich sind da wieder diese sanften Finger in seinem Haar. „War es das wirklich wert, deine Heimat zu verlassen?“

War es das? Er weiß es nicht. Im Moment erinnert er sich nicht einmal mehr, warum er damals fortging.

Müde schließt er wieder die Augen. Er ist so unendlich furchtbar müde.

„Ich weiß.“ Gabriels Stimme ist ein leises, schmeichelndes Raunen an seinem Ohr. Und plötzlich wechselt er von japanisch in die Sprache der Engel und diese insgeheim so vermisste, wohlklingende Sprachmelodie erweckt in Urushihara so großes Heimweh, dass ihm für einen Moment der Atem stockt.

„Quae omnia momento desinunt. Reviertere ad nos, Lucifer. Deus te exspetcant. Tu Mama caret te.“

Aber all das kann hier und jetzt enden. Komm zurück zu uns, Lucifer. Gott wartet auf dich. Deine Mama vermisst dich.

Ignora … vermisst ihn?

In einer letzten, großen Kraftanstrengung, rappelt sich Urushihara auf die Knie auf und greift nach Gabriels ausgestreckter Hand.

 

 

VII. Kapitel

Irgend etwas piekst ihm in die Wange. Mißmutig verzieht Mao das Gesicht, nicht gewillt, seinen warmen, weichen Kokon zu verlassen.

„Papa!“

Erst die helle, drängende Stimme seiner Ziehtochter holt ihn aus seinem angenehmen Dämmerzustand heraus. Er öffnet ein Auge und blinzelt müde.

„Papa!“ Abermals piekst Alas ihm mit dem Zeigefinger in die Wange.

„Papa!“ wiederholt sie und diesmal klingt es sehr, sehr vorwurfsvoll. Auffordernd drückt sie ihm seine Stiefel ins Gesicht. „Die Nacht ist vorbei. Wir müssen Lucifer suchen gehen!“

„Alas-Ramus!“ Mit wirren Haaren und hastig übergeworfenen Morgenmantel stürmt Emi herein. Doch kaum hat sie das Zimmer betreten, hält sie sich sofort eine Hand vor die Augen, während sie mit der anderen Alas am Arm packt.

„Alas, komm da weg. Das ist kein Anblick für dich. Zieh dich gefälligst an, hier leben Damen“, herrscht sie Mao im selben Atemzug an. Er starrt sie nur verdattert an. Er trägt einen stinknormalen Pyjama und versteht ihre Vorwürfe nicht.

„Die einzige Dame, die ich hier sehe, ist Alas“, murrt Ashiya auf der anderen Seite des großen King Size Bettes. Er sitzt mit untergeschlagenen Beinen neben seinem König, bis zu den Hüften züchtig von der Decke bedeckt und funkelt die Heldin zornig an. Auch er trägt einen Pyjama.

„Verlasse sofort Mao-samas Gemach.“

„Nichts lieber als das!“ faucht sie zurück. „Komm, Alas-Ramus!“

Doch die Kleine entzieht sich geschickt ihrem Griff und springt stattdessen zu ihrem Ziehpapa aufs Bett.

„Nein!“ schreit sie dabei ihre Ziehmutter an. „Wir müssen Lucifer suchen. Papa hat es versprochen!“

Mao, der schon auffuhr, als sie das erste mal „Lucifer“ sagte, fängt sie auf und drückt sie an sich. Erstens, weil er sie jedes Mal so drückt, wenn er sie sieht und zweitens, weil eine wütende Emi so früh am Morgen noch beängstigender wirkt als sonst. Sie würde Alas-Ramus niemals schlagen, aber jetzt, in diesem Moment, ist er sich da nicht mehr ganz so sicher.

„Du hast recht, Alas“, ernst sieht er ihr in die großen, violetten Augen, deren Farbe ihn noch niemals schmerzhafter an Lucifer erinnerte als jetzt. Er denkt nicht oft darüber nach, aber die beiden teilen dieselbe Essenz des himmlischen Lebensbaums und Alas ist sogar noch viel mächtiger als Gott selbst, doch das verdrängt er immer wieder, weil er sie lieber als sein kleines Mädchen sieht.

Dem er etwas versprochen hat.

Schuldbewußt wirft er einen Blick aus dem Fenster, durch das sich das Grau der beginnenden Morgendämmerung hereinschummelt.

„Ich habe gehofft, er stünde vor der Tür, wenn die Sonne aufgeht“, murmelt er mehr zu sich selbst, während seine Gewissensbisse immer größer werden. Wie konnte er nur so selig schlafen, während Lucifer dort draußen verschollen ist?

Nur ganz am Rande seines Bewusstseins nimmt er die heftige Auseinandersetzung wahr, in die sich Emi und Ashiya schnell verwickeln. Er hat gelernt, so etwas geflissentlich zu überhören.

Er lässt Alas los, nimmt seine Stiefel aus ihren Händen und schwingt die Beine über die Bettkante.

„Dein Papa zieht sich schnell an und dann macht er sich auf den Weg.“

„Yesss“, ruft sie, winkelt den rechten Arm vor dem Körper mit geballter Faust an und zieht ihn dann kraftvoll nach unten – eine solch perfekte Imitation von Lucifer, dass ihm schier der Atem stockt.

„Wir suchen Lucifer!“ schreit sie begeistert und stürmt aus dem Raum und poltert lautstark die Treppe hinunter. „Ich hole Chi-chan! Chi-chan!“

 

 

Sie wissen nicht wirklich, wo sie anfangen sollen zu suchen, und so beginnen sie mit dem naheliegendsten: sie laufen die Strecke auf der Landstraße zu der Stelle zurück, an der sie ihn zum letzten Mal gesehen haben.

Es ist noch sehr früh, die Sonne hat es noch nicht einmal über die Baumwipfel geschafft, so dass alles noch in ein unwirkliches Zwielicht getaucht ist. In einer geradezu ehrfurchtgebietenden Behäbigkeit tanzen die Schneeflocken zu Boden und es herrscht eine fast heilige Stille auf beiden Seiten der schneebedeckten Straße, als sei der gesamte Wald in einen tiefen Schlaf gefallen.

Das gleichmäßige Knirschen ihrer Schritte im Schnee wirkt daher fast wie eine schändliche Entweihung.

„Vielen Dank, dass du uns hilfst, Sasaki Chiho.“ Ashiya ist wie stets auf gute Manieren bedacht und so fällt sein Dank auch sehr förmlich aus. Er deutet sogar eine kleine Verbeugung an. „Das ist wirklich sehr aufmerksam von dir.“

Die Oberschülerin wird puterrot.

„Das ist doch selbstverständlich“, winkt sie hastig ab und wirft dem drei Schritte neben ihr gehenden Mao einen verlegenen Blick zu. „Urushihara ist Mao-samas Freund und seine Freunde sind daher auch meine Freunde.“

Über Maos Miene huscht ein undeutbarer Ausdruck, der sie zögern läßt.

„Ihr seid doch Freunde, oder?“ Plötzlich zweifelt sie daran, ob sie die Beziehung zwischen den dreien richtig eingeschätzt hat. Vielleicht ist alles viel komplizierter als sie dachte? Vielleicht betrachten sie Urushihara doch eher nur als Kameraden? Mit diesen leichten Abstufungen hat sie auch in der Schule immer ihre Probleme – für sie selbst gibt es nur drei Kategorien: Freunde, Feinde und Erwachsene. Die einen mag man, die anderen meidet man lieber und zu den Erwachsenen ist man höflich.

Unsicher geworden senkt sie den Kopf. Wenn Mao-sama den gefallenen Engel nur als Kameraden betrachtet, ist sie dann gestern vielleicht übers Ziel hinausgeschossen, als sie sagte, dass sie Urushihara mag? Darf sie das denn dann überhaupt? Immerhin ist sie jetzt doch auch einer von Maos Generälen. Vielleicht herrscht innerhalb dieser Ränge nochmal eine ganz andere Hierarchie?

Sie ist so tief in ihre Gedanken versunken, dass sie Maos Antwort beinahe überhört hätte.

„Ja, Chiho, Lucifer ist unser Freund.“

Lucifer. Nicht Urushihara. Sie bemerkt Maos Lapsus sofort und sieht es nur als Bestätigung seiner Aussage.

Ungefähr nach den ersten hundert Metern beginnen sie, ohne große Hoffnung nach dem Vermissten zu rufen. Es ist schließlich offensichtlich, dass er gar nicht in der Nähe sein kann.

Doch dann fällt Ashiya etwas Furchtbares ein.

„Vielleicht hat ihn ein Wagen angefahren, und er liegt verletzt im Straßengraben?“

Es ist das erste Mal, dass jemand von ihnen diesen Gedanken äußert, und es ist, als hätte Ashiya damit die Büchse der Pandora geöffnet.

„Hölle, nein!“ Mao wird kreidebleich und beginnt sofort, seine bisher eher oberflächliche Suche zu intensivieren, indem er jetzt unter jeden Strauch am Wegesrand schaut.

„Ist das überhaupt möglich?“ fragt Chiho, auch in dem Bestreben, ihren Schwarm etwas zu beruhigen. „Ja, sicher, er kann verletzt werden, aber seine Wunden heilen schnell und mal angenommen, er wurde gestern Abend wirklich angefahren, sollten selbst schwerste Verletzungen inzwischen fast verheilt sein, oder? Er sollte uns also auf alle Fälle hören und antworten können. Äh, ich meine-“, fügt sie hastig hinzu, weil ihr ihre eigenen Worte plötzlich sehr kaltherzig vorkommen, auch, wenn sie nicht so gemeint sind, „- es wäre natürlich trotzdem furchtbar, wenn er verletzt wäre, aber ist es nicht viel logischer, dass er sich wirklich einfach nur verirrt hat? Wir müssen doch nicht sofort vom Schlimmsten ausgehen. Ich empfinde es eher als eine gewisse Beruhigung, zu wissen, dass er unsterblich ist und ihm daher wenigstens keine Lebensgefahr droht.“

Mao wirft ihr nur einen merkwürdigen Blick zu, fährt sich mit gespreizten Fingern durchs Gesicht und seufzt einmal tief auf.

Ashiya erlöst sie aus ihrer Verwirrung. Er tritt zu ihr und legt ihr eine Hand auf die Schulter. Und während Mao weiterhin das Unterholz absucht und wieder Lucifers Namen ruft, erklärt ihr Ashiya freundlich und sehr geduldig:

„Leider irrst du dich da, Chiho-san. Lass es mich dir erklären: wie du weißt, ist die Macht der Engel hier auf der Erde genauso beschränkt wie die von uns Dämonen.“

Sie nickt zaghaft.

„Und während wir Dämonen unsere Macht, unsere Magie, über die negativen Gefühle der Menschen zurückerhalten können, ist dieser Weg den Engeln verschlossen, weshalb sie immer eine Quelle ihrer Heiligen Energie mit sich führen.“

Wieder nickt sie. Ja, sie erinnert sich sehr gut an Sariels riesiges, weißglühendes Zepter. Sie weiß zwar nicht, welche Machtquelle Gabriel mit sich schleppt, aber niemand sagt, dass sie immer so groß und auffällig wie Sariels sein muß.

„Und Lucifer besitzt keine solche Quelle Heiliger Energie, er muss wie wir Dämonen seine Kraft aus den Gefühlen der Menschen ziehen. Und weil...“ Ashiya zögert kurz und wirft einen schnellen Blick zu Mao hinüber, der inzwischen schon ein paar Meter weitergelaufen ist und ihnen den Rücken zuwendet, „... alle negative Energie von euch Erdenbewohnern, die zu Lucifer oder mir fließen könnte, zuerst von unserem König angezogen wird, sind wir quasi von dem abhängig, was Mao-sama uns zugesteht. Was völlig in Ordnung ist“, versichert er hastig, „Mao-sama ist ein fairer König, er enthält uns nichts vor, nur um seines eigenen Vorteils wegen. Aber-“ er seufzt und drückt einmal kurz Chihos Schulter. In seinen Augen schimmern Trauer und Schmerz. „Das bedeutet leider in diesem Falle auch, dass Lucifer noch weniger magische Energie besitzt als Mao-sama oder ich, da er nie die Wohnung verläßt und daher nie auf Menschen trifft, deren Verzweiflung, Kummer oder Angst seinen Magiekern auflädt. Um es kurz zu sagen: Lucifer ist zur Zeit genauso verletzlich wie ihr Menschen. Und was seine Unsterblichkeit betrifft...“ Er nimmt seine Hand fort und zuckt hilflos mit den Schultern, „... die bedeutet eigentlich nur, dass er wie alle Engel ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr altert. Und ohne ausreichend Magie, man könnte hier auch sagen, Lebenskraft, versagen auch seine Regenerationskräfte.“

„Und...“, nachdenklich runzelt sie die Stirn, „wir wissen nicht, ob seine Magie ausreicht, um Verletzungen zu heilen, die in eurer Welt kein Problem wären?“

Ashiya nickt ernst. „Richtig, Chiho-san. Und wir Dämonen besitzen nur die Fähigkeit, uns selbst zu heilen. Wenn Mao-sama und ich ihm Magie geben, könnte diese zusätzliche Energie ihm helfen, sich selbst zu heilen, doch das nutzt ihm erst ab einem bestimmten Level etwas und das erreichen weder Mao-samas noch meine Magie zusammengenommen. Dafür sind wir derzeit einfach zu schwach.“

Sie denkt kurz darüber nach und dann weiten sich ihre Augen unwillkürlich, als sie begreift, was das alles wirklich bedeutet.

Oh Gott. Sie ist die ganze Zeit davon ausgegangen, dass sie Lucifer gesund und munter antreffen werden, vielleicht etwas angepisst, weil er sich wie ein kleines Kind im Wald verlaufen hat, aber trotzdem bei bester Gesundheit, und das trotz der Tatsache, dass er die ganze Nacht bei Minusgraden hier draußen verbracht hat.

Welch ein furchtbarer Irrtum!

Hastig rennt sie nach vorne an Maos Seite, um nach Lucifer zu rufen, während er weiterhin den Straßengraben und die Umgebung nach irgend einer Spur absucht.

Ashiya macht dasselbe auf der anderen Straßenseite.

 

VIII. Kapitel

„Lucifer!“

Mao schreit so laut, dass seine Stimme in der letzten Silbe bricht. Die kalte Luft reizt seinen Hals, doch er ist nicht bereit, aufzugeben. Im Gegenteil – je länger diese Suche andauert, desto verzweifelter und entschlossener wird er. Schon ganz zu Beginn dieser Suche hatte er entschieden, seinen vermissten General mit seinem echten Namen zu rufen, in der Hoffnung, dass dieser dann eher darauf reagiert.

Schließlich wissen sie nicht, in welchem Zustand sie ihn antreffen werden. Er war die ganze Nacht hier draußen, ganz allein, im verschneiten, dunklen Wald. Und vielleicht ist er verletzt. Mao läuft ein eiskalter Schauder über den Rücken, wenn er nur daran denkt.

„Lucifer!“ ruft Ashiya zehn Meter von ihm entfernt. Sein Tonfall und seine düstere Miene verheißen dem Vermissten nichts Gutes, aber jeder, der ihn kennt, erkennt darunter die Angst und die große Sorge, in der er schwebt.

Ein paar zusätzliche Augen wären begrüßenswert, aber Mao hat ehrlicherweise auch nicht damit gerechnet, dass Emi ihnen helfen würde und je länger die Suche andauert, desto glücklicher ist er über ihre Entscheidung bei der Hütte zu bleiben und sich um Alas-Ramus zu kümmern.

Maos letzter Stand ist, dass die beiden damit beschäftigt sind, Schneemänner zu bauen. In unregelmäßigen Abständen klingelt sein Telefon, weil Alas-Ramus wissen will, ob sie „ihren Lucifer“ schon gefunden haben und es bricht ihm jedes Mal das Herz, sie erneut enttäuschen zu müssen. Und jedes Mal heuchelt er ihr einen Optimismus vor, den er schon längst nicht mehr empfindet und fühlt sich unheimlich mies dabei.

Chiho unterstützte sie tatkräftig, bis es ihr zu kalt wurde und ihre Blase drückte. Stammelnd und mit hochrotem Gesicht hat sie sich vor einer Stunde von ihnen verabschiedet und ist zurückgegangen. Mao ließ sie nur ungern ziehen, denn mit ihr scheint auch die Hoffnung davongezogen zu sein. Durch ihre fröhliche, freundliche Art gelang es ihr immer, ihn wieder aufzurichten, auch, wenn sie das selbst vielleicht gar nicht bemerkt hat.

Beim Gedanken an die Teenagerin fühlt Mao eine leichte Wärme in seiner Brust erwachen. Sie ist eine wirklich gute Freundin und er ist sehr stolz auf sie. Es war eine gute Idee von ihm, sie zu einem seiner Generäle zu ernennen, auch, wenn der Titel hier nicht viel wert ist. Aber sie hat es sich nun einmal redlich verdient. Und vielleicht tröstet sie dieser Titel über das hinweg, was er ihr demnächst sagen muss: dass er ihre Gefühle leider nicht erwidert und sie nur als gute Freundin sieht. Er hat dieses Gespräch schon viel zu lange vor sich hergeschoben.

Unwillig über sich selbst, schüttelt er diese Gedanken ab. Das ist jetzt nicht wichtig, er muss seinen anderen General finden, der hier irgendwo verloren gegangen ist.

Entschlossen legt er die Hände als Trichter vor den Mund und ruft weiter seinen Namen.

„Lucifer!“

Das einzige, was ihm antwortet, ist: Stille. Und wie immer, kurz nachdem sein Ruf verklungen ist, keckert entweder ein Eichhörnchen oder ein paar Krähen machen sich bemerkbar.

Aber die Stimme, auf die er hofft, hüllt sich weiterhin in Schweigen.

Eine eisige Windböe lässt ihn erschauern und instinktiv die Hände in den Taschen vergraben. In seiner rechten Tasche stoßen seine Finger dabei auf eine kleine Schachtel. Unwillkürlich schließt er die Hand darum. Es sind Lucifers Tabletten gegen Reiseübelkeit. Er hat sie vor zwei Stunden unter einem Busch gefunden und nur daher wissen sie, dass Lucifer diesen Wanderweg genommen hat. Auf den ersten fünfzig Metern war der Weg sogar noch geräumt und asphaltiert, aber jetzt ist er unter zentimeterhohem Schnee verborgen und das einzige, was darauf hinweist, dass dies hier ein Weg ist, ist das Fehlen von Bäumen.

Es ist ihm wirklich ein Rätsel, wie Lucifer sich für diesen Weg entscheiden konnte, wo doch die Straße so deutlich vor ihm lag. Vielleicht hatte Chiho doch recht mit ihrer Theorie, dass er im Schneetreiben wohl die Orientierung verloren haben muß.

Plötzlich erweckt etwas aus seinem Augenwinkel seine Aufmerksamkeit. Ein lachsroter Farbfleck mitten im weißen Schnee.

Noch nie war Mao so froh über Ashiyas Entscheidung, Lucifer diesen Parka in dieser knalligen Farbe zu kaufen – auch wenn das Lachsrot Lucifer eigentlich ärgern sollte, weil es so eine mädchenhafte Farbe ist. Erstaunlicherweise schien Lucifer das völlig egal zu sein.

„Ashiya, ich habe ihn gefunden!“ Mao rennt so hastig zu dem Farbklecks hinüber, dass er glatt ausrutscht und in den kniehohen Schnee fällt, doch er rappelt sich sofort wieder hoch und rennt noch schneller weiter.

„Lucifer!“

Er liegt unter dem Schatten eines großen Ahorns und ist völlig mit Schnee bedeckt, nur ein Teil seines Mantels ragt heraus. Hätte der Mantel eine andere Farbe, hätte er ihn garantiert übersehen. Bei diesem Gedanken wird Mao regelrecht übel.

Hastig lässt er sich neben dem unförmigen Hügel auf die Knie fallen und schaufelt den Schnee fort. Er legt eine Schulter frei, arbeitet sich in Richtung Kopf weiter und dann findet er die Kapuze und trifft schließlich auf nasses, violettes Haar und eine leichenblasse Wange.

Im ersten Moment bleibt Mao fast das Herz stehen – oh, bitte, lass uns nicht zu spät gekommen sein – doch er schiebt seine Gefühle beiseite und zurück bleibt nur dieselbe rationale Kühle, wie er sie immer während einer Schlacht empfand. Vorsichtig dreht er Urushihara auf den Rücken und tätschelt behutsam seine Wange. Schnee klebt in seinen Haaren, an seinen Augenbrauen und sogar an seinen Wimpern. Urushiharas Gesichtsfarbe unterscheidet sich nicht sehr vom Schnee, seine Lippen sind aufgerissen, blutig und blau und um seine Augen herum haben sich dunkle Schatten gebildet.

Er sieht jetzt schon aus wie eine Leiche.

„Lucifer. He, komm schon, wach auf.“

Tatsächlich beginnt es in Urushiharas Gesicht zu zucken und dann beginnen seine Lider zu flattern. Von seinen Lippen perlt ein schwacher Laut, nicht viel mehr als ein Atemzug, doch diese Lebenszeichen zaubern Mao ein überglückliches Lächeln auf die Lippen.

„Sehr gut. Hallo, Lucifer.“

Trübe, violette Augen starren ihn an, nein, starren durch ihn hindurch. Doch Mao schiebt das beklemmende Gefühl, das ihn dabei überkommt, rigoros beiseite. Er legt seine Hand unter Urushiharas Nacken und richtet ihn so – tatkräftig unterstützt von Ashiya - langsam in eine sitzende Position auf. Ashiya hat sich hinter Urushihara in den Schnee gesetzt und dient ihm als Lehne, damit er nicht umfällt. Und während also Ashiya von hinten seine Arme um ihn schlingt, befreit Mao sein Gesicht und das Haar vom Schnee.

„Lucifer.“ Sanft legt Mao beide Hände um Urushiharas Wangen und sieht eindringlich in diese violetten Augen. Irgend etwas stimmt nicht. Es fühlt sich an, als würde er in die Augen eines Toten starren.

Urushiharas Lippen bewegen sich, doch es kommt kein Ton heraus.

„Lucifer. Kannst du mich verstehen?“

Ein kurzes, fast unmerkliches Nicken.

Ashiya hinter Urushihara seufzt erleichtert auf. „Wir suchen dich schon den ganzen Morgen, du Idiot. Sei froh, dass Mao-sama nicht aufgegeben hat. Was machst du hier, mitten im Wald? Die Hütte liegt doch in einer völlig anderen Richtung. Bist du sogar zu dämlich, um einfach nur der Straße zu folgen?“

Beim Klang seiner Stimme zuckt Urushihara zusammen, als habe er vergessen, dass Ashiya hinter ihm sitzt, doch bei seinen letzten Worten entkommt ihm nur wieder dieser Atemzug. Es klingt fast wie ein Seufzen.

„Wir sollten dich so schnell wie möglich ins Warme bringen“, erklärt Mao, macht aber keine Anstalten, seinen Worten Taten folgen zu lassen. Gedankenverloren starrt er in Urushiharas Augen. Das unheimliche Gefühl, dass hier etwas ganz und gar nicht mehr stimmt, wird immer stärker. Ganz kurz wirft er einen hilfesuchenden Blick zu Ashiya hinüber ohne jedoch genau sagen zu können, um welche Art von Hilfe er ihn ersucht. Etwas irritiert starrt Ashiya zurück. Goldbraune Augen, die jetzt, im direkten Sonnenlicht allerdings eher Gold wirken, weil sich die Pupille auf Stecknadelkopfgröße zusammengezogen hat.

Urushiharas Pupillen dagegen, in die ebenfalls das Sonnenlicht fällt …

Und plötzlich blitzen Erinnerungen an Ereignisse vor Maos innerem Auge auf, denen er damals keine große Bedeutung zugestanden hatte:

 

Alas-Ramus, wie sie mit einem Tuch über den Augen mit weit ausgestreckten Amen unsicher durch Emis Wohnung tapste.

Spielst du Blindekuh, Alas-chan?“ hatte er sie damals amüsiert gefragt.

Nein“, kam es todernst zurück und er konnte seine Ziehtochter gerade noch rechtzeitig auffangen, als sie stolperte. „Ich will wissen, wie es ist, wenn man nichts sehen kann.“

Ignorier sie einfach“, hatte Emi gesagt. „Diesen Floh hat ihr euer Nichtsnutz ins Ohr gesetzt. Sorge dafür, dass er sich von ihr fernhält, sonst lasse ich sie nie wieder zu dir.“

 

Er hielt das für übertrieben, aber er tat sein Bestes, denn die Zeit mit der Kleinen war ihm wichtig. Auch, wenn das bedeutete, dass er die Tage, die sie bei ihm war, meistens außer Haus mit ihr verbrachte. All die Besuche in Zoos und Spieloasen rissen ein verdammt großes Loch in sein Budget, weshalb Ashiya beschlossen hatte, Urushiharas Laptop und sogar dessen geliebte Handheld-Spielekonsole und alle PC-Spiele zu verkaufen. Denn immerhin war das alles, jedenfalls nach Emis Meinung, der sich Ashiya da nur zu gerne anschloß, nur Urushiharas Schuld.

Und Urushihara … der hatte nicht einmal protestiert.

Das war ihm damals schon seltsam vorgekommen, aber nicht genug, um sich wirklich damit zu beschäftigen. Außerdem machte er sich viel mehr Sorgen um Alas, die es nicht bei diesem einen Versuch bleiben ließ. Sie handelte nie mehr so offensichtlich und schon gar nicht, wenn Emi in der Nähe war, aber Mao erwischte sie regelmäßig dabei, wie sie sich manchmal mit einer Hand die Augen zuhielt und mit der anderen dabei versuchte, nach etwas zu greifen. Einmal tastete sie sich mit fest zusammen gekniffenen Augen sogar die Treppe hinunter. Glücklicherweise hielt sie sich dabei am Geländer fest, doch danach sprach auch er mal ein Machtwort mit ihr.

Sie sah ihn vorwurfsvoll an, als wäre er derjenige, der etwas falsch gemacht hatte, versprach ihm aber, damit aufzuhören.

Doch er könnte schwören, dass sie diese kleinen Experimente weiterführt – nur jetzt eben in aller Heimlichkeit, und er weiß nicht, was er dagegen machen kann ohne sie gegen sich aufzubringen. Denn das Letzte, was er will, ist, dass sie zu ihm ebenfalls sagt: „Du bist nicht mein Papa.“

Mao atmet einmal tief durch und schiebt diese Gedanken ganz weit von sich. Es ist ganz allein seine Schuld, dass er nicht besser auf seine Ziehtochter gehört hat.

Denn hätte er das, wäre es niemals so weit gekommen.

Immerhin sagte sie doch erst gestern:

 

Papa, das ist Quatsch. Er wird die Kerze nicht sehen.“

 

Eindeutiger geht es ja wohl nicht. Wieso hört er eigentlich nie richtig zu?

Er nimmt seine Hände von Urushiharas bleichen Wangen und hält ihm stattdessen den Zeigefinger vor die Augen und bewegt ihn von einer Seite zur anderen. Wie erwartet - keine Reaktion. Urushiharas Augen starren weiterhin ins Leere. Mit bei diesen Lichtverhältnissen viel zu großen Pupillen.

Ashiya beobachtet das seltsame Gebaren seines Königs irritiert.

„Mylord-?“ beginnt er, doch da spricht dieser schon Urushihara an.

„Lucifer.“ seine Stimme ist so sanft wie wenn er Alas-Ramus bei einem aufgeschlagenen Knie tröstet. „Du hast dich verirrt, weil du blind bist, nicht wahr?“

„Was?“ fassungslos schnappt Ashiya nach Luft.

Aber Mao, einmal in Fahrt, redet schon weiter. „Und deshalb hast du auch nicht groß protestiert, als Ashiya deinen Laptop und alles andere verkauft hat. Deshalb liest du Alas auch nichts mehr vor und erzählst ihr lieber eine Geschichte. Deshalb nimmst du sie nicht mehr Huckepack und spielst ihr Pferdchen. Deshalb hast du die rote Wäsche mit der weißen zusammen in die Waschmaschine gesteckt. Und Ashiya dachte, du wolltest ihn einfach nur ärgern. Und Ashiya, verstehst du jetzt, wieso es ihm egal ist, dass er zur Strafe dafür die rosafarbenen T-Shirts tragen muss? Und wieso es ihn nicht stört, einen lachsroten Parka zu tragen? Und“, Maos Augen weiten sich in plötzlicher Erkenntnis, „deshalb hast du dich so gesträubt, mitzukommen.“

„Was?“ entfährt es Ashiya, der noch immer an dem Wort „blind“ zu knabbern hat. „Seit wann?“

Und wieso ist ihm das nie aufgefallen? Anders als Mao hocken er und Urushihara quasi den ganzen Tag aufeinander, abgesehen von den wenigen Stunden, an denen Ashiya einkaufen geht. Wie konnte er das dann einfach nicht bemerken?

Urushihara seufzt nur tonlos. Er mag diese Halluzination nicht. Außerdem fühlt sich alles so bleischwer an. Er ist müde und will nur noch schlafen.

„Hey, Lucifer, bleib wach. Bleib bei mir. Lucifer!“ Erschrocken tätschelt Mao Urushiharas Wangen, doch er kann es nicht verhindern, als diesem die Augen wieder zufallen.

 

 

„Mylord, seid Ihr sicher, dass ich ihn Euch nicht doch abnehmen soll?“

Entschieden schüttelt Mao den Kopf, dass seine dunklen Locken nur so fliegen. Er hat Urushihara Huckepack genommen und der gefallene Engel ist ein regelrechtes Leichtgewicht, er spürt ihn kaum. Und da sie in ihren eigenen Spuren gehen und Ashiya ihm vorausgeht und ihm umsichtig um jedes Hindernis herumführt, kommen sie recht schnell voran.

Nur seine Hände sind unangenehm kalt und seine Ohren frieren. Aber Urushihara braucht die Handschuhe und die Mütze dringender als er. Natürlich hat ihm Ashiya sofort seine eigene Mütze und die Handschuhe angeboten, aber beides ist ihm viel zu groß, also hat er abgelehnt. Selbst wenn nicht, hätte er niemals zugelassen, dass sein treuer Freund ihm zuliebe friert.

„Lucifer? He, Lucifer, bist du noch wach?“ besorgt tätschelt er ihn am linken Knie. „He, ich weiß, es ist schwer und du bist müde, aber bleib noch eine Weile bei mir, okay?“

Ashiya kommt die paar Schritte, die er vor ihm ging, wieder zurück, um einen prüfenden Blick in Urushiharas bleiches Gesicht zu werfen.

„Ich glaube, er hat das Bewusstsein verloren.“ Mit den Zähnen zieht er sich den rechten Handschuh ab und berührt Urushihara an der Wange. „Er ist immer noch eiskalt. Ihr solltet Euch beeilen, Mylord.“

Mit entschlossener Miene streckt er Mao die Hand entgegen.

„Ich habe nicht viel Magie, aber zusammen mit Eurer sollte sie genügen, um Euch und ihn in die Hütte zu teleportieren. Für Lucifer zählt jede Sekunde.“

Das ist eine Möglichkeit, an die er gar nicht gedacht hat. Mao hat keine Hand frei, weil er Urushihara nicht loslassen kann, also legt ihm Ashiya seine Hand stattdessen einfach auf die Stirn.

„Ich bin froh, dass ich dich habe“, Mao schenkt Ashiya ein dankbares Lächeln. „Auf dich und deinen Verstand ist immer Verlaß.“

Verlegen lächelt Ashiya zurück. „Wechselt seine Kleidung und packt ihn in eine warme Decke ein. Versucht, ihn aufzuwecken und ihm etwas Heißes einzuflößen. Haltet ihn auf alle Fälle warm. Ich komme nach, so schnell ich kann.“

Mao nickt, rückt Urusiharas totes Gewicht auf seinem Rücken etwas zurecht und schließt dann die Augen, um sich ganz auf den Fluß von Ashiyas Magie und die Teleportation zu konzentrieren.

 

IX. Kapitel

 

 

Mit großen Schritten marschiert Ashiya durch den knöcheltiefen Schnee. Er ist wütend auf sich selbst. Wie konnte ihm nur entgehen, dass Urushihara nichts sieht? Er ist fast vierundzwanzig Stunden sieben Tage die Woche mit ihm auf engstem Raum zusammen.

Wie konnte ihm so etwas Wichtiges entgehen?

Ein schöner General bin ich. Als derzeitiger Hausmann gehört es zu meinen Pflichten, dass im Devil's Castle alles reibungslos läuft und es den Bewohnern an nichts mangelt. Ich habe meine Pflichten sträflich vernachlässigt.

Er bleibt stehen, um sich einen Schneeklumpen aus den Halbstiefeln zu kratzen, bevor dieser schmilzt und seine Socken durchnässt. Und während er so da steht, frischt der Wind etwas auf und lässt ihn unwillkürlich erschauern. Er friert, trotz Mantel, Handschuhen, Mütze und Schal.

Jetzt, ohne seine Magie, spürt er die Kälte viel deutlicher und er weiß, wenn er in einer halben Stunde wieder zurück in der Hütte ist, wird er furchtbar durchgefroren sein.

Und Lucifer war sechzehn Stunden hier draußen!

Nur eine dreiviertel Stunde Fußmarsch von der rettenden Hütte entfernt!

Beim Gedanken daran wird ihm übel.

Wann … wann … wann … fragt er sich, während er weitergeht. Wann ist das passiert? Wie lange ist Lucifer schon blind und ich habe nichts davon bemerkt?

Aber je länger er darüber nachdenkt, desto mehr Merkwürdigkeiten in Lucifers Benehmen fallen ihm auf, die er jedoch nicht weiter beachtet hatte. Da war zum Beispiel seine neue Obsession für Zahlen.

Zum ersten Mal bemerkte er es ungefähr vor vier Wochen.

 

Er stand gerade am Herd und wandte Urushihara den Rücken zu, als er diesen plötzlich leise murmeln hörte.

Eins... zwei...drei...vier.. einhalb … links...“

Urushihara, was machst du da?“ fragte er ihn über die Schulter hinweg. Er drehte sich nicht zu ihm um, weil er nicht wollte, dass das Fleisch in der Pfanne anbrutzelte. Er probierte gerade aus, wieviel Speiseöl er einsparen konnte ohne das Risiko einzugehen, seinem König schwarze Fleischkohle vorzusetzen.

Ich geh ins Bad“, erwiderte Urushihara und dann hörte Ashiya wie die Badtür zurückgeschoben und dann wieder geschlossen wurde.

 

Er dachte sich nichts weiter dabei. Urushiharas Gedankengänge waren ihm schon immer ein Buch mit sieben Siegeln, auch, weil er sich nie mitteilte. Deshalb fragte er auch nicht, selbst dann nicht, als er dieses Verhalten immer öfter beobachten konnte. Urushihara zählte die Schritte bis zum Kühlschrank, bis zur Tür und sogar die bis zum Tisch. Er zählte, wieviele Schritte er von der Haustür zur Korridortür nach draußen brauchte. Er zählte die Treppenstufen, die nach unten in den Hof führten. Er zählte, zählte, zählte. Er zählte ständig, aber immer nur ganz leise vor sich hin, so dass es Ashiya leicht fiel, es irgendwann zu überhören.

Enttäuscht über sich selbst, schnauft Ashiya einmal laut auf. Er ist so ein Idiot!

Selbst, als Urushihara sein heißgeliebtes Internet von einem Tag auf den anderen ignorierte und sich stattdessen begann, im Haushalt einzubringen, hatte er immer noch keinen Verdacht geschöpft. Stattdessen war er einfach nur froh, dass der gefallene Engel wohl endlich Vernunft angenommen hatte und aus seiner Hikikomori-Ecke herauskam. Er war sogar so außerordentlich froh darüber, dass er all die kleinen Mißgeschicke, die Urushihara passierten, großzügig übersah. Was bedeutete schon ein zerbrochenes Glas, ein schlampig gewischtes Badezimmer oder verfärbte Wäsche, wenn dieser kleine Nerd ihm endlich, endlich half? Er wollte ihn natürlich auch nicht entmutigen, also schimpfte er ihn bei solchen Mißgeschicken nur ein ganz klein wenig aus.

Uruhiharas plötzlichen Drang, sich nützlich zu machen, hatte er nie hinterfragt, dabei liegt es doch jetzt, wenn er genauer darüber nachdenkt, auf der Hand: Im Internet konnte er sich nur noch bewegen, wenn Alas-Ramus auf seinem Schoß saß und für ihn alles anklickte – was sie häufig genug tat, wenn sie zu Besuch war. Dann sahen sie sich immer Zeichentrickfilme oder Katzenvideos an.

Nein, berichtigt er sich seufzend, Alas SAH es sich an. Lucifer hörte nur mit.

Jedenfalls so lange, bis er den Laptop und alles andere verkaufte.

Sein König hatte Recht – jetzt ist es kein Wunder mehr, dass Lucifer dieser Verlust nicht störte. Er hatte sich schon längst umorientiert und vertrieb sich die Langeweile mit Aktivitäten, bei denen er nicht unbedingt etwas sehen musste.

So etwas wie eintönige Hausarbeit zum Beispiel.

Oder kleine Kuscheltiere für Alas herstellen.

„Ich bin so ein Idiot“, entfährt es Ashiya, dem es plötzlich wie Schuppen von den Augen fällt. Jetzt weiß er, wieso Urushihara ihn vor drei Wochen um Stricknadeln, Wolle und reine Schafswolle anflehte. Zuerst war er ja strikt dagegen, aber es war noch keine drei Tage her, als er Lucifer zum Weinen brachte und weil er sich deswegen immer noch schuldig fühlte, besorgte er ihm, was er sich so sehnlichst wünschte.

Bei der Erinnerung zieht er die Schultern hoch und senkt den Kopf tief zu Boden.

Ich bin so ein mieser Freund. Beschämt beißt er sich auf die Unterlippe, als ihm seine bösen Worte wieder einfallen, die er damals wütend hinausschrie:

 

Du bist ein Nichtsnutz, Lucifer!“ Er war so zornig, dass er nicht nur vergaß, dass außer Mao auch Emi, Chiho, Suzuno und Alas-Ramus anwesend waren, sondern besagten „Nichtsnutz“ auch bei seinem richtigen Namen nannte. Deshalb wirkten seine Worte natürlich viel verletzender als beabsichtigt, aber darüber machte er sich in dem Moment keine Gedanken. „Du kostest uns mehr, als du wert bist! Wenn du Hunger hast, dann SAG es, plündere nicht einfach heimlich den Kühlschrank! Das Teriyaki war für heute Abend gedacht! Mao-sama arbeitet schwer dafür, dass wir hier leben können und ich versuche wirklich mein Bestes, um uns gesund zu ernähren und du grätschst mir einfach dazwischen! Was sollen wir jetzt bitteschön essen? Sieh mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede!“

Doch Lucifer, der wie ein begossener Pudel vor ihm stand, senkte den Kopf nur noch tiefer, schlug die Hände vors Gesicht und dann hörte Ashiya zu seinem großen Entsetzen etwas, was er von Lucifer noch nie vernommen hatte: Ein Schluchzen.

Das hämische Getuschel von Seiten des Tisches verstummte abrupt und aus dem Augenwinkel konnte er sehen, dass die anderen genauso geschockt waren wie er.

Innerhalb eines Sekundenbruchteils stürmte eine wutschnaubende Alas-Ramus auf ihn zu, trat und boxte gegen seine Beine und schrie ihn an, „ihren“ Lucifer in Ruhe zu lassen. Emi sprang auf, um ihre tobende Ziehtochter von dem wie erstarrt dastehenden Ashiya fortzuziehen und dafür fing sie sich von Alas-Ramus auch einen Hieb, gefolgt von einem „Ich hasse euch!“ ein.

Es war das erste Mal, dass Ashiya dieses sonst immer so fröhliche, ausgeglichene Kind so wütend erlebte.

Lucifer murmelte etwas von „Migräne“, wischte sich übers Gesicht, ging in die Hocke, streckte nur auffordernd die Arme aus und Alas-Ramus flog ihm sofort in die Arme. Sie umarmten sich, Lucifer flüsterte etwas in ihr Ohr und sie nickte zögernd.

Lucifer strich ihr noch einmal über das Haar, dann erhob er sich, streckte die Hand aus und tastete sich an der Wand entlang zurück zu seinem Einbauschrank, während Alas-Ramus zu Mao lief.

 

Später erzählte ihm Mao betroffen, der von seinem Platz am Tisch aus Lucifers Gesicht gut im Blick hatte, dass diesem die Tränen nur so über die Wangen strömten.

Da niemand von ihnen wirklich wußte, wie sie darauf reagieren sollten, taten sie – nichts. Suzuno lud sie zu sich nach nebenan ein. Ihre Vorratskammer sei gut gefüllt und zusammen kochen mache doch Spaß.

Also ließen sie Lucifer allein zurück. Als Mao und Ashiya später wiederkehrten und einen zaghaften Blick in den Wandschrank warfen, hatte sich Lucifer zu einer Kugel zusammengerollt und fauchte sie an, sie sollten ihn in Ruhe lassen, er habe Migräne.

Am nächsten Morgen entschuldigte er sich am Frühstückstisch für sein Benehmen und erklärte es wieder mit höllischen Kopfschmerzen, die ihn nicht geradeaus denken ließen.

Und sie … kauften es ihm ab.

Weil sie nicht wußten, was sie sonst hätten tun sollen.

Weil sie... furchtbare Idioten sind.

Und weil sie so furchtbare Idioten sind, hat Lucifer ihnen wahrscheinlich auch nie etwas gesagt.

Ashiya kann es ihm wirklich nicht verübeln.

Wir hätten ihn nicht zu diesem Kurztrip hier zwingen müssen. Verärgert ballt er die Fäuste. Er wollte nicht hierher. Wieso auch? Was kann er hier schon tun? Jeder Schritt ist hier ein Schritt ins Unbekannte für ihn.

Ashiya hält inne, holt einmal tief Luft und schließt dann die Augen. Dann setzt er sich wieder in Bewegung, gibt nach zwei Schritten aber schon entmutigt auf. Es waren nur zwei Schritte, aber er hatte furchtbare Angst, hinzufallen oder gegen etwas zu stoßen.

Und Emi hat ihn aus dem Auto geworfen und ich habe ihn auch noch verspottet.

Er war ganz alleine hier draußen.

Völlig hilflos.

„Wir haben sehr viel wieder gut zu machen.“

X. Kapitel

 

 

Mao stellt schnell fest, dass er das Teleportieren gar nicht mehr gewohnt ist. Es ist beschämend, wie einem etwas, das noch vor einem Jahr ganz natürlich erschien, den Gleichgewichtssinn derart durcheinander wirbeln kann.

Er hat sich kaum materialisiert, da gerät er ins Straucheln, doch alles, woran er denken kann, ist Lucifers Gewicht auf seinem Rücken und dass er ihn verdammt nochmal nicht fallen lassen darf! - und so reißt er sich entschlossen zusammen.

Zu einer großen Erleichterung stellt er fest, dass er genau dort gelandet ist, wo er hinwollte: auf der Veranda, direkt vor der Eingangstür.

„Papa! Papa!“ Ein kleiner pinkfarbener Wirbelwind mit langen, silbernen Haaren stürmt heran. Alas-Ramus stolpert fast, so eilig hat sie es, die Treppe hinauf zu rennen.

„Alas-chan, vorsichtig, langsam!“ Chiho folgt ihr auf dem Fuße und Emi trottet etwas gemächlicher hinterdrein.

„Papa! Du hast Lucifer gefunden!“ Alas strahlt ihn an, doch dann runzelt sie die Stirn und legt fragend den Kopf schief. „Geht es Lucifer nicht gut?“

„Es wird ihm bald besser gehen“, verspricht er ihr und hofft, dass das keine Lüge war.

Dann starrt er erst einmal ratlos auf die Tür. Verflixt, er hat keine Hand frei, um sie zu öffnen. Aber da ist Chiho schon heran, bemerkt sein Dilemma und beeilt sich, ihm die Tür aufzuschließen. Dafür schenkt er ihr ein dankbares Lächeln, woraufhin sie verlegen errötet, aber das sieht er schon nicht mehr, weil er an ihr vorbei in die Hütte stapft.

Drinnen zögert er kurz, doch dann stiefelt er entschlossen auf die große, gemütliche Couch zu.

Er könnte Urushihara zwar auch nach oben ins Zimmer bringen, das er sich sowieso mit ihm und Ashiya teilen sollte – das King Size Bett ist riesig – aber Mao entscheidet sich für das Wohnzimmer. Hier ist Urushihara niemals allein. Außerdem ist dies hier der wärmste Ort in der Hütte.

Alas-Ramus in ihrem pinkfarbenen Schneeanzug folgt ihm aufgeregt, anders als ihr Ziehpapa nimmt sie sich aber die Zeit, sich die Schuhe von den Füßen zu ziehen und sogar ordentlich an die Wand zu stellen. Dann rennt sie die zwei Stufen von dem kleinen Garderobenraum hinüber in das Wohnzimmer und sieht Mao sorgenvoll zu, wie dieser Lucifer behutsam von seinem Rücken auf die Couch gleiten lässt.

Als er sich daran macht, Lucifer aus dem Parka zu pellen, zieht sie sich mit entschlossener Miene ihre Handschuhe aus, setzt sie sich auf die Couch, greift sich einen von Lucifers Füßen und beginnt, an den Schnürsenkeln seiner Schuhe herumzufingern.

„Papa“, maßregelt sie Mao dabei ernst, „du musst Lucifer sagen, was du tust, sonst erschrickt er sich doch. Lucifer, ich ziehe dir jetzt die Schuhe aus“, fügt sie dann hinzu und wirft Mao dabei einen auffordernden Blick zu.

Betroffen zuckt dieser zusammen, doch dann nickt er gehorsam.

Er beugt sich etwas hinab und flüstert ein „Hey, Lucifer“, in dessen Ohr. Sanft streicht er ihm das schneenasse Haar aus dem Gesicht und beißt sich kurz auf die Lippen, als er spürt, wie kalt Lucifers Haut ist.

Für eine Sekunde überfällt ihn die Panik, dass sein General schon längst tot ist, dass er eine Leiche gerettet hat, und so legt er ihm prüfend die Hand auf die Brust. Es folgt eine weitere bange Sekunde, doch dann fühlt er ein kaum merkliches Heben und Senken des Brustkorbes. Mit einem erleichterten Zischen stößt er die Luft, von der er gar nicht wußte, dass er sie angehalten hatte, wieder aus.

„Du bist jetzt in Sicherheit.“ Sachte fährt er mit dem Zeigefinger eine elegant gebogene Augenbraue nach.

Die Schatten um seine Augen sind schon fast so dunkel wie sein Haar.

Und seine Haut ist so KALT!

„Ich ziehe dir jetzt die Jacke aus, okay?“

Er öffnet gerade langsam den Reißverschluß, da eilt Chiho heran.

„Alas-chan, warte, zieh dich doch erst Mal selbst aus, sonst überhitzt du dich nur.“

Alas. Mao zuckt zusammen und dreht erschrocken den Kopf. Er hat seine kleine Ziehtochter völlig vergessen und fühlt sich sofort schuldig.

„Danke, Alas-chan“, er schenkt ihr ein liebevolles Lächeln. „Hör bitte auf Chiho. Zieh deinen Schneeanzug aus, dann kannst du mir gerne weiterhelfen.“

Alas-Ramus schmollt.

„Papa, du trägst auch noch deine Jacke“, murrt sie, gehorcht dann aber und befreit sich mit Chihos tatkräftiger Unterstützung von ihrem gefütterten Schneeanzug, während Mao sich daran macht, Alas' begonnene Arbeit weiterzuführen. In Gedanken tadelt er sich, nicht besser auf seine Ziehtochter geachtet zu haben. Sie meint es gut, aber niemand weiß, ob Urushihara an den Füßen irgendwelche Verletzungen davongetragen hat und er möchte Alas-Ramus diesen Anblick lieber ersparen.

„Alas-chan hat Recht: Beherzige deinen eigenen Rat“, ertönt da Emis Stimme hinter ihnen. „Und zieh dir wenigstens die Stiefel aus. Ashiya wird alles andere als begeistert sein über den Schnee und Dreck, den du hier hereingetragen hast.“

„Putz ich später weg“, bügelt er sie ab. Er hat wirklich Wichtigeres im Kopf.

Emi beobachtet das ganze eine Weile, dann stößt sie einen tiefen Seufzer aus und streckt die Hand nach ihrer Ziehtochter aus.

„Komm mit mir, Alas-chan. Lass uns mal ein paar Decken holen.“

Die Kleine nickt eifrig, ergreift ihre Hand und dann gehen sie gemeinsam Richtung Flur, um aus dem dortigen Wandschrank das Nötige herauszusuchen.

„Ashiya hat gesagt, ich soll ihm trockene, warme Kleidung anziehen“, murmelt Mao mehr zu sich selbst als zu Chiho, während er ganz, ganz vorsichtig, eine durchnässte Socke von Urushiharas linkem Fuß rollt.

„Ich hole seine Tasche“, erklärt sich Chiho sofort bereit und eilt davon.

Mao nickt nur abwesend, er ist damit beschäftigt, Urushiharas Fuß auf Auffälligkeiten zu untersuchen. In der Dämonenwelt gibt es auch Berge, Eis und Schnee, aber um Kälteschäden muss sich dort niemand wirklich Sorgen machen, weil genug dunkle Magie zur Verfügung steht, mit der man sich sofort heilen kann.

Noch nie hat er es mehr verflucht, auf der Erde zu sein und damit nur einen Bruchteil seiner magischen Kräfte zu besitzen. Noch nie fühlte er sich so hilflos.

Glücklicherweise, stellt er schließlich erleichtert fest, zeigen Urushiharas Füße – beide – keine Anzeichen von Erfrierungen. Die Zehen sind etwas bläulich und der Rest der Haut gespenstisch blaß, aber das ist alles.

Mao stößt einen langen Seufzer der Erleichterung aus und dann noch einen. Jetzt, wo alle anderen fort sind, gestattet er sich einen klitzekleinen Moment der Schwäche.

Er sinkt förmlich in sich zusammen. In einer hilflos anmutenden Geste beugt er sich über seinen bewußtlosen General und presst seine Stirn gegen die kalte, blasse des anderen.

„Bitte, Lucifer. Bitte“, wispert er, ohne sich dessen wirklich bewußt zu sein.

 

Und plötzlich ist er wieder in der Dämonenwelt und ein Bote platzt mitten in seine Lagebesprechung mit seinen Generälen und Beratern. Die Nachricht, die er ihm zu überbringen hat, ist ihm sichtlich unangenehm, so, wie er anfangs herumdruckst. Doch schließlich platzt es doch aus ihm heraus:

Mein König, wir haben den Westen verloren. General Lucifer ist gefallen!“

 

Mao ließ es sich nicht anmerken, er durfte nicht zeigen, welch einen Aufruhr diese Nachricht in seinem Inneren verursachte, schließlich befanden sie sich gerade im Krieg. Ein Teil von ihm weigerte sich, zu glauben, dass Lucifer tatsächlich getötet worden war – von einem Menschen noch dazu! - und ein anderer versank in einem bleiernen Schockzustand.

Er hatte niemals die Zeit, diesen Verlust zu beklagen – und als Lucifer putzmunter vor ihm auftauchte, war es auch nicht mehr nötig, aber dennoch hängt seit diesem Tag ein kleiner, nichtsdestotrotz aber schwerer Mühlstein an seiner Seele und legt sich besonders jetzt wie eine eiserne Klammer um sein Herz.

