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Mein ist die Dunkelheit

von

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IXL. Kapitel

 

Etwas liegt in der Luft und das ist nicht der verlockende Duft von Ashiyas Miso-Suppe. Urushihara bemerkt schnell, dass etwas nicht stimmt. Er bemerkt es sofort, sobald sie das Zimmer verlassen und das Gefühl verstärkt sich, als er sich vorsichtig die Treppe hinunter tastet, Mao immer dicht hinter ihm. Da liegt eine Spannung in der Luft, die immer stärker und greifbarer wird je näher sie dem Erdgeschoß kommen. Die Geräuschkulisse, dieses ständige Murmeln, bestehend aus Ashiyas, Emis, Chihos und Alas-Ramus' Stimmen  verstummt sogar für einen Moment ganz, als die erste Stufe unter seinen Füßen knarrt. Für einen Herzschlag ist es totenstill und dann ist nur noch Geschirrklappern und das Öffnen und Schließen des Kühlschranks zu hören. Das ist so irritierend, dass er fast die nächste Stufe verfehlt hätte. Doch Mao schlingt sofort seinen stützenden Arm um seine Taille und rettet ihn, noch bevor er selbst erkennt, dass er gerettet werden muss. Ab da lässt sich Urushihara protestlos von ihm die restlichen Stufen hinab helfen. Sie sind noch nicht ganz unten, da ruft Alas-Ramus laut „Papa ! Luuuucifer!" und rennt jauchzend zu ihnen.

Im Hintergrund tadelt Emi: „Nicht so wild, Alas-chan".

Kurz vor der Treppe bleibt das Kleinkind stehen und hüpft aufgeregt auf und ab, doch sie wartet, bis Mao und Urushihara sicher die letzte Stufe hinter sich gebracht haben, dann umarmt sie stürmisch Urushiharas Knie.

Der lächelt nur nachsichtig. Er hört sie immer ankommen, nicht zuletzt dank ihres klimpernden Bettelarmbands, außerdem weiß er, wie wild sie sein kann, also erschrickt er sich nicht.

Sie ist so aufgeregt, dass sie ihren Ziehvater glatt vergisst.

„Lucifer. Lucifer. Guten Morgen. Lucifer.  Du wirst wieder gesund. Gib mir deine Hand." Und schon spürt er, wie sich ihre kleinen warmen Finger mit einer erstaunlichen Kraft um seine rechte Hand schließen.  „Komm. Komm."

Eifrig zieht sie ihn an der Hand hinter sich her zum Esstisch. Sie achtet weder auf Maos „nicht so hastig" noch auf Urushiharas amüsiertes „ich komme ja schon." Am Tisch angekommen, drängt sie ihn rigoros auf einen Stuhl.

Setz dich", befiehlt sie. „Warte."

Dann klettert sie auf den leeren Stuhl neben ihm, um an die beiden Fläschchen heranzukommen, die in der Mitte des Tisches stehen. Emi, die auf der anderen Seite des Tisches sitzt, schiebt sie ihr lächelnd entgegen. 

Alas-Ramus schnappt sich eines davon, berührt vielsagend Urushiharas Hand und als dieser sie gehorsam ausstreckt, drückt sie ihm die Flasche in die Hand.

„Trink das", befiehlt sie ihm dann. „Das ist Heilige Energie. Das wird dir helfen."

Er zögert, orientiert sich an dem Geruch von Emis typischen Parfüm und dreht den Kopf in diese Richtung.

„Ist dir das wirklich recht, Emi?"

Emi ist baß erstaunt, wie zielsicher er sie findet. Kein Wunder, dass es ihnen nie auffiel, dass er nichts sieht.

„Ich bin doch kein Unmensch", erwidert sie betont mürrisch, um ihre plötzliche Verlegenheit zu übertünchen. Nie hätte sie gedacht, dass er Wert auf ihr Einverständnis legt. Und dann versetzt er ihr den nächsten Schock.

„Dankeschön."

Sie winkt nur verlegen ab, sagt aber nichts, denn das würde die ganze Sache schließlich nur noch peinlicher machen.

„Das ist wirklich sehr nett von dir, Emi“, Mao wirft ihr einen ehrlich verwunderten Blick zu. „Ehrlich gesagt, befürchtete ich schon, Alas-chan würde das Elixier einfach aus deine Handtasche stibitzen. Ich bin wirklich froh, dass das wohl nicht nötig war“, fügt er dann lächelnd hinzu, während er Alas-Ramus über den Kopf streichelt.