Chihos Rückkehr reißt ihn aus seinen schweren Gedanken zurück ins Hier und Jetzt. Hastig richtet er sich wieder auf und pellt Urushihara endgültig aus seinem Parka.

Zusammen mit Chiho kommen auch Emi und Alas zurück, wobei Alas unter den drei Decken, die sie trägt, fast gar nicht mehr zu sehen ist.

Lächelnd setzt Chiho Urushiharas Reisetasche neben Mao ab, wendet sich aber schnell verlegen ab, als sie sieht, dass Mao gerade an Urushiharas Gürtel herumnestelt. Das muss sie nicht sehen. Stattdessen zückt sie lieber ihr Smartphone, um zu recherchieren, wie man eine Unterkühlung behandelt.

Alas-Ramus strahlt voller Stolz, als sie herankommt und die Decken auf die Couch legt. Doch bevor sie ihrem Ziehpapa helfen kann, nimmt Emi ihre Hand und zieht sie wieder fort.

„Nicht, Alas-chna, das ist kein Anblick für eine junge Dame. Lass Mao etwas Freiraum. Was hältst du davon, wenn wir dir einen heißen Kakao kochen? Du kannst Mao wieder helfen, wenn er Lucifer umgezogen hat.“

Zuerst sträubt sich Alas-Ramus, aber als Mao ihr nur zustimmend zunickt und lächelt, gibt sie sich geschlagen.

„Bis gleich, Lucifer“, zwitschert sie und winkt. „Ich bin gleich wieder da.“

Mao sieht ihr stolz nach, wie sie mit Emi in Richtung Küche verschwindet – die Kleine ist wirklich ein Schatz – und wendet sich dann wieder dem Bewusstlosen zu. Es ist nicht leicht, ihn aus der Jeans zu pellen, der Stoff ist fast gefroren und fühlt sich unangenehm klamm an und dort, wo er in Kontakt mit dem Schnee kam, ist er völlig durchnässt.

Als es geschafft ist, wirft er die Jeans achtlos zu den restlichen Klamotten auf den Fußboden. Aus der Reisetasche kramt er das Wärmste hervor, was er finden kann: eine gefütterte Jogginghose, Wollsocken, ein noch fast neues T-Shirt und einen Hoodie. Er zögert, doch dann greift er sich auch eine neue Boxershorts. Lucifer wird es ihm sicher verzeihen, derart seine Intimsphäre zu verletzen, denn eine Blasenentzündung möchte er bestimmt nicht riskieren.

Außerdem gehen sie regelmäßig in den Onsen – einmal in der Woche ist ihnen eben auch nach einem Bad, nicht nur nach einer Dusche – und daher wissen sie genau, wie sie nackt aussehen.

Auch wenn sie Urushihara in den letzten Wochen jedes Mal wegen Migräne oder anderer Unpäßlichkeiten nicht begleitete. Ashiya war natürlich froh darüber, denn so sparten sie dreihundert Yen Eintritt und Mao wollte keinen Streit, also gingen sie beide allein.

Und wieder etwas, weswegen er sich jetzt Vorwürfe machen kann.

Unwillig schüttelt Mao den Kopf und schiebt diese Gedanken ganz weit von sich. Jetzt ist es erst einmal wichtig, seinem General zu helfen.

Erstaunlicherweise fühlt sich nicht anders an, als wenn er eine sich noch im Halbschlaf befindende Alas-Ramus ankleidet. Es ist, als würde er eine Puppe anziehen. Eine erstaunlich dünne Puppe.

Hat er an Gewicht verloren? Mao stutzt kurz.

Sicher, sein General war schon immer klein und zierlich, kein Vergleich zu ihm selbst und seinen beeindruckenden Muskelpaketen oder zu Alciel, aber jetzt erscheint ihm Lucifer nur noch wie ein Schatten seiner selbst.

Und wo kommen all die blauen Flecken her?

Betroffen betrachtet Mao einen besonders großen Fleck auf Urushiharas linkem Knie. Sein General weist mehr blaue Flecken auf als Alas-Ramus nach einem wilden Tag auf dem Abenteuerspielplatz.

Sind die etwa alle von letzter Nacht?

Betreten beißt er sich auf die Unterlippe und zieht ihm hastig die Unterhose an, gefolgt von einem T-Shirt.

Dann wirft er einen unsicheren Blick zu Chiho hinüber, aber die steht immer noch mit dem Rücken zu ihm. Er hört das leise klack-klack-klack ihrer Fingernägel auf dem Handydisplay und der Gedanke, der ihm dabei durch den Kopf fährt, lässt ihn regelrecht erstarren.

Chiho spürt plötzlich, dass sie beobachtet wird und wirft einen schüchternen Blick über die Schulter zurück.

„Uh, Mao-sama? Ist etwas?“

Er starrt sie noch einen Moment an, blinzelt einmal hart und konzentriert sich dann wieder darauf, Urushihara die gefütterte Jogginghose über die Hüften zu ziehen.

„Ich dachte nur gerade...“, erklärt er dabei in bitterem Tonfall, „wenn wir ihm ein Smartphone erlaubt hätten, hätte er uns um Hilfe rufen können und dann läge er jetzt nicht hier.“

Chiho schluckt einmal schwer. Und da Urushihara inzwischen fast wieder züchtig bekleidet ist, wagt sie es, neben ihren heimlichen Schwarm zu treten. Sie streckt die Hand aus, um sie ihm auf die Schulter zu legen, zieht sie im letzten Moment aber wieder zurück.

Diese zärtliche Geste, mit der er Urushihara über die Wange streichelt, schreckt sie aus ihr unerfindlichen Gründen ab.

Stattdessen räuspert sie sich einmal schüchtern.

„Ich habe im Internet recherchiert, was man bei einer Unterkühlung machen soll. Wir müssen ihn warm halten, und seinem Körper Zeit geben, wieder auf Temperatur zu kommen.“ Sie nimmt eine der Decken auf und breitet sie zusammen mit ihm über Urushihara aus. „Wenn er wieder bei Bewusstsein ist, können wir ihm heiße Getränke einflößen und ihm ein warmes Bad einlassen. Wir müssen aber aufpassen, dass es nicht zu heiß wird, sonst verbrennt er sich. Selbst wenn seine Körpertemperatur wieder normal ist, braucht er noch einige Tage Bettruhe.“ Sie seufzt einmal voller Mitgefühl. „Der Arme. So hat er sich diese Ferien bestimmt nicht vorgestellt.“

Mao antwortet nicht. Sein Schweigen ist fast noch verdächtiger als der niedergeschlagene Ausdruck auf seiner Miene, mit der er Urushihara betrachtet. Und dann streicht er ihm wieder durchs Gesicht, diesmal, um ihm eine Haarsträhne zurück hinters Ohr zu stecken.

„Ich weiß, er wollte nicht mit“, versucht sie, ihn zu trösten. „Aber ich bin sicher, am Ende hätte es ihm Spaß gemacht. Wer spielt nicht gerne mit Alas im Schnee?“ fügt sie dann scherzhaft hinzu, in dem Bestreben, ihn aufzuheitern.

Mao schüttelt nur den Kopf, schlüpft endlich aus seiner eigenen Jacke und den Stiefeln und lässt alles dort liegen, wo es hinfiel.

„Chiho“, erwidert er betrübt, während er sich auf die Couch setzt und seinen leblosen General in seine Arme zieht und dann die Decke wieder fester um ihn stopft. „So einfach ist das nicht mehr.“

Chiho greift zu einer zweiten Decke und wartet geduldig auf seine Erklärung, während sie diese über Urushihara ausbreitet und Mao hilft, sie genauso festzustopfen wie die andere. Und obwohl sie die Ohren spitzt, hätte sie Maos Worte fast überhört, so leise – und unfassbar - sind sie:

„Ich weiß nicht wann, ich weiß auch nicht wie, aber, Chiho – er ist blind.“

Aus der Küche ist ein lautes Klirren zu hören, gefolgt von Alas-Ramus vorwurfsvollem:

„Mama! Meine Tasse!“

XI. Kapitel

 

 

Mao hat es sich gerade mit Urushihara in seinen Armen auf der Couch bequem gemacht und auch Chiho hat sich zu ihm gesellt, als Alas angerannt kommt. Sie reicht Mao mit folgenden Worten einen Labello-Stift:

„Mama hat gesagt, das soll ich dir geben. Für Lucifers Lippen.“

und kuschelt sich dann an Urushiharas Seite.

„Danke, Emi!“ ruft er und rückt sich etwas zurecht, um mit dem Balsam vorsichtig Urushiharas rissige Lippen zu behandeln. Es ist, wie er feststellt, ein noch völlig unbenutzter Balsamstift.

„Ich will es nicht wiederhaben“, schallt es aus der Küche zurück. „Nicht mit seinen Bakterien daran!“

Mao rollt nur mit den Augen. Während er behutsam Urushiharas Lippen einsalbt, stellt er zufrieden fest, dass sie zwar wirklich rissig und aufgesprungen, aber dafür nicht mehr so blau sind wie zuvor.

Feierlich legt Alas ein zwanzig Zentimeter großes Kuscheltier auf Urushiharas Brust. Es ist ihr derzeit liebster Begleiter: ein bunter, selbstgestrickter Oktopus. Die Maschen sind teilweise ziemlich unregelmäßig, und als Urushihara dieses kleine Ungetüm Alas schenkte, hatten sie alle darüber gelästert. Aber jetzt, wo Mao weiß, wieso es teilweise so krumm und schief aussieht, schämt sich Mao zutiefst über seine damalige Reaktion.

Alas ist es egal, wie das Ding aussieht – sie liebt es heiß und innig. Normalerweise wacht sie sehr eifersüchtig darüber, und dass sie ihn jetzt mit Urushihara teilen will, rührt nicht nur Mao zutiefst.

„Oh, Alas“, lobt Chiho sie, „das ist aber lieb von dir.“

Mit ernster Miene rückt die Kleine das Tier zurecht.

„Lucifer hat gesagt, Okto hat acht Arme und mit jedem hat er mich lieb. Jetzt hat Okto Lucifer achtmal lieb.“ Fragend sieht sie zu Mao auf.

„Hast du Lucifer jetzt wieder lieb, Papa?“

Mao zuckt so heftig zusammen, dass er fast den Lippenbalsam fallen gelassen hätte. Hastig legt er den kleinen Stift beiseite und schlingt unwillkürlich seine Arme fester um seinen bewußtlosen General.

„Alas-chan“ , stößt er betroffen hervor, „ich hatte ihn immer lieb.“

Sie mustert ihn kritisch.

„Du warst gemein zu ihm“, stellt sie dann unbarmherzig klar.

„Ach, Alas-chan“, seufzend streckt er die freie Hand aus und streichelt ihr übers Haupt. Unter ihrem weiterhin sehr vorwurfsvollem Blick fühlt er sich wie der allerletzte Schuft. „Das war nicht recht von mir und ich verspreche dir, dass das nie wieder vorkommt.“

Sie mustert ihn einen Moment noch ernst, dann kichert sie vergnügt, denn seine Hand in ihrem Nacken kitzelt sie so schön.

Zufrieden kuschelt sie sich sowohl an Mao wie auch an Urushihara, wodurch das Kuscheltier umfällt. Schnell setzt sie es wieder aufrecht hin.

„Okto ist wirklich cool“, erklärt Chiho und hilft ihr dabei, das Tier durch seine acht Arme besser abzustützen, damit es etwas besser im Gleichgewicht bleibt.

„Ich habe die Farben ausgesucht“, zwitschert Alas stolz.

Mao nickt gedankenverloren, denn an diesen Nachmittag erinnert er sich noch sehr gut.

 

Das hier ist blau“, ernst nahm Alas-Ramus Urushiharas Hand und führte sie an das Wollknäuel vor ihnen auf dem Tisch und nachdem er die Wolle kurz prüfend betastet hatte, legte sie seine Hand auf das Knäuel daneben. „Und hier die grüne.“ Auf diese Art zeigte sie ihm alle vier Farben. „Pink. Lila.“

Jede Wolle war eigentlich mehrfarbig, entweder meliert oder mit einem sehr hübschen Farbverlauf, aber als Mao nach einem der Knäuel griff, um es sich genauer anzusehen, protestierte Alas lautstark.

Papa! Bring nichts durcheinander!“

 

Damals hatte er es nicht verstanden.

Unwillkürlich festigt Mao seinen Griff um Urushihara, als er sich an die beiden Tage erinnert, wie dieser unablässig in der Ecke am Fenster gesessen und mit Stricknadeln, Wolle und reiner Schafswolle als Füllmaterial hantierte. Und als der Oktopus schließlich fertig war, und sich dann zuerst er und Ashiya und später auch alle anderen darüber mokierten, wie farblich häßlich und krumm und schief das Ding war, rief Alas-Ramus nur, dass Okto wunderschön sei und umarmte Urushihara begeistert.

 

Gewöhn dich nicht daran“, sagte Emi zu ihrer Ziehtochter. „So etwas Potthäßliches kommt mir nicht in meine Wohnung. Das ist ein Fall für den Müllcontainer.“

Und Alas-Ramus … wurde fuchsteufelswild.

Okto gehört mir! Du kannst ihn mir nicht wegnehmen! Du bist nicht meine Mama!“

 

Wie er später von Emi erfuhr, war es nicht das erste Mal, dass Alas-Ramus diese Drohung ausstieß, auch, wenn er sie an diesem Tag zum allerersten Mal hörte. Und wenn er ehrlich sein soll, freute er sich insgeheim darüber, denn Emis besitzergreifende Art, was ihre Ziehtochter betraf, ging und geht ihm immer noch erheblich gegen den Strich. Deshalb sprang er Emi an diesem Tag auch nicht bei und lehnte sich nur entspannt zurück und genoß die kleine Show, in deren Verlauf Emi immer zorniger wurde, ihre Gefühle aber hinunter schluckte, weil ihr letztendlich nichts anderes übrigblieb.

Chiho betrachtet ihren Schwarm nachdenklich, und als da diese kleine Lächeln um seine Mundwinkel zuckt, als er an einem von Oktos Wollfäden zupft, die so etwas wie eine Frisur darstellen sollen, verspürt sie ein gewisses mulmiges Gefühl in ihrem Magen, das sie sich nicht ganz erklären kann.

„Wenn man bedenkt, dass Lucifer nicht sehen konnte, was er da strickte, ist das wirklich gut geworden. Auch dafür, dass er seit Ewigkeiten nicht mehr gestrickt hat... “, sagt er nachdenklich. Hinter ihnen in der offenen Küche horcht Emi auf, stellt den Herd auf die unterste Stufe, damit das Mittagessen langsam weiter vor sich hinköcheln kann und kommt neugierig näher.

„Als ich noch ein Kind war, hat er mir ständig Pullis und Jacken gestrickt. Oder genäht“, fährt Mao gedankenverloren und mit einem leisen Lachen in der Stimme fort. Alas-Ramus hört ihm mit großen Augen aufmerksam zu.

„Die Wolle war natürlich nicht so fein wie diese hier, sondern irgendwie viel, viel ungleichmäßiger, aber auch flauschiger. Als kleiner Goblin lief ich nur in einer Hose herum. Ich wurde verletzt und hatte daher einen Verband um den Oberkörper und trug dazu noch einen zerschlissenen halben Umhang. So lernte er mich kennen. Deshalb strickte er mir Pullover und Jacken. Weil ich als angehender König auch angemessen gekleidet sein sollte.“

„Stricken und Nähen ist Frauensache“, bemerkt Emi aus dem Hintergrund.

„Ja?“ entgegnet er lachend, betrachtet Urushihara mit einem zärtlichen Blick und streicht ihm sanft durchs Haar. „Macht nichts, denn die Hälfte meines Hofstaates lief jahrzehntelang in seinen Kreationen herum. Die haben übrigens auch zuerst darüber gelacht. Aber dann rissen sie sich um seine Jacken.“ Plötzlich stockt er, weil er sich an etwas erinnert und ein Schatten huscht über sein Gesicht.

„Bis Camio einen gelernten Schneider aus einer der Handelsstädte in meinen Palast brachte. Er sollte mir etwas Eleganteres schneidern, etwas, was eines Königs würdig ist. Seine Hemden waren aus einem völlig neuartigem Stoff, etwas dünn und luftig, aber dafür schimmerten sie sehr schön. Ich mochte sie sofort und wollte nichts anderes mehr tragen. Seitdem hat Lucifer nie wieder etwas für mich gestrickt.“

Emi mustert ihn eindringlich und es wirkt beinahe genauso vorwurfsvoll wie Alas' Blick.

„Jaaaa“, meint sie gedehnt. „So ungern ich es zugebe, aber da kann ich die kleine Pest gut verstehen.“

Mao kann ihr da nicht widersprechen.

Auf einmal beginnt Urushihara in seinen Armen leise zu wimmern und wird unruhig.

Entsetzt richtet sich Alas auf und auch Chiho und Emi spannen sich aufmerksam an.

„Lucifer...“ erschrocken und zunehmend hilfloser streicht Mao ihm wieder durchs Haar. „Was ist denn?“

Aber Urushihara wimmert nur etwas lauter und windet sich in seiner Umarmung hin und her.

„Lucifer.“Ängstlich streichelt ihm nun auch Alas durchs Haar. „Lucifer. Sch. Du bist in Sicherheit, alles ist gut.“

Doch Urushihara schnappt nur lautstark nach Luft, wimmert noch herzerweichender, presst sich die Hände an die Brust und krümmt sich regelrecht zusammen.

„Lucifer!“ Panikerfüllt versucht Mao, ihn etwas aufzurichten, und während er ihm stützend einen Arm um die Taille schlingt, legt er ihm die freie Hand an die Wange und versucht, in seiner verzerrten Miene zu lesen.

„Lucifer. Was ist denn? Sag mir doch, was dich quält, bitte.“

Aus dem Winseln wird ein abgehacktes Schluchzen, das Mao durch Mark und Bein geht. Urushiharas Lider öffnen sich einen Spaltbreit und entblößen einen Teil seiner violetten, schmerzgetrübten Iriden, aus seiner Kehle löst sich ein langgezogenes „auuuuu“ und er presst seine zu Klauen gekrümmten Hände noch fester gegen seine Brust, während er seine Fersen ins Polster drückt.

Als sie das sieht, erinnert sich Chiho wieder an das, was sie gelesen hat.

„Seine Hände und Füße tauen wieder auf! Das ist ein gutes Zeichen“, erklärt sie dann in dem Bestreben, Mao und die verängstigte Alas zu beruhigen.

„Armer Lucifer“, tröstend streichelt Alas seine Schultern, doch es ist eindeutig, dass er in seinen Schmerzen derart gefangen ist, dass er nichts anderes mehr um sich herum wahrnimmt.

Für Mao ist es unerträglich, ihn so zu sehen und so unternimmt er das einzige, was ihm einfällt. Er hat zwar keine Möglichkeit, um wirksame Magie anzuwenden, aber diese Fähigkeit hier wurde ihm in die Wiege gelegt, sie gehört zu ihm wie seine Arme und Beine und er kann sie auch als schwacher Mensch nutzen.

„Es tut mir leid.“ Mit diesen Worten legt er Urushihara Zeigefinger und Mittelfinger seiner rechten Hand auf die Stirn. „Ich weiß, ich habe versprochen, das niemals bei dir zu machen.“ Er holt einmal tief Luft.

„Schlaf“, befiehlt er ihm dann und legt soviel Macht wie möglich in seine Stimme.

Urushihara erstarrt, seine Augen verdrehen sich nach hinten, bis nur noch das Weiße zu sehen ist und dann sackt er in sich zusammen.

Mao fängt ihn auf und zieht ihn sofort wieder in seine Arme.

 

 

XII. Kapitel

 

 

Emi reicht Mao gerade das Ohrthermometer aus der Reiseapotheke und zwei Wärmflaschen für Urushihara – eine für die Hände, die andere für die Füße - als es an der Tür klopft.

„Zu spät“, erklärt sie spöttisch, als sie einen ziemlich durchgefroren aussehenden Ashiya hereinlässt. „Du hast das Drama schon verpasst.“

„Drama?“ wiederholt er alarmiert, wirft einen Blick über ihre Schulter ins Wohnzimmer, wo er Chiho, Alas und seinen König zusammen mit Urushihara auf der Couch hocken sieht. Er sieht auch, die beschützende Art, wie Mao den offensichtlich bewußtlosen Urushihara in seinen Armen hält und fügt sofort besorgt hinzu, während er aus seinen Stiefeln schlüpft und seinen Mantel ablegt: „Was ist passiert?“

„Er hat ihn schlafen geschickt“, erwidert Emi eindeutig belustigt.

Ashiya wirft ihr einen irritierten Seitenblick zu und geht dann zur Couch hinüber.

„Mylord?“

„Ich hatte keine Wahl. Es hält auch bestimmt nicht lange an.“, verteidigt sich Mao, während er ratlos auf die digitale Anzeige des Thermometers starrt. Dort steht groß und deutlich „Error“. Soll das bedeuten, dass Urushiharas Körpertemperatur so niedrig ist, dass das Thermometer sie gar nicht erfassen kann? Betroffen reicht er es zurück an Emi, die die Anzeige nur mit hochgezogenen Augenbrauen quittiert.

„Ihr hattet sicher einen guten Grund, Mylord“, besänftigt Ashiya ihn sofort. Ihm entgeht die seltsame Reaktion der beiden natürlich nicht, doch er ist noch viel zu sehr auf das andere Problem seines Königs fixiert und bestrebt, ihn erst einmal in diesem Punkt zu beruhigen.

„Und ob ich den hatte!“ verteidigt sich Mao heftig. „Er hatte furchtbare Schmerzen!“

„Und das ist gut so“, fällt ihm Emi ungeduldig ins Wort. Sie versteht die ganze Aufregung nicht, denn ihrer Meinung nach hat Mao nur logisch gehandelt. „Sorgen müsstest du dir machen, wenn Urushiharas Finger und Zehen wieder auftauen und er es nicht spürt. Die Wärmflaschen werden helfen. Nicht nur seinen Händen und Füßen“, fügt sie dann noch beruhigend hinzu.

„Ist er zu sich gekommen?“ erkundigt sich Ashiya.

„Nur kurz und nur wegen der Schmerzen“, erwidert Mao und fügt dann betrübt hinzu: „Aber ich glaube nicht, dass er wirklich wach war.“

„Ich verstehe.“ Ashiya sinkt neben der Couch auf die Knie, streicht Urushihara das Haar zurück und betrachtet kurz dessen blasses Gesicht, legt ihm dann prüfend eine Hand an die Wange, um auf seine eigene Art die Körperwärme zu messen und wirft seinem König dann einen langen Blick zu. „Er fühlt sich tatsächlich fast wieder normal an.“ Das ist zwar etwas optimistisch, aber Urushihara ist tatsächlich nicht mehr so eiskalt wie vor einer knappen Stunde und Ashiya zieht es vor, zugunsten aller hier das Positive in den Vordergrund zu stellen.

Tatsächlich entspannt sich Mao erwartungsgemäß bei seiner Aussage ein kleines bißchen. Da er aber immer noch etwas schuldbewußt aussieht, beeilt sich Ashiya, ihn zu beruhigen:

„Es war ein Notfall. Lucifer wird es verstehen.“

Seinen Worten folgt eine erwartungsvolle Stille. Zwei Augenpaare mustern ihn fragend. Ashiya hadert noch einen Moment mit sich, doch nach einem erneuten Blick in die kummervolle Miene seines Königs, der derzeit wirklich nur Augen für Urushihara in seinen Armen zu haben scheint, gibt er sich geschlagen und erklärt den Frauen widerwillig:

„Als Erzengel besitzt Lucifer eine natürliche Resistenz gegen die hypnotische Stimme unseres Königs. Um sich dennoch durchzusetzen, muss unser König ihn gewaltsam unterwerfen.“

„Ich habe ihm versprochen, das nie bei ihm anzuwenden.“ Trotz der aufmunternden und bestätigenden Worte seines Generals hadert Mao immer noch schwer mit sich.

Ashiya lächelt nachsichtig, überprüft die Lage der Wärmflaschen, streicht der still, aber alles mit aufmerksamen großen Augen beobachteten Alas-Ramus einmal durchs Haar und schenkt der ebenfalls sehr stillen Chiho ein aufmunterndes Lächeln. Dann fällt sein Blick auf den vor der Couch liegenden Kleiderhaufen.

Er seufzt einmal ergeben und macht sich dann daran, alles ordentlich aufzuräumen. Und als er damit fertig ist, holt er einen Wischmop und reinigt den Holzfußboden vom Schneematsch. Die monotone Arbeit beruhigt ihn auf geradezu heilsame Art und Weise.

 

 

Falsch. Etwas ist furchtbar falsch. Getrieben vom reinen Überlebensinstinkt, kämpft er sich aus der Schwärze hinaus und erwacht mit einem krampfhaften Zusammenzucken.

„Woah. Lucifer. Alles okay." Maos Stimme dicht an seinem Ohr und etwas, das ihn festhält. Lucifer schnappt nach Luft und wehrt sich panisch.

„Schschsch", versucht Mao, von dieser heftigen Reaktion überrascht, ihn zu beruhigen und lässt ihn sofort los. „Ich bin's. Mao. Alles ist in Ordnung."

Kaum spürt er, dass er wieder frei ist, weicht Lucifer ruckartig zurück. Die Couchlehne stoppt ihn. Hektisch tastet er seine Umgebung ab. Als seine Finger auf etwas Weiches aus Wolle stoßen, stutzt er kurz, tastet es genauer ab und ergreift es dann mit steifen Fingern, um es fest an sich zu drücken. Seine hektischen Atemzüge werden etwas ruhiger und dann holt er einmal ganz bewusst tief Luft und entlässt sie schließlich in einem langgezogenen Seufzer.

Seine weitaufgerissenen Augen irren dabei wild hin und her, ganz so, als könne er noch sehen.

„Lucifer", tröstend streichelt Alas-Ramus über die Decke, ungefähr an der Stelle, wo sich sein Schienbein befindet. Er zuckt erschrocken zusammen und sie entschuldigt sich hastig.

„Es tut mir leid. Es ist alles gut. Papa und Alciel haben dich gefunden."

„Alas-chan?" fragend dreht Lucifer den Kopf in die Richtung, aus der er ihre Stimme hörte. Langsam streckt er ihr seine Hand mit dem Kuscheltier entgegen. Er räuspert sich einmal. Sein Hals ist ganz kratzig und er spricht langsam und stockend, weil er erst nach den richtigen japanischen Worten suchen muss. „Das gehört dir."

„Ich teile Okto mit dir", erklärt sie und schließt in einer erschreckend erwachsenen Geste seine Finger um das Stofftier. Er beißt sich auf die Lippen, denn seine Gelenke sind immer noch steif und schmerzen, doch ihr zuliebe zwingt er sich zu einem schmalen Lächeln.

„Lucifer." Mao legt ihm eine Hand auf die Schulter, zieht sie jedoch sofort wieder zurück, als Urushihara schreckhaft zusammenzuckt. „Du bist mit uns in der Hütte. Alles ist gut. Du bist in Sicherheit."

Urushihara erstarrt einen Moment, doch dann nickt er zögernd. Mit einer Hand hält er Okto, während die andere unter die Decken wandert und dann zieht er stirnrunzelnd eine Wärmflasche heraus.

„Oh, das", lächelnd nimmt Mao sie ihm ab und legt sie neben sich. Sie ist inzwischen nur noch lauwarm. „Ich hoffe, sie hat etwas geholfen."

„Manmae scabrosus“, - meine Hände kribbeln-, murmelt Urushihara und beugt und streckt prüfend seine Finger.

„Lucifer..." Mao bemüht sich, besonders sanft und ruhig zu reden. Er streckt die Hand aus, zögert dann aber, als er sich an Alas' Worte erinnert. „Ich nehme jetzt deine Hand, okay?"

Urushihara nickt und streckt zögernd seine rechte Hand aus. Mao nimmt sie langsam und sehr behutsam und streicht dann zärtlich mit dem Daumen über seinen Handrücken.

„Abgesehen vom Kribbeln - wie fühlst du dich sonst?"

Urushihara blinzelt einmal fast im Zeitlupentempo.

„Ich ... Weiß nicht..." meint er dann gedehnt und entzieht ihm seine Hand ruckartig. „Das ist doch wieder nicht echt. Stultius somnium."

Ein törichter Traum. Mao schluckt einmal schwer.

Abweisend wickelt Urushihara die Decke enger um sich und rollt sich dann aber, entgegen seines ablehnenden Tonfalls, an Maos Seite zusammen.

Und als Mao zögernd seinen Arm um ihn legt, zuckt er diesmal nicht zusammen, denn wenn er diese Halluzination schon durchleben muss, dann kann er sie auch wenigstens genießen.

 

 

 

XIII. Kapitel

 

 

Alles ist warm und gemütlich, er fühlt sich ungewohnt sicher und geborgen, doch da nagt etwas an seinem trägen Bewußtsein, eine Erinnerung, die seinen behaglichen Kokon von außen her anknabbert und seine Ruhe stört.

Und dann durchfährt es ihn wie ein Blitz.

„Du hast deine Stimme gegen mich benutzt!"

Aufgebracht stemmt sich Urushihara von Mao fort. Das kommt so überraschend, dass Mao nichts Gescheites darauf einfällt. Vor einer Sekunde hat sich sein General noch an ihn gekuschelt und in der nächsten behandelt er ihn wie seinen größten Feind.

„Das fällt ihm ja schnell auf", bemerkt Emi aus dem Hintergrund belustigt. Sie deckt gerade zusammen mit Ashiya den Tisch. Der Duft von Reis, Fisch und Gemüse erfüllt die Hütte.

Urushiharas violette Augen weiten sich für den Bruchteil einer Sekunde, als er ihre Stimme hört. Hastig rutscht er noch etwas weiter zurück, fort von ihrer Stimme und als er dann mit dem Rücken an die Lehne stößt, zieht er schützend die Knie an seine Brust und wickelt sich enger in seine Decke.

Mao beobachtet das besorgt, ist aber unschlüssig, wie er darauf reagieren soll.

Chiho dagegen hat keine solchen Probleme.

„Urushihara-san. Ich habe hier einen Kakao für dich."

Vorsichtig berührt sie Urushiharas Hand und als dieser sie ihr zögernd entgegenstreckt, drückt sie ihm behutsam die Tasse in die Hand. Langsam schließt Urushihara seine Finger um das warme Porzellan und atmet den süßen Geruch genüsslich ein, während sich sein heftig klopfendes Herz langsam wieder beruhigt. Zögernd nippt er an der großen Tasse.

Hm. Heiße Schokolade mit Sahne und einem Hauch von Zimt. Genau so, wie er es mag.

Und das ist so falsch.

Enttäuscht lässt er die Tasse wieder sinken.

„Das ist nicht echt." Seine Stimme ist rauh und bricht zum Ende her weg.

„Was?“ entfährt es Mao neben ihm ungläubig.

„Euch gibt’s nicht“, wiederholt Urushihara. Er muss sich räuspern, bevor er weitersprechen kann. Und er stolpert immer wieder über die Worte, benutzt Ausdrücke in Engelssprache, weil ihm die japanischen nicht sofort wieder einfallen. „Das hier ist nur eine Halluzination. Ihr seid zu cara … nett“, berichtigt er sich. „Niemand von euch ist je so nett zu mir. Außer Alas und Chiho. Aber Alas es pueri … ist ein Kind und Chiho ist einfach von Natur aus nett zu jedem.“

Chiho lächelt schief.

„Oh, danke. Aber es war Ashiya-san, der dir den Kakao gekocht hat.“

„Natürlich hat er das“, kommt es zynisch zurück. „Das hier ist doch nicht echt.“ Er streckt ihr die Tasse entgegen und sie nimmt sie schnell, gerade noch rechtzeitig, bevor er sie wieder loslässt und alles auf seinem Schoß oder der Couch gelandet wäre.

Seinen Worten folgt kollektive, betroffene Stille, die von Alas-Ramus unterbrochen wird.

„Lucifer, geht es dir gut?“ fragt die Kleine, während sie sich vorsichtig an seine Beine lehnt und ihm tröstend übers Knie streichelt.

Plötzlich runzelt Urushihara die Stirn und tastet nach ihrem Handgelenk und fährt dann prüfend mit seinen Fingern darüber.

„Alas-chan? Ubi est Armilla?

„Mein Armband hat Papa draußen aufgehangen, damit du es hörst und uns findest.“

Niemand von ihnen ist wirklich überrascht, dass sie seine Sprache versteht. Ihr Ursprung ist schließlich der Lebensbaum des Himmels. Doch manchmal vergessen sie das und wenn sie dann so wie jetzt daran erinnert werden, ist es ihnen peinlich.

„Das war meine Idee“, ergänzt Alas-Ramus stolz, von den peinlich berührten Mienen der anderen um sie herum völlig unbeeindruckt.

Von ihrer Hand tastet sich Urushihara über ihren Arm hoch zu ihrem Kopf, um ihr sanft durchs Haar zu streicheln. Auf seiner Miene erscheint dabei ein nachdenklicher Ausdruck.

Allmählich kommen ihm Zweifel, ob es sich bei all dem hier wirklich um eine Halluzination handelt.

„Lucifer...“, Mao findet endlich seine Stimme wieder. „Das ist keine Halluzination.“

Vorsichtig streckt er die Hand aus und berührt ihn an der Schulter. Zu seiner großen Erleichterung zuckt Urushihara nicht zusammen.

„Alciel und ich haben dich im Wald gefunden. Du warst völlig unterkühlt und wahrscheinlich bist du das immer noch ein kleines bißchen. Und was meine Stimme betrifft“, fährt Mao leise fort, „es tut mir wirklich leid, aber es war die einzige Möglichkeit. Du hattest große Schmerzen.“

„Jetzt bist du wieder bei uns“, zwitschert Alas. „Ich umarm dich jetzt“, warnt sie ihn vor, „denn ich hab dich soooooooo lieb.“

Er legt ebenfalls einen Arm um sie und drückt sie so lange an sich, bis sie sich wieder von ihm löst. Das tut sie aber nur, weil sie Chiho den Kakao fortnimmt und ihn dann ihm auffordernd in die Hände drückt.

„Lässt du mir etwas übrig?“ fragt sie dann treuherzig.

„Alas-Ramus!“ schnappt Emi aus dem Hintergrund entsetzt, gefolgt von einem: „Urushihara, ich warne dich, sie mit deinen Bakterien-“

Emilia!“ Ashiyas warnendes Grollen lässt sie mitten im Wort verstummen.

Chiho und Alas-Ramus kichern leise und auch aus Maos Richtung kommt ein amüsiertes Glucksen.

Urushihara hat immer noch große Schwierigkeiten, das alles zu verstehen, in seinem Kopf ist irgendwie alles durcheinander, aber der Kakao schmeckt wirklich gut.

Geduldig läßt er es über sich ergehen, als Mao seine Temperatur misst, aber als Mao das Ergebnis laut abliest, registriert er es zwar, doch es geht irgendwie im dumpfen Nebel unter, der sich in seinem Gehirn breitgemacht hat.

„Hast du Hunger? Möchtest du etwas essen?“

Erst durch diese Frage von Mao begreift er, dass er wohl eine ganze Zeit lang abwesend war und gar nicht mitbekam, was um ihn herum vorgeht. In seinen Händen hält er die leere und inzwischen erkaltete Tasse.

Plötzlich erscheinen ihm die Geräusche unüberhörbar laut: das Klappern von Stäbchen auf Porzellan, das leise Gluckern von Wasser in Gläsern und das übliche Stimmengewirr von mindestens vier Personen, die sich um einen Tisch scharen. Ganz deutlich kann er Alas' fröhliche Stimme erkennen.

Und über all dem liegt der verführerische Duft von selbst zubereiteter Nahrung. Er hat seit mindestens vierundzwanzig Stunden nichts mehr gegessen, aber von Hunger ist er weit entfernt.

„Non, gratias. Später vielleicht. Wo ist das Badezimmer?“

Es hasst das, was jetzt zwangsläufig kommen wird. Er wird sich seinen Weg an gefühlt tausend Hindernissen vorbei bahnen müssen, sich wie der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen aufführen, stolpern, überall anstoßen und im schlimmsten Fall alle Meter hinfallen. Und dann muss er sich irgendwelche Ausreden einfallen lassen und es wird trotzdem furchtbar peinlich werden und er wird mal wieder zum Gespött aller.

„Ich bring dich hin“, schlägt Mao zu seiner großen Überraschung vor und nimmt ihm als erstes die Tasse ab.

Und dann fühlt sich Urushihara an den Händen gepackt und auf die Füße gezogen und ist darüber so verblüfft, dass er es sich ohne Protest gefallen lässt. Er ist noch ziemlich wacklig auf den Beinen, also denkt er sich noch nichts dabei, als Mao ihn unterhakt. Es dauert eine Weile, bis Urushihara, ganz darauf konzentriert, die Schritte zu zählen und sich ungefähr richtungsmäßig zu orientieren, registriert, dass Mao ihn nicht einfach nur stützt, sondern auch führt.

Sein Verdacht bestätigt sich, als Mao mit ihm stehenbleibt und leise zu ihm meint:

„Direkt vor dir ist die Tür und auf deiner Kopfhöhe ist ein Holzschild. Rechts ist die Türklinke und die Tür ist keine Schiebetür und geht nach innen auf.“

Urushihara erstarrt regelrecht und für einen Moment fühlt er sich, als würde er träumen. Oder wäre im falschen Film.

Doch dann schluckt er seine aufkeimende Panik nur herunter – darin hat er allmählich Übung – und tastet sich mit der freien Hand über das Holz, auf der Suche nach der erwähnten Klinke.

„Soll ich mit reinkommen und dir alles zeigen?“ fragt Mao neben ihm nervös.

Urushihara holt einmal tief Luft und schließt für einen Moment die Augen, um sich zu sammeln. Es ist egal, dass er nichts sieht – es gibt Gewohnheiten, die sind tief verwurzelt.

Sein Stolz würde Mao nur zu gerne ein scharfes „Danke, nein“, entgegen pfeffern, doch er fühlt sich müde und hat einfach keine Lust, sich zu konzentrieren, also nimmt er das Angebot widerstrebend an.

 

XIV. Kapitel

„Ich stell dann Euer Essen warm", erklärt Ashiya sofort und ohne zu zögern, als sein König, schon bewaffnet mit einem großen Badehandtuch, zusätzlich aus Urushiharas Reisetasche, die immer noch neben der Couch steht, neue Kleidung hervorkramt.

Von der üblichen Standpauke über Verschwendung, die das zweimalige vollständige Umkleiden innerhalb von zwei Stunden bedeutet, nimmt er diesmal großzügig Abstand. Denn wenn sich sein König nicht so eifrig um Urushihara kümmern würde, würde er es tun.

„Und ich hebe etwas für Urushihara auf", verspricht er daher ohne darum gebeten worden zu sein.

„Übertreibst du es nicht etwas?" will Emi von Mao wissen. „Er ist schon groß. Du musst ihm nicht beim Baden helfen."

„Ich muss gar nichts", weist er sie scharf zurecht. „Ich will. Ich will nicht, dass er einschläft und in der Wanne ertrinkt. Nur, weil er auf dich fit erscheint, ist das noch lange nicht der Fall."

Emi sieht aus, als wolle sie darauf etwas antworten, doch dann hält sie sich doch zurück. Das Thermometer zeigte immer noch „Error“ an und auch, wenn sie es nicht zugibt, kann sie doch nachvollziehen, wieso sich Mao solche Sorgen macht.

Aufgeregt klettert Alas-Ramus von ihrem Stuhl.

„Kann ich mit, Papa?"

„Nein!" schreien Emi, Chiho und Ashiya sofort wie aus einem Munde.

Erschrocken zuckt die Kleine zusammen und wirft ihnen verwirrte Blicke zu.

Mao dagegen verbeißt sich mühsam ein Lachen.

„Alas-chan", meint er ernst, „das ist sehr lieb von dir und Lucifer würde sich bestimmt darüber freuen, aber dein Papa braucht mal etwas Zeit allein mit ihm."

Sie mustert ihn misstrauisch.

„Bist du böse auf Lucifer?"

„Was? Nein! Nein, ganz und gar nicht."

„Du wirst nicht gemein sein?"

„Nein, das verspreche ich dir hoch und heilig." Vielsagend hebt er die Hand zum Schwur.

Sie starrt ihn einen Moment lang eindringlich an, dann nickt sie ernst.

„Gut, dann darfst du gehen."

Mao hat sich noch nie so klein und wertlos gefühlt wie jetzt unter diesem strengen Blick. Er schluckt einmal hart, deutet eine Verbeugung an und eilt dann ins Badezimmer.

 

 

Das ganze Bad duftet nach Kirschblüten. Mao war sehr großzügig mit dem Badeschaum und nun versinkt er nur zu gerne in dieser blasigen Wonne. Die Wanne ist groß und bietet genug Platz für sie beide. Mao ist es gewohnt, in einem Onsen nackt neben seinen Generälen - und Fremden - zu sitzen, aber das hier ist neu für ihn. Er kann sich nicht erinnern, mit Urushihara jemals so auf Tuchfühlung gegangen zu sein. Von daher erwacht in seiner Magengrube ein aufgeregtes Flattern, als er hinter ihm ins Wasser gleitet, ihm die Arme um den Oberkörper schlingt und ihn dicht an sich heranzieht.

„Du steigst also wirklich zu mir in die Wanne?" murmelt Urushihara, diesmal in einem seltsamen Mischmasch aus Engelssprache, Dämonenmundart und japanisch, während er sich mit dem Rücken an Maos Brust lehnt.

Ob er ihm wirklich vertraut oder einfach nur erschöpft ist, kann Mao allerdings nicht beurteilen. Tatsächlich ist es eine Mischung aus beidem. Urushihara gefällt es nicht, aber seine Blindheit hat sein Bedürfnis nach körperlicher Nähe beeinflusst und jetzt ist er einfach zu erschöpft, um sich dagegen zu wehren.

„Ja", erwidert Mao und streicht ihm sanft das feuchte Haar aus dem Gesicht. „Auf diese Art kann ich am besten verhindern, dass das Wasser nicht zu heiß für dich wird. Du könntest sonst einen Kreislaufkollaps bekommen." Er hält inne, schmiegt seine Wange kurz gegen Urushiharas und flüstert dann in sein Ohr: „Und wenn du doch einen bekommst, bin ich wenigstens gleich zur Stelle."

Urushihara schweigt ein paar Sekunden lang. Seit seiner Erblindung fühlt er sich ausgestoßener als je zuvor und die einzige Brücke zwischen ihm und der Welt ist jetzt sein Tastsinn - nicht seine Ohren oder seine Nase, denn Geräusche und Gerüche sind nichts handfestes, sie sind nicht greifbar. Aber das jetzt … Maos sanfte Berührungen, die Art, wie er ihn hält – so freundlich, als wären sie die besten Freunde, das lässt ihn für einen Moment wirklich an seinem wichtigsten Sinnesorgan zweifeln.

„Und das ist tatsächlich echt?" fragt er deshalb zaudernd.

Etwas in Mao krampft sich bei dieser Frage zusammen.

„Weil ich zu nett bin?"

Urushihara nickt nur.

Betroffen schließt Mao die Augen und atmet einmal tief durch.

„Mea maxima culpa."

„Quid?" -Was? - hakt Urushihara matt nach, während er sich schwerer an ihn lehnt. Er fühlt sich schwach und furchtbar träge und das heiße Wasser trägt auch seinen Teil dazu bei.

„Sunt multa me paenitet.“ Ich bedauere vieles - gibt Mao schuldbewusst zu. In der Hoffnung, dadurch seine Ernsthaftigkeit zu beweisen, kratzt er seine kläglichen Sprachkenntnisse zusammen. Lucifers Muttersprache kommt ihm nur stockend über die Zunge, er musste sie auf die schwierige Art lernen, weil Lucifer ihn keine telepathische Verbindung zu sich aufbauen ließ und seine Grammatik ist bestimmt noch furchtbarer als sein Akzent.

 

Lucifers violette Augen verengten sich zu zwei schmalen mißtrauischen Schlitzen.

Warum willst du das lernen?“ fragte er scharf und seine abweisende Miene hätte jeden anderen außer Satan Jacobu sofort abgeschreckt, doch der kleine, junge Black Goat grinste nur selbstsicher zu ihm auf.

Eines Tages will ich die kennenlernen, die da leben“, vielsagend deutete er nach oben auf den blauen Mond im Nachthimmel. „Es wäre also vorteilhaft, wenn ich mich Ihnen dann in ihrer Sprache vorstellen kann.“

Lucifers musterte ihn lange unter hochgezogenen Augenbrauen, doch dann nickte er und Mao versuchte, nicht allzu frohlockend zu grinsen.

 

Es war nur die halbe Wahrheit, aber in diesem Moment kam es ihm nur darauf an, dass er seinen Willen durchsetzte. Außerdem wollte er seinen neuesten und wichtigsten Verbündeten nicht sofort wieder verschrecken, indem er ihm gestand, dass er einfach nur neugierig war und soviel wie möglich über ihn erfahren wollte.

Hastig schiebt Mao diese Erinnerung beiseite und konzentriert sich wieder auf das Hier und Jetzt.

„Paenitet me, ut iratus sum tecum. Me paenitet quod Emi proiecit te de car. Me paenitet non auxilium vobis. Me paenitet quod non expecto enim ante.“ -Es tut mir leid, dass wir oft so gemein zu dir waren. Dass Emi dich aus dem Auto geworfen hat und ich nichts dagegen getan habe. Dass wir dich erst so spät gesucht haben. Ja, die Sprache der Engel ist verdammt schwer, aber er versucht sein Bestes.

„Sed maxime“, -Aber vor allem- fügt er mit leiser werdender Stimme hinzu, „quod nesciebam te esse caecum.“ - dass ich nicht bemerkt habe, dass du blind bist.-

Urushihara in seinen Armen verspannt sich bei diesen Worten merklich, sagt aber nichts. Doch Mao, dessen Hand zufällig gerade auf Urushiharas Rippen ruht, spürt, wie sich dessen Herzschlag deutlich beschleunigt.

„Seit wann", beginnt er, wieder ins japanische wechselnd, zögert und fährt dann sehr, sehr vorsichtig fort, „... kannst du nichts mehr sehen?"

„Erat ego … War ich über Nacht im Wald?"

„Ja."

„Dann ist das Tag triginta duo.“

Zweiunddreißig. Entsetzt schnappt Mao nach Luft.

„Seit über einen Monat!" Er zermartert sich das Hirn, aber ihm will nichts einfallen, was damals passiert sein könnte, was zu einem solch schweren Schaden geführt hätte. Aber diese Frage wird schnell von einer ganz anderen abgelöst. „Und seit wann weiß Alas davon?"

„War ja klar", genervt stöhnt Urushihara auf. „Keine Angst", seine Stimme klingt sehr rauh und er macht viele Pausen. Das heiße Wasser macht ihn wirklich müde und es fällt ihm schwer, seine Gedanken in Worte zu kleiden. Es ist, als würden sie auf dem Weg zu seiner Zunge in einen Stau geraten. Sie dann nochmal ins japanische zu übersetzen, kostet ihn noch zusätzliche Kraft. Aber diese babylonische Sprachverwirrung wird langsam peinlich.

„Ich habe sie ... nie zu einer Signifer Secretorum … Geheimnisträgerin gemacht. Das ... würde ich ihr nie antun... Sie geht davon aus, ... dass ihr es wisst und ... mich einfach nur nicht... in ...Watte packen wollt."

„Ich wollte dir nie etwas vorwerfen."

„Non ne?" - Wirklich nicht? - kommt es gedehnt zurück.

Betreten beißt sich Mao auf die Unterlippe.

„Lucifer", versichert er ihm, „das wollte ich damit doch gar nicht sagen. Es ist nur... Ich wollte, du hättest mir auch so vertraut."

Seufzend lässt sich Urushihara tiefer in seine Umarmung sinken.

„Ich habe Alas ... nichts gesagt", murmelt er zunehmend erschöpfter. „Alas … instar eam.“

„Sie hat es von allein herausgefunden? Wie das?"

Urushihara gluckst leise, aber nur kurz, denn sein Hals schmerzt. „Sie ist", seine Stimme bricht und er muss husten. „...klüger als ihr“, stößt er den Rest seines Satzes heiser hervor.

Mao packt ihn unwillkürlich etwas fester, als Urushihara von diesem Hustenanfall durchgeschüttelt wird.

„Mist", hastig öffnet Mao den Wasserhahn und lässt heißes Wasser nach, während er Urushihara prüfend über die Stirn streicht. „Jetzt hast du dich auch noch erkältet. Hoffentlich bekommst du kein Fieber. Warm halten", denkt er dabei laut, „viel trinken und viel Ruhe. Wie fühlst du dich? Bist du müde? Erschöpft? Du solltest aber auch eine Kleinigkeit essen. Du brauchst die Energie. Ashiya hat versprochen, dir etwas aufzuheben, aber er macht dir bestimmt auch gerne eine Brühe. Und dann ab ins Bett mit dir. Wir haben hier ein schönes, großes, westliches Bett, das wird dir gefallen."

Urushihara gibt nur einen unbestimmten Brummton von sich, der alles und nichts bedeuten kann. Eine ganze Weile lang sitzen sie nur schweigend in der großen Wanne und Mao dreht das Wasser wieder ab, als er meint, es sei wieder warm genug.

„Wie ist das passiert?" fragt er irgendwann leise.

Urushihara versteht sofort, worauf er anspielt.

„Meningitis", entgegnet er bereitwillig, aber gleichzeitig auch mit immer schwerer werdender Zunge. „Glaub' ich", fügt er dann noch leise nuschelnd hinzu. „Konnt' nich' viel im Internet recherchier'n, bevor alles dunkel wurde."

Bevor alles dunkel wurde. Betroffen drückt Mao ihn an sich.

„Es tut mir leid“, verzweifelt vergräbt er sein Gesicht in Urushiharas Nacken und drückt ihm, ohne sich dessen wirklich bewusst zu sein, einen kleinen Kuß auf die empfindliche Haut. „Es tut mir furchtbar leid.“

Urushihara erstarrt, glaubt dann aber, sich bestimmt nur getäuscht zu haben und weil alles gerade so schön ist – das heiße Wasser, Maos Arme, die ihn halten, ja, sogar Maos Nähe als solche – beschließt er, lieber nichts zu sagen und das hier einfach nur weiter zu genießen.

Tatsächlich dauert es auch nicht lange, dann döst er in Maos Armen ein.

 

XV. Kapitel

Ashiya, Emi und Chiho beobachten mit einer Mischung aus schlecht verhohlener Neugier und offener Besorgnis, wie Mao Urushihara umsichtig aus dem Bad führt.

Das heiße Wasser scheint ihm gut getan zu haben, denn Urushihara ist nicht mehr ganz so blaß. Er trägt dieselbe gefütterte Jogginghose wie zuvor, doch diesmal auch einen von Maos Hoodies und dessen bunte Kuschelsocken. Emi zieht die linke Augenbraue in die Höhe, als sie das sieht, sagt aber nichts. Schließlich ist offensichtlich, dass Maos Klamotten von besserer Qualität und daher viel wärmer sind.

Mit jedem Schritt, den ihn Mao langsam zum Tisch führt, lehnt sich Urushihara immer ein kleines bißchen vertrauensvoller an ihn und Mao selbst läßt ihn keine Sekunde aus den Augen.

Verlegen senkt Chiho den Blick und rührt in ihrem Pudding - sie will ihn nicht weiter anstarren, denn sie ist sicher, dass Urushihara ihre Blicke spüren kann. Außerdem fühlt sie einen leisen Stich von Eifersucht in ihrem Herzen. Sie wünschte, Mao würde ihr dieselbe fürsorgliche Aufmerksamkeit schenken wie Urushihara, aber das sind sehr egoistische Gedanken, schließlich ist Urushihara blind, da ist es doch nur logisch, dass Mao sich um ihn kümmert.

„Papa!" ruft Alas, rutscht von Emis Schoß und rückt den leeren Stuhl neben sich vom Tisch ab. „Lucifer sitzt neben mir!"

„Natürlich, Alas-chan", lächelt Mao und geleitet Urushihara zu seinem vorbestimmten Platz - um sich dann einen weiteren Stuhl heranzuziehen und sich ganz dicht neben ihn zu setzen.

Ashiya schöpft mit einer Kelle selbstgemachte Gemüsebrühe aus der Suppenterrine auf dem Tisch in eine Schale und stellt diese dann vor Urushihara hin.

„Lass es dir schmecken", meint er dabei.

„Moment!“ unterbricht Emi mit schneidender Stimme und holt aus der Tasche ihres Cardigans wieder das Thermometer hervor. „Erst messen wir Urushiharas Temperatur“, bestimmt sie, beugt sich über den Tisch und rammt ihm das Ohrthermometer ins linke Ohr.

Der gefallene Engel gibt einen erschrockenen Laut von sich und zuckt heftig zurück und wäre gewiß vom Stuhl gefallen, hätte Mao ihn nicht geistesgegenwärtig einen Arm um die Taille geschlungen.

Emilia Justina!“ funkelt er sie dabei aufgebracht an, während er ihr mit der freien Hand das Thermometer entwindet. „Eine Warnung wäre nett gewesen!“

Dann murmelt er leise etwas zu Urushihara und drückt diesem das Gerät in die Hand, damit er sich damit selbst die Temperatur messen kann.

„Ach, hab dich nicht so“, gibt Emi derweil schnippisch zurück und wird sich plötzlich gewahr, dass nicht nur Mao sie mit seinen Blicken förmlich durchbohrt, sondern auch Chiho und Ashiya. Und vor allem Alas-Ramus. Sie blinzelt verblüfft, doch dann erinnert sie sich wieder. Unwillkürlich wandert ihr Blick hinüber zu Uruhiharas blinden Augen.

„Oh“, macht sie betroffen und verlegen zugleich. Für einen Moment hatte sie das wirklich vergessen.

Zum Glück für sie erlöst sie das Piepsen des Thermometers aus dieser peinlichen Situation.

„Fünfunddreißig Komma acht“, liest Mao laut von der digitalen Anzeige.

„Er hat gerade heiß gebadet“, bemerkt Ashiya trocken, „korrekter wäre es also, wenn wir davon jetzt ein Grad abziehen. Und das ist immer noch viel zu wenig. Also-“ entschlossen schiebt er die Schüssel etwas näher an Urushihara heran.

„Iss deine heiße Brühe. Sie wird dich von innen wärmen und außerdem ist sie gesund. Und sie steht direkt vor dir.“

Urushihara nickt zustimmend und tastet suchend vor sich herum, bis er auf das glatte Porzellan stößt.

Vorsichtig legt er seine Hände um die Schale.

„Man muss sie trinken und dabei schlürfen", erklärt Alas in einem Tonfall, den die anderen früher als altklug abgetan haben, aber jetzt, wo sie es besser wissen, nur kollektiv betroffene Mienen zeigen.

Urushihara schenkt Alas ein dankbares Lächeln und hebt die Schüssel an seine Lippen, um ihrem Rat zu folgen und daraus zu trinken. Doch schon nach wenigen Schlucken setzt er sie wieder ab.

„Schmeckt gut, danke", murmelt er heiser und wischt sich den Mund mit dem Handrücken ab.

„Gern geschehen", erwidert Ashiya freundlich.

Nach diesem kurzen Dialog breitet sich eine gewisse Stille zwischen ihnen aus, die mit jeder verstreichenden Sekunde immer beklemmender wird.

„Herrje", platzt es schließlich aus Emi heraus, „wenn sich keiner traut, den Mund aufzumachen, dann übernehme ich das eben. Lucifer", drohend richtet sie sich auf, dann bemerkt sie Alas Ramus' vorwurfsvolle Miene und entspannt sich wieder etwas. „Seit wann genau und durch was bist du blind geworden? Und schämst du dich gar nicht, meine unschuldige Tochter da mit reinzuziehen?"

„Mama!" protestiert Alas-Ramus, packt eine Strähne ihres langen roten Haares und zieht daran.

„Au, Alas-chan, was soll denn das?"

„Emi", unterbricht Mao sie mit schneidender Stimme, „Lucifer hat niemanden da mit reingezogen. Und es ist nicht seine Schuld, dass wir zu blöd waren, um irgend etwas zu kapieren. Es war eine Krankheit“, erklärt er dann an alle gewandt in einem etwas sanfteren Tonfall. „Vor fast fünf Wochen."

„Vor fast fünf Wochen", wiederholt Ashiya nachdenklich, während er beginnt, seine Erinnerungen nach dem passenden Ereignis zu durchforsten. Ihm ist sofort anzusehen, wann der Groschen fällt, denn seine Augen weiten sich und sein Mund öffnet sich zu einem stummen „oh“.

„Das verstehe ich nicht", verwirrt runzelt Chiho die Stirn. „Ich weiß, dass ihr nicht viel Magie besitzt, aber habt ihr nicht gesagt, dass es immer ausreicht, um euch vor schweren Krankheiten zu schützen? Wie eine Sprinkleranlage, die nicht bei Zigarettenqualm, aber bei einem Großbrand anspringt?"

Der Vergleich bringt Urushihara unwillkürlich zum Schmunzeln.

„Für die Spätfolgen blieb nichts mehr übrig", erklärt er bereitwillig und bricht am Ende seines Satzes in einen heiseren Husten aus.

„Oh. Ich verstehe“, betroffen beißt sich Chiho auf die Unterlippe. „Aber mit mehr dunkler Magie würdest du doch wieder heilen? Könnt ihr ihm denn gar nicht helfen?" wendet sie sich hilfesuchend an Mao und Ashiya.

Sie ist wirklich einfach nur ein netter Mensch, stellt Urushihara bei sich verwundert und ja, auch sehr beeindruckt, fest. Nicht zum ersten Mal hofft er, dass Mao genug Verstand besitzt, ihren Avancen nicht nachzugeben, egal, wie sehr es seinem Ego auch schmeicheln mag. Keiner von ihnen kann in der Welt des anderen lange leben ohne sich selbst dabei völlig aufzugeben. Und so wenig, wie er will, dass Mao aufhört, Satan zu sein, will er, dass Chiho aufhört, Chiho zu sein.

„Je länger der Schaden her ist, desto mehr Magie wird zur Heilung benötigt", erklärt Ashiya der Teenagerin geduldig. „Um so viel negative Energie einzusammeln, bräuchte es schon die Angst und Verzweiflung Tausender wie bei einer schweren Katastrophe."

„Leider ist keine Zombieapokalypse in Sicht", kichert Urushihara müde.

„Lucifer." Mao hat ihm immer noch einen Arm um die Schultern gelegt und berührt ihn nun mit der freien Hand an der Wange und dreht sein Gesicht in seine Richtung. Obwohl er weiß, wie nutzlos das ist, starrt er eindringlich in Lucifers violette Augen. „Ich lasse dich nie, nie wieder im Stich, das schwöre ich dir. Ab sofort werde ich dir helfen, wo immer ich kann. Ich kaufe dir auch einen Blindenhund, egal, was unsere Vermieterin zu Haustieren sagt."

„Blindenhunde fallen nicht unter die Kategorie gewöhnliche Haustiere“, erklärt Chiho eifrig. „So etwas muss sie zulassen, das ist gesetzlich vorgeschrieben.“

„Au ja, ein Hund!“ begeistert klatscht Alas in die Hände. „Mama, ich will auch einen Hund!“

„Eh – lass dir lieber erstmal einen von Urushihara stricken“, schlägt Emi ausweichend vor.

„Au ja! Lucifer, bekomme ich einen Hund?“

„Natürlich“, verspricht ihr Urushihara ohne ihr jedoch richtig zugehört zu haben, denn Maos seltsames Verhalten lenkt ihn erfolgreich von allem anderen ab. Er spürt Maos Stirn an seiner, fühlt und riecht seinen Atem in seinem Gesicht und die Wärme seiner Hand auf seiner Wange. Maos Arm um seine Schultern und Nacken scheint plötzlich Tonnen zu wiegen und ihm wird richtig heiß von so viel Nähe.

„Ich verspreche es dir“, wiederholt Mao flüsternd und dann streifen seine Lippen hauchzart Urushiharas. Nur für einen klitzekleinen Moment, aber jeder hier hat es gesehen.

Emis Augenbrauen kriechen fast hoch bis zu ihrem Haaransatz und sie hält der fröhlich glucksenden Alas hastig die Augen zu. Ashiyas Miene bleibt völlig unbewegt und lässt keine Rückschlüsse auf seine Gedanken zu, ganz im Gegenteil zu Chihos Miene, die erst Verwirrung, dann Unglauben und dann wieder ihre übliche Fröhlichkeit zeigt.

Und selbst, als Mao die Geste wiederholt, etwas nachdrücklicher diesmal und Urushihara dann ganz fest in seine Arme schließt, ändert sich nichts daran, als habe sie beschlossen, das als eine reine freundschaftliche Geste abzutun.

„Ist das echt?“ haucht Urushihara in Maos Schulter, während er seine Finger zaghaft in dessen kuscheligen Wollpullover krallt. Es ist Ewigkeiten her, dass er jemanden so nahe an sich heranließ und noch viel länger, dass ihn jemand küsste – außer Alas-Ramus, aber die ist ein Kind und das zählt nicht.

„So echt wie es nur sein kann“, gibt Mao ebenso leise zurück, vergräbt seine Nase in Urushiharas vom Bad noch ganz feuchtem Haarschopf und atmet seinen Duft, seine Wärme, seine Nähe – ganz einfach das Leben dahinter – tief ein.

 

 

XVI. Kapitel

Mao weiß, dass Urushihara Gesellschaft - du meinst Emi, flüstert eine kleine Stimme in seinem Inneren hämisch - nur zu einem gewissen Grad ertragen kann und so führt er ihn umsichtig die Treppe hinauf. Oben im Schlafzimmer ist es ruhiger.

Während er ihm also stützend einen Arm um die Taille geschlungen hat und derart die Treppe hinauf hilft, macht Mao die überraschende Entdeckung, wie gern er das hier tut und wie gut es sich anfühlt. Das war bisher nie so, wann immer er das bei jemand anderen tat - nicht einmal bei Ashiya und der ist immerhin sein engster Vertrauter.

„Fuck." Auf der letzten Stufe bleibt Urushihara plötzlich stehen. „Hab vergessen, zu zählen."

Es dauert einen Moment, bis Mao begreift, was er meint. Unwillkürlich verstärkt er seinen Griff etwas und dann bringt er ihn erst einmal über die letzte Stufe, bevor er antwortet.

„Das macht nichts. Du brauchst jetzt nicht mehr zählen. Ich bin für dich da, ich werde dir helfen." Urushihara schnauft leise, denn er ist nicht überzeugt. Doch Mao ist weit davon entfernt, sich dadurch entmutigen zu lassen. Ganz im Gegenteil.

„Wir sind hier nur fünf Tage. Es gibt keinen Grund für dich, dein Hirn“, neckisch tippt er Urushihara an die Stirn, „mit so viel neuem Ballast vollzustopfen. Nicht, wenn du mich hast. Du bist hier, um dich zu entspannen, also entspann dich und vertrau mir."

Urushihara schüttelt zweifelnd den Kopf, sagt aber nichts. Wenn Mao vor Begeisterung nur so strotzt wie jetzt, kann man sich entweder mitreißen lassen wie Ashiya es immer tut oder einen Schritt beiseite treten, abwarten und beobachten, so, wie er es bevorzugt. Es ist einfach zwecklos, Mao aufzuhalten, wenn sich dieser erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hat.

Mao interpretiert sein Schweigen als Einverständnis und führt ihn begeistert ins Schlafzimmer.

„Hier oben ist es eher klein, hier gibt es nur einen Flur, von dem nur eine Tür abgeht. Dahinter liegt unser Zimmer.“ Triumphierend schiebt er mit dem Fuß die nur angelehnte Tür zurück und führt seinen General über die Schwelle. „Hier gibt es eigentlich nur einen Schrank und ein Bett. Aber das Bett ist riesig, da könnte ich mich in meiner wahren Form ganz bequem reinlegen und es wäre immer noch Platz für meine beiden Lieblingsgeneräle.“

„Ashiya und Chiho?“ fragt Urushihara unschuldig.

Mao, für einen Moment aus dem Konzept gebracht, stockt kurz.

„Idiot“, meint er dann, während er ihn fest an sich drückt. „Ich meine natürlich dich und Ashiya. Chiho... ts, also ehrlich...“ tadelnd schnalzt er mit der Zunge. Dann nimmt er Urushihara an der Hand und legt sie auf eine Tür in der Wand. „Und hier geht es zum Duschbad. Es ist zwar nicht so groß wie das unten, aber dafür gehört es uns ganz allein.“

Aber gerade, als Urushihara sich über das glatte Holz tasten will, zieht Mao ihn schon weiter, Richtung Bett.

„Mao, ich muß mir das doch einprägen.“

„Nein, das musst du nicht“, kommt es fröhlich zurück. „Nicht mehr. Ab heute bin ich deine Augen. Komm mit, ich muss dir das Bett zeigen. Du wirst begeistert sein.“

Urushihara seufzt nur ergeben.

Unter seinen besockten Füßen spürt er glattes Holzparkett, das an einigen Stellen leise knarrt. Es ist warm, was auf eine Fußbodenheizung hindeutet. Auf seinem Gesicht kann er die Wärme der Sonnenstrahlen fühlen, also muss es hier mindestens ein Fenster nach Südwest oder Westen geben.

Doch er kann nicht genauer darüber nachdenken, denn da hört er schon das Knarren einer Matratze und dann hat ihn Mao zu sich aufs Bett gezogen. Und schon liegt er auf der Seite und Mao liegt hinter ihm und hat besitzergreifend seine Arme um ihn geschlungen.

„Ahem... Mao?“

„Laß mich“, murmelt dieser, vergräbt sein Gesicht noch tiefer in Urushiharas dunkelvioletten Haarschopf und drückt ihm dann einen kleinen Kuß in den Nacken, während er ihn noch ein klein wenig fester in seine Arme schließt.

„Es geht nur um Körperwärme.“

Urushihara glaubt ihm kein Wort, aber er beschwert sich nicht. Er fühlt sich erschöpft und regelrecht ausgelaugt. Vor allem natürlich körperlich, aber auch emotional. Und jetzt, wo diese schwere Last seines Geheimnisses nicht mehr auf ihm lastet, kann er sich auch endlich mal gehen lassen. Es fühlt sich gut an, einfach mal nur noch zu sein und sich nicht mehr hinter Masken verstecken zu müssen.

Es fühlt sich zu gut an. Sofort blubbert wieder die Angst an die Oberfläche: ist das wirklich alles echt? Oder ist es doch wieder nur eine Halluzination?

„Ist dir kalt?“ fragt Mao ihn in diesem Moment und verdammt, er kann seine Lippen an seiner Wange spüren und den grünen Tee in seinem Atem riechen, er fühlt seinen warmen Körper hinter sich und die sicherheitsversprechende Umschlingung seiner Arme – das sind zu viele Details für eine Halluzination, oder?

„Brauchst du eine Decke?“

Verneinend schüttelt Urushihara den Kopf. Mao ist warm genug, so warm, dass es ihm sogar bis in die Knochen dringt. Und irgendwie ist das beängstigend, denn Maos Wärme und Zuneigung gehörte bisher allen anderen - außer ihm. In der Dämonenwelt war er für Mao nie mehr als ein nützlicher Verbündeter, und während Mao zu allen anderen um sich herum respektvolle oder gar freundschaftliche Bindungen aufbaute, blieb ihr Verhältnis immer höflich-distanziert.

Und hier in Japan ging Mao sogar noch einen Schritt weiter, indem er ehemalige Todfeinde wie Emi oder Suzuno plötzlich in diesen Kreis seiner Freunde mit aufnahm – während er selbst vergessen wurde. Und nachdem er sich gewaltsam wieder in Erinnerung brachte, indem er wie ein Dämon handelte – wofür ihn der Dämonenkönig bestrafte – behandelte man ihn nicht einmal mehr wie einen nützlichen Verbündeten, sondern wie ein lästiges Übel und letztendlich sogar wie einen nutzlosen Parasiten – was bei ihm dazu führte, dass er sich dann auch genauso benahm.

Und dann wurde er blind und damit wirklich nutzlos und jetzt, wo das herausgekommen ist, wieso ist Mao plötzlich so nett zu ihm? Es fühlt sich nicht an, als wäre es nur aus Mitleid.

Und während Urushiharas Gedanken immer weiter diese dunklen Pfade hinabsteigen, gehen Maos in eine ganz andere Richtung.

Zuallererst wundert er sich über sich selbst. Es entspricht nicht seinem Naturell, so lange so still dazuliegen, wenn er nicht verletzt oder krank ist oder schläft. Er muss immer irgendwie aktiv sein – und sei es nur, dass er einen Manga liest.

Aber jetzt ist diese innere Unruhe auf einmal wie weggeblasen. Es genügt ihm völlig, hier zu liegen und seinen General in den Armen zu halten.

Sein allererster General. Bei diesen Gedanken verziehen sich Maos Lippen zu einem stolzen Lächeln. Der damals mächtigste Dämon, vor dem alle anderen erzitterten. Dessen Macht nur von seiner Faulheit übertroffen würde, denn er begann nie einen Kampf, wenn es nicht sein musste. Und größer als seine Faulheit war und ist nur seine Neugier. Nur aus Neugier schloß er sich Mao an und nur aus Neugier folgte er seinen Plänen und Befehlen. Und wenn ihm ein Befehl nicht passte, weil er ihn für schwachsinnig hielt, dann sagte er ihm das geradeheraus und verweigerte sich.

Und dafür bewunderte Mao ihn schon damals.

Und inzwischen geht das, was er für ihn empfindet, weit über Bewunderung hinaus.

Mao atmet kräftig ein, zieht Urushiharas Duft, diese sanfte, pudrige Note, süß und gleichzeitig leicht holzig, tief in seine Lungen.

Er riecht warm und vertraut. Mao liebt es. Früher kam noch der Geruch von seinem Ledermantel hinzu. Maos Lippen kurven sich zu einem versonnenen Lächeln, als er an all die kostbaren, kurzen Momente in seiner Kindheit zurückdenkt, wo er sich verstohlen an Lucifer kuschelte. Immer nur für einen flüchtigen Augenblick und er ließ es immer wie Zufall aussehen, so dass es niemandem, vor allem nicht Lucifer, auffiel. Lucifer roch nicht wie ein Dämon und damals verstand er noch nicht warum, aber er wußte eines: er fühlte sich unheimlich gut, wenn er in diesem warmen Duft schwelgen durfte und er konnte nie genug davon bekommen. Das ist heute immer noch so.

Unwillkürlich kuschelt sich Mao noch dichter an ihn. Das ist schön. So könnte er ewig liegen.

Urushihara gibt einen leisen Laut von sich.

„Oh, stimmt ja", betroffen hält Mao inne. „Du magst das ja nicht. Entschuldige. Bin ich dir zu anhänglich?"

Leicht schüttelt Urushihara den Kopf und unterstreicht es noch damit, indem er seine Hände auf Maos legt und sie dort festhält, wo sie sind: auf seinem Körper. Mao grinst erleichtert, ringelt sich noch ein klein wenig enger um ihn und drückt ihm wieder einen Kuss in den Nacken.

Er küsst wirklich gerne. Die erste Person, die er küsste, war Alas-Ramus. Er hatte sich schon immer gefragt, was die Menschen daran so toll finden, aber als Dämonenkönig hatte er einen Ruf zu wahren und sich an die Traditionen zu halten. Und Dämonen küssen nun einmal nicht.

Aber jetzt ist er hier auf der Erde und mehr Mensch als Dämon und Alas-Ramus ist seine Ziehtochter, also darf er sie auch ganz offiziell abknutschen.

Als er Lucifer das erste Mal küsste, war es noch ein Ausrutscher, aber je öfter er ihm seine Lippen auf die Haut drückt, desto besser fühlt es sich an, also hört er nicht damit auf.

Er ist so froh, dass Urushihara all diese Zärtlichkeiten und Nähe zuläßt und vielleicht empfindet er ja genauso wie er?

Plötzlich durchläuft ein leichtes Zittern den schmalen Körper in seinen Armen, gefolgt von einem kurzen, rauhen Husten.

„Alles in Ordnung bei dir?" erkundigt sich Mao erschrocken und besorgt. „Tut's weh?"

Urushihara schüttelt den Kopf. Im Moment ist der Husten nur lästig, aber er schmerzt nicht und wenn er Glück hat, bleibt es dabei.

„Soll ich dir einen Tee holen oder warme Milch mit Honig?"

Wieder schüttelt Urushihara den Kopf und dabei umklammert er Maos Unterarme ganz fest, um ihm zu verdeutlichen, dass er bleiben soll.

Zufrieden drückt Mao ihn an sich und küsst nochmal seinen Nacken.

„Bitte verzeih mir, dass ich so ein furchtbarer Stoffel bin. Das wird sich ab sofort ändern, das verspreche ich dir.“

„Ich werde dich daran erinnern", murmelt Urushihara leise. Zu Maos großer Enttäuschung klingt er nicht sehr überzeugt. Aber er kann es ihm auch nicht verdenken.

Mao schließt die Augen und lässt sich für einen Atemzug einfach in das hier fallen. Und schon wenig später, weiß er genau, was er zu tun hat.

Es wird Zeit, dass er aufhört, sich wegzuducken. Schließlich kam er ja auch hierher, um die Gelegenheit zu nutzen und Chiho klipp und klar zu sagen, dass er nie mehr als Freundschaft für sie empfinden wird. Und auch wenn er niemals vor hatte, so offen mit seinen Gefühlen hausieren zu gehen, wird er sich auch nicht mehr verstecken. Neben all der Tragik ist dies hier schließlich jetzt die Gelegenheit!

Vorsichtig tastet er nach einer von Urushiharas Händen und verschränkt ihre Finger miteinander.

„Ich werde Alas beweisen, dass sie nicht Recht hat“, murmelt er leise.

„Hm?“ kommt es fragend von Urushihara zurück.

„Ach, nichts. Ich hab nur laut gedacht“, erwidert Mao schnell, drückt ihm einen Kuss in den Nacken und kuschelt sich dann ganz fest an ihn.

Schon wieder. Urushihara erschauert innerlich, lässt sich nach außen hin aber nichts anmerken. Es ist nicht so, dass er diese kleinen Zärtlichkeiten abstoßend findet, eher ganz im Gegenteil - und genau das ist sein Problem.

Vielleicht ist das hier wieder nur etwas, was ihm sein gestresstes Hirn vorgaukelt?

Aber er ist einfach zu müde, um groß darüber nachzudenken, also geht er den Weg des geringsten Widerstandes und lässt sich einfach nur stillschweigend in Maos Wärme und Nähe und all die schönen, zuckerwattigen Gefühle fallen, die das in ihm auslöst.

 

 

 

XVII. Kapitel

 

 

Brrr. Kalt.

Stirnrunzelnd haucht sich Ashiya in die hohlen Hände, um sie ein wenig aufzuwärmen. Wenn ihm schon nach anderthalb Stunden derart die Finger schmerzen – wieso hat er sich nur für diese Halbfingerhandschuhe entschieden? Nur, weil er dachte, er könne den Schlitten damit besser ziehen? - will er gar nicht erst wissen, wie es Urushihara in diesen sechzehn Stunden dort draußen in Schnee und Kälte erging.

Nachdenklich legt er den Kopf in den Nacken und starrt auf das Bettelarmband über sich am Dachbalken, das sich im leichten Wind dreht und dabei ein sanftes, feines Klingeln von sich gibt. Sie haben vergessen, es Alas-Ramus zurück zu geben, aber – er lauscht kurz auf die schwachen Freudenjauchzer, die aus der Ferne zu ihm heranwehen – in Anbetracht der Tatsache, wie wild die Kleine im Schnee herumtobt, ist das vielleicht auch besser so.

Sie wäre untröstlich, würde sie das Schmuckstück verlieren.

Er streckt sich und reißt das Armband mit einem kräftigen Ruck von der Nylonschnur und schließt die Faust darum. Dann betritt er die Hütte, zieht Mantel, Schal, Mütze und Stiefel aus und geht dann zum Eßtisch hinüber.

Ashiya legt das Schmucktisch gut sichtbar mitten auf den Tisch und betrachtet es einen Moment versonnen.

Er erinnert sich noch gut daran, wie sein König es für Alas-Ramus im Vergnügungspark kaufte - und es war die einzige Ausgabe, die Ashiya an diesem Tag bereitwillig tolerierte. Fünf dieser kleinen Anhänger sind sogar von ihm - wann immer er etwas Hübsches entdeckt, kann er nicht widerstehen. Wenn das Kind vor Freude übers ganze Gesicht strahlt, geht auch für ihn die Sonne auf. Sie ist wirklich etwas ganz Besonderes. Und der Gedanke, dass sie davon überzeugt war, dass Mao-sama und er Lucifer nicht mögen, schmerzt sehr.

Wie offensichtlich grausam müssen sie sich benommen haben, wenn solch einem kleinen unschuldigen Kind, das bisher nur Liebe von ihnen erfahren hat, so etwas auffällt?

Er schämt sich wirklich zutiefst.

Entschlossen nimmt er das Thermometer, das noch immer mitten auf dem Tisch liegt und steigt die Treppe hinauf ins Schlafzimmer, das er sich mit Mao-sama und Lucifer teilt.

Er klopft einmal höflich an die Tür, bevor er sie öffnet und eintritt.

Mao hat bis eben auf dem Bett gesessen und dreht sich bei seiner Ankunft zu ihm um.

„Mylord“, begrüßt Ashiya ihn, bevor er etwas sagen kann, „Alas-Ramus möchte jetzt lieber mit Euch rodeln. Es ist noch eine Stunde hell, Ihr solltet die Zeit nutzen. Ich bleibe hier."

Mao wirft einen unsicheren Blick auf den im Bett liegenden Urushihara. Seine Hand ruht immer noch leicht auf dessen Schulter. Er zögert merklich.

„Geh schon“, brummt Urushihara und macht eine matte, wedelnde Handbewegung. Und dann dreht er sich auf die Seite und wendet ihm so den Rücken zu, gibt ihm damit unmißverständlich zu verstehen, daß er gehen soll. „Verdirb der Kleinen nicht ihren Spaß. Mir geht's gut."

Mao beißt sich kurz auf die Lippen, innerlich hin- und hergerissen, schließlich war es genau diese laissez-faire-Haltung, die zu all dem hier geführt hat. Letztendlich gibt Ashiya den Ausschlag, denn er nickt ihm noch einmal auffordernd zu und setzt sich dann an Urushiharas anderer Seite aufs Bett. Er schüttelt sich sogar ein Kissen auf und lehnt sich dann bequem ans Betthaupt, während er nach dem Buch auf den Nachttisch angelt.

Und so murmelt Mao einen leisen Abschiedsgruß und verlässt das Zimmer. Aber nicht, ohne vorher noch ein letztes Mal zurück zu schauen. Aber der Anblick, der sich ihm bietet, ist so entspannt und friedlich, dass er leichten Herzens von dannen zieht.

„Ich brauche keinen Babysitter“, murmelt Urushihara, kaum dass die Tür mit einem leisen Klicken ins Schloß geschnappt ist und dreht sich wieder auf die andere Seite.

„Ich war eben anderthalb Stunden mit Alas-Ramus rodeln. Ich brauche etwas Erholung“, gibt Ashiya völlig unbeeindruckt zurück.

„Und da kommst du ausgerechnet zu mir?“

In Anbetracht ihrer wenig herzlichen Beziehung zueinander ist diese Frage mehr als berechtigt, aber sie verursacht Ashiya trotzdem einen Kloß im Hals, den er schnell hinunterschluckt.

„Ja“, erwidert er kurz und bündig und tippt ihm dann leicht auf die Schulter.

„Ich habe das Thermometer mitgebracht. Möchtest du deine Temperatur selbst messen oder soll ich das machen?“ fragt er ihn höflich und als Urushihara nur auffordernd die Hand öffnet, legt er das kleine Gerät vorsichtig hinein.

Er macht sich nicht einmal die Mühe, sich aus seiner liegenden Position zu erheben, als er sich das Thermometer ins Ohr hält. Ashiya beobachtet das mit hochgezogenen Augenbrauen und hofft nur, dass dies Urushiharas üblicher Faulheit geschuldet ist und nicht etwas Ernsterem.

„Und um deine Frage noch etwas detaillierter zu beantworten“, greift er das vorherige Thema betont forsch noch einmal auf – Hauptsächlich, um seine eigene, uncharakteristische Unsicherheit zu überspielen, „ich brauche etwas Erholung bei einem guten Buch und dies hier ist der ruhigste Raum.“

Urushihara lauscht auf das leise Rascheln, mit dem eine Seite umgeblättert wird und lächelt dann schmal:

„Lass mich raten: der neueste Ratgeber für Sparfüchse?“ Seine Stimme klingt rauh und er hustet einmal kurz, das Thermometer piepst und er reicht es an Ashiya weiter.

„Genau siebenunddreißig“, liest dieser ab und seiner Stimme ist seine Erleichterung deutlich anzuhören. „Das ist gut.“

Urushihara brummt nur etwas Unverständliches vor sich hin.

„Tu mir einen Gefallen, ja?“ fordert Ashiya streng. „Wenn es dir nicht gut geht, jetzt oder in Zukunft, sag es entweder Mao-sama oder mir oder auch uns beiden, ganz egal, aber sag es.“

Urushihara neben ihm verspannt sich für einen kurzen Moment, beschließt dann aber, doch lieber alles herunterzuschlucken, was ihm auf der Zunge liegt. Das meiste wäre sehr unhöflich gewesen und für einen Streit ist er einfach zu groggy.

Ashiya tun seine harten Worte schnell wieder leid, doch er weiß nicht, wie er sich dafür entschuldigen sollte. Er hat sich noch nie bei Urushihara entschuldigt.

Und so konzentriert er sich auf das Buch in seinen Händen. Doch schon nach dem ersten Absatz hält er wieder inne und stellt erstaunt fest, dass nicht ein einziges der Worte, das er gelesen hat, ihm im Gedächtnis hängengeblieben ist.

Frustriert klappt er das Buch wieder zu und legt es beiseite. Er lehnt den Hinterkopf an das hölzerne Betthaupt hinter sich und starrt für ein paar Sekunden einfach nur blicklos vor sich in die Luft, dann wirft er einen zögernden Blick auf die zusammengerollte Gestalt neben sich.

Und plötzlich überkommt ihn ein in Bezug auf Urushihara ungewohntes Gefühl: Furcht. Aber nicht irgendeine Art der Furcht, sondern dieselbe, die ihn immer überfällt, wenn sich sein König in allzu gewagte Abenteuer stürzt: die Angst, ihn zu verlieren.

Unwillkürlich zuckt seine Hand nach vorne, wo sie sich schwer auf Urushiharas Schulter senkt.

Der zuckt bei dieser unerwarteten Berührung erschrocken zusammen, weicht aber nicht zurück.

„Unser König hat sich so große Sorgen um dich gemacht, dass er die ganze Nacht aufgeblieben wäre und auf dich gewartet hätte“, sprudelt es aus Ashiya heraus. „Das konnte ich nicht zulassen. Also habe ich ihm ein Glas Wein aufgedrängt.“ Er fühlt sich verpflichtet, das klar zu stellen. „Wie du weißt, ist Wein für unseren König die beste Einschlafhilfe.“

Urushihara gibt wieder nur ein unbestimmtes Brummen von sich.

Davon ermutigt, fährt Ashiya eifrig fort:

„Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er dich gesucht. Im Dunkeln. Bei Schneefall. Aber dann hätte er sich auch verirrt. Damit wäre niemandem geholfen gewesen.“

Urushihara schweigt, aber Ashiya sieht, wie er seine Hände zu Fäusten ballt und er kann spüren, wie sich Urushiharas Muskeln unter seiner Hand dabei anspannen. Sanft, aber nachdrücklich, drückt er seine Schulter.

„Es fiel mir nicht leicht“, gibt er zu. „Ich habe mir auch Sorgen um dich gemacht, aber ich musste das Wohl unseres Königs im Auge behalten. Und niemand von uns ging wirklich davon aus, dass dir etwas Ernstes zugestoßen sein könnte. Wie auch?“ Er lacht einmal humorlos auf. „Wir hatten ja keine Ahnung davon, dass du nichts mehr sehen kannst.“ Wusste er anfangs nicht, was er sagen sollte, sprudeln die Worte jetzt nur so aus ihm heraus. „Wir hatten über einen Monat Zeit, um etwas zu bemerken. Ich bin derjenige, der die meiste Zeit mit dir verbringt und ich habe nichts bemerkt. Ich bin ein furchtbarer Freund. Es tut mir leid.“

Er denkt nicht darüber nach, als er sich zu Urushihara hinüberbeugt und sein Gesicht in dessen dunklen Haarschopf presst.

„Es tut mir leid.“ In seiner Stimme zittern Tränen, als er seinen Arm um Urushihara legt. Plötzlich weiß er gar nicht mehr, wieso ihm das immer so schwer fiel. Je häufiger er es sagt, desto leichter wird es ihm ums Herz.

„Es tut mir leid.“

Erschrocken zuckt Urushihara zusammen, als er Ashiyas großen Körper plötzlich so nahe bei sich spürt. Solche spontanen Gefühlsausbrüche sind bei Ashiya nicht ungewöhnlich, aber bisher konzentrierte er sich dabei immer auf Mao - gegenüber Urushihara bewahrte er immer eine gewisse kühle Distanz, und dass er jetzt plötzlich so auf Tuchfühlung geht, ist mehr als irritierend.

Vor allem, als Ashiya wieder ein kummervolles „es tut mir leid“ in seinen Nacken haucht.

„Schon gut, Ashiya“, brummt er peinlich berührt und tätschelt beruhigend seine Hand. „Nun mach mal kein Drama daraus. Ich verzeihe dir.“

„Aber ich mir nicht!“ erwidert Ashiya heftig. Wie üblich geht er sehr hart mit sich ins Gericht, aber normalerweise gilt das nicht, wenn Urushihara beteiligt ist.

Das ist falsch, wispert daher auch sofort eine zarte Stimme in Urushiharas Innerem. Das ist nicht echt.

Er ist geneigt, ihr zu glauben, aber dann rückt Ashiya wieder von ihm ab und die Matratze knarrt beschwerend, als er sich gerade aufsetzt.

„Ich habe meine Pflichten als Hausmann verletzt und bin es nicht würdig, unserem König zu dienen. Daher werde ich alles in meiner Macht stehende unternehmen, um sein und dein Vertrauen zurück zu gewinnen“, schwört er voller Inbrunst.

Urushihara kann es förmlich vor seinem inneren Auge sehen, wie er sich theatralisch mit der Faust auf die Brust schlägt und hält sich hastig die Hand vor den Mund, um sein Grinsen zu verstecken. Ein von Schuldgefühlen gegenüber ihm geplagter Ashiya ist etwas völlig Neues und egal, ob das hier echt ist oder nicht, er hofft, dass dies lange anhält, denn wer weiß, vielleicht kann er daraus ein paar Vorteile für sich ziehen – mehr von diesem leckeren Kakao, eine Extraportion Fleisch oder vielleicht sogar einfach nur ein paar Tage, wo Ashiya nicht an ihm herumnörgelt?

 

 

XVIII. Kapitel

 

 

„Bäh!“ Alas- Ramus streckt ihrem Ziehvater genau in jenem Moment die Zunge heraus, als dieser auf den Auslöser drückt.

„Alas-chan“, seufzt Mao tief, „bitte.“

„'kaay“, zwitschert sie vergnügt und diesmal hält sie still und lächelt in die Kameralinse, als sie ihren Schneemann umarmt und schon gelingt das Foto.

„Sehr toll. Gut gemacht, Alas-chan“, lobt Mao sie und betrachtet zufrieden das Foto auf dem Display seines Smartphones. Sie ist wirklich eine richtige kleine Prinzessin in ihrem pinkfarbenen Schneeanzug, ihrem in der Abendsonne glänzendem Haar und ihren Augen, die wie zwei Amethyste strahlen.

„Ha!“ beginnt er triumphierend, doch dann hält er plötzlich inne. Was auch immer er sagen wollte, es bleibt ihm in der Kehle stecken. Plötzlich ist alle Fröhlichkeit aus seinem Gesicht verschwunden, stattdessen starrt er nur betrübt auf das kleine Display. Es dauert vielleicht eine Sekunde, dann hat er sich wieder unter Kontrolle und zaubert wieder sein altbekanntes Lächeln auf seine Züge.

„Gehen wir jetzt rodeln, Alas-chan?“

„Au ja!“ jubelt das Mädchen und rennt zu dem Holzschlitten, der drei Meter entfernt an der Hauswand steht. Sie schnappt sich das Seil und beginnt, daran zu ziehen. Doch der Schlitten ist zu schwer für sie, also setzt sie sich einfach darauf und winkt Mao aufgeregt zu

„Papa! Zieh mich!“

„Ich mach schon!“ bietet sich Chiho eifrig an und nimmt das Zugseil, bevor Mao auch nur einen Schritt gemacht hat. Sie hat fast den ganzen Tag mit Alas gespielt und verspürt jetzt einen leisen Hauch von Eifersucht. Sie ist ein Einzelkind und Alas sieht sie inzwischen als große Schwester und das möchte sie nicht so schnell wieder aufgeben.

Alas akzeptiert ihr Angebot, sie zu ziehen nur allzu gerne und feuert sie vergnügt an, als Chiho den schmalen Pfad entlangstapft, der eine leichte Anhöhe hinter dem Haus hinauf führt. Auf der anderen Seite ist der Hügel auf einer Strecke von vierzig Metern völlig unbewachsen, bis dann der Wald wieder beginnt. Im Sommer befindet sich hier eine wilde Blumenwiese, aber jetzt, im Winter, ist dies hier der perfekte Platz zum Rodeln.

Sie kennen die Gegend, sie haben schon den ganzen Tag hier gespielt, aber es wird niemals langweilig.

Mao und Emi folgen ihnen in einem etwas gemächlicheren Tempo und Emi nutzt die Gelegenheit, einmal ungestört mit ihm zu reden.

„Was wolltest du vorhin sagen?“ beginnt sie in einem lauernden Tonfall, ganz so, als kenne sie die Antwort schon.

Er weiß sofort, worauf sie anspielt.

„Nichts“, erwidert er unwirsch.

Emi zieht nur die linke Augenbraue hoch, sagt aber nichts. Ihr Schweigen ist lauter als jedes Wort und er knickt schnell ein. Seufzend tastet er in seiner Jackentasche nach seinem Smartphone und gibt leise zu:

„Ich dachte mir nur, dass Lucifer es bestimmt bereuen wird, nicht mitgekommen zu sein, wenn er das Foto sieht. Und dann fiel mir wieder ein...“ Er stockt, schluckt einmal schwer und reibt sich dann zu Emis großer Überraschung die Nässe aus den Augenwinkeln.

„...dass er nichts sehen kann“, beendet sie seinen Satz trocken.

Er nickt beklommen.

„Schon hart." Versonnen streicht sich Emi eine Strähne ihres tiefroten Haares zurück und beobachtet nachdenklich Alas und Chiho vor ihnen. „So von jetzt auf gleich zu erblinden. Wenn ich mir vorstelle, das alles hier nicht mehr sehen zu können..." ihre Stimme verklingt in Alas-Ramus' vergnügtem Lachen, das der Wind zu ihnen hinüberweht.

Mao wirft ihr einen schiefen Seitenblick zu.

„Höre ich da etwa Mitgefühl heraus?" neckt er sie. E

s ist harmlos gemeint, doch sie bekommt es in die völlig falsche Kehle. Mit geballten Händen wirbelt sie zu ihm herum und funkelt ihn zornig an.

„Mitgefühl?“ braust sie auf. „Mit Lucifer? Niemals. Hast du vergessen, dass er mein Dorf niedergebrannt hat?"

„Wie könnte ich? Ich gab ihm den Befehl dazu." Obwohl sie dieses Argument in schöner Regelmäßigkeit herausholt, ist es doch das allererste Mal, dass er seine eigene Verantwortung so deutlich ausspricht. Und er hat noch mehr zu sagen. „Es war niemand mehr in den Häusern, als er dein Dorf abfackelte. Er gab ihnen die Gelegenheit zur Flucht. Was nutzten uns tote Bauern und Händler? Wir brauchten ihre Angst und Verzweiflung."

„Du warst doch gar nicht dabei."

„Du doch auch nicht!“

Sie wirft ihm nur einen giftigen Blick zu.

„Wie auch immer - ich muss nicht dabei gewesen sein, um das zu wissen“, fährt er kühl fort. „Er ist mein General. Ich kenne seine Kriegstaktiken. Und dein Vater wurde Opfer der Heiligen Kirche. Wir haben nichts mit seinem Tod zu tun."

Sie schnaubt nur und wendet den Blick ab. Sie wird es niemals zugeben, aber seit ihrem letzten Gespräch mit Suzuno gehen ihre Gedanken immer öfter in dieselbe Richtung. Die ehemalige Attentäterin der Heiligen Kirche hat, sehr zu Emis Leidwesen, einen ständig wachsenden Einfluss auf die Art, wie Emi die Welt sieht.

 

Dein Vater war Bauer, nicht wahr?- fragte Suzuno sie einmal, als sie sich mal wieder lautstark über die Taten eines gewissen Dämonengenerals in Ente Isla aufregte.

Und als solcher hielt er Vieh, nicht wahr?“ fuhr Suzuno fort, als Emi so nur verdutzt ob diesen Themenwechsels anstarrte. „Und wenn ihr einen Festbraten brauchtet, habt ihr eines oder mehrere geschlachtet, nicht wahr? Und andere, junge oder zu alte, habt ihr verkauft. Ihr habt sie ihren Familien fortgenommen, denn dafür waren sie ja da. Und die Heilige Kirche lehrt uns, dass Tiere keine Seele und daher auch keine Gefühle haben. Sie zu töten ist daher kein Mord, sie auszunutzen keine Sklaverei und die Kinder ihrer Mutter zu entreißen kein Verbrechen."

Aus Emis Verwunderung wurde zunehmende Ratlosigkeit. Worauf wollte Suzuno bitteschön hinaus?

Aus der Sicht der Tiere ward ihr die Unterdrücker, die Bösen, die Dämonen.“

Was hat das damit zu tun, dass Lucifer mein Dorf vernichtet und meinen Vater getötet hat?"

Alles“, lächelte Suzuno und zuckte gleichzeitig mit den Schultern. „Vielleicht auch nichts."

 

Es waren diese und ähnliche Gespräche, die langsam aber sicher ein Umdenken in Emi bewirkten. Und es gibt nicht viel, was sie mehr hasst als das. Früher war die Welt nur schwarz und weiß, es lebte sich gut darin, sie wusste, wo ihr Platz ist, aber jetzt wird alles Grau und sie kommt mit dieser Veränderung einfach nicht gut zurecht.

Sie wird weich gegenüber Mao und den anderen und das hasst sie. Und weil sie nicht darüber nachdenken will, wechselt sie das Thema.

„Schon seltsam, dass du ihn plötzlich so verteidigst", meint sie betont gelassen und wirft ihm einen lauernden Blick zu. „Und was soll dieses Gekuschel und Geknutsche ? Ist er jetzt dein Liebling oder was?"

Ihr höhnischer Tonfall erweckt in Mao den brennenden Wunsch, sie zu verprügeln, doch er lässt es sich nicht anmerken, und so grinst er nur herausfordernd.

„Wer weiß?"

„Untersteh dich mit ihm unter den Augen meiner Tochter herumzumachen", zischt sie scharf.

„Sonst was?" erkundigt er sich langsam und herausfordernd.

In seinen Augen erwacht ein düsteres Glimmen, das sie so noch nie bei ihm gesehen hat und das ihr nun einen eisigen Schauder über den Rücken jagt. Und zum allerersten Mal hat sie wirklich Angst vor ihm. Nur für einen Moment und nur ein ganz kleines bißchen und natürlich lässt sie es sich nicht anmerken.

„Das wirst du dann schon sehen!“ zischt sie.

„Na, da freu ich mich aber drauf", kommt es schnippisch zurück.

Sie öffnet den Mund, um etwas Gesalzenes zu erwidern, doch in diesem Moment dreht sich Alas- Ramus lachend und winkend zu ihnen um.

„Papa! Komm endlich!"

„Bin schon unterwegs, Alas-chan!" winkt Mao zurück und rennt dann mit einem übermütigen Grinsen die restlichen Meter zur Hügelkuppe zu ihr hinauf, wo er sie erst einmal hochhebt und sie dann im Kreis herumwirbelt, bevor er seine jauchzende und lachende Ziehtochter auf den Schlitten setzt und sich dahinter. Das ist der Moment, wo Emi ebenfalls zu rennen beginnt, doch sie kommt zu spät. Als sie oben auf dem Hügel bei Chiho ankommt, saust der Schlitten schon den Hang hinab Grimmig sieht ihm Emi nach und wirft Chiho neben sich dann einen kurzen Blick zu. Die Teenagerin steht etwas verloren und auch durchgefroren im Schnee und ihre enttäuschte Miene verrät ihr, dass Chiho nur zu gerne ebenfalls bei Mao auf dem Schlitten sitzen würde - genug Platz für sie alle drei bietet er.

„Vergiss ihn, Chiho."

Die Oberschülerin lächelt schief.

„Ja, ich weiß. Das ist jetzt Papa- Tochter- Zeit. Und das ist auch völlig in Ordnung."

Emi unterdrückt ein gequältes Augenrollen, sagt aber nichts, auch wenn ihr eine ganze Menge auf der Zunge liegt. Sie sollte es wirklich endlich aufgeben, Chiho ihre Schwärmerei für diesen burgerbratenden Dämonenkönig auszureden. Dass Mao kein romantisches Interesse an ihr hat, ist etwas, was sie selber begreifen muss.

 

 

IXX. Kapitel

Er muss eingeschlafen sein, denn das Trappeln kleiner Kinderfüße reißt ihn aus aus seinem Zustand seligen, süßem Nichts.

Noch bevor er wieder richtig im Hier und Jetzt angekommen ist, werden die Schritte lauter und dann wird die Tür aufgerissen.

„Lucifer! Lucifer!“ Aufgeregt stürmt Alas-Ramus herein und springt mit einem großen Satz auf das Bett. Sie klettert über den neben Urushihara auf der Matratze sitzenden Ashiya ohne ihn dabei auch nur eines Blickes zu würdigen.

„Das ist sooooo toll hier!“ Begeistert springt sie ein paar Mal auf und ab. „Wir waren rodeln! Papa und ich sind vom Schlitten gefallen. Das war soooo lustig! Oh, und wir haben einen Schneemann gebaut! Lucifer!“ Sie wirft sich regelrecht auf ihn und umarmt ihn stürmisch. „Gehen wir morgen rodeln? Biiiiiiitte.“

In diesem Moment betritt Emi das Zimmer und bei Alas' Worten fahren all ihre Schutzschilde hoch. „Alas-chan, ich glaube nicht, dass..." beginnt sie, gruselt es ihr doch allein bei der Vorstellung, dass die Sicherheit ihrer kleine Ziehtochter nicht nur von Lucifer, sondern einem blinden Lucifer abhängt. Doch sie verschluckt jedes weitere Wort, als sie Maos Ellbogen sehr nachdrücklich zwischen ihren Rippen spürt.

Er wirft ihr einen rotglühenden, scharfen Blick zu, aber schon eine Sekunde später ziert wieder sein übliches, fröhliches Lächeln sein Gesicht, als er sich an ihr vorbei vollends in den Raum drängt. Er hält ein Tablett mit einer großen Tasse dampfenden grünen Tees und einen Teller mit belegten Sandwichs in den Händen, das ihm von Ashiya sofort abgenommen wird.

Und während dieser das Tablett sorgsam auf dem kleinen Nachttisch abstellt, richtet sich Urushihara mit Alas-Ramus in den Armen in eine sitzende Position auf.

„Das wäre bestimmt lustig, Alas-chan." Jeder hier in diesem Raum hört den eindeutig zögernden Unterton aus Urushiharas heiserer Stimme heraus.

Emi nickt zufrieden. Wenigstens er scheint begriffen zu haben, wie leichtsinnig so etwas wäre.

„Oh ja, das wird es“, erklärt Mao vergnügt, während er sich zu seiner Ziehtochter und Urushihara aufs Bett setzt. „Lucifer sitzt dann zwischen dir und mir. Du sagst die Richtung an und ich lenke. Na, was meinst du? Klingt das gut, Alas-chan?“

Unwillig runzelt Emi die Stirn, protestiert aber nicht, denn gegen dieses Arrangement gibt es kein überzeugendes Argument und heute hat sie noch kein „du bist nicht meine Mama“ von Alas gehört und sie würde es gerne dabei belassen.

„Papa, du musst dann aber gut aufpassen, daß Lucifer nicht herunterfällt“, verlangt die Kleine da ernst. „Du musst ihn besser festhalten als mich vorhin.“

Feierlich hebt Mao die Hand. „Das werde ich, das schwöre ich.“

„Alas-chan, hast du dir wehgetan?“ will Urushihara von ihr wissen und seine Hand tastet sich hoch zu ihrer Wange. Für jeden, der es nicht besser weiß, sieht es so aus, als würde er sie ganz genau mustern und Emi muss zugeben, dass auch sie sich für einen Moment täuschen lässt.

„Nein“, beruhigt die Kleine ihn sofort und umarmt ihn einmal kurz, aber fest.

„Lucifer“, aufgeregt krabbelt sie über Ashiya, schnappt sich zwei Sandwiches vom Tablett und drückt Urushihara dann eines davon in die Hand, während sie das andere für sich behält. „Das Sandwich habe ich extra für dich gemacht. Es ist mit Käse und Schinken, genau so, wie du es magst. Und Papa hat dir Tee gekocht. Ich will heute mir dir essen. Nur mit dir“, fügt sie dann in bestimmenden Tonfall hinzu, während sie die anderen Erwachsenen im Raum auffordernd anfunkelt. Und dann macht sie eine ungeduldige „verschwindet“-Geste.

Emi ist nicht wohl dabei, nein, ihr ist ganz und gar nicht wohl dabei, aber Ashiya steht sofort auf und Mao folgt ihm wenig später.