„Ph“, macht Emi nur und hebt die Nase etwas höher in die Luft, „meine Tochter ist gut erzogen. Sie fragt mich, wenn sie etwas will. Sie hat es nicht nötig, zu stehlen.“

„Mamas Handtasche hing zu hoch für mich“, zwitschert Alas-Ramus unbekümmert. „Und Ashiya sagt immer, ich soll nicht auf Stühle klettern.“ Doch plötzlich, von einer Sekunde auf die andere, wird sie ernst.

„Trink", fordert sie Urushihara ungeduldig auf, der damit – sehr zu seinem Leidwesen – wieder in die allgemeine Aufmerksamkeit rückt.

„Ja, bitte, trink", sagt da auch Chiho.

„Mach schon", drängt Ashiya. „Alas-chan will partout nicht frühstücken, bevor du das nicht getrunken hast."

„Na los doch", fällt da Mao in all diese Aufforderungen ein. Er stellt sich neben Urushihara und legt ihm ermunternd eine Hand auf die Schulter. „Runter mit dem Zeug."

Urushihara fühlt sich unangenehm unter Druck gesetzt und würde viel lieber noch einmal gründlich darüber nachdenken, doch vor allem Alas klingt so hoffnungsvoll, er will sie nicht enttäuschen. Und so kreuzt er in Gedanken die Finger, öffnet die Flasche und hebt sie an seine Lippen.

 

Halt! Stop! durchfährt ihn plötzlich eine scharfe Stimme, die wie Gabriels klingt. Denk doch nach, du Dummkopf.

Wenn du nicht mehr blind bist, wird alles wieder so sein wie früher.

 

Urushihara stockt mitten in der Bewegung.

 

Und Mao wird dich nicht mehr lieben.

 

Urushihara läuft bei diesem Gedanken ein eisiger Schauer über den Rücken und für einen Moment spürt er sie wieder: diese frostige Kälte. Diese Einsamkeit. Diese Hoffnungslosigkeit.

 

Nein. Entschieden schiebt er all das weit fort. Wenn das ihm ausreicht, mich nicht mehr zu lieben, dann hat er mich nie geliebt.

 

„Lucifer?" Maos leise, besorgte Stimme holt ihn zurück ins Hier und Jetzt. Seine Hand auf Urushiharas Schulter wandert zu seinem Nacken und krault sanft seinen Haaransatz. Es ist, als habe er seine Gedanken gelesen und wolle ihm nun dadurch versichern, dass er immer an seiner Seite steht. Und ihn aufrichtig liebt.

 

Entschlossen kippt Urushihara den Inhalt der Flasche hinunter.

 

 

Mao beobachtet ihn gespannt, sucht in seinem Gesicht nach einem Anzeichen, irgend einen - einem minimalen Zucken, einer Veränderung der Hautfarbe oder einem energetischen Aufglühen unter der blassen Haut - irgend etwas, das ihm verrät, dass es funktioniert. 

Er ist nicht der einzige, dessen Blicke wie gebannt an Urushihara hängen, jeder von ihnen hält unwillkürlich den Atem an und hofft mit aller Kraft.

Urushihara kann diese Blicke fühlen, sie brennen sich ihm regelrecht unter die Haut.

„Ich glaube, es wirkt", gibt er ihnen daher einen ersten Zwischenstand, als er die erste Flasche geleert hat.

Es ist nicht seine Arr, Zwischenergebnisse zu berichten, er bevorzugt es, das Ergebnis abzuwarten, aber diese gespannte Neugier um ihn herum lässt ihm gar keine Wahl mehr. Und es ist keine Lüge. Auch wenn das hier nicht zum üblichen Energieschub führt, so spürt er doch etwas: ihm wird warm. Die Wärme beginnt in seinem Magen und breitet sich von dort bis in den letzten Winkel seines Körpers aus. Es ist unangenehm, denn es fühlt sich an, als würde eine  Armee glühender Ameisen unter seiner Haut krabbeln.

Yep, das ist alles andere als normal.

„Nächste." Auffordernd drückt ihm Alas-Ramus die zweite Flasche in die Hand.

Gehorsam beginnt Urushihara zu trinken, wenn auch sehr viel langsamer als vorher, denn schließlich hat er schon dreihundert Milliliter intus.