„Ja, warum nicht?“ stimmt er ihr fröhlich zu. „Lassen wir die beiden allein. Chi-chan ist ganz alleine in der Küche, wir sollten ihr wirklich beim Kochen helfen. Pass gut auf meinen General auf, ja, Alas-chan?“

„Natürlich, Papa“, zwitschert sie. „Bis später, Mama. Bis später, Alciel!“

Emi schenkt ihrer Ziehtochter ein Lächeln und Winken und folgt den beiden Dämonen, doch kaum ist sie draußen im Flur und hat die Tür hinter sich zugezogen, verdüstert sich ihre Miene.

„Ich halte das für keine gute Idee“, zischt sie leise, während sie die Treppe hinuntergehen.

„Es gibt keinen Grund zur Besorgnis“, erwidert Ashiya sachlich wie immer. „Das Fenster ist geschlossen und es befinden sich keine gefährlichen Gegenstände im Zimmer. Alas-Ramus wird also nicht aus dem Fenster klettern, weil irgend ein Vogel ihre Aufmerksamkeit erregt -wobei das sowieso nicht ihre Art ist. Und es gibt auch nichts, womit sie sich verletzen kann. Sie ist ein sehr kluges Kind. Und Lucifer wird nie zulassen, dass ihr etwas passiert.“

„Er kann nichts sehen!“ zischt sie. „Und er ist viel zu schwach, um sich um sie zu kümmern.“

Alas-Ramus kümmert sich um Lucifer“, berichtigt Mao sie mit einem verschmitzten Grinsen. „Es war ihre Idee. Sie will es und du weißt, welch ein Dickkopf sie sein kann.“ Plötzlich wird er todernst. „Und wenn man bedenkt, dass sie sich schon seit über einem Monat um ihn kümmert, während wir Idioten daneben saßen und gar nichts gerafft haben ...“

„Den Schuh könnt ihr euch alleine anziehen“, faucht Emi zurück. „Ihr wohnt mit ihm zusammen. Ich komme nur ab und an mal mit Alas-Ramus zu Besuch und dann habe ich Besseres zu tun als auf dieses nichtsnutzige Kellerkind zu achten.“

„Niemand hat von dir gesprochen“, bügelt Mao sie unwirsch ab.

Sie öffnet den Mund, um etwas Gesalzenes zu entgegen, doch in diesem Moment haben sie das Erdgeschoß erreicht und da steht Chiho in einer geblümten Schürze am Herd und strahlt sie an, als sie näherkommen, und Emi überlegt es sich noch einmal.

 

 

Als Emi anderthalb Stunden und ein leckeres Abendessen später nach oben geht, um ihre Tochter „aus den Klauen des nichtsnutzigen Kellerkindes“ - wie sie so schön betonte - zu retten und die Tür zum Schlafzimmer beherzt öffnet, bleibt sie bei dem Anblick, der sich ihr bietet, wie angewurzelt stehen.

Ihre finstere Miene glättet sich und der Glanz in ihren Augen wird so weich, wie sie es sich nur gestattet, weil sie weiß, dass sie unbeobachtet ist.

Sekundenlang starrt sie nur auf die beiden, die tief und fest schlafen. Es wirkt, als würde Alas-Ramus „ihren“ Lucifer in einer schützenden Umarmung halten und nicht umgekehrt und sie kann sich nicht helfen: dieser Anblick rührt sie so sehr, dass sie es nicht übers Herz bringt, die beiden zu wecken, geschweige denn, sie zu trennen.

So leise wie möglich schließt sie die Tür und huscht dann auf leisen Sohlen wieder die Treppe hinab. Sobald sie wieder in Sichtweite der anderen kommt, verschwindet der weiche Ausdruck auf ihrer Miene und macht der üblichen Verbissenheit platz.

„Wolltest du nicht Alas holen?“ erkundigt sich Ashiya höflich und obwohl seine Miene völlig neutral bleibt, glaubt sie ein wissendes Zucken um seine Mundwinkel zu sehen.

„Sie schläft“, erwidert sie ehrlich. „Und ich habe keine Lust auf ein quengeliges Kleinkind, also lasse ich sie schlafen.“

„Und Lucifer?“ erkundigt sich Mao, und Emi fragt sich, wann genau er dazu übergegangen ist, seinen General nur noch bei seinem wahren Namen zu nennen und ob das vielleicht etwas zu bedeuten hat.

„Schläft auch“, entgegnet sie knapp, nimmt ihm das Geschirrtuch aus der Hand und stellt sich neben Ashiya und Chiho vor die Spüle, um ihnen mit dem Geschirr zu helfen. Sie hat das dringende Bedürfnis, ihre Hände zu beschäftigen.

 

 

XX. Kapitel

 

 

Ein Hauch von Kälte weckt ihn, geisterhaften, frostigen Spinnenfingern gleich streicht sie über sein Gesicht. Es dauert eine Weile, bis sich sein Bewusstsein aus der warmen, sicheren Wärme kämpft, in der es sich verloren hat und die zu verlassen es sich weigert. Auf dem Weg an die Oberfläche wachen weitere Sinne auf. Zuerst ist da der Geruch von Holz und Erde, dann folgen die Geräusche: das Knarren von Bäumen, das Pfeifen des Windes im Gehölz und das Knacken von Ästen, die sich unter der Last des Schnees beugen.

Schnee.

Er liegt seltsam verdreht, halb auf der Seite, halb auf dem Bauch, und seine Finger melden ihm weiche, kalte Nässe – genau wie seine linke Gesichtshälfte.

Er blinzelt langsam und starrt in die Schwärze, während sein Gehirn versucht, all das schwerfällig zu einem Bild zusammen zu fügen.

Dann trifft es ihn mit voller Wucht.

Nein.

Nein!

Entsetzt reißt er die Augen auf, krallt seine Finger in den Schnee und sammelt all seine verbliebene Kraft. Mühsam stemmt er seinen Oberkörper in die Höhe, bis er eine annähernd sitzende Position erreicht hat und zieht die Luft in tiefen, schnellen Atemzügen in seine Lungen.

Nein!

Das kann nicht wahr sein.

Ich bin nicht hier.

Ich bin in Sicherheit. Ich bin bei Mao, Alciel und Alas, bei Chiho und Emi.

Doch jeder Atemzug schmeckt nach Kälte und Schnee und beweist ihm so das Gegenteil. Über das mit jeder Sekunde heftiger werdende Pochen seines Herzens kann er zwar nichts hören, aber … verzweifelt krallt er seine Finger in den Schnee … sein Tastsinn belügt ihn nicht.

Und das Gewicht seines gefütterten Parkas drückt ihn fast wieder zu Boden.

Nein.

Panisch schnappt er nach Luft, doch es fühlt sich so an, als wäre sein Brustkorb plötzlich viel zu klein für seine Lunge. Und während er verzweifelt nach Atem ringt und ihm die Tränen aus den Augen fließen, krampft sich sein Herz in der bitteren Erkenntnis zusammen, dass alles – dass er gefunden und mit Nettigkeiten überschüttet wurde, dass all die Wärme und Nähe und Liebe, die ihm entgegengebracht wurde, dass Maos Küsse und seine Umarmungen – dass all das nur ein Traum war.

 

 

Mao wird durch eine heftige Bewegung neben sich aus seinem Schlaf gerissen und erwacht vollends, als Urushihara mit einem erstickten Schrei in die Höhe fährt.

„Lucifer!“ Ohne richtig darüber nachzudenken, setzt sich Mao auf und schlingt beide Arme um ihn.

Aus dessen Kehle kommt nur ein ersticktes Wimmern und dann krallen sich seine Finger so fest in Maos Pyjama, dass die Nähte bedrohlich knirschen. Er atmet so schnell und hektisch, dass er sich regelrecht daran verschluckt. Und während er sich hustend und nach Luft ringend noch fester an Mao klammert, murmelt dieser beruhigende Worte und streichelt ihm tröstend durch das verschwitzte Haar.

„Sch, ruhig, ganz ruhig. Lucifer. Es war nur ein Alptraum. Es ist alles gut. Alles ist gut...“

„Mylord?“ Ashiya, der von dem Schrei ebenfalls aufgewacht ist, setzt sich auf und blinzelt ihn verschlafen an.

„Schon gut. Ich hab alles im Griff.“ Mao schenkt ihm ein beruhigendes Lächeln. „Schlaf ruhig weiter.“

Ashiya mustert sie einen Moment schweigend, dann streckt er zögernd einen Arm aus und reibt Urushihara in zuerst nur sehr unbeholfenen, doch zunehmend immer sicherer werdenden, kreisförmigen Bewegungen den Rücken.

Allmählich beruhigt sich Urushiharas Atmung.

„J-jacobu.“ Zitternd preßt er sich an Maos soliden Körper und drückt sein Gesicht in dessen Schulter. Gierig zieht er Maos vertrauten Geruch in seine Nase und sonnt sich in dessen Wärme.

„Du bist es wirklich, nicht wahr?“

Von einer plötzlichen Furcht gepackt, lehnt er sich etwas zurück und tastet mit seinen Fingern über den Körper vor sich, über weichen Flanellstoff und Plastikknöpfe, bis seine Fingerspitzen warme, samtige Haut und weiches Haar erfühlen. Er tastet sich hoch bis zum Gesicht.

„Ja, ich bin es“, stimmt Mao ihm leise zu und hält ganz still, als Urushiharas Finger über sein Antlitz tanzen, um die Gesichtszüge, die er jetzt nur noch spüren kann, mit denen in seiner Erinnerung zu vergleichen. Mao mag es normalerweise nicht, wenn man ihm derart im Gesicht herumtatscht, aber Urushiharas Finger sind wie kleine, eifrige Schmetterlinge und jede Berührung hinterlässt ein angenehmes Kribbeln, das ihm bis hinunter in den Magen fährt.

Völlig fasziniert starrt Mao in Urushiharas violette Augen, die im schummrigen Licht der Nachttischleuchte geheimnisvoll schimmern und jetzt genauso viele Emotionen wiederspiegeln wie sein Gesicht, so dass man glatt vergessen könnte, dass er eigentlich blind ist.

Als Urushiharas Hände auf Maos Wangen zu ruhen kommen, legt dieser unwillkürlich seine Hände in derselben Geste um Urushiharas blasses Gesicht.

„Lucifer. Du bist hier. In Sicherheit. In der Blockhütte, bei Ashiya und mir und Alas-chan und Chiho und Emi. Du bist in unserem Zimmer. In einem riesigen Double-King-Size-Bett, in dem wir alle drei Platz haben. Ashiya und ich sind bei dir, Lucifer. Es ist alles gut.“ Er lehnt sich näher, bis er seine Stirn gegen Urushiharas legen kann.

„Alles ist gut“ wiederholt er dabei leise.

Urushihara holt einmal tief und zitternd Luft.

„Ich weiß nicht mehr, was echt ist und was nicht“, gibt er mit kratziger Stimme erschöpft zu.

„Soll ich dich kneifen?“ bietet Ashiya, nur halb im Scherz, an. Und tatsächlich hebt er seine Hand in Richtung Urushiharas Kopf, doch anstatt ihn in die Wange zu zwicken, streicht er ihm nur sanft über den Nacken.

Wie gedankenlos das war, begreift er erst, als Urushihara bei seiner Berührung erschrocken zusammenzuckt.

Ashiya murmelt hastig eine Entschuldigung und zieht sich wieder etwas zurück.

„Schon gut", versichert ihm Urushihara leise, „das ist nur so ungewohnt."

Mao und Ashiya wechseln einen betretenen Blick.

„Aber es ist echt", versichert Mao Urushihara.

Seine Gedanken rasen. Womit kann er Urushihara nur überzeugen?

Er glaubt uns nicht, weil wir nett zu ihm sind. Aber ich will nicht gemein zu ihm sein.

Versonnen mustert er Urushiharas Gesicht und streicht mit den Daumen über dessen breite Wangenknochen. Im Schummerlicht wirkt er noch blasser als sonst und die Schatten um seine Augen noch dunkler. Er sieht aus wie ein Gespenst und die Erschöpfung in seinen hellen Augen bestärkt diesen Eindruck nur noch.

Und dann übernimmt Maos Instinkt die Regie. Sein Griff um Urushiharas Wangen verstärkt sich, während er sich zu ihm nach vorne lehnt und seinen Mund kompromißlos auf Urushiharas presst. Es ist ein harter, entschlossener Kuss, der keinen Widerstand duldet.

Urushihara gibt einen erstickten Laut von sich und erstarrt. Nicht nur körperlich - auch sein Verstand setzt für ganze drei Herzschläge aus. Selbst wenn er wollte, könnte er gar nicht reagieren. Dieses Zögern lässt Mao kurz an seiner Entscheidung zweifeln, aber dann beginnt Urushihara, den Kuss zu entgegnen - wenn auch nur sehr zaghaft, als würde er dem Braten noch nicht so ganz trauen. Doch das stört Mao nicht. Er verstärkt den Druck seiner Lippen und zwängt seine Zunge in Urushiharas Mund. Nicht sehr lang, nur sehr kurz, aber genug, um einen Hauch von seinem Geschmack zu erhaschen. Und sofort erwacht ein ganzer Schmetterlingsschwarm in seinen Eingeweiden. Bevor er weich werden kann, beendet er den Kuss wieder. Urushihara wirkt immer noch wie erstarrt und seine Miene ist völlig blank, doch in seine Wangen hat sich eine verräterische Röte geschlichen. Unter seinen halbgeschlossenrn Lidern glimmen seine Iridien wie kostbarer Amethyst und als er die Augen öffnet und Mao direkt anstarrt, könnte man glatt vergessen, dass er blind ist.

In Maos Kehle steckt plötzlich ein riesengroßer Kloß.

„Wow", lacht er nervös und kratzt sich verlegen den Nacken. „Ich habe fest damit gerechnet, dass du mir eine klebst."

Urushiharas einzige Reaktion besteht darin, dass seine feingeschwungenen Augenbrauen ein paar Millimeter in die Höhe rutschen, und das macht Mao zunehmend nervöser.

„Ich wollte etwas machen, das du nicht erwartest", rechtfertigt er sich hastig und legt sanft seine rechte Hand an Urushiharas Wange. Aus reiner Gewohnheit sieht er ihm eindringlich in die Augen  und er glaubt zu fühlen, dass Urushihara seinen Blick sehr wohl spürt. „Etwas so Ungewöhnliches, dass es garantiert nicht deinem Unterbewusstsein entsprungen ist und daher nur die Realität sein kann. Was nicht heißt, dass ich es nur deswegen getan habe", versichert Mao schnell. „Oh, nein, ganz bestimmt nicht."

Urushiharas Miene ist nichts von seinen Emotionen anzusehen, als er Maos Hand von seiner Wange pflückt.

„Ich habe geträumt, ich sei noch draußen im Schnee. Das fühlte sich genauso echt an wie das hier."

Mao verschlägt es für einen Moment den Atem, doch er erholt sich schnell wieder von seiner Betroffenheit.

„Aber das war ein Alptraum, Lucifer. Das hier allerdings..." in dem verzweifelten Versuch, ihn endlich zu überzeugen, legt er ihm abermals die Hände ums Gesicht, „... ist die verdammte Realität." Als er ihn diesmal küsst, lässt sich Urushihara nicht lange bitten und öffnet bereitwillig seine Lippen. Mao nutzt die Chance sofort und schon bald sind ihre Zungen in einen heftigen, wilden Tanz verstrickt.

Ashiya mustert sie kurz mit hochgezogenen Brauen und legt sich dann wieder hin, wobei er ihnen demonstrativ den Rücken zudreht. Er schließt die Augen und versucht, wieder einzuschlafen, doch seine Ohren kann er nicht verschließen. Und so hört er, nach den typischen Geräuschen von sich immer wieder aufeinander pressenden Lippen, schweren Atmen, leisen Seufzen und dem Geräusch von Fingern, die sich in Stoff krallen, leider nur zu gut, wie all das abrupt endet, gefolgt von einem bedeutungsvollem Schweigen.

Nach zehn bangen Sekunden Stille hört er Urushiharas leise, aber entschiedene Stimme:

„Das reicht, Mao-sama. Ich bin müde."

Mao-sama. Ashiya ist sofort wieder hellwach. Er spürt, wie sich die Matratze bewegt und hört das Rascheln von Stoff, als sich die beiden hinter ihm wieder hinlegen. Er wartet noch etwas, bis er es wagt, sich umzudrehen und er hat wirklich Angst vor dem Bild, das sich ihm dann bieten könnte. Doch das, was er sieht, unterscheidet es sich nicht sehr von dem, was er kurz vorm Einschlafen sah. Sein König liegt hinter Urushihara und hält ihn dabei in seinen Armen.

Erleichtert dreht sich Ashiya wieder um.

 

 

XXI. Kapitel

 

 

Es ist noch früh am Morgen, aber sowohl Wetterbericht wie auch ein Blick aus dem Fenster versprechen blauen Himmel und viel Sonne. Normalerweise ist Emi ein Morgenmuffel, doch sie erwachte heute mit Alas-Ramus in ihren Armen, die sich zufrieden an sie kuschelte. Irgendwann des Nachts muss sich die Kleine aus ihrem Bett in ihres geschlichen haben – obwohl sie wirklich langsam alleine schlafen sollte.

Emi weiß, dass es ein Fehler ist – das steht in allen Erziehungsratgebern – aber sie brachte es nicht übers Herz, Alas dafür zu rügen. Soll die Kleine doch ruhig einmal verwöhnt werden – sie haben schließlich Ferien.

Und verwöhnt wird sie, in der Tat. Sonst würde sie ja nicht hier um sieben Uhr morgens in der Küche stehen – zusammen mit Ashiya, um Gottes Willen! - und Pfannkuchen zum Frühstück machen, während ihre Ziehtochter mit ihrem Malbuch am Esstisch sitzt.

Und nie hätte sie gedacht, dass sie sich mit dem Dämonengeneral so gut versteht. Nicht gut genug, dass er auf ihre neugierigen Fragen zufriedenstellende Antworten gibt, aber wenigstens herrscht zwischen ihnen respektvoller Waffenstillstand. Es ist ruhig, beinahe friedlich.

Nun, jedenfalls bis eine heisere Stimme aus dem Obergeschoß ertönt.

„Nein! Lass mich in Ruhe, Mao!“

Emi und Ashiya werfen sich einen beunruhigten Blick zu und eilen aus dem Küchenbereich. Alas rutscht von ihrem Stuhl und rennt ihnen neugierig hinterher.

Oben auf dem Treppenabsatz steht Urushihara und hält einen irritierten Mao mit ausgestrecktem Arm auf Abstand.

Emi blinzelt überrascht. Beinahe hätte sie ihn ohne sein übliches Outfit gar nicht erkannt. Es ist wirklich irritierend, ihn wieder in einem von Maos kuscheligen Hoodies zu sehen.

„Hör auf, mich wie ein Kleinkind zu behandeln, Jacobu! Ich bin kein verdammter Invalide, der Betreuung braucht!“

„Lucifer...“ Mao scheint irritiert, aber gleichzeitig auch leicht amüsiert zu sein.

Und Emi kann es ihm nicht verübeln, sie muss sich selbst ein Schmunzeln verbeißen, denn Urushiharas Temperamentsausbrüche sind immer eine herrliche Show (mal ganz davon abgesehen, dass sie ihn nicht ausstehen kann, ist dies auch mit ein Grund, wieso sie ihn so gerne piesackt).

Außerdem beweist ihnen Urushihara hier gerade eindrucksvoll, dass noch sehr viel Leben in ihm steckt.

„Du musst mir nicht bei jedem Handgriff helfen, verdammt nochmal!“ faucht er seinen König an. „Ich bin sehr wohl imstande, selbst eine Treppe hinunter zu gehen. Ich habe mich jetzt fast fünf Wochen ganz gut alleine durchgeschlagen, ich brauche dich nicht!“

Urushihara hält inne und schöpft nach Luft. Das laute Reden fällt ihm schwer, sein Hals kratzt und er muss aufpassen, dass ihm die Stimme nicht versagt oder sein Satz von einem Hustenanfall unterbrochen wird. Er wird immer laut, wenn er sich aufregt, obwohl er weiß, dass das bei Mao überhaupt nichts bringt.

Er ist wirklich nicht undankbar, er genießt es, in einem warmen Bett dicht an Mao gekuschelt aufzuwachen und wie ein Prinz umsorgt zu werden, aber alles hat seine Grenzen. Er kann sich verdammt nochmal selbständig anziehen, selbständig auf die Toilette und duschen gehen und er braucht garantiert niemanden, der ihn die Treppe hinuntergeleitet. Das gestern war ein absoluter Ausnahmefall und je eher Mao das begreift, desto besser.

„Ich weiß deine Hilfe zu schätzen, aber was zuviel ist, ist zuviel.“

„Lucifer...“

„Nein, Jacobu, lass mich-“

„Lucifer“, unterbricht Mao ihn ernst, legt ihm beide Hände ums Gesicht und küsst ihn.

Urushihara erstarrt geschockt, doch dann entgegnet er den Kuss vorsichtig, nur, um eine weitere Sekunde später wieder zur Besinnung zu kommen. Hastig zieht er seinen Kopf aus Maos Reichweite und schiebt ihn wieder auf Armlänge von sich fort.

Er hebt an, Mao scharf zurechtzuweisen, denn das ist unfair, so sollten Diskussionen nicht beendet werden – aber da unterbricht ihn Mao schon:

„Sei vorsichtig, meine kleine Kratzbürste, die Treppe ist nur einen Schritt hinter dir.“ Mit diesen Worten packt er ihn vorne am Hoodie und zieht ihn zu sich heran, in seine sichere Umarmung.

„Das war alles, was ich dir sagen wollte“, erklärt er, während er ihn behutsam an sich drückt. „Ich streite mich gerne mit dir, aber dann doch lieber an einem sicheren Ort.“

Urushihara schneidet eine Grimasse, sagt aber nichts. Er weiß nicht, ob Mao ihm die Wahrheit sagt oder ob er es nur als Ausrede benutzt, um nicht auf seine Vorwürfe eingehen zu müssen. In stummer, hilfloser Frustration, krallt er seine Finger in Maos Oberarme. Er weiß nicht, ob Mao es durch die dicke Wolle überhaupt spürt und das ärgert ihn nur noch mehr.

Er hasst es, blind zu sein!

Und er hasst es generell, auf andere vertrauen zu müssen.

Denn was macht es schon, wenn er jetzt diese Treppe hinuntergefallen wäre? Es wäre schließlich nicht das erste Mal. Mao hat ja keine Ahnung, wie oft er diese Stiege, die zu ihrem Apartment hinaufführt, hinuntergepurzelt ist. Natürlich weiß Mao es nicht, er hat schließlich sorgsam darauf geachtet, das zu üben, wenn niemand da war – und das schließt ihre neugierige Nachbarin Kamazuki Suzuno mit ein.

„Es lag nicht in meiner Absicht, dich zu demütigen, Lucifer.“ Maos sanfte, verständnisvolle Stimme an seinem linken Ohr reißt ihn aus seinen dunklen Gedanken.

Liebevoll drückt Mao ihn fester an sich und Urushihara kann gar nicht anders, als seine Wärme gierig in sich aufzusaugen.

„Du hast recht: du hast die letzten dreiunddreißig Tage etwas Unglaubliches geleistet, ich mag mir gar nicht vorstellen, wie schwierig es für dich war. Und ich weiß nur zu gut, dass ich dir das Leben durch meine Ignoranz noch zusätzlich erschwert habe.“ Anfangs vorsichtig, doch dann schnell mutiger werdend, krault Mao Urushiharas empfindlichen Nacken, direkt am Haaransatz und als Urushihara regelrecht gegen ihn schmilzt, macht sein Herz einen glücklichen Sprung.

„Nichts liegt mir jetzt ferner, als dir deine Selbständigkeit abspenstig zu machen, die du dir so hart erkämpft hast. Und ich verstehe, wie wichtig dir das ist. Ich gelobe dir, ich halte mich in Zukunft zurück, aber bitte erlaube mir, dir zu helfen, zu lernen, dich hier so sicher zu bewegen wie Zuhause.“

„Gegen Hilfe habe ich nichts, ich mag nur keine Bevormundung. Ehrlich, Mao, du musst mir nicht die Klamotten zurecht legen wie Alas-chan. Von deinen anderen Übergriffigkeiten ganz zu schweigen.“

Betroffen beißt sich Mao auf die Unterlippe. „Bitte entschuldige. Du weißt, wie schnell ich mich zu etwas hinreißen lasse.“

Urushihara lächelt schmal. Natürlich weiß er das und das ist auch ein Grund, wieso er ihm schneller verzeihen kann als jedem anderen in dieser Situation. Ein anderer ist schlicht und einfach, dass sein kleiner Wutanfall ihn regelrecht ausgelaugt hat und er jetzt wirklich Frieden und Harmonie bevorzugt.

„Ich bin nicht eines deiner Projekte“, warnt er ihn trotzdem noch, um seinen Standpunkt endgültig klar zu stellen.

Da irrst du dich. Du bist mein GRÖSSTES Projekt, widerspricht ihm Mao in Gedanken, behält das jedoch wohlweislich für sich.

„Du hast die Erlaubnis, mich zu töten, wenn ich wieder übergriffig werde“, verspricht er ihm, was Urushihara nur ein kleines Lachen entlockt, das fast in einem Hustenanfall endet.

„Der Spruch ist sowas von ausgelutscht“, bringt er schließlich hervor, als er wieder genug Atem hat.

„Richtig“, stimmt Mao ihm grinsend zu. Die Worte „dann steht es dir frei, mich zu töten“, hat er zu jedem seiner dämonischen Generäle gesagt, um sie davon zu überzeugen, ihm zu folgen. Etwas anderes als sein Leben hatte er als kleiner Goblin nicht anzubieten und wenn einer seiner überlebenden Generäle vor ihn träte, um diese Schuld einzufordern, würde er sie ohne mit der Wimper zu zucken einlösen.

Aber das hier ist etwas völlig anderes. Das hier hat etwas Besseres verdient.

„Gut. Wie wär's damit: wenn ich dir wieder zu übergriffig werde, sind Ashiya und ich vierundzwanzig Stunden lang deine willigen Sklaven.“

„Oi, Mylord!“ kommt er protestierend vom unteren Ende der Treppe her. „Haltet mich da gefälligst heraus!“

Urushihara gluckst leise und Mao kann jetzt wirklich nicht mehr widerstehen. Behutsam legt er seine Finger unter Urushiharas Kinn und hebt seinen Kopf etwas an, damit er ihn besser küssen kann.

Kaum haben seine Lippen Urushiharas berührt, schmilzt dieser förmlich in diesen Kuss hinein. Daran könnte er sich wirklich gewöhnen. Maos Lippen sind weich und warm, sein Zungenspiel sanft und fordernd zugleich und das ist genau dieser Hauch von Dominanz, der sein Herz sehnsüchtig erbeben lässt.

Es ist gut.

Es ist fast zu gut, um wahr zu sein.

Und vielleicht ist es das auch nicht.

Aber verdammt noch mal, wenn das eine Halluzination ist, dann muss alles andere auch eine sein und vielleicht liegt er sterbend im Schnee, aber dann ist das hier der beste Todeskampf, den er sich wünschen kann.

Begeistert stürzt er sich nur noch tiefer in diesen Kuss hinein, schlingt Mao die Arme um den Nacken und heißt die Schmetterlinge in seinem Magen willkommen.

Ich befürchte, ich verliebe mich gerade, schießt es ihm durch den Sinn. Aber das ist okay, oder? Wenn das hier nur eine Halluzination ist, dann schadet es nichts, wenn ich mich einfach mitreißen lasse.

Plötzlich ist das Trappeln kleiner Füße auf hölzernen Stufen zu hören, begleitet von einem wilden „Yaaaaay!“

Überglücklich wirft Alas-Ramus ihre Arme um die Knie der beiden Männer und drückt sich an sie wie ein kleiner Welpe. Trotz ihres Überschwangs ist sie erstaunlich vorsichtig und achtet darauf, keinen der zwei aus dem Gleichgewicht zu bringen.

„Papa küsst Lucifer! Ich will auch! Ich will auch!“

Lachend lösen sich die beiden voneinander und Mao hebt sie schnell hoch und hält sie so, dass sie

ihre kleinen Ärmchen um Urushiharas Hals schlingen kann. Sie drückt dem ehemaligen Erzengel gerade einen dicken Schmatzer auf die Wange, als Emi zu ihnen die Treppe hinaufstapft.

„Alas-chan“, rügt sie die Kleine sanft, „was habe ich dir gesagt? Du sollst doch auf Treppen nicht rennen.“

„Ja, Mama“, zwitschert Alas-Ramus zurück. „Entschuldige, Mama.“

„So, und nun komm und lass die beiden Idioten in Ruhe. Es gibt Frühstück.“ Vielsagend streckt sie die Arme aus und gehorsam wechselt das Kleinkind zu ihr hinüber.

„Und ihr beide habt verdammtes Glück, dass Chiho das nicht gesehen hat“, meint Emi vorwurfsvoll zu Mao und Urushihara, bevor sie mit ihrer Ziehtochter wieder hinunter ins Erdgeschoß geht.

Stirnrunzelnd sieht Mao ihr nach, setzt aber schnell ein fröhliches Lächeln auf, als Alas ihm über Emis Schulter hinweg vergnügt zuwinkt. Er winkt mit seiner freien Hand zurück, die andere liegt um Urushiharas Taille. Und dann bemerkt er, dass dieser wie Espenlaub zittert.

„Was ist los?“ erschrocken nimmt er ihn in die Arme und reibt beruhigend über seinen Rücken.

„Ich bekomme jedes Mal fast einen Herzschlag, wenn jemand so plötzlich auftaucht“, antwortet Urushihara verlegen.

Im ersten Moment ist Mao verwirrt, aber dann begreift er.

„Oh.“

Sekundenlang stehen sie nur eng umschlungen auf dem Treppenabsatz, jeder in seine eigenen Gedanken versunken, bis Urushiharas leise, heisere Stimme die Stille bricht:

„Aber Emi hat recht: Chiho sollte uns nicht so sehen.“

Mao schnaubt einmal.

„Ich lasse mir doch nicht vorschreiben, wie und wo ich dich küsse.“

Urushihara hebt den Kopf und Mao läuft es eiskalt den Rücken hinunter, als er in diese violetten Augen sieht.

„Uh, das ist unheimlich. Wie kannst du mir so einen vorwurfsvollen Blick zuwerfen, wenn du blind bist?“

Um Urushiharas Lippen zuckt ein verschmitztes Lächeln.

„Hat's funktioniert?“

„Ja“, gibt Mao sofort zu und seufzt einmal tief. „Gut, wenn Chiho in Sichtweite ist, halte ich mich zurück. Ein wenig“, schränkt er hastig ein.

Denn jetzt, wo sein General anscheinend Gefallen an seinen Zärtlichkeiten gefunden hat, wird er ganz bestimmt nicht mehr damit aufhören.

„Weißt du, du kannst auch mit ihr reden“, meint Urushihara trocken, während er sich aus Maos Umarmung löst.

Dieser läßt ihn nur widerwillig ziehen, aber auch ihm knurrt er Magen bei dem Duft von frischgebackenen Pfannkuchen, der aus der Küche zu ihnen hinaufweht.

Und sein General ist immer noch zu dünn und schwach. Er muss dringend aufgepäppelt werden.

„Einen Schritt vor dir ist die Treppe und eine halbe Armlänge links das Geländer. Es sind fünfzehn Stufen“, erklärt er ihm und hält sich nur mühsam zurück, ihm nicht auch körperlich die Hand zu reichen.

Fasziniert beobachtet er, wie Urushiharas das Geländer ertastet und dann langsam seine Handfläche darüber gleiten läßt, während er gleichzeitig den ersten Schritt macht. Es wirkt ganz und gar nicht hilflos. Vielleicht etwas zögerlich in den ersten Sekunden, doch nur, bis er das Geländer gefunden hat.

Aber hilflos? Nein, ganz und gar nicht.

Mao erinnert sich an Urushiharas Schreckhaftigkeit und fragt sich unwillkürlich, wieviel von dieser Selbstsicherheit nur Show ist. Wahrscheinlich mehr als ihnen beiden lieb ist.

Schnell schließt er zu ihm auf und gibt sich dabei Mühe, möglichst laut zu sein. Er hört, wie Urushihara leise die Treppenstufen zählt und um ihn nicht durcheinander zu bringen, hält er sich mit allem zurück.

Unten angekommen, ist er ein nervliches Wrack, weil er ständig auf der Hut war, jederzeit bereit, ihn beim geringsten Fehltritt aufzufangen.

Er fühlt sich wie damals, als Alas-Ramus ihre allererste Treppe hinter sich brachte. Seine Erleichterung ist so groß, dass er all seine guten Vorsätze vergißt und Urushihara an der Hand nimmt.

„Du wirst lachen, aber ich hatte tatsächlich vor, mit Chiho zu reden, als klar wurde, dass sie uns begleitet. Ich weiß nur nicht, wie ich ihr das möglichst schonend sagen kann“, nimmt er das vorherige Gespräch wieder auf.

„Bei so etwas gibt es nie die richtigen Worte, Mao-sama. Und das weißt du auch.“

„Ich weiß“, murmelt Mao, wird sich plötzlich bewußt, dass er seine Hand hält und lässt sie erschrocken wieder los.

Urushihara schnaubt – das in einen kurzen Husten übergeht - verdreht die Augen und streckt ihm dann vielsagend die soeben verschmähte Hand wieder entgegen.

„Geleite mich bitte zum Esstisch wie der Gentleman, der du sein willst. Mein Hirn fühlt sich nicht bereit, sich jetzt schon mehr einzuprägen. Ich brauche erst einmal etwas zum Essen. Danach mache ich weiter und du kannst mir gerne dabei helfen.“

Bei diesen Worten strahlt Mao übers ganze Gesicht.

 

 

XXII. Kapitel

 

Ashiya ist nicht begeistert über die Pläne seines Königs, und das macht er auch deutlich. Wenn auch nicht mit Worten. Aber seine Taten sprechen für sich.

So drängt Ashiya Urushihara zusätzlich einen Rollkragenpullover aus Wolle auf, sowie Thermounterwäsche, dazu Maos Zweitmantel aus Kunstwildleder mit Pelzbesatz (manchmal findet Ashiya im Second-hand-Shop wirklich wahre Schnäppchen) und seine (Ashiyas) Wollmütze.

Ashiya begründet den Mantel zwar damit, dass Urushiharas eigener Parka noch nicht trocken ist, doch der Engel hört die Lüge aus seiner Stimme heraus.

Es ist demütigend, wie sehr Ashiya ihn wie ein Kind behandelt, doch andererseits fühlt es sich gut an, wenn da jemand ist, der sich Sorgen um einen macht.

Aber als Ashiya ihm etwas Klobiges über die Stirn zieht, runzelt er doch erst einmal argwöhnisch die Stirn. Schnell hat er ertastet, um was es sich dabei handelt und schnaubt unwillkürlich. Und hustet dann gleich darauf.

„Eine Skibrille? Ernsthaft jetzt?“

„Natürlich“, entgegnet Ashiya ernst. Er mustert ihn durchdringend. Ihm gefällt Urushharas Husten überhaupt nicht und er beschließt, das sorgsam im Auge zu behalten. „Deine Pupillen reagieren nicht mehr. Die Sonne scheint und der Schnee wirft ihr Licht zurück und wenn man dem länger ausgesetzt ist, kann das zu Netzhautschäden führen.“

„Oh, stimmt“, kommt es zynisch zurück. „wir wollen ja nicht, dass zu meiner Blindheit noch Schneeblindheit dazu kommt.“

Ashiya lässt sich nicht aus der Ruhe bringen.

„Ich sehe keine Veranlassung dazu, deine Augen noch mehr zu zerstören“, meint er, während er den Sitz von Urushiharas Wollmütze überprüft und den Schal fester unter den Fellkragen seines Mantels stopft. „Und außerdem schützt dich die Brille auch davor, einen Ast ins Auge zu bekommen. Oder einen Schneeball“, fügt er mit einem scharfen Blick Richtung Tür hinzu, durch die eben Emi nach draußen schlüpft.

„He, Ashiya“, Mao legt Urushihara gut gelaunt einen Arm um die Schultern und drängt ihn so langsam Richtung Tür. „Keine Sorge, ich werde schon gut auf ihn aufpassen.“

Ashiya mustert ihn streng.

„Eine Stunde, Mylord. Und früher, wenn es mit dem Husten schlimmer wird."

Mao nickt gehorsam und beeilt sich, mit Urushihara die Hütte zu verlassen.

Die eisige Luft trifft Urushihara wie ein Vorschlaghammer. Und plötzlich steht er nicht mehr auf der Veranda, sondern ist wieder allein im Schnee irgendwo im Nirgendwo. Er erstarrt - sowohl innerlich wie auch äußerlich. Er kann keinen Muskel mehr rühren.

„Er ist so unheimlich, wenn er die Glucke raushängen lässt. Aber er meint es gut."

Maos Stimme hilft ihm aus seiner Starre und dann spürt er das Gewicht von Maos Arm um seine Schultern und ist wieder zurück. Entschlossen schüttelt er die unangenehme Starre endgültig ab.

„Komm", meint Mao, der nichts von Urushiharas Ungemach bemerkt hat, nimmt seine Hand und führt ihn nach vorne zum Geländer.

„Das ist die Veranda", erklärt er dabei. „Sie nimmt die ganze Frontseite ein. Rechts geht es zur Treppe, vier Stufen führen hinunter in den Garten."

Während sich Urushihara mit konzentrierter Miene am Geländer entlang tastet, bleibt Mao dicht bei ihm.

Als er Urushihara durch das Erdgeschoß führte, stellte er schnell fest, dass sein blinder General sehr schnell biestig reagiert, wenn er das Gefühl bekommt, bevormundet zu werden. Für ihn ist es extrem wichtig, dass er seinen Weg aus eigener Kraft findet. Von daher hält Mao auch diesmal einen Abstand von mindestens zwanzig Zentimetern zu ihm ein, bleibt aber nahe genug, dass er ihn im Notfall unterhaken kann. Und deshalb überrascht es ihn auch, als Urushihara kurz vor der ersten Stufe stehenbleibt und leise seinen Namen flüstert.

Sofort ist er an seiner Seite und legt ihm die linke Hand auf den Ellbogen.

„Ich bin hier. Alles in Ordnung? Geht es dir gut? Oder sollen wir lieber wieder reingehen?"

Urushihara schüttelt den Kopf. „Nein. Ich habe Alas-chan ein Versprechen gegeben." Er holt einmal tief Luft und räuspert sich dann einmal.

„Aber ich brauche jetzt wirklich deine Hilfe. Nicht nur bei der Treppe", fügt er leise, beinahe schüchtern hinzu.

„Natürlich", Mao mustert ihn besorgt. Unter Urushiharas Pokerface schimmert eindeutig Furcht. Sanft hakt er sich bei ihm unter und führt ihn so die Treppe hinunter.

„Ich kann mir gut vorstellen, wie unangenehm es hier draußen für dich ist. Ich wette, hier draußen kommen die ganzen Erinnerungen wieder hoch?" Er wartet Urushiharas Nicken nicht ab und redet sofort weiter. „Mir ergeht es jedenfalls so. Ich sehe einen Schneehaufen und sofort fühle ich mich zurückversetzt in jenen Moment, wo ich dich fand.“

Das ist ihm gestern Nachmittag aufgefallen, als er mit Alas-Ramus rodeln war und er hat bis jetzt noch mit niemandem darüber geredet. Es war ihm schlichtweg peinlich.

„Dann muss ich mich jedes Mal daran erinnern, dass wir dich rechtzeitig gefunden haben und dass du lebst.“

Ohne sich dessen bewusst zu sein, krallt sich seine Hand fester in Urushiharas Ellbogen, dieser dreht den Kopf in seine Richtung und dann fühlt Mao diese blinden Augen hinter der gespiegelten Skibrille auf sich ruhen.

„Ich … äh...“ plötzlich wird er sich seines Klammergriffs bewusst und läßt wieder locker. „Alles, was ich damit sagen will, ist: du bist damit nicht allein und ich verstehe dich.“

Er bleibt stehen und streichelt sanft über Urushiharas blasse Wange. Durch die Handschuhe kann er ihn nicht fühlen, aber es ist trotzdem merkwürdig beruhigend.

„Ich bin bei dir, Lucifer."

Aus einem Impuls heraus lehnt er sich zu ihm nach vorne und haucht ihm einen Kuss auf die Lippen.

Urushihara gibt einen kleinen Laut von sich und kommt ihm etwas entgegen. Maos offene Worte geben ihm das Gefühl, nicht allein zu sein und wenn er ihn küsst, dann vergißt er all seine Furcht. Mao spürt, wie sich Urushiharas Hände in seinem Mantel verkrallen, während er regelrecht gegen ihn schmilzt.

Und schon wird aus dem Hauch eines Kusses etwas mehr. Sehr viel mehr.

Gierig schlingt Mao seine Arme um Urushiharas schmale Taille und dreht seinen Kopf dann etwas, um ihn noch besser küssen zu können, denn diese blöde Skibrille ist im Weg.

Er beendet den Kuß aber wieder, als er das leichte Rasseln in Urushiharas Atem hört und schließt ihn dann – quasi als Entschädigung - besonders fest in seine Arme.

Urushihara weiß nicht, ob es an Maos Nähe oder diesem Kuss liegt, aber er fühlt sich leicht schwindelig und läßt sich nur allzu dankbar gegen ihn sinken. Es tut unheimlich gut, sich in dieses Gefühl der Wärme fallen zu lassen und so schmiegt er seine Wange fest gegen Maos Schulter und zieht seinen Geruch tief ein, bis auch der letzte Hauch von kalter, frischer Bergluft aus seinen Nüstern verschwunden ist und nur noch Maos warmer Duft nach seinem Vanille-Deo übrigbleibt.

Eine helle, klare Stimme reißt sie beide aus ihrem kleinen Kokon.

„Papa! Lucifer!" ruft Alas-Ramus laut zu ihnen hinüber. „Kommt endlich!"

Beim Klang ihrer Stimme zuckt Mao schuldbewußt zusammen.

Chiho!

Hastig dreht er sich um und wird sich noch im gleichen Moment bewußt, dass er ihr den Rücken zuwendet, sie also den Kuß (hoffentlich) gar nicht gesehen hat.

Die Art, wie sie ihm genauso übermütig wie Alas-Ramus zuwinkt, bestätigt das.

Mao kann ein erleichtertes Aufatmen nicht unterdrücken.

Ich muss wirklich dringend mit ihr reden, bevor sie uns in flagranti ertappt.

Automatisch hebt er die Hand und winkt zurück.

„Papa!“ drängelt Alas. Sie sitzt schon startbereit auf ihrem Schlitten und neben ihr stehen Chiho und Emi. Emis finstere Miene verrät Mao, dass sie vielleicht nicht gesehen hat, wie er Urushihara küsste, aber durchaus entsprechende Schlüsse zog.

„Wir sind gleich bei dir, Alas-chan!" ruft Urushihara zurück.

„Jakobu", auffordernd ergreift er Maos Oberarm. „Na los doch, bring mich zu unserem kleinen Sonnenschein."

Diese Bitte erfüllt ihm Mao nur allzu gern.

 

 

„Huuui!“

Mao jauchzt mit Alas-Ramus um die Wette, als sie auf dem Holzschlitten den Hügel hinuntersausen.

„Das macht total Spaß, nicht wahr, Lucifer?“ fragt er seinen General, als sie unten angekommen sind.

Er läßt ihn los, steigt ab und läßt sich von Alas-Ramus dann das Seil geben, um sie und Urushihara auf dem Schlitten dann wieder den Hügel hinaufzuziehen, so, wie er es die letzten zehn Mal getan hat. Er wartet Urushiharas Antwort gar nicht ab, ist er doch davon überzeugt, dass dieser mindestens genauso viel Spaß hat wie Alas-Ramus und er.

Er irrt sich gewaltig. Urushihara steht Todesängste aus, auch, wenn er sich das nicht anmerken lässt.

Auch jetzt nickt er nur stumm und hält sich dann mit einer Hand krampfhaft am Schlitten fest, während er seinen anderen Arm um Alas-Ramus vor sich schlingt, um nicht nach hinten zu kippen, als der Schlitten einen Ruck nach vorne macht. Den Hügel hinauf.

Diesen Teil hasst er ganz besonders: durch die Schräglage hat er immer das Gefühl, nach hinten zu kippen. Er würde gerne absteigen, aber Mao lässt ihn nicht dabei helfen, den Schlitten zu ziehen. Das sei zu anstrengend. Und Alas will auch, dass er bei ihr sitzen bleibt, damit sie ihren Ziehvater gemeinsam mit „Hüh, Pferdchen, hüh“ anfeuern können.

Er will ihr nicht den Spaß verderben, also spielt er mit. Doch in seinem inneren ist er ein nervöses Wrack.

Er sitzt auf einem Holzschlitten, den er nicht steuern kann, von dem er nicht einmal sieht, wohin er fährt. Jedes Mal, wenn das Holz unter ihm ein Knacken von sich gibt, überspringt sein Herz einen Schlag, um dann mit doppelter Geschwindigkeit weiterzurasen.

Er ist auf Gedeih und Verderb Mao ausgeliefert und das macht ihm furchtbare Angst. Es liegt nicht an Mao, wenn es irgend ein anderer wäre, ginge es ihm genauso – gut, bei Emi wäre es noch schlimmer, da würde ein Herzinfarkt den nächsten jagen. Wahrscheinlich wäre er nur bei Chiho weniger ängstlich, aber ganz bestimmt nicht ruhiger.

Anderen zu vertrauen fiel ihm niemals leicht, aber anderen in einer völlig fremden Umgebung, in einer völlig unbekannten Situation zu vertrauen ohne dabei ihre Gesichter und ihr Mienenspiel sehen zu können ist für ihn eine Herausforderung, die er noch nicht meistern kann.

Auch wenn Mao ihm von hinten die Arme um die Taille legt und er seinen soliden Körper im Rücken spürt, verschwindet diese Unsicherheit nicht. Vor ihm sitzt Alas-Ramus und es ist seine Aufgabe, sie festzuhalten, damit sie nicht vom Schlitten fällt und Urushihara versucht, sie nicht allzu fest zu drücken, denn nur weil er hier vor Angst vergeht, muss er ihr nicht die Stimmung verderben, auch, wenn ihm der Angstschweiß schon m Strömen über den Rücken rinnt.

Am Schlimmsten ist die Abfahrt, wenn sie den Hang hinunter sausen, wenn der Schlitten über eine Unebenheit springt oder die Kufen an einer vereisten Stelle ausrutschen, wenn Alas dann laut schreit und er im ersten Moment nicht weiß: ist das Freude oder Furcht? (Es ist immer Freude). Dann vergeht er jedes Mal vor Angst. Einer Angst, die er sich nicht anmerken lassen darf. Deshalb lacht er mit und spielt allen etwas vor.

Bei der nächsten wilden Abfahrt gibt es einen Stoß, weil Emi und Chiho mit ihrem Schlitten in sie hineinkrachen, und diesmal passiert es: sie kippen um.

Plötzlich liegt er im Schnee. Er hört sie alle lachen, und am lautesten lacht Alas-Ramus und ein Teil von ihm ist beruhigt: der Kleinen geht es gut.

Sein Instinkt schreit ihm zu, dass es gefährlich ist, liegenzubleiben, also rappelt er sich schnell wieder auf, aber irgend etwas ist seltsam. Er fühlt sich merkwürdig abgetrennt von seinem Körper. Er spürt, wie er wieder aufrecht steht, er spürt den Schnee, in dem er steht und auch wie etwas von dem Schnee in seinen Kragen rutscht, aber der größte Teil von ihm ist wieder zurück in diesen hoffnungslosen, einsamen Stunden im Schneetreiben.

Ihm stockt der Atem. Zischend zieht er die Luft durch die Zähne und beginnt gleichzeitig am ganzen Körper zu zittern. Sein Herzschlag dröhnt ihm plötzlich wieder so laut in den Ohren, dass er gar nichts anderes mehr wahrnimmt. Er spürt ihn sogar bis in seine Fingerspitzen hinein.

„Mylord!“ wie durch dicke Watte dringt Ashiyas aufgebrachte Stimme an sein Ohr.

Da sind Hände, die ihn an den Schultern packen und helfen, aufrecht stehen zu bleiben, den Schnee von seiner Kleidung klopfen und dann die Nässe aus seinem Gesicht wischen.

„Ihr solltet euch wirklich schämen! Ihr alle drei!“

„Oh, Ashiya“, lacht Mao vergnügt, „nun mach nicht so ein Drama daraus. Es ist doch nichts passiert. Wir haben einfach nur Spaß!“

„Ich habe alles ganz genau gesehen. Emilia und Chiho, wie könnt ihr nur so verantwortungslos sein? Bei so einem Zusammenstoß hätte sonst etwas passieren können! Auch Alas-chan hätte sich verletzen können!“

„Ashiya, du Spaßbremse“, Emi klingt alles andere als schuldbewusst. „So etwas gehört zu einer Rodelpartie dazu. Alas-chan und Mao sind gestern fast ständig vom Schlitten gefallen.“

Ashiya sagt einen Herzschlag lang nichts und mustert Urushiharas Gesicht nur eindringlich.

„Ich bin gekommen, um Urushihara zu holen. Eine Stunde, hatte ich gesagt. Die Stunde ist um. Komm mit.“ Er nimmt den immer noch wie betäubt dastehenden Erzengel an die Hand. „Es wird Zeit, dass du ins Warme kommst. Außerdem brauche ich Hilfe bei der Zubereitung des Mittagessens.“

Widerspruchslos läßt sich Urushihara mitziehen. Hinter ihm verklingen die enttäuschten Stimmen von Mao und Alas-Ramus, untermalt von Chihos und Emis freundlichen Abschiedsgrüßen, aber für ihn ist Ashiyas fester Griff nur wie eine Rettungsleine in seine bevorzugte Realität, an der er sich erleichtert festklammert.

 

 

XXIII. Kapitel

Tak-tak-tak.

Nicht sehr schnell, aber dafür sehr energisch schneidet das Messer durch die Möhre. Mit Grausen sieht Ashiya dabei zu, wie die scharfe Klinge das Gemüse zerteilt, immer dicht an Urushiharas Fingerspitzen vorbei. Alles in ihm schreit ihm zu, ihm das Messer fortzunehmen, doch er bringt es aus irgend einem Grunde nicht über sich.

Er hat nicht wirklich damit gerechnet, dass er ihm ohne zu Zögern in der Küche helfen würde. Nicht jetzt, wo jeder vom Verlust seines Augenlichts weiß. Und nicht nach dem, was passiert ist. Wenn sich Urushihara auf der Couch ausgestreckt und ein Nickerchen gehalten hätte, wäre das nur zu verständlich gewesen.

 

Unwillkürlich erinnert er sich an das allererste Mal, wo Urushihara ihm beim Gemüseputzen half.

 

Du willst was?“ rutschte es Ashiya sofort heraus, als der in seinen Augen chronisch faule Urushihara am Frühstückstisch plötzlich verkündete, er werde ihm heute in der Küche helfen. Noch im selben Atemzug verwünschte sich Ashiya für seine spontane Reaktion. „Ja, natürlich, gerne“, beeilte er sich daher sofort zu versichern. „Ich freue mich, dass du endlich bereit bist, deinen Anteil in diesem Haushalt zu leisten.“

Auch Mao war voll des Lobes, grinste und wuschelte Urushihara in einer freundschaftlichen Geste durchs Haar. Urushihara zuckte zusammen, als habe er ihn geschlagen, doch damals achtete keiner von ihnen darauf.

 

Wir waren wirklich Idioten.

 

Als er dann drei Stunden später neben ihm an dem bodennahen Tisch saß und seine erste Gurke schnitt, musste sich Ashiya sehr zurückhalten. Es dauerte viel zu lange und die Stücke wurden alles andere als gleichmäßig.

Du hältst das Messer völlig falsch. Das ist keine Axt, mit der du Knochen spaltest. Wenn du zuviel Druck ausübst, gibt es Kerben im Holzbrett und das Messer wird stumpf. Und versuch um Sataniels Willen, die Stücke etwas schmaler zu schneiden. Ja, so ist es schon besser. Und wenn du fertig bist, füll die Stücke in die Schüssel.“

 

Ashiya erinnert sich noch, wie sehr er sich darüber aufregte, dass Urushihara mit seinen Händen ständig auf dem Tisch herumtastete und das Gemüse erst von allen Seiten betatschte, bevor er es zu schneiden begann. Er glaubt sich zu erinnern, ihn sogar deswegen getadelt zu haben. Mehrmals.

 

Ich bin so ein Idiot.

 

Plötzlich hält Urushihara inne und hebt den Kopf. Als ihn der Blick aus diesen blinden, violetten Augen trifft, muss er einmal hart schlucken.

„Ashiya, ich spüre, dass du mich anstarrst."

Der fühlt sich ertappt. „Nur, weil ich darauf warte, dass du dir in den Finger schneidest", rutscht es ihm schnippisch heraus. Und sofort tut es ihm leid, doch um Urushiharas Lippen zuckt ein kleines Lächeln.

Er starrt ihn weiterhin an, während sich das Messer schon wieder bewegt.

Tak. Tak.

„Ich habe mir wirklich schon Sorgen gemacht", erklärt er dabei.

Tak.

„Schön, dass du immer noch du selber bist."

Ashiya runzelt die Stirn.

„Willst du damit sagen, ich sei zu nett zu dir gewesen?"

Dabei hatte er ihm doch nur ein heißes Bad eingelassen, ihm neue Kleidung herausgelegt und war dann wieder in die Küche zurückgekehrt. Oder meint er das mit der Skibrille und dass er ihn vom Rodeln fortgeholt hat, bei dem er sich offensichtlich nicht wohl fühlte?

Urushihara gibt nur ein zustimmendes „hm" von sich und senkt dann wieder den Blick auf das Schneidebrett, als könne er noch sehen. Oder wüsste, wie unangenehm sein starrer Blick ist.

Ashiyas Stirnrunzeln vertieft sich.

„Ich habe dir gestern versprochen, mich zu bessern. Nichts und niemand wird mich davon abhalten, meine Fehler wieder gut zu machen. Und wenn es dir nun unangenehm ist, weil ich nett zu dir bin, tja, dann tut es mir leid für dich, aber damit musst du jetzt leben.“

Urushihara versucht zu lachen, doch es wird schnell ein Husten daraus. Ashiya füllt ein Glas mit Gerstentee und drückt es ihm dann auffordernd in die Hand.

Während Urushihara trinkt, reibt er ihm beruhigend über den Rücken.

Er nimmt ihm das leere Glas wieder ab und reicht ihm eine neue Karotte, die er zerschnippeln kann. Dann wendet er sich wieder dem Wok zu, in dem schon das andere Gemüse langsam vor sich hingart.

Eine Zeitlang sagt keiner von ihnen ein Wort und das einzige Geräusch im Raum ist das Zischen des Gemüses in der Pfanne, das Blubbern der Soße in dem Topf daneben und dieses rhythmische tak-tak-tak, mit dem Urushihara die Karotte zerkleinert. Und dann hustet Urushihara und Ashiya sieht automatisch zu ihm hinüber und im selben Moment hebt Urushihara den Kopf und wirft ihm wieder diesen eindringlichen Blick aus seinen blinden Augen zu.

„Ashiya“, sagt er, als er schließlich wieder etwas zu Atem gekommen ist, „könntest du Mao ins Gewissen reden, damit er endlich mit der armen Chiho redet? Alleine packt er das nicht und auf dich hört er.“

„Ich habe kein Recht, unserem König zu befehlen, der reizenden Chiho das Herz zu brechen.“

„Einer der beiden bricht dem anderen früher oder später sowieso das Herz. Und besser er ihr jetzt als später sie ihm.“ Er holt einmal tief und rasselnd Luft und atmet dann wieder aus. „Bitte, Ashiya. Wenn du ihn darum bittest, wird er es tun.“

Ashiya mustert ihn mit hochgezogenen Brauen. Ihm gefallen die Geräusche nicht, die Urushihara beim Atmen macht, denn das klingt doch sehr verdächtig nach einer beginnenden Erkältung.

(Nicht Lungenentzündung, oh nein, das bestimmt nicht, das wird er zu verhindern wissen)

Aber wenn er daran denkt, wie knapp Urushihara mit dem Leben davonkam, ist so ein bißchen Husten ein sehr geringer Preis.

„Ashiya?“ als er keine Antwort von dem blonden General erhält, hakt Urushihara noch einmal nach. „Wenn du ihn darum bittest, wird Mao es noch am gleichen Tag tun. Er hört auf dich.“

Ashiya seufzt und holt eine Flasche Hustensirup aus dem Kühlschrank.

„Du setzt sehr großes Vertrauen in meinen Einfluß auf unseren König“, meint er, während er das grünliche Medikament auf einen Esslöffel gießt.

Tak.

„Ich hasse es, das zuzugeben“, murmelt Urushihara. Tak-tak. „Aber dein Wort hatte bei ihm schon immer mehr Gewicht als meines.“

„Lucifer, mach den Mund auf, ich habe hier einen Löffel Medizin gegen deinen Husten.“

Gehorsam öffnet der Engel den Mund und verzieht kurz darauf angeekelt das Gesicht, als er den Sirup hinunterschluckt.

„Ich weiß, das schmeckt scheußlich süß.“ Ashiya reicht ihm ein neues Glas Gerstentee, um den Geschmack zu übertünchen. „Das ist eigentlich ein Kindersaft für Alas-Ramus, falls sie sich erkältet, aber du brauchst es dringender. Und da es für Kleinkinder geeignet ist, wird es dir bestimmt auch nicht schaden.“

„Ich weiß nicht, ob ich gerührt oder beleidigt sein soll“, kommt es amüsiert zurück. Dann fällt ihm etwas auf. „Oh, du hast mich bei meinem Namen genannt.“

„Ist mir nur so rausgerutscht“, erwidert Ashiya ausweichend. „Gewöhn dich nicht daran.“

Urushihara grinst nur bis über beide Ohren und Ashiya grinst unwillkürlich zurück. Bis ihm wieder einfällt, dass Urushihara es nicht sehen kann.

„Gut“, verspricht er ihm daher schnell. „Ich werde mit unserem König reden. Es ist wirklich nicht fair, wenn sich die liebreizende Chiho-san Hoffnungen macht, während sein Herz doch eindeutig dir gehört.“

Urushihara schweigt einen Moment mit gesenktem Kopf.

„Tut es das wirklich?“ will er dann leise wissen. „Und wenn dem so ist, wieso stört es dich dann nicht?“ Seufzend hebt er die Hand mit dem Messer und reibt sich dann mit dem Handrücken über die Stirn.

Ashiya bleibt bei diesem Anblick fast das Herz stehen.

„Lucifer.“ Mit einem schnellen Schritt ist er bei ihm, nimmt ihm das Messer aus der Hand und gibt dann seinem Impuls nach und umarmt ihn zögernd.

Erst als er seine Arme um ihn schließt, wird ihm auf erschreckende Art und Weise klar, wie klein und zierlich Urushihara doch ist – er reicht ihm gerade mal bis zur Brust.

„Ich verrate dir jetzt mal etwas und das sage ich nur einmal und das bleibt gefälligst unter uns.“ Er senkt seine Stimme zu einem verlegenen Flüstern. „Mao-sama hat dich schon immer verehrt und bewundert. Und zu meiner großen Schande muss ich gestehen, dass mich das furchtbar verärgerte. Ich fand es beschämend, wie sehr er an einem Herumtreiber wie dir hing, über dessen Herkunft nichts bekannt ist. Und so setzte ich alles daran, dich in seiner Gunst zu überflügeln. Aber es gelang mir nie, weil du immer sein erster General sein wirst, der erste, der seine Pläne für die Dämonenwelt wirklich verstand und ihn unterstützte und das alles, ohne dass er dich zuvor im Kampf besiegen musste. Er überzeugte dich allein durch Worte und seine Hartnäckigkeit und das gab ihm all den Mut und die Kraft, niemals aufzugeben.“

Urushihara lehnt seine Stirn gegen Ashiyas Brust und versinkt in nachdenklichem Schweigen.

„Es fühlte sich nie so an“, murmelt er dann. Er klingt erschöpft. Oder traurig. So genau kann Ashiya das nicht auseinanderhalten.

Schmerzerfüllt schließt Ashiya die Augen und holt einmal tief Luft.

„Ich weiß, und das tut mir unendlich leid“, erwidert er dann leise und drückt ihn einmal zaghaft an sich. „Und genau deshalb stört es mich auch nicht, wenn ihr jetzt romantische Gefühle füreinander hegt, schließlich habe ich versprochen, ein besserer Freund für dich zu sein.“

Er spürt, wie sich Urushiharas Finger bei diesen Worten fester in seinen Wollpullover krallen und drückt ihn daraufhin unwillkürlich noch einmal kurz an sich.

Er kann verstehen, wieso sein König Urushihara so gerne in den Armen hält – es fühlt sich erstaunlich gut an. In seinem Inneren breitet sich dieselbe Wärme aus, wie er sie verspürt, wenn Alas-Ramus sich vertrauensvoll an ihn schmiegt.

Doch dann räuspert er sich, legt ihm die Hände an die Schultern und schiebt ihn auf halbe Armeslänge von sich.

„Und deshalb, Lucifer, mein Freund, bringe ich dich jetzt zur Couch, wo du dich brav hinlegst und ausruhst.“

Urushihara nickt nur stumm. Die Schatten um seine Augen wirken auf einmal wieder viel dunkler, aber vielleicht liegt das auch nur an den Tränen, die in seinen blinden Augen schimmern.

 

 

XXIV. Kapitel

„Es tut mir so leid für dich“, platzt es aus Emi heraus, bevor sie sich zurückhalten kann.

„Was meinst du?“ Chiho wirft ihr einen verwirrten Blick zu.

Emi räuspert sich verlegen und deutet mit einer verstohlenen Handbewegung hinüber zur Couch. Dort sitzt Mao neben Urushihara und massiert dessen linke Hand. Dabei lächelt er ihn unentwegt an und Emi hat noch nie ein verliebteres Lächeln gesehen. Nicht einmal bei Chiho.

Es ist peinlich, aber irgendwie auch – selbst wenn sie das nur widerwillig zugibt - süß.

„Oh“, macht Chiho nur, als sie begreift, worauf die Heldin da anspielt. Sekundenlang ruht ihr Blick auf den beiden Männern und wird dabei zunehmend abwesender.

Unwillkürlich zuckt ihre rechte Hand hoch zu ihrem Herzen, als sich dort ein kleiner Stich bemerkbar macht. Natürlich ist ihr das veränderte Benehmen ihres Schwarms gegenüber Urushihara nicht entgangen und je öfter sie dessen Zeuge wird, desto deutlicher wird sie sich der Einseitigkeit ihrer Gefühle bewusst. Sie war so dumm! Maou-sama ist ein Dämon – sogar ein König – und es ist leicht, das zu vergessen, wenn man nur sein hübsches Gesicht und seine charmante Art sieht und alles andere so rigoros ausblendet wie sie. Sein Menschsein ist nur eine Maske und darunter lauert jemand, den sie überhaupt nicht kennt. Ihr war ja nicht einmal bewußt, dass er sich zu seinem eigenen Geschlecht hingezogen fühlt. Und sie hat ihm die ganze Zeit diese Avancen gemacht. Ie war richtig aufdringlich! Das ist ja so unsagbar peinlich!

Es wird wirklich Zeit, dass sie von ihrer Würde soviel rettet wie nur irgend möglich.

„Ich finde es süß, wie sich Mao-sama um Urushihara kümmert“, meint sie daher in einem bewundernden Tonfall. „Sie sind wirklich gute Freunde. Dir ist doch bestimmt auch aufgefallen, dass Urushihara Probleme hatte, die Stäbchen zu halten. Deshalb hat Ashiya ihm ja beim Mittagessen Messer und Gabel gegeben.“

Emi ist zwar der Ansicht, dass Ashiya dem Engel das westliche Besteck wegen seiner Blindheit gab, aber sie behält das für sich. Außerdem redet Chiho schon weiter.

„Urushiharas Finger sind immer noch etwas steif und ich finde es bewundernswert, dass er sich trotzdem hinsetzt, um Alas-chan ihren Hund zu stricken. Mao-samas Massage wird ihm sicherlich helfen.“

„Aha...“ macht Emi nur gedehnt und kommentiert damit nicht nur Chihos Bemerkung, sondern auch das weitere Geschehen vor ihnen. Gerade eben hat Mao sich zu Uhrushihara vorgebeugt, um ihn auf die Stirn zu küssen.

Schweigend sehen sie alle – sie, Chiho, Ashiya und Alas-Ramus - von ihrem Platz auf dem Teppich, wo sie zusammen mit Alas-Ramus' Kuscheltieren spielen, dabei zu, wie Mao sich von Urushiharas Stirn über seinen Nasenrücken zu den Lippen hinunterküßt.

Unwillkürlich hält Emi den Atem an. Am liebsten würde sie Chiho die Augen zuhalten oder sie von hier fortzerren, aber sie ist wie erstarrt. Es ist wie ein Autounfall – sie kann nicht wegsehen.

Als Mao, dieser egoistische, wortbrüchige Bastard Urushihara in einen sanften, spielerischen Kuß entführt, wirft Emi der Teenagerin neben sich einen besorgten Blick zu. Nicht nur Emis Augen ruhen beunruhigt auf ihr, auch Ashiya und Alas-Ramus beobachten sie besorgt.

„Oh", Chiho wird sich dieser Blicke plötzlich nur allzu gut bewußt und die Röte steigt ihr in die Wangen.

„Oh", wiederholt sie, schluckt einmal sichtbar und starrt eine Sekunde lang leer vor sich hin. Dann dreht sie sich mit einem breiten Lächeln zu Alas-Ramus um.

„Wie geht’s, Alas-chan? Sollen wir noch ein paar Schneemänner bauen, so lange die Sonne noch scheint? "

„Au ja!" Begeistert klatscht das Kleinkind in die Hände, springt auf und ergreift Chihos Hand. Sie zieht sie so hastig in Richtung Garderobe, dass Chiho fast über ihre eigenen Füße stolperte.

Emi gibt einen tiefen Seufzer von sich, wechselt einen schnellen Blick mit Ashiya und schließt sich ihnen an. Sie sagt nichts, aber sie hofft inständig, dass Ashiya seinem geliebten König in ihrer Abwesenheit gründlich die Leviten lesen wird.

Doch dieser räumt nur schweigend das Spielzeug wieder auf.

 

 

Nur ganz am Rande seines Bewußtseins nimmt Mao wahr, wie Emi, Chiho und Alas-Ramus die Hütte verlassen. All seine Aufmerksamkeit gilt dem Engel in seinen Armen.

Glücklich nippt Mao an Urushiharas Unterlippe. Er lässt sich Zeit, geht ganz auf in diesem Moment. Als er da draußen war, und sein General hier drinnen, spürte er eine sonderbare Unruhe, die mit jeder verstreichenden Minute größer wurde. Und als er dann wieder das Haus betrat, suchte sein Blick als erstes den ehemaligen Erzengel und sobald er ihn dösend auf der Couch entdeckte, zog es ihn sofort wie magisch angezogen zu ihm. Seitdem hat er seine Seite nicht mehr verlassen, ständig getrieben von dem Wunsch, ihn zu berühren. Es fiel Mao verdammt schwer, ihm den gewünschten Freiraum zu lassen. Es war ein emotional anstrengender Balanceakt.

Als sie alle gemeinsam beim Mittagessen zusammensaßen, kämpfte er sehr gegen den Drang an, ihn einfach auf seinen Schoß zu ziehen und ihm so nahe wie möglich zu sein. Also befriedigte er dieses Bedürfnis, indem er Alas auf seine Knie setzte und ihr mit den Stäbchen half. Sie stellt sich damit schon sehr geschickt an, doch wenn Urushihara dabei ist, gibt sie sich keine große Mühe mehr und jetzt weiß er auch, warum, nicht wahr?

Aber nach all dieser tapferen Zurückhaltung ist Mao wirklich an seinem Limit angekommen.

Es ist ihm egal, wer zusieht, seine Sehnsucht und sein Verlangen sind größer.

Ah, er riecht so gut. Er hat eindeutig erst vor kurzem gebadet, aber es ist schon länger her, denn sein eigener Duft hat sich schon wie ein feiner Mantel darüber gelegt. Hm... Mao presst seine Nase dicht unter ein linkes Ohr mit zwei Amethyst- Ohrsteckern und atmet dieses betörende Gemisch aus frischen Meeresalgen und Milch und Honig tief ein.

„Ich liebe es, wie du riechst", murmelt er hingerissen, während er eine Spur kleiner Küsse über Urushiharas Kinnlinie zieht und dann zu seinem Mund, um an seinen Lippen zu nippen.

„Ich liebe es, wie du schmeckst." Seine Hände schleichen sich unter Urushiharas Hoodie und T-Shirt und liebkosen warme Haut.

„Ich liebe es, wie du dich anfühlst."

Aufschaudernd reckt sich Urushihara seinen Berührungen entgegen.

„J-Jacobu."

„Sch." Mao bringt ihn mit einem langen, tiefen Zungenkuß zum Schweigen.

Aufseufzend vergräbt Urushihara seine Hände in Maos Haar und lässt die seidigen Locken durch seine Finger gleiten, während er gleichzeitig nur allzu bereitwillig in Maos Geschmack ertrinkt.

Es ist ihm völlig egal, ob das hier die Realität oder nur eine Halluzination ist, es ist zu schön, um es aufzugeben.

Denn dadurch, dass ihm sein Hauptsinn nicht mehr zur Verfügung steht, fühlt sich Maos Nähe, seine Wärme, jede Zärtlichkeit, mit der er ihn überschüttet, jede Berührung und jeder Kuss so wahnsinnig intensiv an, dass er keinen klaren Gedanken mehr fassen kann.

Maos Zunge in seinem Mund und sein Geschmack, rauben ihm den Atem, sein Herzschlag dröhnt ihm in den Ohren und plötzlich erwacht da ein Engegefühl in seiner Brust.

Mao spürt, wie sich Urushiharas Zwerchfell unter seiner Hand plötzlich verkrampft und beendet den Kuss gerade noch rechtzeitig, bevor Urushihara von einem heftigen Hustenanfall geschüttelt wird. Es klingt rauh und schmerzhaft und als es vorbei ist, sitzt Urushihara keuchend und nach Luft ringend vor ihm.

„Alles okay?" Mao mustert ihn besorgt.

„Es tut nicht weh." erklärt Urushihara unter schweren Atemzügen. „Ist nur nervig."

Er tastet nach Mao und krallt sich in die Wolle seines Hoodies, will, dass Mao weiter macht, doch er wird bitter enttäuscht.

Mao will Rücksicht zeigen und daher weicht er von ihm zurück. Er nimmt die zusammengefaltete Decke von der Couchlehne und legt sie ihm sorgsam um die Schultern.

„Ruh dich aus." Sanft drückt er ihn in die Polster und streicht die Decke über ihm zurecht. Dann beugt er sich über ihn, streicht ihm das Haar zurück und gibt ihm einen Kuss auf die Stirn, bevor er sich erhebt und davon geht.

Genauso gut hätte Mao ihn mitten ins Gesicht schlagen können, und als sei das nicht schon schlimm genug, nimmt Mao auch noch jede Wärme mit sich, als er ihn verlässt.

 

 

Mao wirft einen langen, liebevollen Blick zurück zu seinem hoffentlich bald selig schlafenden General. Es fällt ihm so unendlich schwer, ihn allein zurück zu lassen, viel lieber würde er damit weitermachen ihn zu halten und zu küssen, aber Urushihara braucht seine Ruhe. Leise, um ihn nicht zu stören, geht er hinüber zu Ashiya in die Küche, um ihm dabei zu helfen, die Spülmaschine auszuräumen. Er hofft, dass sich Ashiya jetzt nicht vernachlässigt fühlt und hofft, das wieder auszugleichen, indem er ihm jetzt hilft. Es dauert eine Weile, doch irgendwann werden die stummen Blicke, mit denen Ashiya jede seiner Bewegungen verfolgt, unangenehm und unheimlich.

„Ah, Ashiya, willst du mir irgend etwas sagen?"

Sein blonder General nickt ernst und stellt sich dicht neben ihn.

„Mylord, es wäre wirklich gut, wenn Ihr jetzt mit Chiho reden würdet", schlägt er ihm dann mit gesenkter Stimme vor.

„Wie? Jetzt sofort?" versucht Mao zu scherzen.

Ashiya wirft einen schnellen Blick zur Couch hinüber, sieht seinen König ernst an und verschränkt dann die Arme vor der Brust.

„Ja, innerhalb der nächsten halben Stunde." Er spricht immer noch fast im Flüsterton, eindeutig, damit Urushihara ihn nicht hört. "Ich habe Lucifer versprochen, dass ich dafür sorge, dass Ihr mit Chiho redet. Macht keinen Lügner aus mir."

Lucifer. Es ist ihm nicht entgangen, dass Ashiya den Engel in den letzten Stunden immer öfter bei seinem wahren Namen nennt. Normalerweise passiert ihm das nur, wenn er sehr, sehr wütend auf ihn ist. Doch jetzt beweist es ihm, wie sehr sich der Iron Scorpion um seinen Rivalen sorgt und das erfüllt Mao mit Freude und Stolz. Außerdem wagt Ashiya es tatsächlich, ihm, seinem König, Vorschriften zu machen. In letzter Zeit ging es, wenn er so redete, immer nur ums Geld und das hier ist jetzt eine wirklich erfreuliche Entwicklung.

„Du hast ihm das echt versprochen?" muss er daher unbedingt nachfragen.

„Ja, Mylord, das habe ich. Und ich bitte Euch: Entehrt Euch nicht selbst, indem Ihr Euch wie ein Feigling benehmt. Wie lange soll das noch so gehen? Oder wartet Ihr darauf, dass Euch Chiho dabei erwischt, wie Ihr Lucifer auf dem Esstisch vögelt?"

Mao stockt der Atem. Er weiß aber nicht, ob das an der Ausdrucksweise seines sonst so wohlerzogenen Generals liegt oder daran, dass ihn diese Vorstellung aufs höchste erregt. Hastig zupft er den Saum seines Hoodies zurecht.

„Du hast recht", stimmt er ihm zu. „Ich rede mit ihr. Jetzt", fügt er dann noch schnell hinzu, und eilt tatsächlich hinüber zur Garderobe, um seinen Worten Taten folgen zu lassen - und um dem stechenden Blick dieser goldbraunen Augen zu entkommen.

 

XXV. Kapitel

 

 

Nervös tritt Chiho von einem Fuß auf den anderen, vergräbt ihre Hände in ihren Manteltaschen und holt sie einen Herzschlag später wieder heraus, um sie krampfhaft vor sich zu falten.

Als Mao-sama sie darum bat, mit ihm auf die andere Seite der Hütte zu gehen, weil er privat mit ihr reden müsste, wußte Chiho schon, worum es geht.

Seit er mit Urushihara auf dem Rücken zurück gekehrt ist und sie Zeuge all der vertraulichen Gesten wurde, die die beiden miteinander teilten, hat sie sich vor diesem Gespräch gefürchtet. Ehrlich gesagt, will sie gar nicht wissen, was er ihr zu sagen hat.

Und ihr mieses Gefühl bestätigt sich, als er sich vor ihr verbeugt.

„Chiho-chan, ich entschuldige mich für das, was ich dir gleich sagen muss. Wahrscheinlich werde ich dir sehr wehtun und auch dafür entschuldige ich mich."

Oh nein, sie will es wirklich nicht hören.

„Mao-sama..." beginnt sie leise, doch wenn er sie gehört hat, ignoriert er sie einfach.

„Chiho-chan."

Er mustert sie ernst. Aber da schimmert noch etwas anderes in seinen rötlichen Augen, etwas, was sie auf sich gemünzt zutiefst verabscheut. Mitleid. So etwas braucht sie nicht. Sie ist nicht schwach und das wird sie ihm auch beweisen. Entschlossen ballt sie de Hände und zwingt sich, ruhig zu atmen und sich genauso ruhig alles anzuhören, was er ihr zu sagen hat. Dass es ihm nicht leicht fällt, ist offensichtlich.

Ein Teil von ihr würde am liebsten schreiend davonrennen und sich dabei die Ohren zuhalten, doch sie ist kein kleines Kind mehr, das sich der Wirklichkeit nicht stellen will.

Ich bin sechzehn Jahre. Ich bin eine junge Dame. Ich kann es ertragen.

„Mir ist bewusst, dass du tiefe Gefühle für mich hegst, aber ich empfinde nicht dasselbe für dich.“

Das sind genau die Worte, die sie befürchtet hat. Sie schluckt einmal schwer. Ungebeten kommen ihr all diese Momente wieder in Erinnerung, in denen sie sich so verzweifelt darum bemüht hatte, seine Aufmerksamkeit zu ergattern. Sie überredete sihn sogar dazu, mit ihr auszugehen und dabei ihre Hand zu halten.

Ich wußte, dass es ein Fehler war. Ob er nun ein Dämon ist, dem dieses Konzept vom Händchenhalten und miteinander ausgehen unbekannt ist oder nicht – ich war zu aufdringlich und habe mich ihm aufgezwungen. Das hat nichts mit Liebe zu tun.

„Es tut mir aufrichtig leid, aber mehr als eine gute, eine sehr gute Freundin wirst du für mich nie sein. Du bist etwas besonderes, das netteste Menschenkind, dem ich je begegnet bin und eines Tages wirst du einen netten Jungen deines Alters kennen lernen, der das besser zu schätzen weiß als ich und mit ihm glücklich werden."

Er klingt wie ihre Mutter. Unwillkürlich glaubt sie ihre ernste Stimme zu hören und die Worte, sie sie sprach, als sie ihr von diesem Urlaub erzählte.

 

Natürlich darfst du deine Freunde begleiten, Chi-chan. Versprich mir nur, dass du dich dem jungen Mann gegenüber der dir so gefällt, respektvoll erweist. Bedenke: er ist erwachsen und du noch nicht.“

Sie warf einen vielsagenden Blick hinüber zu ihrem Ehemann und Chihos Vater, der in ein paar Metern Entfernung mit seiner Zeitung auf der Couch saß. Chiho verstand die unausgesprochene Warnung sofort und nickte hastig. Ob es nun einvernehmlich geschah oder nicht – als Polizist war ihr Vater dazu verpflichtet, einen Erwachsenen zu verhaften, sollte sich dieser unsittlich einer Minderjährigen nähern. Und bei dem Schwarm seiner Tochter würde er garantiert keine Ausnahme machen.

Ihre Mutter seufzte einmal tief.

Es wäre mir wirklich lieber, du würdest endlich einen Jungen in deinem Alter finden.“

 

Oh, Okasan, du wirst zufrieden sein.

 

Chiho holt tief Luft, legt eine Hand auf ihr heftig pochendes Herz und atmet einmal tief durch. Sie wusste, dass seine Abweisung schmerzen würde und sie hat diesen Stich in ihrer Brust erwartet, aber das ist erstaunlicherweise schon alles. Die Welt hört nicht auf, sich zu drehen - sie stockt nicht einmal für einen kleinen Moment.

Sollte sie ihn dafür hassen? Oder sollte sie Urushihara dafür hassen? Nein, es ist weder Maos noch Urushiharas Schuld. Niemand kann etwas für seine Gefühle.

Es tut weh, aber es kommt nicht wirklich unerwartet, soviel muss sie sich auch eingestehen. Schon vor dieser Reise hier hat ein Teil von ihr geahnt, wie hoffnungslos ihre Schwärmerei für ihren attraktiven Kollegen und Freund im Grunde genommen ist. Sie trennen buchstäblich Welten.

„Chi-chan?" Dass sie so gar nicht reagiert und einfach nur dasteht wie eine Statue, ist beunruhigend. Mao hat mit Tränen und Vorwürfen gerechnet, aber nicht mit dieser gespenstischen Ruhe. „Möchtest du nicht etwas dazu sagen? Hör zu, halt dich bitte nicht zurück, schrei mich an, beschimpfe mich, verfluche mich, wenn es dir hilft, nur bitte, friß es nicht in dich-"

„Es ist wegen Urushihara, nicht wahr?" unterbricht sie ihn, selbst darüber erstaunt, wie fest ihre Stimme klingt. Aber sie braucht eine eindeutige Antwort auf diese Frage, um einen klaren Schlußstrich ziehen zu können. Sie muss hören, dass er es sagt. Er muss es laut und deutlich bestätigen, damit sich ihr dummes Herz nie wieder Hoffnung machen kann.

„Du liebst ihn. Nicht so wie einen Kameraden oder einen Freund, auch nicht wie einen Bruder, sondern so, wie ich dich liebe."

„Oh..." er zieht die Luft zwischen die Zähne, lächelt schief und kratzt sich verlegen im Nacken. Die Situation wird wirklich immer unangenehmer. Wieso muss sie so erwachsen sein? Wieso kann sie nicht einfach zu weinen anfangen wie jeder normale Teenager? Wieso kann das nicht wenigstens ein kleines bißchen so sein wie in seinen Mangas?

„Tja, weißt du... eigentlich..."

„Mao-sama." Sein Herumgedruckse, das sie gestern noch so niedlich fand, geht ihr jetzt tierisch gegen den Strich. Wenn er ihr schon einen Korb gibt, dann soll er gefälligst auch ehrlich zu ihr sein. So viel Respekt schuldet er ihr. „Das ist eine einfache Frage, die du mit nein oder ja beantworten kannst. Liebst du ihn?"

„Äh-"

Doch sie lässt ihn nicht zu Wort kommen.

„Du bist nicht aus Mitleid mit ihm zusammen, weil er blind ist oder weil er fast erfroren wäre und du ein schlechtes Gewissen hast? Du liebst ihn ehrlich und aus tiefstem Herzen?"

„Chi-chan-"

„Denn wenn du es nicht ernst mit ihm meinst, dann weiß ich nicht mehr, wer du bist. Ich kann Menschen und Dämonen und Engel, einfach alle, nicht ausstehen, die mit den Gefühlen anderer nur spielen. Wenn du es also nicht ernst mit ihm meinst, will ich nicht länger mit dir befreundet sein. Und schon gar nicht mehr dein General. Oh..." sie stockt verlegen, als ihr etwas einfällt. „Ich bin doch noch dein General, oder?"

„Natürlich", beeilt er sich, ihr zu versichern.

Sie nickt und starrt ihn auffordernd ab.

Verwirrt starrt er zurück. Es dauert eine Weile, bis er sich erinnert.

„Chi-chan, du musst dir keine Sorgen machen, ich versichere dir, dass ich Lucifer ehrlich liebe."

Es ist ihm unangenehm, ihr gegenüber so offen über seine Gefühle zu reden und er spürt, wie ihm die Röte ins Gesicht steigt.

Und für einen klitzekleinen Moment zweifelt er doch – nicht an seinen Gefühlen, die sind eindeutig, aber an seinen eigenen Motiven. Was ist, wenn sie recht hat? Wenn seine tiefen Emotionen für den gefallenen Engel nur aus seinem schlechten Gewissen resultieren?

Nein, entschlossen schüttelt er den Kopf. Das hat allenfalls in der Hinsicht damit etwas zu tun, dass er sich endlich traut, zu seinen Gefühlen zu stehen und danach zu handeln. Und das ist beschämend genug.

Sie mustert ihn lange und prüfend und ihm wird richtig unheimlich unter diesem Blick, aber dann nickt sie zufrieden.

„Gut." Doch dann, ganz plötzlich, senkt sie den Kopf und für einen Moment sieht sie ganz verloren aus.

„Darf..." Chiho schluckt einmal hart und wirft ihm dann von unten her einen schüchternen Blick zu, „darf ich dich trotzdem weiter lieben? Ich werde mich zurückhalten und euch nicht im Wege stehen, das verspreche ich. Aber ich werde meine Gefühle nicht ausschalten können."

„Meine Güte, Chi-chan," beruhigend hebt er die Hände, „das verlangt auch niemand von dir. Und", schlägt er ihr vor, „wir werden uns in deiner Gegenwart zurückhalten."

Doch sie schüttelt zu seiner großen Überraschung den Kopf.

„Nein. Es wird wehtun, euch zu sehen, aber das ist nicht euer Problem. Bitte, haltet euch nicht meinetwegen zurück."

Denn dann würde sie sich wirklich nur noch mieser fühlen. Sie möchte nicht die Schuld am Unglück anderer tragen.

Für genau fünf Sekunden blinzelt Mao sie nur sprachlos an.

„Lucifer hat recht. Du bist einfach nur ein herzensguter Mensch."

Sie errötet und schenkt ihm ein verlegenes Lächeln. Eigentlich hat sie doch gar keine andere Wahl, denn Gefühle lassen sich doch nicht erzwingen und lieber begnügt sie sich mit dem, was sie schon hat und versucht, es zu bewahren. Das ist doch viel besser, als alles zu verlieren.

 

XXVI. Kapitel

 

 

Es ist dunkel und kalt. Er kann die Dunkelheit spüren, sie kriecht noch tiefer in seine Knochen als die Kälte. Er liegt noch genauso da, wie er eingeschlafen ist - auf der Seite zusammengerollt wie ein Sushi. Aber das unter ihm ist nicht mehr das weiche Polster der Couch. Es ist kalt und hart. Und es riecht nach Wasser.

Schnee.

Oh. Nein.

Entsetzt will er sich in die Höhe stemmen, nur, um festzustellen, dass er keinen einzigen Muskel rühren kann. Panik steigt in ihm auf. Sein Puls rast und sein Herzschlag dröhnt ihm in den Ohren und er versucht es, er versucht es wirklich, aber er kann sich einfach nicht bewegen.

Er hört das Knacken der Äste über sich und das dumpfe „plop“ mit dem nasse Schneeklumpen aus den Wipfeln herniederfallen und er spürt die eisigkalten Finger des Windes über sich hinwegstreichen.

Das ist nicht real.

„Hmmmm....Das stimmt.“

In seinem Inneren krümmt sich etwas zusammen, als er diese Stimme hört.

Gabriel.

„Das, was Mao da veranstaltet, das ist nicht real. Wenn Mao es ernst meinte, hätte er schon längst mit Chiho geredet. Er spielt nur mit dir. Und das weißt du.“

Er versucht, diese sonore, einschmeichelnde Stimme und das Gift, das sie ihm Silbe für Silbe in die Ohren tröpfelt, auszublenden. Verzweifelt konzentriert er sich auf seine Haupthand, versucht, sie aus dem Schnee zu heben. Eigentlich würde ihm schon ein Fingerzucken genügen. Nur ein klitzekleines.

Aber er ist immer noch wie gelähmt.

„Seit wann kämpft dein Dämonenkönig nicht mehr um etwas, was er unbedingt haben will, hmmm? Es sei denn natürlich, er will es doch nicht sooooo unbedingt haben.“

Als Urushihara diese Worte hört, stockt er für einen Moment, doch dann verdoppelt er seine Bemühungen. Er spürt, wie ihm vor Anstrengung der Schweiß auf die Stirn tritt. Nur ein Finger. Nur ein klitzekleines bißchen. Komm schon, verdammt!

„Hmmmm … aber wer will schon etwas so etwas total Nutzloses wie dich? Nicht einmal deine Eltern wollten dich, nicht wahr? Nicht um deiner selbst Willen. Und jetzt, wo du blind und noch nutzloser bist als jemals zuvor ...“ Gabriel gluckst leise und bricht dann in ein hämisches Gelächter aus.

Plötzlich hat er wieder Verbindung zu seinem Körper. Blitzschnell schließen sich seine Finger um den Schnee und dann schleudert er alles, was er greifen kann in Richtung dieses gemeinen Lachens.

„Verpiss dich! Das weiß ich alles selbst!“

Wutentbrannt schießt er in die Höhe, verliert das Gleichgewicht und...

 

„Autsch.“

Der Aufprall nimmt ihm den Atem. Einen Herzschlag lang liegt er einfach nur da und blinzelt in die übliche Schwärze.

Wo ... ist er?

Es riecht nach Essen, nach Reis, Gemüse und Fleisch – ein vertrauter Geruch, doch darunter liegt noch etwas anders. Er zieht die Luft tief durch seine Nase und versucht, den fremden Duft zu identifizieren.

Holz? Ist das Holz?

Der Boden unter seinem Rücken ist sonderbar warm. Aber vor allem hart. Das sind nicht die Tatami-Matten dieses Lochs, das er zur Zeit sein Zuhause nennt. Hastig tastet er mit den Händen neben sich über den Fußboden.

Warm. Hart. Glatt.

Wo bin ich? Was ist das hier?

In zunehmender Panik rollt er sich auf die Knie und tastet hektisch alles um sich herum ab. Seine Finger melden ihm glattes, an einigen Stellen aber auch unebenes Material. Und ist das... stirnrunzelnd fährt er mit seinen Fingernägeln einen haarfeinen Spalt entlang.

Ist das etwa eine Holzdiele? Parkett?

Wir haben kein Parkett in unserer Wohnung.

Hastig tastet er sich weiter, während er gleichzeitig auf seine Umgebung lauscht. Ganz gedämpft glaubt er Stimmen zu hören – eindeutig eine männliche und eine weibliche und sie klingen sehr aufgeregt - aber er kann kein Wort verstehen, es scheint, als befinde sich eine dicke Wand zwischen ihnen.

Doch anstatt ihn zu beruhigen, nähren diese Stimmen seine Panik nur noch. Und dann wird er von einem Hustenanfall geschüttelt und jetzt bekommt er wirklich keine Luft mehr. Verzweifelt ringt er nach Atem.

Plötzlich hört er Wasserrauschen wie von einer Toilettenspülung, gefolgt vom Klicken einer Tür. Eine ihm nur allzu wohl bekannte Stimme murmelt etwas von wegen „warum lernt hier niemand, neue Klopapierrollen aufzuhängen?“ vor sich hin und ihm schießen die Tränen der Erleichterung in die Augen.

„Alciel“, stößt er in der Sprache der Dämonen hervor. „Bist du das?“

 

 

Im ersten Moment erstarrt Ashiya vor Schreck, als er diese dünne, verzweifelte Stimme hört. Dass die Worte in seiner Muttersprache gesprochen werden, registriert er zuerst gar nicht, aber dann fällt sein Blick auf das schweratmende Häuflein Elend, das auf dem Boden vor der Couch kniet und mit zerzausten Haaren und tränennassen Gesicht aus seinen blinden Augen in seine Richtung schaut.

Er setzt sich schon in Bewegung, bevor sein Gehirn den Anblick richtig registriert hat.

„Lucifer.“ Der Name entfleucht ihm ohne dass er genauer darüber nachdenkt.

„Was ist passiert?“

Er kniet sich vor ihn hin und streckt den Arm nach ihm aus, aber da sind schon blasse, zierliche Hände, die nach ihm greifen und schmale Finger, die sich hilfesuchend in seinem Wollpullover festkrallen.

Instinktiv nimmt Ashiya den zitternden Engel in die Arme und streichelt beruhigend über seinen Rücken.

„Sch, alles in Ordnung. Es war nur ein Alptraum.“ Es ist nur geraten, aber in diesem Moment erscheint es ihm als einzig logische Ursache.

Offensichtlich zu Tode verängstigt, klammert sich Urushihara an ihm fest. Erst erst Alshiya ihn so beschützend an sich drückte, kehrten die Erinnerungen wieder zurück und diese lähmende Desorientierung verschwand.

Trotzdem - noch immer völlig neben sich stehend, saugt er gierig jedes bißchen Wärme und Freundlichkeit auf, die der Iron Scorpion ihm zu geben bereit ist. Und das ist in diesem Moment überraschend viel. Und noch viel erstaunlicher ist, dass es keine Schelte und auch keine bösen Worte gibt, nur Verständnis und Geduld.

Das lässt einen Teil von ihm zwar wieder an der Realität zweifeln, aber seine Erleichterung darüber, nicht allein zu sein, überwiegt.

Unwillkürlich passt er seine Atmung der Ashiyas an und allmählich beruhigt sich auch sein Herzschlag wieder. Aber je besser es ihm geht, desto peinlicher wird ihm das ganze auch, vor allem seine Panikattacke, und so dauert es nicht lange, und er stemmt seine Hände gegen Ashiyas Brust und schiebt ihn ein paar Zentimeter von sich fort.

„Danke. Es geht wieder.“ Es klingt unhöflicher als beabsichtigt, aber anstatt sich deswegen aufzuregen, mustert Ashiya ihn nur eindringlich. Urushihara kann diesen Blick spüren und er verursacht ihm eine Gänsehaut.

Und dann zuckt er überrascht zusammen, denn plötzlich sind da warme Finger, die ihm sanft die Nässe von den Wangen wischen.

„Willst du darüber reden?“ Ashiyas ungewohnt sanfte Stimme ist der nächste Schock.

Es ist diese Freundlichkeit, die Urushihara ernsthaft über dieses Angebot nachdenken läßt, doch dann schüttelt er abwehrend den Kopf.

Aber als Ashiya keine Anstalten macht und nur weiterhin dicht vor ihm sitzenbleibt, schweigend und Urushihara immer noch seinen Blick auf sich spürt, bröckelt ein riesiger Stein aus seiner Mauer, die er um sich herum aufgebaut hat.

„Für einen Moment wußte ich nicht mehr, wo ich war“, gibt er schließlich leise und mit beschämt gesenktem Kopf zu.

Ashiya nickt verständnisvoll, bis ihm wieder einfällt, dass Urushihara es nicht sehen kann.

„Ich verstehe“, erklärt er daher laut, zögert und streckt dann eine Hand aus, um ihm das Haar aus dem Gesicht und zurück hinters Ohr zu streichen. Er will seine Miene sehen, für das, was er ihm als nächstes sagt.

„Manchmal, obwohl wir jetzt schon über ein Jahr hier leben, wache ich auf und denke im ersten Moment, wir sind noch in unserer Welt. Dann sehe ich mich um und mir fällt alles wieder ein. Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie es mir erginge, wenn ich in diesen wenigen Augenblicken nichts sehe.“

Er hat nicht damit gerechnet, aber sein Herz macht einen Sprung, als er die Emotionen sieht, die bei seinen Worten über Urushiharas Miene huschen: Überraschung, Dankbarkeit und zu guter Letzt sogar - Hoffnung.

„Wenn es etwas gibt, irgend etwas, womit ich dir helfen kann, Lucifer, brauchst du es nur zu sagen.“

Ashiya wartet, läßt seine Worte erst einmal sacken, bevor er weiterspricht:

„Du bist nicht allein, Lucifer. Wir haben Fehler gemacht, und ich maße mir nicht an, für Mao-sama und die anderen zu sprechen. Aber was mich betrifft, kann ich dich nur um die Chance bitten, meine Fehler wieder gut zu machen und mir zu vertrauen.“

Urushiharas violette Augen weiten sich erstaunt und der lebendige Glanz in ihnen lässt Ashiya kurz vergessen, dass diese Augen nichts mehr sehen.

„Gut“, räuspert er sich, um den plötzlichen Kloß in seiner Kehle wieder loszuwerden. „Wie wäre es, wenn du dich wieder auf die Couch setzt? Wenn ich mich recht erinnere, wolltest du doch Alas-Ramus ein neues Stofftier stricken. Ich geh schnell in die Küche und mache dir einen Kakao und setze mich dann mit einem Buch zu dir, wie klingt das?“

Urushihara öffnet den Mund, als wolle er etwas sagen, überlegt es sich dann aber anders und nickt nur. Denn, ehrlich gesagt, klingt das sehr gut und er will das nicht durch eine vorlaute Bemerkung wieder zerstören.

 

XXVII. Kapitel

 

 

„... hier kommt noch was. Mund auf." Breit grinsend hält Mao seinem General ein sorgfältig geschnittenes Apfelstück an den Mund.

„Was ist es diesmal?" fragt Urushihara, doch da hat Mao ihm schon das Stück zwischen die Zähne geschoben.

„Apfel", erklärt Mao trotzdem. „Du hast nicht viel zum Abendbrot gegessen."

Nicht, dass er das nicht verstehen könnte - sein General hat in den letzten fünf Wochen kaum Nahrung zu sich genommen, sein Magen verträgt noch nicht viel. Was Mao aber nicht daran hindert, es trotzdem zu versuchen, ihn zu stopfen wie eine Weihnachtsgans.

„Und du brauchst die Vitamine."

Urushihara gibt nur ein „hm" von sich und kaut gehorsam. Derart umsorgt und verwöhnt zu werden fühlt sich ungewohnt, aber auch sehr gut an. Es wäre dumm, das nicht zu genießen. Auch wenn diese kleine Stimme in seinem Hinterkopf einfach nicht schweigen will und ihm immer wieder zuflüstert, dass dies alles zu schön ist, um wahr zu sein.

„Hier sind noch ein paar Weintrauben." Ashiya kommt mit einem neuen Obstteller aus der Küche und stellt ihn neben den anderen auf den Couchtisch, bevor er sich zu ihnen aufs Sofa setzt. Mit dem warmen Gefühl von tiefer Zufriedenheit sieht er sich um.

Das ist also das, was man hier einen Familienabend nennt.

Auf dem großen Flatscreen an der Wand läuft ein kindgerechter Anime. Wie Alas es wollte, haben Emi und Chiho ein paar Kissen auf dem Boden ausgebreitet und nun haben sie es sich dort bequem gemacht und verfolgen gebannt das Geschehen auf der Mattscheibe. Vor ihnen steht der Teller mit den Häppchen - natürlich hat sich Emi die Leckerbissen gekrallt, aber Ashiya wollte deswegen jetzt keine Szene machen, die Vitamine sind für Urushihara sowieso viel besser. Langsam lässt er seine Blicke über Mao und Urushihara neben sich auf der Couch schweifen.

Um seine Mundwinkel zuckt ein kleines Lächeln. Bis vor zehn Minuten hatte Urushihara noch an Alas-Ramus' neuem Kuscheltier gestrickt, so lange, bis seine Gelenke zu schmerzen begannen.

Jetzt kuschelt er sich an Mao, der ihn nur allzu gerne hält. Und weil es doch mit zunehmender Dunkelheit da draußen hier drinnen zugiger wird, hat Ashiya ihn vor einer halben Stunde in eine Fleecedecke gewickelt.

Ashiya beschließt jetzt mal, nicht darüber nachzudenken, was Maos Hände unter dieser Decke mit Urushihara gerade anstellen.

Tatsächlich stellen sie so einiges an. Mao nutzt es weidlich aus, dass man nichts sehen kann. Es ist wie eine Sucht – sobald Urushihara in Greifweite ist, muss er ihn einfach anfassen. Er muss ihn halten, ihn berühren, seine Wärme spüren und seinen Duft tief in sich aufsaugen.

Hölle, ja, Um Maos Mundwinkel zuckt ein kleines Lächeln, als er sein Gesicht in Lucifers Nacken vergräbt und seinen warmen Duft tief in seine Lungen zieht, während seine Hände von seinem Knie hoch zu seinen Hüften wandern und sich unter Hoodie und T-Shirt schummeln, um einen warmen, flachen Bauch zu liebkosen. Es fühlt sich an, als habe er jahrhundertelang genau darauf gewartet.

Und … vielleicht hat er das tatsächlich.

Unwillkürlich erinnert er sich an ihre allererste Begegnung.

 

Was machst du da?“ Lucifer entzog ihm so hastig seine Hand, als habe er sich an ihm verbrannt. In seinem schönen Antlitz blitzte für einen Moment etwas auf, das der kleine Satan Jacob erst viel später richtig zu deuten wußte: Unsicherheit. Jedes Mal, wenn jemand ihn unerwartet berührte, schreckte Lucifer auf dieselbe Art und Weise zurück.

In diesem Moment jedoch fühlte sich der kleine Black Goat einfach nur zurück gewiesen und übertünchte seine Enttäuschung mit einem nervösen Grinsen.

War das falsch? Ich habe gehört, man besiegelt einen Pakt mit einem Handschlag.“

In diesem kurzen Sekundenbruchteil, als er Lucifers Hand umklammerte, hatte er trotz dessen Lederhandschuhs etwas gespürt: Wärme. Seine gesamte Handinnenfläche kribbelte noch Stunden später von dieser Wärme.

Und in den folgenden Jahren, während er heranwuchs, hatte er immer wieder versucht, einen Hauch dieser Wärme zu erhaschen. Hier ein vorgetäuschtes Stolpern und Anrempeln, dort ein flüchtiges, unabsichtlich erscheinendes Streifen.

Aber je größer und mächtiger er wurde, desto mehr entwuchs er diesem Wunsch. Außerdem war es nicht leicht, dem distanzierten Lucifer so nahe zu kommen und was anfangs noch als jugendlicher Eifer und Leichtsinn durchging und leicht verziehen wurde, fing ihm irgendwann nicht nur von Lucifer mißbilligende Blicke ein. Außerdem gewann er bald Alciel als neuen General und der war seinen Vertraulichkeiten nicht so abgeneigt.

Aber es gab auch andere, kostbare Momente, in denen Lucifer aus eigenem Antrieb auf ihn zukam – wenn er ihm eine Nahkampftechnik beibrachte und ungeduldig seine Haltung korrigierte. Wenn er an ihm Maß nahm für ein neues Kleidungsstück. Als er ihn festhielt und mit ihm übers Land flog, weil die Flügel des kleinen Black Goats noch nicht stark genug waren, um selbst zu fliegen. Und wenn er ihm sanft über den Kopf strich oder aufmunternd die Schulter drückte, weil Mao von den Erinnerungen heimgesucht wurde, wie seine Eltern und sein gesamter Clan vor seinen Augen abgeschlachtet wurden.

 

Ich vermisse das.

 

Ohne sich dessen wirklich bewußt zu sein, hat er damit begonnen, viele kleine Küsse über Urushiharas empfindlichen Nacken zu hauchen, doch als dieser in seinen Armen plötzlich erschauert, hält er erschrocken inne.

„Entschuldige“, wispert er. „Zuviel?“

Sein General schüttelt nur den Kopf. Er zögert, nagt unsicher an seiner Unterlippe herum und gibt sich dann einen Ruck. Und in genau jenem Moment, wo er nach Maos Hand greift, um sie vielsagend auf seinen Schritt zu legen, dreht Alas-Ramus den Kopf zu ihnen.

Alarmiert durch die Sorge in der Stimme ihres Ziehvaters, mustert sie die beiden jungen Männer auf der Couch scharf. Ihr Blick ist viel zu ernst für ein Kleinkind ihres Alters und wieder schimmert diese uralte Präsenz ganz tief in ihren Pupillen. Mao läuft es heiß und kalt den Rücken hinunter. Und weil ihm seine Handfläche gerade eine vielversprechende Härte in Urushiharas Jogginghose meldet, fühlt er sich gleich doppelt ertappt. Eine verräterische Hitze steigt ihm in die Wangen und breitet sich auch über seine Ohren aus, doch Alas' intensiver Blick hält ihn gefangen, selbst wenn er wollte, könnte er die Augen nicht abwenden.