Ungefähr ab der Hälfte halten die Ameisen in seinem Nacken eine Versammlung ab und drei Schlucke später wandern sie zur After-work-Party in seinem Hinterkopf.

„Au." Sofort stellt er die Flasche fort und greift sich mit den Händen an den Hinterkopf.

„Lucifer?" hört er Maos besorgte Stimme wie durch einen wattigen Nebel.

Bevor er irgendwie antworten kann, bohrt sich ihm ein weißglühender Draht von hinten durch den Kopf in die Augen. Der Schmerz ist so heftig, dass sich ihm der Magen umdreht. Das letzte, was er spürt, ist, wie er zur Seite wegkippt und von starken Armen aufgefangen wird.

 

 

„Lucifer."

Mao kniet auf dem Parkett vor dem Tisch, hält Urushihara fest an seine Brust gedrückt und wiegt ihn dabei unbewusst in seinen Armen, wie er es immer bei Alas-Ramus macht, um sie zu trösten.

Urushihara ist kreidebleich und auf seiner Stirn glänzt kalter Schweiß, aber wenigstens haben jetzt auch die letzten Zuckungen aufgehört.

Mao blieb fast das Herz stehen, als ihm sein General so plötzlich in die Arme fiel und dann zu krampfen begann. Für ein paar Minuten hatte er echte Panik, die sich erst legte, als der Anfall vorüber war.

Emi, Chiho und Ashiya knien und sitzen in einem lockeren Kreis um sie herum, während Alas-Ramus, die während der Anfälle in sicherem Abstand auf Emis Schoß gesessen hat, jetzt, sobald Emi es ihr erlaubte, neben Urushiharas Beinen sitzt und dessen Knie streichelt. Sie summt ein Lied vor sich hin, dessen Text ihnen allen irgendwie auf der Zunge liegt, aber an den sie sich nicht erinnern können, doch dafür hat diese Melodie etwas unheimlich Beruhigendes an sich.

„Das war eine echt heftige Reaktion." Emis leise Stimme unterbricht die schockierte Stille, die seit einer gefühlten Ewigkeit herrscht. Es ist, als habe sie einen Damm gebrochen, denn plötzlich finden auch alle anderen ihre Stimme wieder.

„Armer Lucifer", murmelt Chiho und wirft Mao einen Blick aus großen, ängstlichen Augen zu. Sie ist so schockiert, dass sie unwillkürlich seinen wahren Namen benutzt. „Das bedeutet aber nicht, dass es schlimmer geworden ist, oder, Mao-sama?"

„Nein", antwortet ihr Ashiya bevor Mao auch nur den Mund öffnen kann. „Das bedeutet, dass es wirkt." Und auf Chihos entsetzte Miene erklärt er bereitwillig: „Heilung ist selten schmerzlos, Chiho-chan.“

Chiho-chan. Bei dieser Anrede spürt Chiho, wie sich ihre Lippen zu einem riesigen Lächeln verziehen. Sie fühlt sich, als wäre sie endlich in seinen kleinen, privaten Kreis Auserwählter aufgenommen worden.

„Da gibt es keinen Unterschied zwischen Menschen, Dämonen oder Engeln. Obwohl ich zugeben muss“, fügt er zögernd hinzu, „dass mich dieses Ausmaß hier erschreckt.“ Plötzlich runzelt er die Stirn. „Oder doch eher, wie sehr es mich mitnimmt, unseren Hikikomori so zu sehen.“

Chiho gluckst leise.

„Du magst ihn. Und das ist kein Verbrechen, Ashiya.“

In Ashiyas Wangen schleicht sich eine gewisse Röte, als er geflissentlich ihrem Blick ausweicht. Doch er widerspricht ihr nicht, wie Chiho zufrieden feststellt. Diese Ferienreise mag für sie eine unangenehme Erfahrung bereitgestellt haben, aber immerhin haben sie alle zu so etwas wie einer Familie zusammengefunden und alleine dafür hat es in ihren Augen gelohnt.

Und mehr noch... zaudernd streckt sie den Arm aus und ergreift Urushiharas Hand, die schlaff auf dem Fußboden neben ihm liegt und drückt sie behutsam. Abermals zögert sie, doch dann legt sie ihre andere Hand tröstend auf Maos Schulter.

Der hebt bei dieser Berührung sein Gesicht aus Urushiharas Haarschopf und blinzelt sie fragend an.