Und dann nickt Alas-Ramus ihm einmal kurz zu und dreht sich dann wieder um. Als wäre nichts geschehen, kichert sie über etwas auf dem Bildschirm und klettert dann auf Emis Schoß, um mit ihr zu kuscheln.

Mao klopft das Herz plötzlich bis zum Halse. Er wird das seltsame Gefühl nicht los, dass seine kleine, süße Ziehtochter, dieser Sephirot ihm hier soeben seinen Segen erteilt hat. Es fühlt sich an, als habe sie ihren Lucifer an ihn übergeben.

All das hat sich innerhalb von Sekunden abgespielt und niemandem ist etwas aufgefallen, nicht einmal dem ständig wachsamen Ashiya, der doch direkt neben ihm sitzt.

Plötzlich wird sich Mao wieder bewußt, wo sich seine Hand gerade befindet und entläßt die angehaltene Luft mit einem leisen Zischen. Ein Geräusch, das Urushihara, weil er (natürlich) auch nichts von der stummen Kommunikation mitbekam, auf etwas ganz anderes bezieht. Und so verzieht er die Lippen zu einem fiesen Grinsen und drückt Maos Hand noch fester gegen seinen Schoß.

Mao kichert nur nervös und versucht das Geräusch schnell damit zu ersticken, indem er sein Gesicht in diesen dunkelvioletten Haarschopf vergräbt.

Hölle, das ist so forsch!

Um ehrlich zu sein, hatte Mao bisher nie daran gedacht. Natürlich hätten all ihre Küsse und Zärtlichkeiten genau darin früher oder später geendet, aber wenn, dann wäre es etwas gewesen, was einfach so passiert. Wie jeder Dämon wäre er einfach seinem Verlangen gefolgt, hätte sich vom Moment mitreißen lassen und später darüber nachgedacht – wenn überhaupt.

Aber sich jetzt damit konfrontiert zu sehen, nüchtern und bei klarem Verstand, das verunsichert ihn.

Plötzlich wird Urushiharas schmaler Körper von einem Hustenanfall durchgeschüttelt und all diese Gedanken sind sofort vergessen, als Mao ihm hilft, sich etwas aufzurichten und ihm dann das störende Haar aus dem Gesicht streicht.

„Alles okay“, beeilt sich Urushihara hastig zu versichern, sobald er wieder etwas zu Atem kommt. Er räuspert sich ein paar Mal und schenkt ihm ein dünnes Lächeln. „Wirklich, es ist nur lästig.“

Ashiya neben ihnen gibt nur ein Brummen von sich, fischt das Fläschchen Hustensirup vom Tisch, gießt etwas davon auf einen Löffel und hält ihm diesen mit den Worten „Schnabel auf“ vor den Mund.

Nicht nur er beobachtet aufmerksam, wie der gefallene Engel brav die Medizin schluckt, auch Emi, Chiho und Alas-Ramus verfolgen alles ganz genau und sie drehen sich erst zufrieden wieder um, als er schluckt und Ashiya das Fläschchen wieder zurückstellt.

Mao kann gar nicht anders, er muss grinsen wie ein Honigkuchenpferd, als er das bemerkt.

„Hey“, sanft legt er seine Finger unter Urushiharas Kinn und dreht seinen Kopf in seine Richtung. Sein Atem ist ein warmer Hauch auf dessen Haut, als er leise gegen seine Lippen wispert:

„Wirklich schade, dass du die Blicke der anderen eben nicht gesehen hast. Sie sind richtig besorgt um dich.“ Es ist vielleicht nicht das Klügste, was man zu jemanden sagen kann, der Nettigkeit einer falschen Realität zuordnet, aber Mao ist so stolz auf ihre kleine Gemeinschaft (und ja, das schließt Emi mit ein), dass er ihn einfach daran teilhaben lassen muss.

Und um Urushihara auch gar keine Möglichkeit für Widerworte zu geben, versiegelt er seine Lippen mit einem zärtlichen Kuß. Er kann den süßen Erdbeergeschmack des Kinderhustensaftes an ihm schmecken, doch es dauert nicht lange, bis er sich verflüchtigt und er sich wieder in Urushiharas ureigenem Geschmack verliert.

Für einen klitzekleinen Moment flackert sein schlechtes Gewissen auf – Chiho! – doch seine Sehnsucht und sein Verlangen sind stärker als jede Rücksicht. Und sie sagte doch, er solle sich nicht wegen ihr zurückhalten.

Also zeigt er seinem schlechten Gewissen den Mittelfinger, schlingt seine Arme noch ein wenig fester um Urushihara und lässt sich dann mit ihm langsam nach hinten sinken, bis sein Hinterkopf auf der Couchlehne landet. Zufrieden lächelt er in ihren Kuss hinein, als Urushihara auf ihm zu liegen kommt. Ah ja, Druck und Wärme an genau den richtigen Stellen!

Und dann, langsam, aber sicher, beginnt Urushihara ihren Kuss zu dominieren und Mao ergibt sich ihm nur allzu bereitwillig. Die Schmetterlinge in seinem Bauch tanzen inzwischen Rumba und ihm ist so viel Blut südwärts gerutscht, dass er nicht weiß, ob dieses leichte Schwindelgefühl von diesem wahnsinnig machendem Kuss oder der Blutleere in seinem Hirn stammt. Wahrscheinlich eine Mischung aus beidem.

Dafür, dass er hier langsam das Kommando übernimmt, nimmt sich Urushihara sehr viel Zeit beim Küssen. Bedächtig, beinahe ehrfürchtig, taucht er mit seiner Zunge nach Maos, spielt mit ihr und schwelgt im seinem unvergleichlichen Geschmack. Mit jeden Atemzug zieht er mehr von diesem betörenden Vanille-Duft in sich auf und zwischen seinen Fingern spürt er Maos seidige Locken und sein ganzer Körper glüht regelrecht, dort, wo sie sich berühren.

Ich wünschte, ich könnte sein Gesicht sehen. Plötzlich kriecht die Angst wieder hervor. Was ist, wenn das nicht real ist? Wenn er mir nur etwas vorspielt?

Und plötzlich ist er wieder dort.

Schnee.

Kälte.

Das Knarzen von Bäumen, die unter ihrer Schneelast ächzen.

Ein leises Räuspern.

Aber bevor Gabriel irgend etwas sagen kann, stürzt sich Urushihara noch tiefer in diesen Kuss hinein.

Das ist nicht echt.

Das hier ist echt.

Mao ist echt.

Dieser Kuss ist echt.

Plötzlich erklingt ein feines, metallisches Pling und dann schreien alle durcheinander.

„Was zur Hölle!"

„Verdammt!"

„Mama!"

Erschrocken zuckt Urushihara zusammen, aber da schließen sich schon Maos Arme um ihn und halten ihn sicher fest.

„Was ist-" stößt er entsetzt hervor.

„Der Strom ist weg", erklärt ihm Mao, nicht minder erschrocken. Zufällig liegt Urushiharas Hand auf seiner Brust, er kann spüren, wie Maos Herz rast und für einen Moment ist er so fasziniert, dass er alles andere um sich herum ausblendet.

Alas-Ramus' Greinen holt ihn wieder zurück ins Hier und Jetzt.

„Mama! Papa!"

„Schon gut, Alas-chan, es ist nur ein Stromausfall", hört er Emis beruhigende Stimme, gefolgt von einem scharfen: „Tu was, Mao."

„Und was soll ich bitteschön machen?" gibt dieser gereizt zurück.

Im Hintergrund ist Chihos sanfte Stimme zu hören, wie sie versucht, Alas-Ramus zu beruhigen, während ihre Zieheltern drohen, sich in einen ihrer berühmt-berüchtigten Wortgefechte zu verstricken.

„Haben wir Taschenlampen?" unterbricht Aahiyas sachliche Stimme sie.

Wieder reden alle durcheinander.

„Nein. Mein Handy ist in meinem Zimmer."

„Mein Smartphone liegt auf den Esstisch."

„Ich glaube, meins ist noch in meiner Jackentasche."

Aber keiner von ihnen macht Anstalten, sich zu bewegen.

„Vielleicht ist nur eine Sicherung rausgeflogen", schlägt Urushihara vor. „Wie wäre es, wenn mal einer nachsieht?"

„Wir haben einen Sicherungskasten?" fragt Emi verdutzt.

Urushihara verdreht die Augen. „Unter der Treppe", erklärt er zuvorkommend.

„Es ist sehr dunkel", gibt da Ashiya zu bedenken. Man kann den Unwillen deutlich aus seiner Stimme heraushören. „Ich werde erst einmal nach den Handys suchen."

Das lässt Urushihara aufhorchen. Das ist es also: sie haben Angst, sich in der Dunkelheit nicht zurecht zu finden. Und vielleicht spielt auch diese uralte Furcht vor dem Unheimlichen, was in der Dunkelheit lauert, eine Rolle, dass hier keiner von ihnen einen Finger rührt.

„Es tut mir leid", murmelt Mao zerknirscht. „Ich hab keine Magie mehr, sie reicht nicht mal mehr für Lichtkugeln."

Ja, weil er uns beide hierherteleportiert hat, meldet sich Urushiharas schlechtes Gewissen. Aber auch ohne diese Erkenntnis weiß er genau, was er machen muss. Er ist hier scheinbar nicht nur der einzige, der weiß, wo genau sich der Sicherungskasten befindet, sondern auch der einzige, der ihn problemlos finden wird.

Entschlossen windet er sich aus Maos Umarmung und steht auf.

„Nur keinen Stress. Ich mach das schon. Ich kenn mich aus in der Dunkelheit."

 

XXVIII. Kapitel

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

IXXX. Kapitel

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

XXX. Kapitel

 

 

Beinahe schüchtern lugt der Halbmond durch die Wolken und schickt sein fahles Licht durch das Fenster im oberen Stock der kleinen Blockhütte, die ansonsten in völliger Dunkelheit und Stille liegt.

Es ist zwei Stunden nach Mitternacht und alle Bewohner schlafen den Schlaf des mehr oder weniger Gerechten, als sich einer der drei jungen Männer in dem Double Kingsize Bett unruhig zu regen beginnt.

 

Luuucifer...“ Selten zuvor wurde sein Name so gegrollt. Das alleine jagte ihm schon einen eisigen Schauer über den Rücken. Und in diesem Moment erkannte er ihn nicht wieder. Zum ersten Mal seit er ihn kannte, bekam er wirklich Angst vor ihm. Und daraus wurde blanke Panik, als sich diese riesengroße Pranke um seinen Schädel schloß und die spitzen Fingernägel an seiner Kopfhaut kratzten. Es kostete ihn all seine Willenskraft, sein Zittern zu unterdrücken, denn...

 

Warme, kräftige Finger, die ihm sanft durch den Haarschopf streichen und eine Stimme, an deren Klang er sich nur noch in seinen Träumen erinnern kann:

Hör zu, mein Sohn, eines merke dir gut, denn es ist überlebenswichtig: zeige diesen Geschöpfen niemals gegenüber Furcht, denn sie nähren sich davon.“

 

Auf Urushiharas blasser Stirn bilden sich die ersten Schweißtropfen, funkeln wie Diamanten im blassen Mondlicht.

 

Die sanften Hände auf seinem Hinterkopf wachsen und werden wieder zu Pranken mit spitzen, schwarzen Fingernägeln.

Jemand muss dir wohl mal wieder zeigen, wo dein Platz ist.“ Tiefrote Augen, die ihm Leid und Schmerzen versprechen und ein Grinsen, das gefährliche Fangzähne entblößt.

Plötzlich ist da ein Fuß in seinem Genick, der ihn Gesicht voran in den Straßenstaub drückt. Schlimmer als der Schmerz, als ihm kleine Splitter aus Glas und Beton das Gesicht aufreißen, sogar schlimmer als die aufkeimende Panik ist das Gefühl der Erniedrigung.

Er kniet vor niemanden. Seit Tausenden von Jahren hat er vor niemandem den Blick gesenkt und sich gebeugt. Und Satan weiß das. Er kennt seinen Stolz. Und zwingt ihn trotzdem dazu. Mit einem selbstzufriedenen Grinsen, das von einem Ohr bis zum anderen reicht.

Er wirft ihn in den Staub als wäre er ein Nichts! Vor den Augen seiner Feinde!

Er sieht sich selbst von oben, wie er da kniet, der feixende Mao Sadao über ihm und wie alle anderen auf ihn hinabschauen: Ashiya Shiro, Yusa Emi und zu allem Überfluss: das Menschenkind Sasaki Chiho.

 

Urushiharas Kehle entringt sich ein leises Stöhnen und zwischen seinen Augenbrauen bildet sich eine steile Falte. Hilfesuchend krallen sich seine Finger in Maos Pyjamaoberteil.

 

In seinem linken Augenwinkel blitzt es plötzlich weiß auf und dann streicht Gabriel mit der rechten Hand sanft durch Lucifers Flügel und dort, wo sie seine Federn berühren, färbt sich das rabenschwarz schwanenweiß.

Gabriels nachsichtiges Lächeln bringt eine Saite in ihm zum Schwingen und ein Hauch von Heimweh breitet sich in ihm aus.

In all den dreihundert Jahren, die du ihn kennst, ist er da jemals so mit einem seiner anderen Generäle umgegangen, hmmmm? Nein, nicht wahr? Selbst dem niedersten Untertan hat er mehr Respekt gezollt als dir.“

Unwillig runzelt er die Stirn. „Ich bin nicht sein Untertan. Ich diene niemandem.“

Gabriel lächelt nur und starrt, genau wie er, weiterhin auf die Szene unter ihnen, die wie in der Zeit eingefroren zu sein scheint.

Wieso sollte er plötzlich so nett zu dir sein, hmmmm?“

Gabriels Schwingen schlagen im genau demselben Takt wie seine eigenen, während sie weiter an Ort und Stelle verharren. Und diese typische Synchronizität verstärkt nur seine Sehnsucht nach der Heimat.

Das ist alles nicht echt, Lucifer.“

Vorsichtig greift Gabriel nach seiner Hand.

Nichts davon.“

Weinrote, erstaunlich ernste Augen bohren sich tief in seine.

Gar nichts.“

 

Ruckartig schlägt Urushihara die Augen auf.

Plötzlich liegt er wieder dort. Unter ihm der eisige Schnee und neben ihm die unter ihrer Schneelast ächzenden Bäume. Er blinzelt hinauf in einen dunklen Himmel, während die Schneeflocken auf ihn herabfallen.

Bei jedem Atemzug schickt er kleine weiße Wölkchen in die eiskalte Luft.

Langsam richtet er sich in eine sitzende Position auf.

 

Eine Sekunde später liegt er im Matsch und vor seinen Augen tanzen schwarze Flecken. Nur gedämpft dringt der Schlachtlärm an seine Ohren, während die warme Lache seines eigenen Blutes unter ihm immer größer wird. Seine Brust brennt, als habe sie jemand mit Säure gefüllt und jeder Atemzug ist eine Qual.

 

Und dann ist er wieder zurück im Schnee und Gabriel steht vor ihm und reicht ihm lächelnd die Hand.

„Komm nach Hause, Lucifer.“

Und Lucifer … greift zu.

 

 

„Was zur Hölle?“ von einer Sekunde zur anderen hellwach, fährt Mao in die Höhe. Irgend etwas hat ihn geweckt und während seine Augen noch versuchen, sich an das Halbdunkel zu gewöhnen, wird das Gefühl, dass etwas Schreckliches passiert ist, immer stärker.

„Mylord...?“ neben ihm rappelt sich Ashiya verschlafen auf.

Beim Klang seiner Stimme dreht Mao den Kopf in seine Richtung und plötzlich greift eine eisigkalte Hand nach seinem Herzen. Schockiert starrt er auf die leere Stelle zwischen ihnen.

„Lucifer?“

Mit einem Satz ist er aus dem Bett und starrt aus weit aufgerissenen Augen auf den Platz, wo sein gefallener Engel hätte liegen sollen.

„Vielleicht ist er nur im Bad?“ schlägt Ashiya zögernd vor, bemüht, sich nicht von der Panik seines Königs anstecken zu lassen.

Irritiert sieht er zu, wie sein König – wahrscheinlich einer Eingebung folgend - zum Fenster herumwirbelt, einen Blick hinauswirft, erschrocken aufschreit und dann aus dem Zimmer stürmt.

Und während mao schon die Treppe hinunterpoltert, hechtet Ashiya neugierig ebenfalls zum Fenster. Ein Blick nach unten in den Garten und er hetzt seinem König hinterher.

 

 

„Au.Auau.“ Mao zuckt schmerzhaft zusammen, als seine nackten Sohlen den Schnee berühren, doch er schiebt das genauso beiseite wie die eisige Luft, die ihn mit voller Wucht trifft. Zum Glück haben sie den Schnee in den letzten Tagen hier festgetrampelt und es ist auch kein nennenswerter Neuschnee gefallen, so dass er schnell von der Stelle kommt.

„Lucifer!“ So schnell wie es ihm möglich ist, rennt er zu seinem General, vorbei an einer ganzen Armee unterschiedlich großer Schneemänner. Mit Karottennasen und ohne. Mal mit Steinen und mal mit Kastanien als Augen.

Im bläulichen Mondlicht scheint es, als würden sie ihn beobachten.

„Lucifer.“

Endlich hat er ihn erreicht und packt ihn am Arm.

Seit er ihn von oben sah, hat sich sein General nicht einen Zentimeter gerührt. Er steht immer noch, nur in T-Shirt und Jogginghose und barfuß wie er im Schnee und er reagiert auch nicht auf Maos Anwesenheit. Weder auf seine Stimme noch auf seine Berührung.

Aber Mao hat nicht die Zeit, darüber nachzudenken, seine einziges Begehr besteht darin, ihn so schnell wie möglich aus dieser Kälte hinein in die warme Hütte zu bringen. Und so packt er ihn nur fester und zieht ihn mit sich am Arm zurück.

„Was machst du hier draußen? Was ist los mit dir? Bist du ein Idiot oder was?“

Urushihara folgt ihm widerstandslos mit sonderbar hölzern wirkenden Bewegungen, doch Mao achtet nicht darauf. Ashiya empfängt sie in der geöffneten Tür mit einer roten Wolldecke, die er Urushihara sofort um die Schultern legt.

Mao verlangsamt seinen Schritt erst, als sie mitten im Raum stehen. Erst dann dreht er sich zu Urushihara um und sieht ihm zum ersten Mal richtig ins Gesicht. Ihm genügt ein blick, um zu verstehen, was passiert ist.

„Fuck. Du schlafwandelst.“

Ashiya kommt mit zwei Handtüchern zu ihnen, kniet sich hin und macht sich wortlos daran, erst urushihara und dann seinem König die Füße abzutrocknen, während Mao, der jetzt, wo der Adrenalinschub nachläßt, plötzlich nicht mehr weiß, was er tun soll.

Irgendwo hat er mal gelesen, dass man Schlafwandler nicht wecken soll. Oder doch?

Noch während er darüber nachdenkt, tauchen, aus dem Schlaf gerissen und angelockt vom Lärm, Emi und Chiho in ihren Flanellschlafanzügen auf.

„Was habt ihr blöden Dämonen jetzt schon wieder angestellt?“ will Emi sofort ungnädig wissen.

„Ist etwas mit Urushihara-san?“ besorgt eilt Chiho herbei und stellt sich neben Mao, um urushihara gründlich von Kopf bis Fuß zu mustern. Als ihm die Decke über die Schultern zu rutschen droht, zieht sie sie wieder hoch und wickelt ihn noch fester darin ein.

Prüfend berührt sie ihn an der Wange.

„Er ist ganz kalt“, stößt sie dann erschrocken hervor. „Wie lange war er draußen?“

„Ich weiß es nicht.“ Fröstelnd zieht sich Mao seine eigene Decke zurecht. „Mehr als ein paar Minuten können es nicht gewesen sein. Er schlafwandelt“, fügt er dann noch erklärend hinzu, was bei Emi nur einen genervten Blick gen Decke auslöst – als würden sie das nicht alle deutlich sehen.

„Ich weiß nicht, warum. Er macht das sonst nicht“, klagt Mao, der sich zunehmend hilfloser fühlt. „Was machen wir denn jetzt mit ihm? Wie geht man mit so etwas um? Chi-chan, kannst du das mal googeln?“

„Fesselt euch einfach aneinander“, schlägt Emi amüsiert vor. „Und wenn du willst, helfe ich euch auch gerne dabei.“

Mao ignoriert sie geflissentlich.

„Wage es nicht, Hand an Mao-sama zu legen“, warnt Ashiya sie mit funkelnden Augen. „Und wehe, du rührst Lucifer an.“

Emi will gerade etwas Passendes entgegenn, da weht eine dünne Kinderstimme zu ihnen hinüber.

„Mama?“ Aus dem dunklen Flur tapst Alas-Ramus heran. In ihrer rechten Hand hält sie Okto, mit der anderen reibt sie sich verschlafen die Augen. Sie gähnt herzhaft, doch als sie Urushihara sieht, ist sie sofort hellwach.

„Was ist mit meinem Lucifer? Geht es meinem Lucifer gut? Lucifer?“

Ehe sie jemand daran hindern kann, stürmt sie zu ihm und schlingt ihre Arme um seine Knie.

„Lucifer?“

Kaum hat sie ihn berührt, zuckt er heftig zusammen. Und plötzlich ist es, als wäre er eine Marionette, der man die Fäden durchgeschnitten hat. Völlig unverhofft sackt er in sich zusammen. Er fällt auf die Knie und wird sofort von einem besorgten Kleinkind umarmt.

Doch die Art, wie sie ihm durchs dunkelviolette Haar streicht ist alles andere als kindlich.

„Frater meus iuvenis“, hören sie sie alle murmeln. „Noli timere. Tantum habent tantum in te potestatem, quantum permittis.“

„Mein kleiner Bruder“, übersetzt Ashiya murmelnd und mehr zu sich selbst. „Fürchte dich nicht. Sie haben nur soviel Macht über dich, wie du es zulässt.“

Emi und Chiho werfen ihm einen verblüfften Blick zu.

„Du kannst Engelssprache?“ flüstert Emi ihm leise zu. Sie wagt es nicht die Stimme zu erheben, denn das Benehmen ihrer Ziehtochter flößt ihr eine geradezu heilige Ehrfurcht ein.

Ashiya nickt nur stumm.

Mao kichert nervös auf und kratzt sich verlegen im Nacken.

„Er kann es fließend“, gibt er zu. „Besser als ich.“ Es ist ihm peinlich, aber das hatte er wirklich vergessen.

Emi gibt nur ein „hm“ von sich. Ihr Blick ruht nachdenklich auf Alas-Ramus und Urushihara.

Sie betrachtet ihn also als ihren kleinen Bruder? Nun, ich schätze, das erklärt, wieso unser Sonnenschein ihn immer in Schutz nimmt.

„Alas-chan?“ vorsichtig lässt sich Mao neben den beiden in die Hocke nieder. Etwas Uraltes und absolut Primitives in ihm knurrt verärgert auf, und seine Hände gieren danach, ihr seinen General zu entreißen, doch er beherrscht sich.

„Was meinst du damit? Vor wem fürchtet sich Lucifer?“

Er kann sich nicht helfen, aber vor ihrer Antwort ist ihm wirklich bang. Trotzdem – er muss es wissen, denn wie sonst könnte er seinem General denn helfen? Es ist nicht Alas' Aufgabe, Lucifer zu beschützen, sondern seine!

Er gehört mir. MIR! Ich habe ihn zuerst gefunden!

Alas-Ramus wirft ihm über Lucifers Schulter hinweg einen langen Blick zu. Wieder schimmert in ihren violetten Augen dieses silberne, uralte Licht und es fühlt sich an, als würde sie bis tief in seine Seele hinein sehen.

Aber bevor sie etwas sagen kann, hebt Urushihara den Kopf und funkelt ihn aus seinen blinden Augen an.

„Das einzige“, knurrt er heiser, „wovor ich mich fürchte, Mao-sama, ist, dass unsere Alas-chan sich erkältet, wenn unsere Heldin sie nicht schnurstracks wieder zurück in ihr warmes, weiches Bett steckt.“

Mao zuckt zusammen, als hätte er ihn geschlagen, doch er schluckt die bissige Bemerkung herunter, die ihm auf der Zunge liegt.

„Phhh...“ schnaubt Emi nur, beugt sich zu Alas-Ramus hinab und nimmt sie auf ihre Arme. Die Kleine läßt sich tatsächlich widerspruchslos, jedoch nicht, bevor sie Urushihara ihr Kuscheltier in die Hand gedrückt hat.

Sie sagt kein Wort und lässt sich gehorsam in ihr Zimmer zurücktragen, doch der Blick, den sie ihrem Ziehvater dabei über Emis Schulter hinweg zuwirft, will so gar nicht zu einem Kleinkind passen. Genauso wenig wie das listige Lächeln, das plötzlich um ihre Mundwinkel zuckt.

„Lucifer?“ Jetzt, wo sie fort ist, wagt Mao es wieder, seinem General eine Hand auf die Schulter zu legen. Und als dieser unter der Berührung nicht zusammenzuckt, wird Mao mutiger, nimmt ihn an der Hand und zieht ihn behutsam mit sich in die Höhe.

Chihos Bauchgefühl rät ihr, es Emi gleich zu tun und sich ebenfalls zurückzuziehen und so tätschelt sie noch einmal tröstend Urushiharas Schulter, murmelt einen Abschiedsgruß und folgt der Rothaarigen dann schnell.

Urushihara presst Okto fest gegen seine Brust und wartet, bis er das Klicken ihrer Zimmertür hört, bevor er eine wichtige Frage stellt:

„Was zur Hölle ist passiert?“

 

 

XXXI. Kapitel

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

XXXII. Kapitel

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

XXXIII. Kapitel

 

 

Gut gelaunt führt Mao Urushihara die Treppe hinab. Er weiß, er muss das nicht tun, sein General ist mehr als fähig genug, seinen Weg ohne seine Hilfe zu finden, aber Urushihara hat sich freiwillig bei ihm untergehakt.

Mao kann sich gut vorstellen, dass es ihm manchmal einfach nur zu anstrengend wird und ist einfach nur unendlich froh darüber, dass Urushihara ihm jetzt so viel Vertrauen schenkt, dass er sich jede altkluge Bemerkung einfach spart und diese wenigen Augenblicke einfach nur genießt.

Als Ashiya sie kommen hört, eilt er aus der Küche zur Treppe um sie mit einem freundlichen „Guten Morgen" zu empfangen.

Mao entgeht nicht der prüfende Blick, mit dem Ashiya Urushihara von oben bis unten mustert. Das Ergebnis scheint zu seiner Zufriedenheit auszufallen, denn um seine Mundwinkel zuckt ein kleines Lächeln.

„Es ist so still“, meint Urushihara plötzlich stirnrunzelnd.

„Niemand hier außer Ashiya“, erklärt Mao und wendet sich dann verwundert an Ashiya: „Schlafen die Mädchen etwa noch?“

„Ich habe sie gebeten, uns allein zu lassen.“

„Ah, schade“, seufzt Urushihara. „Ich wollte mich bei Alas doch noch wegen Okto bedanken.“

„Ich war so frei, mich bei ihr in deinem Namen zu bedanken“, erwidert Ashiya schmunzelnd und bedeutet ihnen mit einer Geste, zum Esstisch zu gehen, der, wie Mao feststellt, schon reichlich für zwei gedeckt ist. „Emi hat sich den Autoschlüssel geschnappt und gesagt, sie würde mit Alas-Ramus und Chiho einen Abstecher ins Dorf machen. Dort wird wohl eine Fahrt mit dem Pferdeschlitten angeboten. Bei der Gelegenheit wollen sie auch gleich Vorräte besorgen. Ich habe frisches Gemüse und Rindfleisch bestellt. Heute Abend gibt es dann Shabu Shabu.“

„Ein gemeinsames Fondue?“ Unwillkürlich leuchten Maos Augen auf. „Das klingt super.“

Urushihara an seinem Arm runzelt leicht die Stirn. Ein Fondue bedeutet immer, dass sich alle gemeinsam von einer großen Schüssel, die mitten auf dem Tisch steht, bedienen und das stellt ihn natürlich vor große Schwierigkeiten.

Es ist, als hätte Mao seine Gedanken gelesen.

„Hey, Lucifer, cor meum“, übermütig drückt er seinen Oberarm, „das wird ein richtig romantisches Abendessen, wo ich dich nur mit den besten Stückchen füttern werde. Hm... meinst du, Alas-Ramus wird mir das gestatten? Bisher hatte doch sie immer das Vergnügen.“

„Das musst du sie schon selber fragen“, murmelt Urushihara, der wirklich nicht weiß, ob er darüber nun lachen oder weinen soll. Letztendlich entscheidet er sich für ein schiefes Lächeln.

„Vor allem sind wir jetzt für ein paar Stunden unter uns“, erklärt Ashiya, rückt erst Urushihara und dann Mao den Stuhl zurecht und nimmt dann, sobald die beiden sitzen, auf einem Stuhl ihnen gegenüber Platz.

„Wir müssen reden.“

Unwillkürlich ächzt Urushihara auf, wofür er sich von Ashiya einen scharfen Blick einfängt. Den er zwar nicht sehen, aber aus irgend einem Grund deutlich spüren kann.

„Du dachtest doch nicht etwa, dass wir das vergessen?“

„Ehrlich gesagt, habe ich es gehofft.“

Ashiya schnalzt nur tadelnd mit der Zunge, füllt zwei Schälchen mit Miso-Suppe und reicht erst Urushihara eines und dann seinem König das andere. Ohne sich dessen wirklich bewusst zu sein, stellt er Urushiharas derart vor ihn, dass das glatte Porzellan seine linke Hand berührt, so dass er nicht lange nach seinem Essen tasten muss. Den dazugehörigen Löffel drückt er ihm in die andere.

Urushihara blinzelt verdutzt.

„Esst“, befiehlt Ashiya. „Danach reden wir.“

„Jawohl, mein General“, flachst Mao und salutiert.

Und dann ist eine ganze Zeitlang nichts anderes zu hören als das Klappern von Stäbchen und einem Löffel auf Porzellan und Kau- und Schluckgeräusche.

Ashiya verschränkt die Hände vor sich auf der Tischplatte und betrachtet sie zufrieden. Er könnte sich an diese friedliche, familiäre Atmosphäre wirklich gewöhnen. Wer weiß, wenn er es geschickt anstellt und mehr Geduld und Nachsicht zeigt, wenn er Urushihara zukünftig höflich und behutsam aufweckt und nicht mehr mit einem aggressiven Hämmern mit der Faust gegen die Tür, wird ein gemeinsames Frühstück zu dritt vielleicht bald zur täglichen Routine.

Obwohl sich jetzt auch die Frage stellt, ob Urushihara nach diesem Kurzurlaub je wieder in seinem Wandschrank schläft. Irgendwie glaubt er nicht, dass sein König das zulassen wird.

Nachdenklich lässt Ashiya seinen Blick auf Mao ruhen. Er wirkt nicht nur glücklich, sondern auch erleichtert, als wäre eine riesengroße Last von seinen Schultern genommen worden und in seinen Augen liegt ein wahres Strahlen, wann immer er Urushihara ansieht.

Ashiya nickt sich selbst entschlossen zu. Er wird sich dieser neuen Aufgabe mit aller Kraft stellen und das Glück seines Königs beschützen.

Und das beinhaltet jetzt eben auch, den Finger in die Wunde zu legen.

Er wartet geduldig, bis die beiden aufgegessen haben und gießt ihnen allen eine Tasse grünen Tee ein, wobei er mit Urushiharas genauso verfährt wie vorher mit der Miso-Suppe.

Dann räuspert er sich einmal hörbar, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

„Lasst uns jetzt reden“, beginnt er und bemüht sich dabei um einen freundlichen, aber auch strengen Tonfall. Einen Tonfall, der ihnen von Anfang an klar macht, dass er es todernst meint und keine Ausflüchte gelten lässt. Da kommt der Iron-Scorpion-Häuptling in ihm durch.

Und tatsächlich richten sich sowohl Mao wie auch Urushihara unwillkürlich in ihrem Stuhl etwas gerader auf.

Ashiya öffnet den Mund, sieht jedoch gerade noch rechtzeitig die nervöse Anspannung in Urushiharas Miene und ändert sofort seine Strategie. Das neue Vertrauen zwischen ihnen ist einer zarte Pflanze, die er nicht niedertrampeln sollte, indem er seine Fehler wiederholt.

„Ich mache mir große Sorgen um dich, Lucifer“, beginnt er das Gespräch, indem er sich erstmal selbst öffnet. „Ich weiß, dass ich in den letzten Monaten oft genug den Eindruck erweckt habe, als wärst du mir egal, aber das stimmt nicht. Es schmerzt mich, dich leiden zu sehen.“ Jetzt kann er nicht mehr an sich halten. Er lehnt sich über den Tisch und berührt Urushihara sanft am Handgelenk. „Vielleicht hilft es, vielleicht auch nicht, aber es kann auf alle Fälle nicht schaden, wenn du uns von deinen Träumen erzählst.“

Bei der unerwarteten Berührung zuckt Urushihara kurz zusammen, aber er zieht seine Hand nicht fort. Nervös beißt er sich auf die Unterlippe. Natürlich hat er dieses Gespräch schon seit Stunden erwartet und man könnte meinen, er hätte genug Zeit gehabt, sich darauf vorzubereiten, aber Ashiyas Freundlichkeit zieht ihm mal wieder glatt den Boden unter den Füßen fort.

„Eigentlich ist es immer wieder ein einziger Traum, der sich ständig wiederholt. Mit kleinen Abweichungen, aber im Grunde immer gleich. Ich träume, dass ich immer noch dort bin. Im Wald. Im Schnee. Und es fühlt sich sehr echt an. Eigentlich fühlt es sich jedes Mal echter an.“ Er holt einmal tief Luft und ballt unwillkürlich die Hände zu Fäusten. Einen Herzschlag lang ist er im Inneren Widerstreit mit sich selbst, aber dann legt ihm Mao aufmunternd eine Hand auf Knie und er gibt sich geschlagen.

„Aber ich bin nicht alleine. Gabriel ist auch da.“

„Gabriel?“ entfährt es Mao unwillkürlich und seiner Stimme ist der Abscheu deutlich anzuhören. „Warum ausgerechnet Gabriel?“

„Weil...“

 

Lucifer.“

Beim Klang dieser Stimme wirbelte er erschrocken herum. Sein Plan war wasserdicht, niemand sollte hier sein!

Warnend streckte er den rechten Arm nach dem Erzengel aus, der plötzlich vor ihm aufgetaucht war, während seine Linke das magische Portal, seine Rettung, seinen Fluchtweg, mit leichten, kreisenden Bewegungen, weiter öffnete.

Wenn du mich aufhalten willst, kommst du zu spät, Gabriel.“ Lichtblitze reiner magischer Energie tanzten von seinem Herzen über seinen Oberkörper und dann über seinen rechten Arm hinunter in seine Finger, deren Kuppen in einem gefährlichen Violett zu leuchten begannen. Eine falsche Bewegung und er würde eine seiner Energiekugeln auf Gabriel schleudern.

Sie würde ihn nicht töten, aber sie konnte großen Schaden anrichten. Und Unsterbliche konnten genauso viel Schmerz empfinden wie jedes andere Lebewesen auch.

Sekundenlang starrte Gabriel ihn einfach nur aus seinen weinroten Augen an, dann faltete er seine mächtigen, schneeweißen Schwingen hinter sich zusammen und strich sich eine störende, silberne Haarsträhne zurück hinters Ohr.

Ich bin enttäuscht von dir, Lucifer. Du hättest mir wenigstens Tschüß sagen können.“

Tschüß!“ zischte ihm Lucifer entgegen.

Gabriel seufzte einmal tief auf. Es klang … resigniert. Und in seiner sonst so fröhlichen Miene lag plötzlich eine unerwartete Traurigkeit.

Sie befürchtet schon seit einiger Zeit, dass du so etwas planst und befahl mir, wenn es soweit ist, solle ich dich aufhalten, aber weißt du was? Ich spare mir die Mühe. Du willst gehen? Dann geh. Vielleicht bist du bei den Dämonen wirklich glücklicher. Also werde ich mich einfach umdrehen und gehen und wenn sie mich fragt, habe ich wie immer nichts gesehen.“

Und genau das tat er dann.

 

Urushihara schüttelt den Kopf, um diese Erinnerung zu verscheuchen.

„Wenn ich raten sollte, würde ich sagen, Gabriel repräsentiert in meinen Alpträumen sowohl meine Ängste wie auch meine Hoffnungen. Außerdem … er ist ein arroganter Bastard, aber er hat mich nie angelogen.“

Seine letzten Worte lassen sowohl Mao wie auch Ashiya einmal hart schlucken, denn das ist nichts, was sie von sich behaupten können.

Ashiya benötigt ein paar Sekunden, um sich zu sammeln und nutzt die Gelegenheit, um einen großen Schluck von seinem Tee zu nehmen, während Mao eine Entschuldigung wispert und in einer demütigen Geste seine Stirn gegen Urushiharas Schulter sinken lässt.

„Welche Ängste?“ hakt Ashiya nach. „Und welche Hoffnungen?“

Über Urushiharas Miene huscht ein dunkler Schatten, doch er hat sich schnell wieder unter Kontrolle.

„Was wohl? Dass ich immer noch dort liege und dass nichts hiervon -“ er macht eine weit ausholende Geste, die sowohl sie wie auch den ganzen Raum mit einschließt, „- wirklich echt ist. Denn mal ehrlich: ich kann euch nicht sehen. Ich sehe eure Mimik und eure Gestik nicht. Wie soll ich da bitteschön erkennen, ob ihr mich nicht anlügt?“

Mao und Ashiya wechseln einen betroffenen Blick. Das alles ist nichts Neues, aber es schmerzt dennoch immer wieder, es so deutlich zu hören und zu erkennen, wieviel Vertrauen sie durch ihr gedankenloses Verhalten verspielt haben.

Urshihara zögert einen Moment. Bei seinen letzten Worten hat sich Maos Hand auf seinem Knie merklich verkrampft und aus irgend einem Grunde verärgert ihn das. Er wollte dieses Gespräch nicht, es ist nicht seine Schuld, wenn ihnen nicht gefällt, was er ihnen sagt.

Und plötzlich glaubt er Gabriels Stimme zu hören, ein weiteres Echo einer uralten, fast vergessenen Erinnerung.

Die Wahrheit ist eine mächtige Waffe, Lucifer. Anders als ein Schwert nutzt sie sich niemals ab. Aber sie schlägt tiefere Wunden als das Schwert, und wenn du sie klug zu nutzen weißt, verrät dir die Reaktion deines Gegenübers auf diese Wunde alles über ihn, was du wissen musst.“

Urushihara holt einmal tief Luft.

„Am Ende dieser Träume bietet mir Gabriel immer eine Rückkehr in den Himmel an und ich stimme zu.“

Mao zuckt zusammen, als hätte er ihn geschlagen.

„Was zur Hölle-? Lucifer!“ Hart packt er ihn am Oberarm und kann sich nur mit viel Mühe davon abhalten, ihn durchzuschütteln. Der Gedanke, dass Lucifer freiwillig in den Himmel zurückkehrt, nagt an ihm, seit er seinen General an der Seite von Olba Meyer sah. Der Deal zwischen dem Pfaffen und Lucifer hielt nicht lange, aber nur, weil er, Ashiya und Emi sie besiegten.

„Schon wieder? Warum lässt du dich immer wieder auf so etwas ein? Was ist nur los mit dir? Willst du wirklich zurück?“

Seine Gedanken rasen und eiskalte Furcht greift nach seinem Herzen. Nein, das kann nicht sein. Er wird das verhindern. Er will ihn nicht verlieren, nicht jetzt!

„Du kannst nicht gehen. Nicht jetzt. Und wenn du doch gehst, dann komme ich mit. Hah! Ich wollte denen sowieso schon lange mal so richtig den Marsch blasen.“

Wow. Urushiharas Augen weiten sich überrascht. Diese Reaktion übertrifft wirklich all seine Erwartungen.

„Lucifer“, plötzlich fühlt er sich von Maos starken Armen umfangen und an dessen warmen Körper gedrückt. Dezenter, heimeliger Vanilleduft umhüllt ihn. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll oder wie ich dich überzeugen kann, dass dies hier echt ist, dass dies hier kein Todestraum ist und es tut mir leid, denn es ist unsere Schuld, dass du uns nicht mehr vertraust, aber ich werde dich nie wieder im Stich lassen. Ich weiß nicht, was genau du im Himmel suchst, aber eines weiß ich mit Sicherheit: es ist nichts, was ich dir nicht auch geben kann, denn te amo, cor meum. Te amo. Te amo. Te amo. Te amo.“ Zunehmend verzweifelter drückt er ihn an sich.

Ashiya beobachtet die beiden genau, und als er sieht, wie Urushihara sein Gesicht in Maos Fleecehoodie versteckt, um seine Tränen zu verbergen und dabei regelrecht in seine Umarmung hineinschmilzt, nickt er einmal zufrieden.

Dieses Gespräch ist nicht optimal gelaufen und es wurden nicht alle Fragen beantwortet, doch Urushihara sieht aus, als wäre ihm ein großer Felsbrocken von der Seele gefallen und von daher genügt ihm das fürs Erste.

 

 

XXXIV. Kapitel

 

 

Sie haben wirklich Glück mit dem Wetter, der Himmel ist wieder strahlendblau und die Temperaturen liegen jetzt, zur Mittagszeit, knapp über dem Gefrierpunkt.

Arm in Arm schlendern Mao und Urushihara durch den verharschten Schnee. Sie entfernen sich nicht weit von der Hütte und laufen nur einmal im Kreis um sie herum an der Waldgrenze entlang.

Es war Ashiyas Idee. Er meinte, frische Luft und Bewegung täte ihnen gut.

„Aber nicht länger als eine Stunde, Mylord. Zwingt mich nicht, euch an den Ohren wieder hereinzuschleifen!“ warnte er sie eindringlich und sie beide versprachen, brav zu sein.

Wahrscheinlich wollte er sie aber nur für eine Stunde aus der Hütte haben, um seiner Putzleidenschaft zu frönen.

Letztendlich sind seine Beweggründe völlig unerheblich, solange sie ihnen nur die nötige Zweisamkeit ermöglichen.

Zuerst war er ja skeptisch, weil er nicht glaubte, viel davon zu haben – er ist blind, er kann die Landschaft nicht genießen, außerdem nagte an ihm die Angst, wieder von seinen schlechten Erinnerungen übermannt zu werden, aber … irgend etwas ist diesmal anders. Vielleicht liegt es daran, dass die Luft ein klein wenig anders riecht als in den letzten Tagen oder daran, dass kaum Wind weht und wenn doch, dann ist es eher eine streichelnde Brise.

Oder auch ganz einfach nur … unwillkürlich rückt Urushihara ein paar Zentimeter näher an Mao heran. Seine Präsenz hat plötzlich etwas überraschend Tröstendes an sich.

Und die Sonne scheint so warm...

genüsslich hebt Urushihara sein Gesicht den Sonnenstrahlen entgegen und wird sich auf einmal des Gewichts der Sonnenbrille auf seiner Nase voll bewusst, die Ashiya diesmal anstatt der lächerlichen Skibrille von irgend woher hervorgekramt hatte.

Maos erste Handlung war, dass er sofort sein Smartphone zückte und ein Foto schoß, weil Urushihara damit einfach nur „zu cool“ aussähe.

Urushihara lächelt in Gedanken daran wehmütig. Er würde dieses Foto wirklich gerne sehen. Das und alle anderen, die von diesem Urlaub bisher gemacht wurden.

Er würde Mao jetzt gerne sehen. Was er wohl für ein Gesicht macht? Ist er entspannt? Glücklich oder etwa einfach nur … gelangweilt?

Fuck. Und da schleichen sie sich wieder auf leisen Sohlen heran – seine Zweifel und sie haben all diese schlechten Erinnerungen und Gefühle im Gepäck.

Mao, der für Urushiharas Stimmungen immer sensibler wird, bleibt dies natürlich nicht verborgen.

„Was ist los, cor meum?“ Er benutzt den Kosenamen schon ohne genauer darüber nachzudenken und Urushihara kann nicht verhehlen, dass es ihm dabei jedesmal richtig warm ums Herz wird.

Und trotzdem antwortet er ihm nur bedingt ehrlich.

„Ich musste nur eben daran denken, wie gerne ich die Fotos auf deinem Handy sehen würde. Ich weiß gar nicht, wie Alas in ihrem pinken Schneeanzug aussieht.“

„Wie ein Sahnebonbon“, erwidert Mao prompt, stockt dann aber, als ihm ein sowohl genialer wie auch schlichter Gedanke kommt. Ja. Wieso ist ihm das nicht früher eingefallen.

Er bleibt stehen, wodurch auch Urushihara anhalten muss.

„Lucifer... ich habe eine Idee. Lass uns etwas versuchen.“

„Hm?“

Mao entzieht ihm seinen Arm und greift stattdessen nach seinen Händen.

„Cor meum, lass es uns mit einem Idea Link versuchen.“

„Was?“ Unwillig verzieht Urushihara das Gesicht. Er hat eine große Aversion gegen diese telepathischen Verbindungen. Die meisten mögen es als praktisch empfinden, aber er hat seinen Kopf lieber für sich allein. „Wozu? Wenn du mir etwas sagen willst, benutze deine Stimmbänder, dazu sind sie da.“

„Ich meine die bessere Variante. Keine Angst, ich halte dich ganz fest.“ Aufgeregt und absolut begeistert von seinem Einfall, zieht er ihn an sich. Wie versprochen, legt er beide Arme um seinen General und bevor dieser protestieren kann, lehnt er seine Stirn an Urushiharas und öffnet mit der Berührung einen mentalen Kanal.

Da er seine Kräfte schon vor drei Tagen bei ihm angewandt hat, ist es diesmal ganz leicht.

Urushihara reißt erschrocken die Augen auf, als er plötzlich durch Maos Augen sehen kann. Unwillkürlich schnappt er nach Luft und klammert sich haltesuchend an ihm fest. Mao ist größer als er und durch die ungewohnte Perspektive wird ihm schwindlig.

Und doch, trotz allem, saugt er das Bild, das ihm Maos Augen melden, gierig in sich auf. Weißer Schnee, der in der Sonne glitzert. Knorrige, schneebedeckte Bäume. Ein blauer Himmel und in etwa hundert Metern Entfernung sieht er eine ganze Armee von Schneemännern verschiedenster Größe vor einer großen Blockhütte. Er sieht sogar die Eiszapfen am Dachrand und die beiden Krähen, die gerade auf dem Dachfirst landen.

Fuck. Er spürt, wie er am ganzen Körper zu zittern beginnt.

Langsam senkt er den Blick und sieht auf sich selbst hinab und er spürt und sieht, wie sich seine Lippen zu einem belustigten Lächeln kurven. Maos Fellimitat-Jacke steht ihm richtig gut. Über die Bommelmütze und die Sonnenbrille kann man allerdings streiten.

„Urgh“, hört er plötzlich Maos Stimme über sich und er spürt, wie sich dessen Umarmung auf einmal verstärkt und von der plötzlich Dissonanz zwischen sehen und dem Rest wird ihm regelrecht übel.

Ein Augenblinzeln später ist die Verbindung unterbrochen und er sieht wieder nichts als Dunkelheit.

„Das ist gruselig, Jacobu. Das machst du bitte nie wieder.“

„Scheiße“, ächzt dieser zurück. „Du siehst ja wirklich nur pechschwarz.“

Urushihara nickt nur und lehnt sich haltsuchend an ihn. Es dauert eine Weile, bis das Schwindelgefühl endlich vergangen ist.

Mao presst ihn einfach nur an sich und krallt seine Hände ganz fest in Urushiharas Jacke, um das Zittern seiner Finger zu unterdrücken. Diese allumfassende, tiefe Dunkelheit hat ihm richtig Angst eingejagt. Und so fühlt sich sein General jeden Tag seit fünf Wochen? Das ist einfach nur grauenhaft!

Kein Wunder, dass er so mißtrauisch und vorsichtig ist.

Das muss verdammt nochmal enden! Entschlossen presst Mao die Kiefer zusammen, dass es nur so knirscht. Er muss sich etwas einfallen lassen und zwar möglichst bald!

„Eh? Jacobu? Alles in Ordnung?“ Urushihara bemerkt seine Anspannung sofort und hebt nun besorgt den Kopf.

„Alles okay“, beruhigt Mao ihn hastig. „Komm her“, meint er dann nur, legt ihm die Finger unters Kinn und senkt dann den Kopf um ihn zu küssen.

Sobald sich ihre Lippen berühren, schließt er ganz bewußt die Augen, um sich nur auf seine anderen Sinne konzentrieren zu können. Er will nachempfinden, was Urushihara spürt. Es dauert eine Weile, vor allem, weil er in dem Moment, wo Urushihara einladend seine Lippen öffnet und seiner Zunge Einlaß gewährt, beinahe doch aus Gewohnheit fast geblinzelt hätte.

Aber dann hat er den Dreh heraus und ist überwältigt, wie intensiv sich plötzlich alles anfühlt.

Er ist völlig atemlos und das Herz klopft ihm bis zum Halse, als sie diesen Kuss nach einer für seinen Geschmack viel zu kurzer Zeit wieder lösen müssen, weil Urushihara von einem seiner selten gewordenen Hustenanfälle überrascht wird.

Hölle.

Mao vergräbt seine Nase an Urushiharas Hals, an der warmen Stelle zwischen Schal und linkem Ohrläppchen und atmet dessen süß-pudrigen, leicht holzigen Duft tief ein. Die Augen hält er dabei immer noch geschlossen und verdammt, ihm werden glatt die Knie weich.

Urushihara erschauert, als ihn Maos Atem streift und räuspert sich dann verlegen. Er hat keine Ahnung, woher diese exzessive Anschmiegsamkeit seines Königs plötzlich kommt, aber es fühlt sich erstaunlich gut an.

Und zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit einmal nicht zu gut, um wahr zu sein.

Und plötzlich erwacht in ihm das brennende Verlangen, auch danach noch etwas davon zu haben.

„Jacobu?“

„Hm?“

„Glaubst du, Alciel gestattet mir, deine Jacke zu behalten?“

„Pff“, macht Mao nur und stützt seinen Kopf träge auf Urushiharas Schulter ab. „Es ist meine Jacke. Ashiya hat da gar nichts zu melden. Ich schenke sie dir.“ Er hält die Augen immer noch geschlossen und schwelgt weiter in diesem süchtig machenden Geruch.

„Darf ich auch deine Fleecehoodies behalten?“

„Natürlich. Sie stehen dir sowieso viel besser als mir.“

Urushihara zögert, wägt seine Optionen gegeneinander ab und wagt es.

„Wenn wir wieder in unserer kleinen Bruchbude sind, kann ich dann deinen Futon bekommen?“ Er hat nur eine Decke und ein Kissen in seinem Wandschrank und das wird allmählich wirklich unbequem.

Diese Frage holt Mao zurück ins hier und jetzt. Schlagartig öffnet er die Augen. Er hebt den Kopf von Urushiharas Schulter und mustert ihn lächelnd.