Sie nickt ihm nur zu und schenkt ihm ein aufmunterndes Lächeln, während Ashiya auf Maos anderer Seite genau dasselbe macht.

Und plötzlich, zum ersten Mal, fühlt sie, was es wirklich bedeuten kann, Maos General zu sein. Jedenfalls, wenn man sich – so wie sie – Ashiyas als Vorbild ausgesucht hat.

Emi, die das ganze beobachtet, seufzt einmal tonlos auf und starrt wieder grimmig auf den bewußtlosen Urushihara. Sie fühlt sich ziemlich nutzlos und unbeholfen – selbst in Ente Isla hat sie immer einen großen Bogen um die Verwundeten gemacht, wenn diese schon von anderen versorgt wurden und sich lieber zurück ins Schlachtgetümmel gestürzt als den Doktoren und Priestern über die Schulter zu sehen.

Sie kann damit einfach nicht umgehen. Aber weggehen kann sie jetzt auch nicht, denn erstens will sie ihre Ziehtochter nicht alleine lassen und zweitens ist sie neugierig und will wissen, ob sie nun ihre eiserne Notreserve an Heiliger Energie umsonst verschwendet hat oder nicht.

Sie fragt sich, ob es etwas zu bedeuten hat, dass er seine Flügel nicht zurückbekommen hat. Irgendwie hatte sie fest damit gerechnet.

Plötzlich kehrt das Leben in Urushihara zurück. Leise stöhnend hebt er seine freie Hand hoch zu seiner Stirn, lässt sie auf halben Wege aber wieder kraftlos sinken.

„Urgh, mein Kopf.“ Seine Stimme ist nicht mehr als ein erschöpftes Wispern.

„Cor meum." Maos Stimme ist ein regelrechtes Gurren, als er ihm zärtlich durchs Gesicht streichelt. „Wie fühlst du dich?"

Gespannt richtet sich Alas- Ramus auf. „Ist Lucifer wieder gesund?"

Stöhnend dreht sich Urushihara mehr in Richtung dieser warmen, soliden, nach Vanille duftenden Wärmequelle und vergräbt sein Gesicht in Maos weichem Fleecehoodie. 

„Mein Kopf tut weh", murmelt er dabei.

Mao sagt nichts, er drückt ihn nur an sich und streichelt ihm durchs Haar. Urushihara versucht, den sengenden Schmerz hinter seinen Augen zurück zu drängen, indem er tief und gleichmäßig atmet. Maos Hand in seinem Haar und sein stetiger, kräftiger Herzschlag helfen ihm dabei.

„Bin gleich wieder da“, zwitschert Alas-Ramus plötzlich und ehe sie jemand aufhalten kann, springt sie auf und rennt aus dem Raum.

Noch während Emi überlegt, ob sie ihr folgen soll, kehrt die Kleine schon zurück. In ihrer Hand hält sie Okto, den sie in Urushiharas schlaffe Hand drückt, sobald sie wieder neben ihm sitzt.

Ihre Aktion läßt auch Ashiya aus seiner Schockstarre erwachen, der sich überlegt, dass ein Kühlpack keine schlechte Idee wäre und sich daher schnell in die Küche zum Kühlschrank begibt. Wortlos kommt er kurz darauf wieder zurück und kniet sich neben sie. Da Urushihara sein Gesicht immer noch an Maos Schulter presst, ist es schwierig, ihm das Kühlpack auf Stirn oder Augen zu legen, aber sobald Urushihara die wohltuende Kälte spürt, dreht er ihm automatisch seinen Kopf zu. Mit einem erleichterten „Danke, Ashiya", nimmt er das Kühlpack an sich und presst es gegen seine Augen.

Es hilft. Der Schmerz verschwindet nicht, aber er wird erträglich, so sehr, dass er

allmählich auch alles andere um sich herum außer Mao wieder wahrnimmt. Er fühlt Alas-Ramus' kleine Hände an seinen Knien und Chihos Hand, wie sie tröstend seinem Rücken streichelt und er kann Ashiyas und Emis Gegenwart spüren. Das ist zuviel auf nüchternen Magen. All diese Aufmerksamkeit und Sorge wird ihm zunehmend unangenehm.

Also umklammert er Okto etwas fester, hofft, dass ihm das Stofftier Glück bringt und wagt ein erstes Blinzeln. 

 

 



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