„Nein“, erklärt er dann. „Du bekommst deinen eigenen. Oder ich kaufe uns einen, auf den wir beide passen.“

Urushihara blinzelt verblüfft. Hinter der verspiegelten Brille kann Mao das nicht sehen, aber verdammt nochmal, er fühlt es.

„Ernsthaft jetzt?“

„Ja, ernsthaft. Jetzt sag nicht, du hast etwas anderes erwartet, cor meum?“

„Um ehrlich zu sein, habe ich soweit noch gar nicht gedacht.“

„Tja“, grinsend haucht Mao ihm einen Kuss auf die Wange, „dann gewöhn dich mal ganz schnell an den Gedanken, dass ich dich so schnell nicht mehr gehen lasse, jetzt, wo ich dich endlich habe.“

Urushihara schenkt ihm ein Lächeln, bei dem ihm ganz warm ums Herz wird. Und dann schlagen die Schmetterlinge in seinem Bauch Salto, als er ihn sagen hört:

„Derbyniaf yr her, annwyl.“ Die Herausforderung nehme ich an, mein Lieber.

 

 

 

Es ist früher Nachmittag, als Emi, Chiho und Alas-Ramus zurückkehren. Und Alas-Ramus ist kaum durch die Tür, da schüttelt sie sich die Stiefel von den Füßen und stürmt mit einem lauten „Papa! Alciel! Luuuucifer!“, hinüber zur Couch, wo Mao Urushihara dabei hilft, das neue Stofftier für Alas-Ramus mit Füllmaterial zu stopfen, während Ashiya daneben sitzt und liest. Bei ihrem Eintreten jedoch legt der Iron-Scorpion allerdings das Buch beiseite und erhebt sich, um Emi und Chiho dabei zu helfen, die Einkäufe in der Küche zu verstauen.

Auf dem Weg dorthin wird er fast von Alas-Ramus umgerannt.

„Alciel!“ sie umarmt kurz zur Begrüßung seine Knie und wartet es gar nicht ab, bis er ihr den Kopf getätschelt hat und rennt schon weiter.

„Papa! Luuuucifer!“ Aufgeregt springt sie zu ihnen auf die Couch und gibt jedem von ihnen eine Umarmung. „Wir sind... Schlitten … Pferdchen...“

„Pferdeschlitten“, souffliert Mao amüsiert, fängt den kleinen Wirbelwind ein und hilft ihr, sich aus ihrem pinken Schneeanzug zu befreien.

„Ja. Ja, genau!“ Sie zappelt ungeduldig, denn es geht ihr nicht schnell genug. Und kaum ist sie ihren Schneeanzug los, quetscht sie sich zwischen ihren Ziehvater und Urushihara und sprudelt aufgekratzt hervor:

„Pferdeschlitten gefahren! Und es ging … hui … und dann so … und das Pferdchen hat kacka gemacht und Mama so iiiek und das Pferdchen trug ein rotes Deckchen mit Glöckchen dran. Oh, und der Mann hatte eine Peitsche. Aber er hat das Pferdchen nicht gehauen. Das hab ich ihm verboten.“

„Gut, gemacht, Alas-chan“, lobt Urushihara sie.

„Lucifer, Lucifer, kommst du morgen mit? Du magst doch Pferdchen so sehr.“

„Alas-chan“, ruft Emi aus der offenen Küche hinüber, „das habe ich dir doch schon im Auto erklärt: das war heute der letzte Tag, ab morgen haben die Pferdchen Ferien.“

Enttäuscht verzieht Alas-Ramus das Gesicht.

„Das ist doch nicht schlimm, Alas-chan“, tröstet Urushihara sie sofort. „Schau mal lieber hier – ich habe dein Hundchen fast fertig. Du musst nur noch die Augen aussuchen.“

Vielsagend schiebt Mao ihr die kleine Plastikdose zu, in der ordentlich sortiert verschiedene Knopfaugen zum Annähen liegen. Alas-Ramus betrachtet die Auswahl stirnrunzelnd und entscheidet sich dann für ein blaues und ein gelbes Auge.

Bei dieser ungleichen Auswahl hebt Mao kurz die Augenbrauen, doch es ist Alas-Ramus' Stofftier, nicht wahr?

„Hm“, macht Urushihara plötzlich und tastet, geleitet von seinem Gehör, nach Alas-Ramus' Handgelenk. Die Kleine hält ganz still, als er seine Finger über ihr Bettelarmband gleiten lässt. Auf ihrem Gesicht breitet sich ein fröhliches Grinsen aus.

„Was bimmelt denn da so? Ist das ein neuer Anhänger, Alas-chan?“

„Ja. Den hat Chi-chan mir geschenkt. Es ist dasselbe Glöckchen wie das Pferdchen hatte. Hör mal.“ Vielsagend hebt sie den Arm dicht an sein Ohr und schüttelt ihr Handgelenk. Zu dem üblichen Geklingel hat sich nun ein volltönendes, aber dennoch feines Glöckchengebimmel gesellt.

„Das klingt wirklich sehr schön, Alas-chan“, loben Urushihara und Mao beinahe synchron.

In der Küche verbeißt sich Emi ein Grinsen, als sie das hört und wechselt einen amüsierten Blick mit Chiho, bevor sie sich wieder zum Kühlschrank umdreht. Sie packt das Fleisch hinein und holt die Milch heraus, denn eine gute Tasse Kakao kann ihnen allen jetzt bestimmt nicht schaden.

„Und hier?“ erkundigt sie sich dann, mit einem verstohlenen Blick hinüber zur Couch, leise bei Ashiya. „Ist alles im Lot?“

„Ja. Es gibt keinen Grund zur Beunruhigung, Heldin Emilia.“

Heldin. Oha. Emi hebt die Augenbrauen. Wenn er sie so nennt, will er damit sagen, dass sie dieses Thema nichts angeht. Normalerweise würde sie das nicht auf sich sitzen lassen, aber diesmal ist sie bereit, eine Ausnahme zu machen.

„Verstehe“, nickt sie daher nur.

Chiho, die am Herd steht und die Milch in einen Topf gießt, schüttelt, über die beiden wirklich amüsiert, den Kopf. Ehrlich gesagt hätte sie gerne genauere Informationen von Ashiya erhalten, denn sie würde sich gerne aktiv einbringen und Urushihara helfen, aber sie akzeptiert es auch, wenn die Dämonen das lieber unter sich klären wollen.

Sie ist zuversichtlich, dass sich alles zum Guten wenden wird. Liebe ist schließlich das beste Heilmittel.

Und natürlich ein heißer Kakao.

 

 

 

XXXV. Kapitel

 

 

Dicke, weiße Flocken fallen träge aus den tief hängenden Wolken und legen sich lautlos auf den vereisten Schnee, doch in der Hütte herrscht heimelige Wärme. Das ganze Erdgeschoß ist erfüllt vom würzigem Geruch gegartem Fleisch und Gemüse und untermalt von ihren vergnügten Stimmen.

Sie sitzen locker um den Esszimmertisch herum. In der Mitte steht der kleine Elektrokocher und auf diesem der Tontopf, in dem die Fleischstreifen und das Gemüse in der Brühe vor sich hinköcheln. Teller mit verschiedenen Dip-Soßen und mit dem Nachschub in Form von rohem Gemüse, sind sorgsam daneben angeordnet und vor jedem von ihnen steht ein Teller, doch nur Alas-Ramus und Emi nutzen ihre, die anderen essen direkt aus dem Topf in den Mund.

Die Atmosphäre ist entspannt und locker.

Etwas zu locker, wenn man Ashiya fragt.

Er versucht, sich auf sein Essen zu konzentrieren, aber er kann nicht verhindern, dass seine Blicke immer wieder zu seinem König und dem gefallenen Engel hinüberwandern. Da er am Kopf des Tisches sitzt – von dort aus ist es näher zur Küche – hat er sie gut im Blick. Und anders als die beiden jungen Frauen sieht er auch ganz genau, was sich so alles unter der Tischplatte abspielt.

Wie am Morgen versprochen, wird Urushihara von Mao gefüttert, wozu dieser ihm natürlich sehr nahe gerutscht ist. Nicht nur ihre Knie berühren sich. Manchmal sieht Ashiya auch, wie eine Hand auf einem Knie landet. Meist ist es Maos. Und manchmal rutscht sie auch Urushiharas Oberschenkel hinauf.

Und über der Tischplatte, für alle sichtbar, scheut er sich nicht, Urushihara mal den Arm um die Schultern oder die Taille zu legen. Und immer wieder kommt er ihm mit dem Kopf ganz nahe. Manchmal berühren seine Lippen in Andeutung eines Kusses hauchzart Urushiharas Wange oder sogar sein Ohr, wenn er ihm wieder etwas zuflüstert.

Anfangs noch leise und verstohlen, doch je länger das Essen und ihr gemütliches Beisammensein dauert, desto offensiver flirtet er. Und ungefähr nach zwanzig Minuten hört er auf zu flüstern.

„Ah. Non possum exspectare dum soli iterum sumus“, schnurrt er schließlich für alle am Tisch gut hörbar, während er Urushihara mit grünem Gemüse füttert.

Ah. Ich kann es gar nicht abwarten, bis wir wieder unter uns sind.

Urushihara gluckst amüsiert. Er muss wirklich aufpassen, dass er sich nicht vor lachen an seinem Gemüse verschluckt.

Selten hat er so viel Spaß gehabt. Er wünschte, er könnte ihre Gesichter sehen, wenn Mao ihm all die anrüchigen Zweideutigkeiten ins Ohr flüstert. Auch wenn sie diese Sprache nicht verstehen, sollte die Intonation doch eindeutig sein. Auch glaubt er nicht, dass Mao seine Miene so gut unter Kontrolle hat, dass es niemanden auffällt.

Aber Chiho gegenüber ist das unfair. Doch jedes Mal, wenn sich sein schlechtes Gewissen meldet, flüstert Mao etwas oder berührt ihn irgendwo und die Schuldgefühle verschwinden genauso schnell, wie sie gekommen sind.

Entschuldige, Chiho, aber es ist einfach zu lange her, dass jemand mal so bemüht um mich war.

Es schmeichelt seinem angekratzten Ego.

Manchmal meldet sich zwar noch diese kleine Stimme des Zweifels, aber sie wird immer leiser.

„Osculor te, donec veniam petas. Lingua mea blande ventrem tuum deprimet. I osculari femur tuum. Tum ego te quasi ricinum siccum suges.“

Ich werde dich küssen, bis du um Gnade winselst. Meine Zunge wird sanft deinen Bauch hinabgleiten. Ich werde deine Schenkel küssen. Und dann werde ich dich lutschen wie eine trockene Zecke.

Bei Maos letztem Satz wird Urushihara plötzlich puterrot im Gesicht. Er hüstelt verlegen. Das Hüsteln geht prompt in einen seiner selten gewordenen Hustenanfälle über.

„Ja, danke“, meint er dann, sobald er wieder Luft bekommt. „Ni fyddaf yn rhoi cyfle i chi. Pan fyddaf wedi gorffen gyda chi, byddwch yn erfyn am drugaredd.“

Dazu werde ich dir keine Gelegenheit geben. Wenn ich mit dir fertig bin, wirst du um Gnade betteln.

Mao lacht nur, vergräbt sein Gesicht in Urushiharas violettem Haarschopf und grollt:

„Tam pulchra es cum climax.“ Du bist so schön, wenn du kommst.

Ashiya hüstelt tadelnd, rechnet aber nicht damit, dass ihn jemand beachtet. Sein König zieht hier wirklich alle Register und er fragt sich nur, wo und wann er so zu flirten gelernt hat? Laut dem dämonischen Knigge nähert sich sein Werben dem Ende und dann kann, darf und sollte er Urushihara am Haar ins nächstbeste Bett schleifen, sonst hat er jeden Anspruch auf ihn verloren.

„Revelatio erat cum primum vidi te.“ – Es war eine Offenbarung, als ich dich zum ersten Mal sah.

In diesem Moment platzt Emi der Kragen.

„Hey, hört auf damit! Benutzt eine Sprache, die wir kennen!“

„Mylord“, ergreift Ashiya die Gelegenheit am Schopf, „so ungern ich es zugebe: da muss ich der Heldin Recht geben. Es ist respektlos, die Sprache und Gebräuche des Landes zu ignorieren, in dem man sich aufhält. Vor allem der armen Chiho-san gegenüber.“

„Entschuldigung“, wendet sich Mao zerknirscht an Chiho und auch Urushihara murmelt ein „Es tut mir leid“, doch die Mittelschülerin winkt nur ab und lächelt nachsichtig.

Sie hört ihnen gar nicht richtig zu, denn sie ist vollauf damit beschäftigt, sich um Alas-Ramus zu kümmern. Die Kleine sitzt auf ihrem Schoß und Chiho hilft ihr mit ihren Stäbchen und zeigt ihr, wie sie sich damit ihre Stückchen aus dem Fondue-Topf holen kann ohne dabei die Hälfte auf dem Tisch zu verteilen.

Um ehrlich zu sein, gefallen Chiho die Sprachen, in denen sich Mao und Urushihara unterhalten, sie klingen schön und irgendwie entspannend. Natürlich fühlt sie sich etwas ausgeschlossen und verspürt diesen leichten Stich in ihrer Brust, aber damit kann sie umgehen. Immerhin küssen sie sich jetzt nicht vor ihr und das rechnet sie ihnen hoch an.

„Oculi tui sicut gemmae micant et Cutis tua tam subtilis est quam sericum“, – deine Augen funkeln wie Edelsteine und deine Haut ist so zart wie Seide – raunt Mao verstohlen in Urushiharas Ohr. Dieser errötet wieder.

Alas-Ramus kichert plötzlich. „Papa findet so schöne Worte.“

Emi quietscht auf, als sie auf diese Weise unsanft daran erinnert wird, dass Alas-Ramus diese Sprachen versteht.

„Iek!“ Entsetzt zieht sie Alas-Ramus auf ihren Schoß und hält ihr die Ohren zu, dann funkelt sie die beiden jungen Männer ihr gegenüber erbost an. „Was ist das? Was sagt ihr euch da? Ich hoffe für euch, dass es jugendfrei war! Alas-chan, hör nicht hin.“

„Mama!“ protestiert die Kleine und versucht, ihre Hände von ihren Ohren zu ziehen. „Du bist gemein! Jetzt kommen doch nur noch die schönen Worte! Ich will die schönen Worte hören.“

Nur noch? Voller schlimmer Ahnungen, schnappt Emi nach Luft. Und als sie sieht, wie Ashiya betreten die Miene verzieht, bleibt ihr fast das Herz stehen. Der bemerkt seinen Fehler sofort.

„Bitte reg dich nicht so auf, Emilia“, versucht er, sie zu beruhigen. „Es sind keine anrüchigen Wörter gefallen.“

Sie mustert erst ihn durchdringend und dann, als er diesen Blick nur seelenruhig entgegnet, richtet sich ihr Blick auf Mao und durchbohrt diesen.

Mao schenkt ihr nur ein Schulterzucken und ein schiefes Grinsen.

„Bitte keinen Streit“, meldet sich da Chiho zu Wort. „Es war so ein schöner Tag. Und ein schöner Abend. Bitte, Emi, gib mir Alas-chan zurück. Sie hat noch nicht aufgegessen.“

Emi zögert, doch Alas-Ramus beginnt ungedulsig auf ihrem Schoß zu zappeln und als sie dann auch noch die Arme nach Chiho ausstreckt, gibt sich Emi widerwillig geschlagen. Sie ahnt, sie war nahe daran, dass Alas-chan ihr das gefürchtete „du bist nicht meine Mama“, entgegen schleudert und das will sie auf alle Fälle vermeiden.

„Benehmt euch“, zischt sie Mao und Urushihara wütend zu, während sie Alas-Ramus an Chiho zurückgibt. Und um auch ganz deutlich zu machen, dass sie es ernst meint, zeigt sie mit zwei gespreizten Fingern erst auf ihre Augen und deutet dann auf Mao. Ich behalte dich im Auge, soll das bedeuten.

Der lächelt nur betont höflich. Unter dem Tisch zeigt er ihr allerdings den Mittelfinger.

Ashiya, der das alles sieht, seufzt nur tonlos auf und verdreht die Augen.

Es dauert zwar eine Weile, bis sich die gespannte Atmosphäre wieder verflüchtigt, aber dann finden sie alle überraschend schnell wieder zu ihrer heiteren Gelassenheit zurück.

 

 

Oje. Vielleicht, aber nur vielleicht, war es doch keine so gute Idee, so intensiv mit seinem General zu flirten. Angestrengt beisst sich Mao auf die Unterlippe und starrt sein Spiegelbild an. Er hofft, dass das Nasse in seinem Gesicht von dem eiskalten Wasser stammt, das er sich eben ins Gesicht gespritzt hat und kein Schweiß ist. Es hat Spaß gemacht, sehr großen sogar, aber leider hat er die Reaktionen seines Körpers unterschätzt. Wer hätte denn auch ahnen können, dass dieser schwache menschliche Körper auf tugendhafte Zurückhaltung noch viel nachtragender reagiert als sein dämonischer? Mist. Leise ächzend presst sich Mao die Hand gegen den Schritt. Wird wohl Zeit, sich einzugestehen, dass er den heldenhaften Kampf gegen seine Triebe verlieren wird.  Noch ist er zu stolz, noch sträubt er sich, seine Jeans zu öffnen und sich Erleichterung zu verschaffen, aber...

Plötzlich klopft es an der Tür. Erschrocken zuckt Mao zusammen.

„Mao? Kann ich reinkommen?" 

Beim Klang dieser Stimme macht Maos Herz einen aufgeregten Sprung.

„Lucifer. Ja, komm rein. Die Tür ist offen.“

Die Tür öffnet sich und sein General schiebt sich herein.

„Mao? Ist alles in Ordnung“ fragt er leise, während er die Tür hinter sich wieder schließt, sich mit dem Rücken dagegenlehnt und nach dem Drehknopf tastet. Es klickt leise, als er die Tür zusperrt.

„Du bist schon seit zehn Minuten hier drinnen.“

Mao hat noch immer das Klicken des Türschlosses in seinen Ohren und starrt ihn nur unverwandt an. Die Schmetterlinge in seinem Magen schlagen Salto Mortale, als ihm bewusst wird, dass Urushihara sie hier eingeschlossen hat und in seiner steinharten Erregung beginnt es erwartungsvoll zu pochen.

Wie gebannt starrt Mao in diese blinden, violetten Augen und leckt sich einmal über die plötzlich viel zu trockenen Lippen.

„Ja, alles in Ordnung“, würgt er mit rauher Stimme hervor.

Erst jetzt bemerkt er die Kleidungsstücke, die Urushihara unter seinen anderen Arm geklemmt hat. Er erkennt … huh? Zwei Pyjamas?

„Ich hab Emi eine Stunde aus den Rippen geleiert.“

„Huh?“

„Sie wollte dich aus dem Bad jagen, weil sie sich und Alas-chan bettfertig machen wollte. Zähneputzen und so. Doch sie verschiebt es auf eine Stunde nach hinten. So lange haben wir das Badezimmer für uns.“

Verwirrt runzelt Mao die Stirn und ist zum ersten Mal erleichtert, dass Urushihara ihn nicht sieht, denn er zieht bestimmt gerade ein selten dämliches Gesicht.

„Für ein Schaumbad“, erklärt Urushihara schließlich, während ihm das Blut in die Wangen schießt. „Ich- ich meine“, stottert er plötzlich verlegen, „Zuhause haben wir doch keine Badewanne und gehen höchstens in den Onsen. Aber da sind wir nicht allein. Und … und wir sind doch nur noch bis übermorgen hier und“, entschlossen wirft er den Kopf in den Nacken und funkelt ihn aus seinen blinden Augen an, „ich möchte, dass wir die Badewanne noch ausnutzen, so lange wir können.“

Mao blinzelt einmal verdutzt.

Oh.

Oh.

„Du meinst – wir beide? Zusammen ein Schaumbad?“ Mao kann sein Glück kaum fassen.

Urushihara lächelt schief und zuckt mit den Schultern.

„Ja. Das letzte Mal habe ich ja nicht viel davon mitbekommen.“

„Sehr gerne", entgegnet Mao hastig, bevor sein General es sich doch noch anders überlegt. Dann fällt ihm etwas ein und plötzlich wird er sehr, sehr nervös. Betreten verschränkt er seine Hände vor dem Schritt, wird sich dann aber klar, dass Urushihara weder den offenen Reißverschluß noch irgend etwas anderes sehen kann, aber stattdessen ihn das beruhigt, macht es ihn nur noch nervöser.

„Ist wirklich alles in Ordnung, Mao?" Urushihara spürt, dass etwas nicht stimmt und fragt sich, ob er vielleicht etwas zu forsch war.

Er spielt nur mit dir, meldet sich die kleine Stimme wieder, die wie Gabriel klingt.

„Okay, hör zu, wenn du nicht willst, ist das in Ordnung-"

„Nein", unterbricht Mao ihn hastig und tritt unwillkürlich einen Schritt näher. „Das sag ich doch gar nicht. Gib her, legen wir das erstmal beiseite."

Er nimmt ihm die Kleidung ab und legt sie auf einem Badmöbel ab, in der Hoffnung, dadurch etwas Zeit zu gewinnen. Leider denkt seine Erregung nicht daran, abzuflauen. Er schindet eine weitere Minute, indem er das Badewasser einlässt. Mißtrauisch geworden, tritt Urushihara zu ihm.

„Du hast doch was, Mao."

Erschrocken wirbelt Mao herum und prallt dabei mit ihm zusammen. Urushihara stolpert zurück und Mao schlingt gerade noch rechtzeitig die Arme um ihn, bevor er das Gleichgewicht verlieren kann.

Und dann geschieht das, was Mao unbedingt vermeiden wollte.

„Nanu?"

Beschämt wendet Mao den Blick ab und unterdrückt ein lustvolles Aufseufzen, als Urushihara seine Hand zwischen ihre Körper zwingt und ihn dort unten berührt.

„Es tut mir leid", entfährt es Mao.

Urushihara stutzt. Seine blinden Augen durchbohren ihn regelrecht.

„Was meinst du?" Da liegt ein lauernder Unterton in seiner Stimme, der Mao einmal hart schlucken lässt.

„Ich... Wir", stammelt er. „Es ist peinlich. Ich wollte nicht, dass du das siehst... bemerkst", berichtigt er sich hastig. „Wir haben uns nicht mal geküsst. Es ist mir peinlich, dass mein Körper nur durchs Flirten und ein paar oberflächliche Berührungen so austickt. Ich sollte mich besser beherrschen. Ich hasse es, ein schwacher Mensch zu sein. Du hälst mich doch jetzt sicher für einen Loser."

„Deswegen?" vielsagend drückt Urushihara seine Hand fester gegen Maos Schritt.

Der stöhnt unterdrückt auf.

„Ja", gibt er dann atemlos zu. „Es tut mir leid. Bitte zieh keine voreiligen Schlüsse. Das ist nicht das einzige, was mich an dir interessiert. Ich will nicht nur das eine, verstehst du?"

„Halt die Klappe", kommt es nur ruhig zurück. Lächelnd schlingt ihm Urushihara die Arme um den Nacken. „Lass mich dir einfach aus deiner Zwickmühle helfen."

Mit diesen Worten schickt er sich an, vir Mao auf due Knie zu sinken, aber der hält ihn hastig am Arm zurück.

„Nicht so", flüstert er dabei mit rauher Stimme. Alles in ihm sträubt sich davor, seinen General vor sich knien zu sehen.

Und so zieht er ihn ein paar Schritte mit sich und drückt in dann sanft, aber bestimmt auf den Toilettendeckel. Um Urushiharas Mundwinkel zuckt ein Grinsen, als er begreift. Er hätte sich auch hingekniet, aber so zu sitzen hat seine ganz besonderen Vorteile. Ohne Umschweife zieht er Mao die Jeans samt Unterhose herunter.

"Ich wünschte, ich könnte das sehen", murmelt er und dann tasten seine Hände vorsichtig herum, bis sie auf hartes, heißes und gierig pochendes Fleisch stoßen. „Jede Wette, du bist ganz rot im Gesicht."

Maos einzige Antwort besteht aus einem lustvollen Stöhnen, und das und ähnliche Geräusche sind für eine lange Zeit das einzige, was er herausbringt.

 

 

XXXVI. Kapitel

 

 

Es ist ruhig. Sehr ruhig. Es gibt keine nennenswerten Geräusche außer dem gelegentlichen Knarren und Knacken der Holzbalken, aus denen diese Hütte besteht.

Das und die leisen Atemzüge seiner beiden Generäle. Und natürlich sein eigener Atem. Ab und an ist auch das Rascheln von Stoff zu hören oder das Knarzen der Matratze, wenn sich einer von ihnen bewegt, aber ansonsten – eine ruhige, friedliche Stille.

Er war sich bisher gar nicht bewußt, wie laut es in der Stadt immer ist.

Aber nicht einmal in seiner Heimat war es je so still wie jetzt.

Aus halbgeschlossenen Augen beobachtet Mao, wie sich das Licht im Zimmer verändert, sobald das Schneetreiben draußen nachlässt und sich der Halbmond aus seiner Deckung wagt. Es wird um eine Nuance heller. Mao hat noch nie darüber nachgedacht und war sich dessen nie bewußt wie wunderschön solch kleine, unwichtigen Details sein können.

Unwillkürlich streichelt Mao mit den Fingerspitzen über den winzigen Streifen nackter Haut zwischen Urushiharas Oberteil und seiner Hose. Alles in ihm giert danach, seine Hand noch weiter unter diesen Stoff zu schummeln und all diese warme, samtweiche Haut zu liebkosen, doch er hält sich zurück.

Urushihara braucht seinen Schlaf.

Küssen, Streicheln und Sex ist wunderbar, aber wenn er ihn einfach nur in den Armen halten kann so wie jetzt, wenn er sich im Schlaf vertrauensvoll an ihn kuschelt, und alles so friedlich und einfach nur warm ist, dann ist Mao mehr als zufrieden.

Neben ihm gibt Ashiya ein kleines Schnaufen von sich und dreht sich auf die andere Seite. Mao lächelt, als er daran denkt, wie seine Rechte Hand die Zimmertür abgeschlossen und den Schlüssel auf den zwei Meter hohen Schrank gelegt hat, außer Reichweite für den gerade mal einen Meter fünfundfünfzig großen Urushihara.

Ehrlich gesagt, hätte er selbst es vergessen. Aber nicht so Ashiya.

Emis Idee mit dem „Aneinanderketten“ hat er dagegen verworfen, denn trotz aller Frotzelei über dieses Thema, sträubt sich alles in ihm dagegen, seinen freiheitsliebenden General irgendwo anzubinden. Nicht einmal, wenn es sich dabei nur um Maos Handgelenk handelt. Es fühlt sich einfach falsch an.

„Te amo, cor meum“, wispert er in diesen dunklen Raum hinein.

Als habe er ihn gehört, schmiegt sich Urushihara enger an seine Seite und Mao hätte vor Behaglichkeit beinahe aufgeschnurrt.

Er ist glücklich. Einfach nur glücklich.

Für ihn ist das ein völlig neues Gefühl. Er kennt die Zufriedenheit, aber Zufriedenheit ist kein Glück. Glück reicht tiefer, es wärmt von innen und genauso fühlt er sich jetzt.

Langsam fallen ihm die Augen zu und er gleitet in den Schlaf.

 

Im Traum befindet er sich wieder in seinem Hauptquartier und sie stehen vor dem alles entscheidenden Großangriff.

 

Er war voller Elan, in seinen Adern brauste das Blut nur so und jede Zelle seines Seins gierte endlich danach, dass dieses Vorgeplänkel endlich in den entscheidenden, letzten Kampf überging, den er, davon war er felsenfest überzeugt, triumphal gewinnen würde.

Ein letztes Mal hatte er seine vier Generäle versammelt, und wenn er sich so umsah, erkannte er in ihren Blicken dasselbe hungrige Feuer wie es ihm heute aus seinen eigenen Augen aus dem Spiegel entgegenfunkelt hatte.

Er hatte einen Plan. Und der war narrensicher.

Und so wies er seinen Generälen je einen Teil von Ente Isla zu, den sie mit ihren Truppen erobern sollten. Der letzte, den er seinen Platz zuwies, war Lucifer.

Der runzelte die Stirn, als er hörte, wo sein König ihn hinschickte.

Der Westen? Da sammelt sich die Kirche hinter der Heldin.“

Satan nickte grinsend.

Eben deshalb. Du lenkst sie ab, während wir den Rest einnehmen.“

Lucifers Stirnrunzeln vertiefte sich und er schüttelte seine Flügel aus, als müsse er einen unangenehmen Gedanken abschütteln.

Und warum ich?“ wollte er dann angespannt wissen.

Satan glaubte aus seinem Tonfall beginnende Gehorsamsverweigerung herauszuhören und antwortete daher schärfer als beabsichtigt:

Wer eignet sich besser dazu die Kirche und ihre Marionette zu vernichten als ein gefallener Engel wie du?“

Alciel neben ihm kicherte leise und auch Adramelech und Malacoda glucksten spöttisch, als er Lucifer so nannte. Dessen rabenschwarze Federn sträubten sich für alle sichtbar, doch nur für eine Sekunde, dann hatte er sich wieder unter Kontrolle.

Verstanden, Mao-sama“, erklärte er dann in einem Tonfall, der Satan zögern ließ. Wären sie unter sich gewesen, hätte er vielleicht nachgehakt, so aber wandte er sich wieder seinen anderen Generälen zu.

 

Unvermittelt kommen und gehen die verschiedensten Erinnerungen, während Maos Unterbewusstsein versucht, ihm eine wichtige Botschaft zu schicken.

 

Mao erwischte Ashiya, wie er den Topf mit Ramen, den ihnen gerade ihre Nachbarin vorbeigebracht hatte, mißtrauisch musterte.

Ashiya, komm schon, die Sache ist einen Monat her. Du glaubst doch nicht wirklich, dass Suzuno das Essen, das sie uns schenkt, immer noch mit heiliger Energie vergiftet?“

Ashiya schnitt nur eine Grimasse. „Mylord, ich wage es, Euch daran zu erinnern, dass ich wochenlang an Magenproblemen litt.“

Ich esse es gerne“, rief Urushihara ohne von seinem Laptop aufzusehen. Vielsagend streckte er die Hand aus, bereit, die Schüssel für sich zu deklarieren.

Ashiya warf ihm einen finsteren Blick zu und murmelte etwas von „verdammter Gefallener“, bevor er sich dazu entschied, die Schüssel doch auf den Tisch zu stellen.

 

 

Wir brauchen dich bei diesem Kampf.“ Auffordernd reichte Suzuno seinem General eine kleine Flasche und dieser trank die konzentrierte heilige Energie ohne zu zögern.

 

Mao war nicht dabei, als dies geschah, er kämpfte gerade an einer anderen Front, aber in seinem Traum mischt sich Fantasie mit Wirklichkeit und er wird Zeuge, wie sich diese so wunderschönen rabenschwarzen Schwingen in ein strahlendes Weiß verwandeln.

Und er hasst es.

Er hasst es bis aufs Blut.

 

Ein Wort, und die lästige Gruppe Engel verschwand gehorsam. Verdutzt starrte Mao seinen General an. Dieser zuckte nur mit den Schultern.

Engelshierarchie. Ich bin ein Erzengel, schon vergessen?“

 

Plötzlich wird er von einem strahlend weißem Licht geblendet. Er blinzelt angestrengt. Es dauert lange, bis sich seine tränenden Augen daran gewöhnt haben, aber dann schiebt sich eine kleine, warme Hand in seine.

Papa.“

Alas-chan?“ erstaunt senkt er den Kopf. „Was machst du hier?“

Sie sagt nichts und starrt nur nach vorne. Er folgt ihrem Blick. Das blendende Licht ist auf einen handtellergroßen Fleck zusammengeschrumpft, aus dessen Zentrum sich allmählich das Abbild einer kleinen Flasche herauskristallisiert.

Unwillkürlich stockt Mao der Atem. Ihm sträuben sich die Nackenhaare und er weicht instinktiv einen kleinen Schritt zurück.

Heilige Energie!

Papa.“

Er dreht sich nach der Stimme um und da steht Alas-chan und sieht aus großen, violetten Augen zu ihm auf. Sie streckt die Hand nach ihm aus und er ergreift sie sofort. In dem Moment, wo sich ihre Finger berühren, wo ihre kleine Hand ganz in seiner verschwindet, beginnt es, Federn zu regnen. Flauschige, strahlendweiße Federn.

Die Federn eines Engels.

Automatisch fischt er mit seiner freien Hand eine davon aus der Luft und noch während er sie voller Ehrfurcht betrachtet, verändert sie ihre Farbe. Aus dem blendenden Weiß wird ein liebliches schwanenweiß und dann kann er zusehen, wie sie sich langsam erneut verfärbt – als würde sie sich langsam damit vollsaugen – zu einem wunderschönen, geheimnisvoll schimmernden Rabenschwarz.

 

In diesem Moment öffnet Mao die Augen und ist sofort hellwach.

Jetzt weiß er, was er zu tun hat.

 

-Papa.-

-Alas-chan?-

Er ist nicht wirklich darüber erstaunt, die Stimme seiner Ziehtochter in seinem Kopf zu hören. Es gab eine Zeit, da waren sie miteinander verbunden, da war sie in seinem Kopf – buchstäblich – es ist nur natürlich, dass diese alte Verbindung noch existiert.

-Hatten wir beide denselben Traum, Alas-chan?-

-Ich glaube schon, Papa.-

Nachdenklich nagt Mao ans einer Unterlippe herum. Geradezu überdeutlich spürt er Urushiharas Körper dicht an seinem und schlingt unwillkürlich seinen Arm noch fester um dessen Taille.

-Ich kann das nicht von dir verlangen, Alas-chan...-

-Er ist MEIN Lucifer, Papa.-

Und plötzlich verändert sich ihre Gedankenstimme. Jetzt klingt sie unangenehm erwachsen:

-Cur non ego ipse cogito?- Warum habe ich nicht selbst daran gedacht?

-Nein, Alas-chan, nicht. Du bist noch ein Kind. Das ist nicht deine Aufgabe.-

Sie schweigt einen Moment.

-Fürwahr- erwidert sie dann immer noch mit dieser Erwachsenenstimme. Es ist das uralte Wesen in ihr, wird ihm plötzlich klar. -Dieses Gehirn ist noch zu jung. Aber das, was ich tun kann, werde ich tun.-

Er spürt, wie sie sich aus seinem Geist zurückzieht.

-Warte.-

Tatsächlich kommt sie noch einmal zurück. Sie sagt nichts, aber er kann ihren fragenden, neugierigen Blick spüren. Es ist ein unheimliches Gefühl, bei dem er eine Gänsehaut bekommt.

Obwohl sich seine Gedanken regelrecht überschlagen, will ihm jetzt nicht einfallen, wieso er sie bat, zu warten.

Ihr Amüsement weht durch seinen Geist wie eine laue Sommerbrise.

-Schlaf-, befiehlt sie ihm dann und gibt ihm damit von seiner eigenen Medizin zu kosten.

Und während er in einen traumlosen, tiefen Schlaf fällt, öffnet ein kleines Mädchen im Zimmer unter ihm die Augen.

 

XXXVII. Kapitel

 

 

Mao erwacht, weil draußen auf dem Fenstersims ein Rabe sitzt und laut krächzt. Noch schlaftrunken, starrt er auf das ungewohnte Bild. Die Wolken hängen immer noch tief, es sieht kalt aus, aber es schneit nicht mehr. Und trotz des fahlen Lichts, schimmern die Federn des Raben in einem satten, geheimnisvollen Schwarz.

Und unwillkürlich muss er an andere, schwarze Flügel denken und eine große Wehmut schleicht sich in sein Herz. Das Wissen darum, was er und Alas-Ramus planen, macht es nicht besser. Ein leises Murmeln und dann schlingen sich ein Arm und ein Bein höchst besitzergreifend um ihn. Lächelnd dreht Mao den Kopf und betrachtet seinen tief schlafenden General, der sich hier so entschlossen an ihn kuschelt, liebevoll.

Es gibt Wichtigeres als die Frage, ob ihm schwarze oder weiße Flügel besser gefallen. (Schwarze, es sind schwarze!)

Ein leises Klicken lässt ihn den Kopf in die andere Richtung drehen.

Ashiya, der gerade aus dem Badezimmer kommt, schon in Jeans, Hausschuhen und Wollpullover, schenkt ihm ein freundliches Lächeln, sobald er die Aufmerksamkeit seines Königs auf sich gerichtet sieht.

„Guten Morgen, Mylord“, begrüßt er ihn flüsternd, um Urushihara nicht zu wecken. „Habt Ihr gut geschlafen?“

Mao nickt und windet sich sehr, sehr vorsichtig unter Urushiharas Umklammerung hervor. Der schnauft beschwerend, jedoch ohne aufzuwachen und als Mao ihm als Ersatz sein Kissen zuschiebt, umarmt Urushihara es sofort, presst sein Gesicht hinein und versinkt ansatzlos wieder in tiefem Schlummer.

Zufrieden schlüpft Mao aus dem Bett, nimmt Ashiya am Ellbogen und zieht ihn mit sich hinaus auf den Flur. Die Tür lässt er einen Spaltbreit geöffnet, so dass er seinen schlafenden General jederzeit im Auge behalten kann.

„Ashiya“, wispert er seiner Rechten Hand ins Ohr, „ich weiß, wie wir Lucifer sein Augenlicht wieder zurückgeben können.“ Aufgeregt erläutert er ihm seinen und Alas-Ramus' Plan und Ashiya hört ernst zu.

Dann nickt er einmal, während sein Blick nachdenklich auf der Gestalt auf dem Bett ruht.

„Das erscheint mir wie eine erfolgversprechende Idee, Mylord. Aber wenn ich eine Anmerkung machen dürfte...?“ er hält inne und wirft Mao einen fragenden Blick zu. Als dieser einfrig nickt, fährt er bedächtig fort:

„Keine Heimlichkeiten. Weiht Lucifer in Euren Plan ein. Das ist sein gutes Recht und außerdem möchten wir doch, dass er uns vertraut, oder? Auch weil er uns im Rückblick nie viel vertraut hat, sollten wir dies jetzt als Gelegenheit sehen, das ein für allemal zu ändern. Ich bin es ehrlich gesagt leid, in ihm nur einen Alliierten zu sehen, es ist einfach nur anstrengend, nicht zu wissen, woran man bei ihm ist, nur, weil uns unser gegenseitiges Mißtrauen im Weg steht. Ich will ihm vertrauen.“ Er zögert kurz, denkt kurz darüber nach und erklärt dann im Brustton der Überzeugung:

„Ich vertraue ihm. Aber einer muß den ersten Schritt machen, damit er uns wieder vertraut.“

Seine goldbraunen Augen bohren sich nachdrücklich in die seines Königs. Es ist ein Blick, unter dem diesen ganz anders wird. Mao schluckt einmal und nickt dann.

„Ich verstehe. Ja, du hast Recht. Wie immer hast du Recht.“

Wie auf ein stilles Kommando schweifen ihre Blicke wieder zurück ins Zimmer.

„Ich bin so froh, dass ihr zwei jetzt endlich Freunde seid“, lächelt Mao dann und drückt Ashiyas Arm.

Zu seiner großen Überraschung senkt Ashiya den Blick, während seine Wangen plötzlich eine aparte Röte ziert.

„Ja, nun“, räuspert er sich verlegen. „Es fällt mir leichter als gedacht, Mylord. Solange Ihr nur glücklich seid“, fügt er dann noch brüsk hinzu, nickt ihm noch einmal grüßend zu und dreht sich dann um.

Aber da Ashiya ihm schon lange nichts mehr vormachen kann, gluckst Mao nur vergnügt in sich hinein und geht dann wieder zurück ins Zimmer.

Inzwischen liegt Urushihara alle Viere von sich gestreckt auf dem Rücken und nimmt derart fast das gesamte Bett ein. Die Decke ist ihm bis knapp auf den Oberschenkel gerutscht und da ist eine deutliche Ausbuchtung im Schritt seiner Pyjamahose zu sehen und irgendwie bekommt Mao bei diesem Anblick einen merkwürdigen Appetit.

Leise schließt er die Tür hinter sich und leckt sich einmal unbewußt über die Lippen, um dann mit einem animalischen Glitzern in den Augen aufs Bett zuzuhechten.

 

 

Es ist kalt. Fröstelnd vergräbt Lucifer die Hände in in den Taschen seines schwarzen Ledermantels und schlägt einmal mißmutig mit den Flügeln.

Vor seinen Augen breitet sich genau dasselbe Szenario aus, das er heute durch Maos Augen sehen durfte. Nur sitzt diesmal auf dem Dach der Blockhütte nicht ein Rabe, sondern Gabriel. Ein Augenblinzeln später sitzt Lucifer neben ihm und sie betrachten gemeinsam dem düsteren Wald vor ihnen, der im immer stärker werdenden Schneetreiben zu versinken droht.

Er ist sehr geschickt darin, andere zu überzeugen“, beginnt Gabriel plötzlich völlig übergangslos neben ihm. Er muss nicht erklären, wen er meint. „Er weiß genau, wo ihre Schwachstellen liegen und wo er ansetzen muss, um sie für sich zu gewinnen.“

Lucifer spürt die kalten Finger des Zweifels nach sich greifen, doch diesmal wischt er sie beiseite.

Ich glaube ihm.“

Nein, du MÖCHTEST ihm glauben.“

Lucifer zieht nur schweigend die Knie an seine Brust und schlingt seine Arme darum. Ein kalter Luftzug streift ihn und zerzaust seine Federn.

Und glaubst du wirklich, dass Alciel sich plötzlich um dich sorgt? Hmmm? Oder sorgt er sich nicht eher nur um seinen König und darum, dass für diesen alles glatt läuft? Du bist doch nichts weiter als eine Miezekatze am Hof Ihrer Majestät, die von allen gehegt und gepflegt wird, damit Ihre Majestät mit ihr spielen kann, wann immer es Ihrer Majestät beliebt.“

Halt die Klappe.“

Was unterscheidet deinen Satan Jacobu da noch von Gott?“

Stumm schüttelt Lucifer den Kopf.

Es ist nicht echt.“

Das ist mir egal“, platzt es aus Lucifer heraus und er funkelt den Erzengel neben sich aufgebracht an. „Es ist mir egal, hörst du?“

Aus der Ferne weht plötzlich eine ihm nur allzu vertraute Stimme heran.

Hmmmm... te amo.“

Und dann trifft ihn so etwas wie eine Schockwelle und ihm wird ganz heiß.

 

Übergangslos schlägt Urushihara die Augen auf. Im ersten Moment ist er verwirrt. Warum ist es so dunkel? Doch dann fällt es ihm wieder ein und in der nächsten Sekunde bemerkt er etwas wirklich Beängstigendes: er kann sich nicht rühren.

Schon wieder.

Aber bevor ihn die Panik übermannt, überrollt ihn eine Woge der süßesten, wärmsten Erregung und ehe er es sich versieht, durchfährt ihn eine Welle elektrisierender Wärme, von seiner Körpermitte ausgehend und er kann sich wieder bewegen.

Seine Finger landen in weichen Locken und verkrallen sich instinktiv darin, während seine Hüften nach oben stoßen, um noch mehr von diesem verrückt machenden Wärme, von diesen feuchten Mund zu erhaschen. Sein gesamter Unterleib fühlt sich an, als stünde er in Flammen und das Zentrum bildet seine steinharte Erregung, die diesen warmen Mund so wunderbar füllt und seine Hoden, die sich so perfekt an diese rauhen, sanften Finger schmiegen.

Mao gibt einen zufriedenen Laut von sich und die Vibration seiner Stimmbänder ist alles, was fehlt, um ihn über die Klippe zu stoßen.

„Hölle", hört er sich selber japsen und dann explodiert seine Welt regelrecht.

Ein Zucken ist die einzige Vorwarnung, dann füllt sich Maos Mund mit einer sämigen, warmen Flüssigkeit, die er ohne zu zögern schluckt. Er erinnert sich daran, was Urushihara bei ihm tat und so schluckt er auch alles so gut er kann und entlässt ihn erst aus seinem Mund, als er auch sicher ist, dass kein einziger Tropfen verschwendet wird.

Zitternd und keuchend und völlig knochenlos liegt Urushihara vor ihm und ringt nach Luft. Sein Geist und seine Seele schweben immer noch irgendwo auf Wolke Sieben und es gleicht einem Kraftakt, wieder zurück ins Hier und Jetzt zu finden.

Sein Atem geht immer noch schwer und stockend und dazu hat sich ein leichtes Rasseln gesellt.

Mao hält damit inne, sich über Urushiharas Bauch nach oben zu lecken und wirft ihm einen besorgten Blick zu.

„Lucifer", behutsam legt er seinen Kopf auf dessen Brustkorb und lauscht angestrengt. „Das klingt nicht gut. Ist alles in Ordnung mit dir?“

Urushihara nickt schwach. Seine Hände landen auf Maos Kopf und streicheln träge durch diese weichen Locken.

„Mir geht's gut“, bringt er schließlich hervor. „Sehr gut sogar. Hölle, so aufzuwachen, daran könnte ich mich gewöhnen.“

„Ja?“, schmunzelt Mao verschmitzt und schiebt sich weiter an ihm hoch. „Das kannst du haben.“ Sein leises Wispern gegen Urushiharas Lippen ist nicht mehr als ein sanfter Hauch, ein Atmen, das diesen wohlig erschauern lässt. „Weißt du, ich bin vielleicht noch nicht so gut darin wie du, aber wie du dich sicher erinnerst, lerne ich sehr schnell.“

Sanft, unglaublich zärtlich, senkt er sein Mund auf Urushiharas und schlüpft mit seiner Zunge durch dessen halbgeöffnete Lippen. Er schmeckt seltsam und es dauert eine Weile, bis Urushihara begreift, dass dieser ungewohnte Nachgeschmack sein eigener Samen ist und ...oh wow, diese Geschmacksmischung steht Mao wirklich gut!

Unwillkürlich seufzt er in ihren Kuß hinein und schlingt Mao beide Arme um den Nacken, zieht ihn noch tiefer in diesen Kuss hinein und noch fester an und auf sich.

Mao ist größer und schwerer als er und normalerweise würde er sich in dieser Position sehr unwohl fühlen, doch alles, was er jetzt spürt, ist Wärme, Geborgenheit und Sicherheit.

 

 

Eine Etage unter ihnen sitzt die Heldin von Ente Isla in ihrem rosa Flanellpyjama auf ihrem Bett, ihre Handtasche in den Händen und mustert ihre Ziehtochter skeptisch.

Alas-Ramus sitzt neben ihr, vor sich ein kleines Fläschchen, das ungefähr einen Viertelliter Flüssigkeit fasst und ihre violetten Augen bohren sich unnachgiebig in Emis grüne, während sie verlangend die rechte Hand ausstreckt.

„Die andere Flasche auch, Mama.“

 

 

 

XXXVIII. Kapitel

 

 

Sie riechen nach Meeresalgen und Kräuter-Shampoo, ihre Haut ist von der heißen Dusche noch ganz erhitzt und ihre Haare noch feucht.

Fertig angekleidet für den Tag sitzen sie auf dem riesigen Bett und Urushihara trägt wieder einen von Maos Hoodies, diesmal einen, der schon seinem König etwas zu groß ist und natürlich dann für ihn erst recht und Mao muss zugeben, es ist einfach nur ein entzückender Anblick, wie sein General in diesem weichen, flauschigen Fleece regelrecht versinkt.

Mao muss wirklich an sich halten, um ihn nicht zu Tode zu knuddeln.

Versonnen lässt Mao Strähne um Strähne von Urushiharas dunkelviolettem Haares durch seine Finger gleiten, während er mit der anderen Hand den Föhn hält. Er achtet peinlich genau darauf, dass der warme Luftstrom nicht zu heiß wird. Er föhnt gerne die Haare anderer Leute. Früher gab es nur Ashiya, bei dem er das machen durfte, dann kam Alas-Ramus. Und nun kann er sich sogar endlich einen jahrhundertealten Wunsch erfüllen, von dem er erst jetzt, wo er ihn wahr werden lassen kann, weiß, dass er ihn hegte.

Mao ist so zufrieden, dass er, ohne es selbst zu bemerken, eine langsame Melodie vor sich hin zu summen beginnt.

Urushiharas Augenbrauen zucken belustigt in die Höhe, doch er spart sich jedes spöttische Kommentar. Er will diese ruhige, friedliche Atmosphäre zwischen ihnen nicht zerstören. Bisher war es ein traumhafter Morgen – er wurde mit einem Blowjob geweckt, wurde geküsst und gehalten und unter der Dusche dann weiter verwöhnt ohne danach verlangt zu haben und ohne dass von ihm eine Gegenleistung erwartet wurde (nicht, dass er sie nicht trotzdem gab, denn er steht nicht auf Almosen) und jetzt fühlt er sich herrlich erfrischt und zugleich auch angenehm träge und das Gefühl von Maos Fingern in seinem Haar jagt ihm angenehme Schauer über den Rücken.

Nein, so etwas muss man genießen, so lange man kann.

Trotzdem wird er das nagende Gefühl nicht los, dass irgend etwas nicht stimmt. Es ist nicht seine übliche Paranoia oder sein erlittenes Trauma des beinahe-Erfrierens, das immer irgendwie am Rande seines Bewusstseins lauert – und das wahrscheinlich auch noch eine ganze Weile dort verharren wird – nein, das hier ist simpler.

Wenn er doch nur etwas sehen könnte! Ein Blick in Maos Miene und er würde wissen, was diesen jetzt schon wieder umtreibt.

Wenn er es mir nicht sagt, bis wir das Zimmer verlassen haben, dann frage ich ihn einfach danach, schwört er sich stumm.

Es ist, als habe Mao seine Gedanken gelesen, denn plötzlich hört er auf zu summen, schaltet den Föhn aus und legt ihn beiseite. In der plötzlichen Stille kann Urushihara Maos tiefen Seufzer ganz deutlich hören und eine angespannte Nervosität erwacht in seinem Magen.

Die Matratze knarrt leise, als Mao von hinten die Arme um ihn schlingt und dann das Kinn auf Urushiharas linke Schulter stützt.

„Lucifer, cor meum...“ seine Stimme ist ein sanftes Raunen dicht an Urushiharas Ohr und zugleich ziemlich bedeutungsschwanger, so dass sich Urushihara unwillkürlich anspannt. „Alas-Ramus und ich haben einen Weg gefunden, wie du dein Augenlicht zurück erhälst.“

Urushihara erstarrt regelrecht. Für einen Moment ist sein Gehirn wie leergefegt.

„W-was?“ bringt er dann schließlich mit schwacher Stimme heraus. Wider besseren Wissen keimt in ihm so etwas wie ein kleiner Funken Hoffnung auf.

Haben sie einen Weg gefunden, wie wir zurück auf den roten Mond kommen?

„Alas-Ramus und ich teilten uns heute einen Traum und haben dabei die Lösung gefunden“, aufgeregt drückt Mao ihn an sich. „Sie war die ganze Zeit vor unseren Augen und wir haben sie nur einfach nicht gesehen. Dabei ist es so simpel. Anstatt uns auf dämonische Energie zu verlassen, können wir doch nehmen, was Emi die ganze Zeit immer in ihrer Handtasche mit sich herumschleppt.“

Urushihara spürt, wie ihm alle Farbe aus dem Gesicht weicht. Seine Kehle ist plötzlich wie zugeschnürt.

Alles in ihm sträubt sich mit aller Macht gegen diesen Gedanken.

„Das ist eine nette Idee und ich weiß das wirklich zu schätzen“, erwidert er betont ruhig und mit einem wohldosierten Hauch von Herablassung, „aber das wird nicht funktionieren. Erstens glaube ich nicht, dass Emi ihre Heilige Energie für Notfälle freiwillig herausrückt, schon gar nicht für mich und zweitens würde ein Schluck da nicht genügen. Ich bräuchte alles. Die ganze Flasche. Am besten sogar zwei.“ Als Mao daraufhin nur ein leises Brummen von sich gibt, das alles andere als überzeugt klingt und sich darüberhinaus nur weiterhin an ihn schmiegt, als würde ihn gar nichts davon berühren-

ja, weil er sich seine Meinung schon längst gebildet hat – greift Urushihara zu dem Nächstbesten, was ihm auf die Schnelle einfällt:

„Und drittens“, fährt er triumphierend fort, „würde ich mit dieser Menge an Heiliger Energie in meinem Blut auf Gottes Radar aufleuchten wie eine Supernova. Und findet sie mich, findet sie auch euch und damit auch Alas-Ramus.“

So, das sollte ihn umstimmen, oder? Mao würde doch gewiß niemals seine Ziehtochter bewußt in Gefahr bringen.

Doch zu seinem großen Erstaunen lacht Mao nur leise. Und drückt ihm einen Kuß auf die Wange.

„Na und? Dann bekämpfen wir sie eben. Wir haben bisher jeden besiegt, den Gott auf uns angesetzt hat. Sogar Gabriel und der ist der Stärkste ihrer Gefolgsleute.“

„Gabriel ist müde. Er hat verloren, weil es ihm egal ist, ob er verliert oder gewinnt.“ In seiner Stimme liegt so viel Sympathie, dass Mao unwillig die Stirn runzelt. Zum Glück kann Urushihara das nicht sehen und Mao gelingt es sogar, sich auch sonst nichts anmerken zu lassen.

Er klingt sogar regelrecht übermütig, als er antwortet:

„Nun, wenn Gott uns angreift, dann bist du doch auf unserer Seite, der mächtigste Erzengel von allen.“

Touchez. Unwillkürlich krallen sich Urushiharas Finger etwas fester in die Decke unter ihm. Oh, er hätte wissen müssen, dass Mao das gegen ihn verwendet.

„Die Wirkung von Emis Zaubertrank wird nicht lange genug anhalten. Das hier ist die Erde, ohne Speichereinheit fließt die Heilige Energie aus mir genauso heraus wie die dämonische.“

„Nachdem sie dich geheilt hat.“ Maos Stimme ist das Grinsen überdeutlich anzuhören. „Lucifer, das ist alles, was für uns zählt. Allen anderen Problemen stellen wir uns, wenn sie auftauchen. Wie immer.“

„Ja, sorglos wie immer“, platzt es aus Urushihara unwillkürlich heraus. Jetzt wirklich wütend windet er sich aus Maos Umarmung und dreht sich zu ihm um.

„Das Risiko-“

„Blablabla“, unterbricht ihn Mao.

Urushihara bleibt für einen Moment glatt die Spucke weg. Er glaubt, sich verhört zu haben.

„Was?“

„Du hast schon richtig gehört“, kommt es seelenruhig zurück. „Das sind doch alles Ausflüchte, Lucifer. Cor meum“, fügt er hinzu, um seinen Worten etwas die Schärfe zu nehmen. Er legt seine Hände an Urushiharas Oberarme und drückt einmal sanft, aber nachdrücklich zu.

„Ich glaube, du weißt schon längst, dass die Heilige Energie deine einzige Chance ist. Wieso sonst drehen sich deine ganzen Träume immer darum, in den Himmel zurück zu kehren?“ Er bemüht sich um einen besonders sanften, verständnisvollen Tonfall und während er redet, wandert seine rechte Hand über Urushiharas Schulter und seinen Hals hoch zu seinem Gesicht. Als Urushihara unwillkürlich seine Wange gegen Maos Handfläche schmiegt, senkt sich Maos Stimme zu einem liebevollen Schnurren. „Oh, cor meum, te amo, sed video per te.“ Oh mein Herz, ich liebe dich, aber ich durchschaue dich.. „Es geht nicht um Gott oder darum, dass du deine Heimat vermisst, sondern nur um die unbegrenzte Heilige Energie, die es dort gibt. Ganz tief in dir drinnen weißt du, dass sie die einzige Chance auf Heilung ist. Und das einzige, was dich davon abhält, Emis konzentrierte Heilige Energie zu trinken, ist nicht die Befürchtung, dass du dann in ihrer Schuld stehst-“

„Wann hab ich das je gesagt?“ protestiert Urushihara scharf, pflückt Maos Hand von seiner Wange und rutscht ein paar Zentimeter zurück.

Aber Mao lässt sich davon nicht beeindrucken und redet ungerührt weiter.

„- oder deine Sorge um Alas-Ramus, denn wir wissen beide, dass du sie gegen alles und jeden mit deinem Leben beschützt, genau wie jeder andere von uns und verdammt nochmal, gegen diese geballte Power hat niemand eine Chance, nicht einmal Gott. Und Gabriel ist nicht müde, er weiß das auch und deshalb haben wir diesen Waffenstillstand, nur deshalb!“

Mao holt einmal tief Luft und langt nach urushiharas Händen, um sie fest zu halten. Ob wohl er weiß, dass es keinen Sinn macht, starrt er intensiv in diese schönen, violetten Augen.

„Nein, Lucifer, der einzige Grund, weshalb du zögerst, ist deine abgefuckte, toxische Beziehung zu Gott. Du willst nichts mehr mit ihr zu tun haben und daher auch nichts mit Heiliger Energie. Ein paar Tropfen sind in Ordnung, wenn du dadurch kämpfen und beschützen kannst. Aber wenn es darum geht, dich zu heilen, da stellst du dich auf einmal quer. Lucifer, wir waren gemein zu dir, das stimmt, aber derjenige, der am Gemeinsten zu dir ist, das bist du selbst. Hör endlich auf, dir selbst im Weg zu stehen. Nimm unsere Hilfe an. Nimm unsere Freundschaft an. Nimm meine und Alas-Ramus' Liebe an.“

Ohne sich dessen bewußt zu sein, ist er näher gerückt, bis er ganz dicht vor Urushihara kniet und presst dessen Hände nun ganz fest gegen seine Brust.

Urushihara kann ganz deutlich seinen Herzschlag spüren und ohne dass er es will, schmilzt etwas in ihm dahin. Und ehe er es sich versieht, lehnt er seine Stirn gegen Maos Schulter. Sekundenlang sitzen sie nur so da und dann seufzt Urushihara einmal ganz tief auf.

„Jetzt weiß ich es wieder.“

„Was?“

„Wie du all diese Clane auf deine Seite gezogen hast, obwohl sie deinen großen Plan nie kapierten. Du hast sie so lange bequatscht, bis ihnen der Kopf schwirrte und sie ja sagten, nur, um ihre Ruhe zu haben.“

Mao grinst nur. Er weiß, dies ist das Äußerste an Zustimmung, das er von dem gefallenen Engel in dieser Sache bekommen wird, aber für ihn ist das völlig ausreichend.

„Bist du bereit?“ fragt Mao ihn nach einer Weile, in der sich keiner von ihnen gerührt hat.

Urushihara nimmt seinen Kopf von Maos Schulter – die sich daraufhin furchtbar leer anfühlt – richtet sich gerade auf und nickt dann wortlos. Er sieht blaß aus und wirkt nervös.

„Hey, alles wird gut, das verspreche ich dir“,  die Stimme zu einem leisen, aufmunternden Gurren senkend, legt er die Finger seiner rechten Hand unter Urushiharas Kinn und dirigiert seinen Kopf ein wenig höher, damit er ihn besser küssen kann. Es wird ein sehr sanfter, bedächtiger Kuß und Mao legt all seine Liebe hinein und er weiß, er macht alles richtig, als Urushihara in gewohnter Art und Weise gegen ihn schmilzt.

Oh, er weiß genau, was er als allererstes zu seinem General sagen wird, sobald dieser ihn wieder sehen kann.

 

IXL. Kapitel

 

Etwas liegt in der Luft und das ist nicht der verlockende Duft von Ashiyas Miso-Suppe. Urushihara bemerkt schnell, dass etwas nicht stimmt. Er bemerkt es sofort, sobald sie das Zimmer verlassen und das Gefühl verstärkt sich, als er sich vorsichtig die Treppe hinunter tastet, Mao immer dicht hinter ihm. Da liegt eine Spannung in der Luft, die immer stärker und greifbarer wird je näher sie dem Erdgeschoß kommen. Die Geräuschkulisse, dieses ständige Murmeln, bestehend aus Ashiyas, Emis, Chihos und Alas-Ramus' Stimmen  verstummt sogar für einen Moment ganz, als die erste Stufe unter seinen Füßen knarrt. Für einen Herzschlag ist es totenstill und dann ist nur noch Geschirrklappern und das Öffnen und Schließen des Kühlschranks zu hören. Das ist so irritierend, dass er fast die nächste Stufe verfehlt hätte. Doch Mao schlingt sofort seinen stützenden Arm um seine Taille und rettet ihn, noch bevor er selbst erkennt, dass er gerettet werden muss. Ab da lässt sich Urushihara protestlos von ihm die restlichen Stufen hinab helfen. Sie sind noch nicht ganz unten, da ruft Alas-Ramus laut „Papa ! Luuuucifer!" und rennt jauchzend zu ihnen.

Im Hintergrund tadelt Emi: „Nicht so wild, Alas-chan".

Kurz vor der Treppe bleibt das Kleinkind stehen und hüpft aufgeregt auf und ab, doch sie wartet, bis Mao und Urushihara sicher die letzte Stufe hinter sich gebracht haben, dann umarmt sie stürmisch Urushiharas Knie.

Der lächelt nur nachsichtig. Er hört sie immer ankommen, nicht zuletzt dank ihres klimpernden Bettelarmbands, außerdem weiß er, wie wild sie sein kann, also erschrickt er sich nicht.

Sie ist so aufgeregt, dass sie ihren Ziehvater glatt vergisst.

„Lucifer. Lucifer. Guten Morgen. Lucifer.  Du wirst wieder gesund. Gib mir deine Hand." Und schon spürt er, wie sich ihre kleinen warmen Finger mit einer erstaunlichen Kraft um seine rechte Hand schließen.  „Komm. Komm."

Eifrig zieht sie ihn an der Hand hinter sich her zum Esstisch. Sie achtet weder auf Maos „nicht so hastig" noch auf Urushiharas amüsiertes „ich komme ja schon." Am Tisch angekommen, drängt sie ihn rigoros auf einen Stuhl.

Setz dich", befiehlt sie. „Warte."

Dann klettert sie auf den leeren Stuhl neben ihm, um an die beiden Fläschchen heranzukommen, die in der Mitte des Tisches stehen. Emi, die auf der anderen Seite des Tisches sitzt, schiebt sie ihr lächelnd entgegen. 

Alas-Ramus schnappt sich eines davon, berührt vielsagend Urushiharas Hand und als dieser sie gehorsam ausstreckt, drückt sie ihm die Flasche in die Hand.

„Trink das", befiehlt sie ihm dann. „Das ist Heilige Energie. Das wird dir helfen."

Er zögert, orientiert sich an dem Geruch von Emis typischen Parfüm und dreht den Kopf in diese Richtung.

„Ist dir das wirklich recht, Emi?"

Emi ist baß erstaunt, wie zielsicher er sie findet. Kein Wunder, dass es ihnen nie auffiel, dass er nichts sieht.

„Ich bin doch kein Unmensch", erwidert sie betont mürrisch, um ihre plötzliche Verlegenheit zu übertünchen. Nie hätte sie gedacht, dass er Wert auf ihr Einverständnis legt. Und dann versetzt er ihr den nächsten Schock.

„Dankeschön."

Sie winkt nur verlegen ab, sagt aber nichts, denn das würde die ganze Sache schließlich nur noch peinlicher machen.

„Das ist wirklich sehr nett von dir, Emi“, Mao wirft ihr einen ehrlich verwunderten Blick zu. „Ehrlich gesagt, befürchtete ich schon, Alas-chan würde das Elixier einfach aus deine Handtasche stibitzen. Ich bin wirklich froh, dass das wohl nicht nötig war“, fügt er dann lächelnd hinzu, während er Alas-Ramus über den Kopf streichelt.

„Ph“, macht Emi nur und hebt die Nase etwas höher in die Luft, „meine Tochter ist gut erzogen. Sie fragt mich, wenn sie etwas will. Sie hat es nicht nötig, zu stehlen.“

„Mamas Handtasche hing zu hoch für mich“, zwitschert Alas-Ramus unbekümmert. „Und Ashiya sagt immer, ich soll nicht auf Stühle klettern.“ Doch plötzlich, von einer Sekunde auf die andere, wird sie ernst.

„Trink", fordert sie Urushihara ungeduldig auf, der damit – sehr zu seinem Leidwesen – wieder in die allgemeine Aufmerksamkeit rückt.

„Ja, bitte, trink", sagt da auch Chiho.

„Mach schon", drängt Ashiya. „Alas-chan will partout nicht frühstücken, bevor du das nicht getrunken hast."

„Na los doch", fällt da Mao in all diese Aufforderungen ein. Er stellt sich neben Urushihara und legt ihm ermunternd eine Hand auf die Schulter. „Runter mit dem Zeug."

Urushihara fühlt sich unangenehm unter Druck gesetzt und würde viel lieber noch einmal gründlich darüber nachdenken, doch vor allem Alas klingt so hoffnungsvoll, er will sie nicht enttäuschen. Und so kreuzt er in Gedanken die Finger, öffnet die Flasche und hebt sie an seine Lippen.

 

Halt! Stop! durchfährt ihn plötzlich eine scharfe Stimme, die wie Gabriels klingt. Denk doch nach, du Dummkopf.

Wenn du nicht mehr blind bist, wird alles wieder so sein wie früher.

 

Urushihara stockt mitten in der Bewegung.

 

Und Mao wird dich nicht mehr lieben.

 

Urushihara läuft bei diesem Gedanken ein eisiger Schauer über den Rücken und für einen Moment spürt er sie wieder: diese frostige Kälte. Diese Einsamkeit. Diese Hoffnungslosigkeit.

 

Nein. Entschieden schiebt er all das weit fort. Wenn das ihm ausreicht, mich nicht mehr zu lieben, dann hat er mich nie geliebt.

 

„Lucifer?" Maos leise, besorgte Stimme holt ihn zurück ins Hier und Jetzt. Seine Hand auf Urushiharas Schulter wandert zu seinem Nacken und krault sanft seinen Haaransatz. Es ist, als habe er seine Gedanken gelesen und wolle ihm nun dadurch versichern, dass er immer an seiner Seite steht. Und ihn aufrichtig liebt.

 

Entschlossen kippt Urushihara den Inhalt der Flasche hinunter.

 

 

Mao beobachtet ihn gespannt, sucht in seinem Gesicht nach einem Anzeichen, irgend einen - einem minimalen Zucken, einer Veränderung der Hautfarbe oder einem energetischen Aufglühen unter der blassen Haut - irgend etwas, das ihm verrät, dass es funktioniert. 

Er ist nicht der einzige, dessen Blicke wie gebannt an Urushihara hängen, jeder von ihnen hält unwillkürlich den Atem an und hofft mit aller Kraft.

Urushihara kann diese Blicke fühlen, sie brennen sich ihm regelrecht unter die Haut.

„Ich glaube, es wirkt", gibt er ihnen daher einen ersten Zwischenstand, als er die erste Flasche geleert hat.

Es ist nicht seine Arr, Zwischenergebnisse zu berichten, er bevorzugt es, das Ergebnis abzuwarten, aber diese gespannte Neugier um ihn herum lässt ihm gar keine Wahl mehr. Und es ist keine Lüge. Auch wenn das hier nicht zum üblichen Energieschub führt, so spürt er doch etwas: ihm wird warm. Die Wärme beginnt in seinem Magen und breitet sich von dort bis in den letzten Winkel seines Körpers aus. Es ist unangenehm, denn es fühlt sich an, als würde eine  Armee glühender Ameisen unter seiner Haut krabbeln.

Yep, das ist alles andere als normal.

„Nächste." Auffordernd drückt ihm Alas-Ramus die zweite Flasche in die Hand.

Gehorsam beginnt Urushihara zu trinken, wenn auch sehr viel langsamer als vorher, denn schließlich hat er schon dreihundert Milliliter intus.

Ungefähr ab der Hälfte halten die Ameisen in seinem Nacken eine Versammlung ab und drei Schlucke später wandern sie zur After-work-Party in seinem Hinterkopf.

„Au." Sofort stellt er die Flasche fort und greift sich mit den Händen an den Hinterkopf.

„Lucifer?" hört er Maos besorgte Stimme wie durch einen wattigen Nebel.

Bevor er irgendwie antworten kann, bohrt sich ihm ein weißglühender Draht von hinten durch den Kopf in die Augen. Der Schmerz ist so heftig, dass sich ihm der Magen umdreht. Das letzte, was er spürt, ist, wie er zur Seite wegkippt und von starken Armen aufgefangen wird.

 

 

„Lucifer."

Mao kniet auf dem Parkett vor dem Tisch, hält Urushihara fest an seine Brust gedrückt und wiegt ihn dabei unbewusst in seinen Armen, wie er es immer bei Alas-Ramus macht, um sie zu trösten.

Urushihara ist kreidebleich und auf seiner Stirn glänzt kalter Schweiß, aber wenigstens haben jetzt auch die letzten Zuckungen aufgehört.

Mao blieb fast das Herz stehen, als ihm sein General so plötzlich in die Arme fiel und dann zu krampfen begann. Für ein paar Minuten hatte er echte Panik, die sich erst legte, als der Anfall vorüber war.

Emi, Chiho und Ashiya knien und sitzen in einem lockeren Kreis um sie herum, während Alas-Ramus, die während der Anfälle in sicherem Abstand auf Emis Schoß gesessen hat, jetzt, sobald Emi es ihr erlaubte, neben Urushiharas Beinen sitzt und dessen Knie streichelt. Sie summt ein Lied vor sich hin, dessen Text ihnen allen irgendwie auf der Zunge liegt, aber an den sie sich nicht erinnern können, doch dafür hat diese Melodie etwas unheimlich Beruhigendes an sich.

„Das war eine echt heftige Reaktion." Emis leise Stimme unterbricht die schockierte Stille, die seit einer gefühlten Ewigkeit herrscht. Es ist, als habe sie einen Damm gebrochen, denn plötzlich finden auch alle anderen ihre Stimme wieder.

„Armer Lucifer", murmelt Chiho und wirft Mao einen Blick aus großen, ängstlichen Augen zu. Sie ist so schockiert, dass sie unwillkürlich seinen wahren Namen benutzt. „Das bedeutet aber nicht, dass es schlimmer geworden ist, oder, Mao-sama?"

„Nein", antwortet ihr Ashiya bevor Mao auch nur den Mund öffnen kann. „Das bedeutet, dass es wirkt." Und auf Chihos entsetzte Miene erklärt er bereitwillig: „Heilung ist selten schmerzlos, Chiho-chan.“

Chiho-chan. Bei dieser Anrede spürt Chiho, wie sich ihre Lippen zu einem riesigen Lächeln verziehen. Sie fühlt sich, als wäre sie endlich in seinen kleinen, privaten Kreis Auserwählter aufgenommen worden.

„Da gibt es keinen Unterschied zwischen Menschen, Dämonen oder Engeln. Obwohl ich zugeben muss“, fügt er zögernd hinzu, „dass mich dieses Ausmaß hier erschreckt.“ Plötzlich runzelt er die Stirn. „Oder doch eher, wie sehr es mich mitnimmt, unseren Hikikomori so zu sehen.“

Chiho gluckst leise.

„Du magst ihn. Und das ist kein Verbrechen, Ashiya.“

In Ashiyas Wangen schleicht sich eine gewisse Röte, als er geflissentlich ihrem Blick ausweicht. Doch er widerspricht ihr nicht, wie Chiho zufrieden feststellt. Diese Ferienreise mag für sie eine unangenehme Erfahrung bereitgestellt haben, aber immerhin haben sie alle zu so etwas wie einer Familie zusammengefunden und alleine dafür hat es in ihren Augen gelohnt.

Und mehr noch... zaudernd streckt sie den Arm aus und ergreift Urushiharas Hand, die schlaff auf dem Fußboden neben ihm liegt und drückt sie behutsam. Abermals zögert sie, doch dann legt sie ihre andere Hand tröstend auf Maos Schulter.

Der hebt bei dieser Berührung sein Gesicht aus Urushiharas Haarschopf und blinzelt sie fragend an.

Sie nickt ihm nur zu und schenkt ihm ein aufmunterndes Lächeln, während Ashiya auf Maos anderer Seite genau dasselbe macht.

Und plötzlich, zum ersten Mal, fühlt sie, was es wirklich bedeuten kann, Maos General zu sein. Jedenfalls, wenn man sich – so wie sie – Ashiyas als Vorbild ausgesucht hat.

Emi, die das ganze beobachtet, seufzt einmal tonlos auf und starrt wieder grimmig auf den bewußtlosen Urushihara. Sie fühlt sich ziemlich nutzlos und unbeholfen – selbst in Ente Isla hat sie immer einen großen Bogen um die Verwundeten gemacht, wenn diese schon von anderen versorgt wurden und sich lieber zurück ins Schlachtgetümmel gestürzt als den Doktoren und Priestern über die Schulter zu sehen.

Sie kann damit einfach nicht umgehen. Aber weggehen kann sie jetzt auch nicht, denn erstens will sie ihre Ziehtochter nicht alleine lassen und zweitens ist sie neugierig und will wissen, ob sie nun ihre eiserne Notreserve an Heiliger Energie umsonst verschwendet hat oder nicht.

Sie fragt sich, ob es etwas zu bedeuten hat, dass er seine Flügel nicht zurückbekommen hat. Irgendwie hatte sie fest damit gerechnet.

Plötzlich kehrt das Leben in Urushihara zurück. Leise stöhnend hebt er seine freie Hand hoch zu seiner Stirn, lässt sie auf halben Wege aber wieder kraftlos sinken.

„Urgh, mein Kopf.“ Seine Stimme ist nicht mehr als ein erschöpftes Wispern.

„Cor meum." Maos Stimme ist ein regelrechtes Gurren, als er ihm zärtlich durchs Gesicht streichelt. „Wie fühlst du dich?"

Gespannt richtet sich Alas- Ramus auf. „Ist Lucifer wieder gesund?"

Stöhnend dreht sich Urushihara mehr in Richtung dieser warmen, soliden, nach Vanille duftenden Wärmequelle und vergräbt sein Gesicht in Maos weichem Fleecehoodie. 

„Mein Kopf tut weh", murmelt er dabei.

Mao sagt nichts, er drückt ihn nur an sich und streichelt ihm durchs Haar. Urushihara versucht, den sengenden Schmerz hinter seinen Augen zurück zu drängen, indem er tief und gleichmäßig atmet. Maos Hand in seinem Haar und sein stetiger, kräftiger Herzschlag helfen ihm dabei.

„Bin gleich wieder da“, zwitschert Alas-Ramus plötzlich und ehe sie jemand aufhalten kann, springt sie auf und rennt aus dem Raum.

Noch während Emi überlegt, ob sie ihr folgen soll, kehrt die Kleine schon zurück. In ihrer Hand hält sie Okto, den sie in Urushiharas schlaffe Hand drückt, sobald sie wieder neben ihm sitzt.

Ihre Aktion läßt auch Ashiya aus seiner Schockstarre erwachen, der sich überlegt, dass ein Kühlpack keine schlechte Idee wäre und sich daher schnell in die Küche zum Kühlschrank begibt. Wortlos kommt er kurz darauf wieder zurück und kniet sich neben sie. Da Urushihara sein Gesicht immer noch an Maos Schulter presst, ist es schwierig, ihm das Kühlpack auf Stirn oder Augen zu legen, aber sobald Urushihara die wohltuende Kälte spürt, dreht er ihm automatisch seinen Kopf zu. Mit einem erleichterten „Danke, Ashiya", nimmt er das Kühlpack an sich und presst es gegen seine Augen.

Es hilft. Der Schmerz verschwindet nicht, aber er wird erträglich, so sehr, dass er

allmählich auch alles andere um sich herum außer Mao wieder wahrnimmt. Er fühlt Alas-Ramus' kleine Hände an seinen Knien und Chihos Hand, wie sie tröstend seinem Rücken streichelt und er kann Ashiyas und Emis Gegenwart spüren. Das ist zuviel auf nüchternen Magen. All diese Aufmerksamkeit und Sorge wird ihm zunehmend unangenehm.

Also umklammert er Okto etwas fester, hofft, dass ihm das Stofftier Glück bringt und wagt ein erstes Blinzeln. 

 

 

XL. Kapitel

 

 

Leise rieselt Schnee von einem Ast. Sofort streckt Urushihara die rechte Hand aus und fängt etwas davon auf, um es dann fasziniert auf seiner behandschuhten Handfläche zu betrachten. Wie strahlend sich das Weiß von der roten Wolle doch abhebt! Wenn er sich konzentriert, kann er sogar sehen, wie sich einzelne Fäden mit den weißen Flocken vermischen. Dort, wo der Schnee schmilzt, glitzern kleine Wassertröpfchen auf der Wolle in allen Farben des Regenbogens, wenn ein Sonnenstrahl sie trifft.

Wie wunderschön!

Warum hat er früher nie auf so etwas geachtet?

Als er die Hand wieder sinken lässt, bewundert er kurz das Spiel von Licht und Schatten auf dem dunkelgrauen Kunstwildleder seines Mantelärmels und wie sanft sich der Pelzbesatz in einer leichten Windböe bewegt.

Wieder streckt Urushihara den Arm aus, doch diesmal, um jenen Baum zu berühren, von dem eben dieser Schnee fiel. Gedankenverloren fährt er mit seinen Fingern die tiefen Furchen in der Rinde nach. Durch die Wolle seiner Handschuhe spürt er sie nur gedämpft, doch er kann sie sehen. Er sieht, wie seine Finger über die senkrechten Spalten fahren, er sieht das graugrüne Moos und wie es in feinen Krümeln an seinen Handschuhen hängenbleibt.

Er ist froh, dass sie sich zu einem gemütlichen Waldspaziergang entschlossen haben und nicht wieder zu einer wilden Rodelpartie. Er möchte sehen und das auch ganz bewusst genießen.

So richtig fassen kann er es immer noch nicht und in unregelmäßigen Abständen durchzuckt ihn ein zweifelnder Gedanke wie „es ist zu schon, um wahr zu sein“, doch dann fixiert er sein Augenmerk auf etwas in seinem derzeitigen Sichtfeld – eine Farbe, eine Form, heruntergefallenem Schnee auf seinem Handschuh – und lässt sich von den warmen Gefühlen, die ihn dabei ergreifen, absichtlich vereinnahmen, bis es ihm absolut egal ist, ob das hier wahr ist oder nicht.

Sein Augenlicht kehrt genauso allmählich zurück, wie er es zuvor verlor. In der ersten Viertelstunde konnte er nur hell und dunkel unterscheiden, dann kristallisierten sich langsam Farben und Formen heraus und weil er es nicht erwarten konnte, hob er seine Hand, in der er Okto hielt und so war das das allererste, was er sah, dieses Kuscheltier.

Und er stellte fest, dass sein selbstgestricktes Spielzeug gar nicht so häßlich ist, wie alle immer behaupteten. Ja, die Maschen sind etwas krumm und schief an einigen Stellen, und die Farbkombination ist auch gewöhnungsbedürftig, aber häßlich ist Okto nicht.

 

Okto ist nicht häßlich“, protestierte Alas-Ramus auch sofort lautstark, als er ein entsprechendes Kommentar machte.

Das habe ich doch so auch gar nicht gemeint“, versuchte er sie sofort hastig zu besänftigen, doch es war schon zu spät.

Sie schmollte. Und das tat weh, denn so war sie noch nie zu ihm. Die nächsten Minuten verbrachte er damit, sich wieder mit ihr zu vertragen und darüber wurde sogar seine zunehmend bessere Sehkraft nebensächlich.

Und so war das zweite, was er ganz klar und deutlich erkennen konnte, ihr fröhliches Lächeln, als sie ihm verzieh und sich in seine Arme warf.

Und, oh Hölle, wie hatte er dieses Lächeln doch vermisst!

 

Jetzt, in der vierten Stunde, sieht er das meiste zwar immer noch verschwommen, aber es wird kontinuierlich besser. Immerhin sieht er schon alles in einem Abstand von einem Meter gestochen scharf.

Bis zum Nachmittag wird es so sein, als wäre nie etwas geschehen. Als wäre er nie erblindet.

Die zwei Flaschen reichten gerade aus, um seine Sehnerven zu heilen – und seinen lästigen Husten – aber für anderes blieb nichts mehr übrig.

Es genügte nicht einmal, um seine Flügel zu materialisieren. Aber er kann sie ganz deutlich spüren – Phantomschwingen, die aus seinem Rücken sprießen, ein verlockendes Versprechen, dass er nur einen einzigen Schluck mehr bräuchte oder eine einzige negative Emotion eines x-beliebigen Menschen und er wäre wieder vollständig. Nicht mächtig, aber vollständig. Und je nachdem, welche Form der Energie er absorbieren würde, sähe die Farbe seiner Federn aus.

Doch das ist etwas, woran er erstaunlicherweise keinen ernsthaften Gedanken verschwendet. Vielleicht morgen, wenn die Magie, die in seinen Knochen summt, bis dahin nicht wieder erloschen ist. Schließlich ist die Heilung seiner Sehnerven noch nicht vollständig abgeschlossen.

Aber er kann sehen.

Er kann sehen.

„Alles in Ordnung?“

Urushihara weicht wieder vom Baum zurück und schenkt seinem König ein kleines Lächeln.

„Ja“, erwidert er knapp. Ohne dass er es bemerkt, wandert seine rechte Hand hoch zu seiner linken Brust. Sein Herz pocht plötzlich wie verrückt.

Mao ist so … atemberaubend. Die grüne Mütze und die Handschuhe und der Schal in derselben Farbe, sowie der hellblaue Mantel harmonieren perfekt mit seinem Teint, den dunklen Locken und den roten Augen. Dazu noch die dunklen Jeans und diese Fellstiefel.

Ashiya weiß es wirklich, seinen König vorteilhaft zu kleiden – und das trotz ihres immer so knappen Budgets!

Fröhliches Kinderlachen reißt ihn aus seinen schwärmerischen Gedanken und unwillkürlich dreht er den Kopf in die Richtung, aus der das Geräusch kommt.

„Vorsichtig, Alas-chan“, sagt Ashiya, während er dem Kleinkind umsichtig über einen umgestürzten Baum hilft. Die Kleine, für Urushihara im Moment nicht mehr als ein verschwommener, rosaroter Farbklecks, lacht abermals vergnügt und für einen Moment fängt sich ein Sonnenstrahl in ihrem Haar und lässt es silbern aufleuchten. So hell und strahlend, dass selbst er es deutlich sehen kann.

Sie folgen etwas, von dem Urushihara nicht weiß, ob es sich dabei wirklich um einen Weg oder nur um einen Wildwechsel handelt. Es liegen jedenfalls ziemlich viele Felsbrocken und Baumstämme im Weg.

Emi und Chiho, fröhlich miteinander schwatzend, helfen sich gegenseitig über das Hindernis und dann dreht sich Chiho zu ihnen um, als wolle sie sehen, wo sie bleiben.

Aus dieser Entfernung kann er ihre Miene nicht erkennen, aber er spürt ihr Lächeln und als sie winkt, winkt er unwillkürlich zurück.

Von einem plötzlichen, warmen Gefühl ergriffen, bleibt er stehen und lässt seine Blicke noch ein mal über diese vier Farbkleckse schweifen. Es ist Mittag und die Sonne steht im Zenit eines wolkenlosen, stahlblauen Himmels. Goldenes Sonnenlicht fällt durch das Geäst der Bäume und lässt den Schnee aufglitzern. Ein märchenhafter Anblick, den Urushihara gierig in sich aufsaugt.

„Urushihara!“ schreit Ashiya plötzlich. „Sonnenbrille!“

Schuldbewußt zuckt Urushihara zusammen und schiebt sich besagte Sonnenbrille vond er Stirn wieder zurück auf die Nase.

Mao neben ihm kichert leise. „Er ist so eine Glucke, nicht wahr?“

Urushihara nickt nur zustimmend, spart sich aber jedes Kommentar. Er will nicht lügen, denn eigentlich findet er es ganz schön, wie sich der Iron Scorpion um ihn sorgt. Es ist ungewohnt, aber es fühlt sich gut an.

Langsam, Seite an Seite, setzen sie sich in Bewegung und folgen den anderen, die inzwischen schon einen ziemlich großen Vorsprung haben.

Doch schon nach drei Metern hält Mao plötzlich inne und Urushihara bleibt automatisch ebenfalls stehen.

„Lucifer. Cor meum. Da ist etwas, was ich dir schon die ganze Zeit sagen wollte, nur waren wir bisher nie allein.“

„Oh. Muss ich mir Sorgen machen?“ Obwohl er versucht, lässig zu klingen, kann er doch nicht ganz die Anspannung aus seiner Stimme vertreiben.

Jetzt kommt es, flüstert Gabriels Stimme in seinem Hinterkopf und mit ihr lauert plötzlich wieder die altbekannte Kälte am Rande seines Bewußtseins.

Mao streckt beide Hände aus und schiebt Urushihara entschlossen die Sonnenbrille wieder hoch in die Stirn. Für die Dauer eines Herzschlages starrt er ihn einfach nur an, dann holt er einmal tief Luft, umfasst das Gesicht seines Generals mit beiden Händen und sieht ihm ernst in die Augen.

„Siehst du mich?“ fragt er ihn. „Kannst du mein Gesicht deutlich erkennen?“

Urushihara nickt beklommen.

„Gut.“ Mao holt noch ein weiteres Mal tief Luft. „Lucifer“, beginnt er dann und starrt eindrücklich in dessen violette Augen. „Te amo. Als ich dir diese Worte vor dreihundert Jahren sagte, waren sie wahr, und heute sind sie es mehr denn je.

Er spricht langsam und deutlich, betont jedes einzelne Wort und versucht, sich von Urushiharas intensiven Blick, der die ganze Zeit prüfend über seine Miene huscht, nicht verunsichern zu lassen. Er weiß, dass Urushihara in seiner Miene nach Mikroausdrücken sucht, nach jenen unbewussten Anzeichen, die eine Lüge von der Wahrheit unterscheiden.

Jedes seiner Worte ist ernst gemeint und in Gedanken drückt er ganz fest die Daumen, dass sein General dies auch erkennt.

Jetzt, wo sein Hauptsinn wieder funktioniert, muss er doch verstehen, dass dies hier die Realität ist.

Plötzlich weiten sich Urushiharas Augen kurz und seine sonst immer so kontrollierte Miene wird auf einmal ganz weich und sanft.

„Sie sind tatsächlich wahr“, murmelt er mit belegter Stimme.

„Dann glaubst du mir jetzt?“ hakt Mao atemlos nach.

„Ja. Ja, ich glaube dir.“

Mao ist nicht naiv, er weiß, dass dies hier nur ein kleiner, erster Schritt ist, dass Urushiharas Schlafstörungen – die Alpträume, das Schlafwandeln und die Paralyse - nicht plötzlich verschwinden, nur, weil er jetzt wieder sehen kann und deshalb nicht mehr an der Realität zweifelt, aber es ist ein wichtiger Schritt auf einem langen Weg, den sie gemeinsam gehen werden.

Überglücklich senkt er den Kopf und küsst Urushihara sanft auf den Mund. Er versucht, all seine Dankbarkeit und Liebe, die er für ihn empfindet, in diesen einen süßen Kuss zu legen und obwohl er es inzwischen gewohnt sein sollte, macht sein Herz einen aufgeregten Sprung, als Urushihara diesen Kuss sofort bereitwillig entgegnet.

Und plötzlich wird dieser Kuss gieriger und kompromissloser als jemals zuvor und er fühlt sich am Mantelkragen gepackt und nach hinten gedrängt. Und dann spürt er auf einmal einen Baum im Rücken und von vorne presst sich Urushihara mit seinem gesamten Körpergewicht gegen ihn und Urushiharas Zunge in seinem Mund nimmt ihm den Atem und oh, er schmeckt so, so, so gut...

Urushihara zeigt eine völlig ungewohnte Leidenschaft, so unverfälscht und stürmisch, so wild und hitzig wie noch nie zuvor. Er ist wie eine Naturgewalt. Jede Gegenwehr ist von vorneherein vergebens.

Unwillkürlich keucht Mao in diesen unglaublichen Kuss hinein und krallt seine Finger haltsuchend in Urushiharas Rücken. Ihm wird schwindlig und auch die Knie werden ihm ganz weich, doch er weiß nicht, ob das an diesen Kuss oder dem zunehmenden Sauerstoffmangel liegt. Vielleicht auch am Blutverlust, denn das rauscht ihm zunehmend in südlichere Gefilde.

Als Urushihara nach einer gefühlten, süßen Ewigkeit von ihm ablässt, entfährt Mao etwas, das wie ein enttäuschtes Winseln klingt. Entschlossen umfasst er Urushiharas Gesicht mit beiden Händen und zieht ihn wieder zu sich heran. Es folgt ein sanfter, geradezu bedächtiger Kuss, in dessen Verlauf sich - das fühlt Mao genau - ihre Atmung und ihr Herzschlag angleichen, bis sie völlig synchron schwingen.

Wieder ist es Urushihara, der den Kuss beendet, aber diesmal lässt Mao es zu.

„Rwy'n dy garu di."

„Hm?" blinzelt Mao benommen. Er hat sich bestimmt verhört, oder? Diese Worte hat sein General noch niemals zu ihm gesagt.

„Ich liebe dich", wiederholt Urushihara leicht atemlos und blickt ihm dabei tief in die Augen. „Und nochmal wiederhole ich das nicht."

„Hmmm", summt Mao glücklich. „Aber nachher vielleicht?"

Urushiharas Lippen verziehen sich zu einem verschmitzten Lächeln.

„Vielleicht."

Er weicht einen halben Meter zurück, zwinkert ihm schelmisch zu und schiebt sich lässig die Sonnenbrille zurück auf die Nase. 

„Kommst du jetzt?" Auffordernd streckt er ihm die Hand entgegen. „Wir sollten uns beeilen, wenn wir die anderen noch einholen wollen."

Mao würde viel lieber mit ihm zurück in die Blockhütte und dort unaussprechliche Dinge mit ihm anstellen, doch dann denkt er an Alas-Ramus, seufzt innerlich und ergreift die ausgestreckte Hand seines Generals.

 

 

Epilog

 

Vorsichtig, behutsam, um kein verräterisches Geräusch von sich zu geben und seinen tief schlafenden Freund

(Freund, es fühlt sich immer noch ungewohnt an, derart von Ashiya zu denken)

nicht zu stören, rutscht Urushihara noch etwas weiter zurück, bis er mit dem Rücken an den Kühlschrank stößt.

Jedes Geräusch sorgsam vermeidend, stützt er die Ellbogen auf seinen Knien ab, hebt die neue Spiegelreflex-Kamera vor seine Augen und betrachtet durch den Sucher die Szenerie, die sich vor ihm ausgebreitet hat:

Ashiya, auf der Seite liegend, tief schlafend, beschienen vom silbernen Mondlicht, das durch das Fenster ins Apartment hineinscheint.

Vielleicht ist es kein besonders aufregender Anblick, immerhin schläft Ashiya jede Nacht, aber irgend etwas an dieser Szene berührt Urushiharas Herz.

Außerdem – was hat er von seiner Kamera, Maos Geschenk – wenn er sie nicht benutzt? Sie war teuer genug. Ashiya wurde richtig bleich, als er den Preis sah.

Nur eine Stunde später erschien Emi mit Alas-Ramus, murmelte etwas von „der liegt eh nur bei mir unnütz herum“ und drückte ihm einen Laptop in die Hand, bevor sie sich wie üblich bei ihnen selbst zum Abendessen einlud.

Da eine digitale Kamera ohne einen Computer mit der entsprechenden Software ziemlich nutzlos ist, wußte er, dass die beiden sich abgesprochen hatten und das war mal wieder so viel unerwartete Freundlichkeit, dass er sich vor Verlegenheit am Liebsten irgendwo verkrochen hätte. Früher wäre er einfach in seinen Schrank geflüchtet, doch diese Option steht ihm jetzt nicht mehr zur Verfügung, denn schon am ersten Tag nach ihrer Rückkehr aus ihrem Kurzurlaub hatte Mao nicht nur einen Futon gekauft, der für sie beide groß genug war, sondern auch seine übliche Schlafstelle mit irgendwelchem Gerümpel vollgestellt, so dass er gar keine Möglichkeit mehr hatte, sich dort hineinzuquetschen, selbst, wenn er es gewollt hätte.

Zuerst war es irgendwie komisch und sein Rückzugsort fehlte ihm, doch er gewöhnte sich schnell um und wenn er jetzt mal seine Ruhe braucht und ihm alles zu viel wird, schnappt er sich seine Kamera und geht spazieren.

Es gibt so viel zu sehen.

Obwohl es schon achtzehn Tage her ist und alles wieder zur Normalität zurückkehrt, hat er diese Momente. Diese überraschenden Momente am Tag (oder in der Nacht), an denen alles in ihm innehält. Und dann ist er von so viel Staunen und Ehrfurcht erfüllt, dass er glaubt, sein Herz platze gleich, denn die Welt ist voller Schönheit und er kann sie sehen. Aber das genügt nicht. Es reicht nicht, das nur zu sehen. Er muss es festhalten und bewahren. Und so kam er zu seinem neuen Hobby und glücklicherweise ist Mao Hals über Kopf in ihn verliebt und bereit, ihm jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Wie diese Kamera.

Manchmal fühlt er sich schäbig, weil er bisher nur nimmt und nichts zurückgibt, aber er hofft, dass sich das bald ändern wird, nämlich dann, wenn es ihm gelingt, mehr von diesen selbstgebastelten Kuscheltieren über Jungle zu verkaufen. Erstaunlicherweise gibt es tatsächlich eine gewisse Nachfrage für diese Art von Spielzeug und irgendwann wird er hoffentlich genug Geld damit verdienen, um Mao, Ashiya und allen anderen ihre verdammte Freundlichkeit mit kleinen Geschenken zurück zahlen zu können.

Mao... Urushihara seufzt einmal ganz tief innerlich auf, als er den Auslöser drückt. Hölle, er vermisst ihn.

Der Dämonenkönig hat Nachtschicht bei MgRonald's und Urushihara kann nicht wirklich gut schlafen, wenn Mao nicht neben ihm liegt. Ashiya gibt sich Mühe, aber er … nun ja, er ist nunmal nicht Mao. Er riecht nicht wie Mao und er fühlt sich auch nicht so an wie Mao. Er atmet auch ganz anders als Mao.

Neben ihm zu liegen ist einfach nicht dasselbe, als wenn Mao ihn in seinen Armen hält.

Urushihara hasst diese psychische Abhängigkeit, in die er gerutscht ist, doch auch diese Selbstverachtung läßt von Tag zu Tag nach und mit jedem Stück, den dieses quälende Gefühl verschwindet, schleicht sich etwas anderes heran, von dem er nie gedacht hätte, dass er es irgendwann je wieder fühlen könnte: Sehnsucht. Dieses bitter-süße, kribbelnde Gefühl des sehnsüchtigen Wartens auf die Heimkehr desjenigen, ohne den man sich nicht vollständig fühlt. Dicht darunter lauern natürlich seine üblichen Verlustängste, doch damit kommt er klar, weil Mao immer zu ihm zurückkehrt. Schon wegen Ashiya, denn der regt sich für sie beide auf, wenn Mao sich verspätet und vergißt, ihm Bescheid zu geben. Urushihara kennt das zwar nur aus Erzählungen, weil das einzige Mal, wo das passierte, geschah, bevor er dazustieß, doch seitdem hütet sich Mao sehr, den Ärger seiner Rechten Hand wegen solcher unnötigen Kleinigkeiten auf sich zu ziehen. Früher hätte sich Urushihara darüber lustig gemacht (und das hat er auch), aber jetzt ist er froh über Ashiyas Überfürsorglichkeit.

Wenn einem eine solche Glucke wie Ashiya den Rücken stärkt, dann ist das wirklich eine gewisse Erleichterung. Und seitdem Ashiya angefangen hat, seine Gluckenflügel auch über ihm auszubreiten, fühlt er sich zunehmend entspannter. Es tut einfach unheimlich gut. Und zum ersten Mal seit Tausenden von Jahren fühlt es sich an, als habe er endlich seinen Platz gefunden.

Es wird nicht ewig halten, flüstert die kleine Stimme in seinem Hinterkopf. Sie klingt immer noch wie Gabriels, doch sie ist leiser geworden und meldet sich nur noch sporadisch.

Nichts hält ewig, entgegnet ihr Urushihara im Gedanken, denn niemand weiß das besser als er. Aber -

ich werde darum kämpfen, dass es so lange anhält wie möglich.

Denn wenn er eines kann, dann das: kämpfen.

Plötzlich vernehmen seine hypersensiblen Ohren das Geräusch leiser Schritte, wie sie erst die Treppe heraufkommen, dann das Schaben der verzogenen Korridortür, gefolgt von weiteren Schritten und dann dreht sich verstohlen ein Schlüssel im Schloß. Sein Herz, das schon beim ersten Geräusch schneller zu schlagen begann, macht nun einen regelrechten Sprung, als sich die Tür öffnet, dann wieder schließt und jemand auf Zehenspitzen zu ihm schleicht.

Vanilleduft, fast erstickt von Bratenfett, umhüllt ihn, als Mao einen Arm um seine Schultern schlingt und ihm einen kleinen Kuß auf die Wange drückt.

„Kannst du wieder nicht schlafen? Alpträume? Paralyse? Schlafwandeln?“ flüstert er besorgt, denn auch wenn Urushiharas Schlafstörungen allmählich nachlassen, sind sie noch nicht gänzlich verschwunden und Mao hasst nichts mehr als diese Nachtschichten, in denen er nicht hier sein kann, um auf seinen Engel aufzupassen. Er muss sich zwar keine Sorgen machen, weil Ashiya in dieser Hinsicht übervorsichtig ist und jede Nacht, bevor er sich hinlegt, mindestens dreimal überprüft, ob ja auch alles gut abgeschlossen und gesichert ist, aber es ist immer noch etwas völlig anderes, wenn er hier ist und Urushihara beschützend in seinen Armen halten kann.

Urushihara schenkt ihm ein beruhigendes Lächeln.

„Nichts dergleichen. Ich bin einfach früh aufgewacht und konnte nicht mehr einschlafen.“ Dann reicht er ihm seine Kamera und lehnt sich zufrieden an Maos Seite, wahrend sich dieser die Bilder auf dem Display ansieht.

„Wirklich süß“, wispert er dann, während er einen sichernden Blick zu dem immer noch schlafenden Ashiya hinüberwirft. Er schlummert tatsächlich tief und fest. Das ist erfreulich, denn früher war er, wenn Mao Nachtschicht hatte, schon beim geringsten Klicken des Türschlosses hellwach. Ganz allgemein scheint er jetzt viel entspannter geworden zu sein. Mao hegt den leisen Verdacht, dass das viel damit zu tun hat, dass Urushihara ihm jetzt ab und an im Haushalt hilft und sie ganz einfach freundlicher miteinander umgehen als in den letzten dreihundert Jahren.

„Aber lass ihn das nicht sehen. Du weißt, er hasst es, wenn du ihn im Schlaf fotografierst.“

Urushihara versteckt sein Gesicht schnell an Maos Brust, um sein Kichern zu ersticken.

„Mit ein Grund, wieso ich das mache“, gibt er verschmitzt zu.

„Du bist echt unmöglich.“

„Aber du liebst mich trotzdem, oder?“ Mao hört die leichte Unsicherheit aus diesen scherzhaft klingenden Worten heraus, legt die Kamera aus der Hand und umarmt ihn ganz fest.

„Oh ja. Sehr sogar.“

So sehr, dass es schmerzt, von ihm getrennt zu sein, aber das ist etwas, was er ihm irgendwann später einmal sagen wird. Jetzt steht ihm der Sinn nach etwas ganz anderem.

„Ich muss duschen, ich stinke nach Bratfett. Kommst du mit?“

„Ich dachte schon, du fragst nie.“

Mit einem breiten, vorfreudigen Grinsen zieht Mao ihn mit sich auf die Füße und dann in das kleine Bad. Als die Schiebetür hinter ihnen leise ins Schloß klickt, ist es für einen Atemzug noch still im Raum, dann dringt aus Ashiyas Richtung ein verstohlenes Kichern, als er sich auf die andere Seite dreht und sich zufrieden in seine Decke kuschelt. Sein Instinkt weckte ihn, als er hörte, wie sein König die Treppe hinaufkam, doch er stellte sich weiter schlafend. Es ist zu warm und gemütlich und in der nächsten halben Stunde werden die beiden bestimmt nicht aus dem Bad kommen, es schadet also nicht, wenn er noch ein paar Minuten vor sich hindöst, bevor er aufsteht und das Frühstück zubereitet.

Wo sie dann alle drei an einem Tisch sitzen werden.

Gemeinsam.

Friedlich.

So, wie er es sich, seit Urushihara bei ihnen hier eingezogen ist, immer gewünscht hat.

 

 

- ENDE -

 



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Kommentare zu dieser Fanfic (2)

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Von:  Witch23
2023-01-11T12:55:55+00:00 11.01.2023 13:55
Was für ein "netter" Einstieg.

Aber wenn es in der Vorlage wirklich steter tenor ist das solange er nicht blutend am Boden liegt etwas gemacht wirds ist es wieder verständlich. aber dennoch Es ist schon heftig.

Bin gespannt auf das was da so noch kommt.
Antwort von:  MariLuna
11.01.2023 15:22
In der Light Novel lag er mal 2 Wochen im Krankenhaus und es interessierte sie nicht :-( im Anime sind sie viel netter und bei mir sowieso XD und hier ist das eher Unsicherheit und da er eindeutig keine Hilfe will, akzeptieren sie diese Entscheidung. Man will sich ja nicht aufdrängen und so... ist wie bei kranken Katzen, die verkriechen sich ja auch und man fängt sich u.U. Tatzenhiebe ein. Natürlich lässt sich ein erfahrener Dosenöffner davon nicht beeindrucken.
Antwort von:  Witch23
11.01.2023 16:02
und auch bei Katzen sollte man der sache nachgehen. Nur das die es nicht zeigen, sogar verbergen und eben nichtmal mit ihnen reden kann um zu erfahren ob es irgendwo zwackt.
Antwort von:  MariLuna
11.01.2023 16:55
Stimmt. Zum Glück habe ich einen sehr mitteilsamen Kater, wenn der wach ist und nicht rummaunzt, ist das immer ein deutliches Zeichen, dass was nicht stimmt. ^^ beim anderen ist es etwas schwieriger. XD
aber bei Lucifer, Alciel und Mao ist das hier eben ein Mischmasch aus Stolz, Angst vor Abweisung und Unsicherheit auf allen Seiten.


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