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Mein ist die Dunkelheit

von

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XXX. Kapitel

 

 

Beinahe schüchtern lugt der Halbmond durch die Wolken und schickt sein fahles Licht durch das Fenster im oberen Stock der kleinen Blockhütte, die ansonsten in völliger Dunkelheit und Stille liegt.

Es ist zwei Stunden nach Mitternacht und alle Bewohner schlafen den Schlaf des mehr oder weniger Gerechten, als sich einer der drei jungen Männer in dem Double Kingsize Bett unruhig zu regen beginnt.

 

Luuucifer...“ Selten zuvor wurde sein Name so gegrollt. Das alleine jagte ihm schon einen eisigen Schauer über den Rücken. Und in diesem Moment erkannte er ihn nicht wieder. Zum ersten Mal seit er ihn kannte, bekam er wirklich Angst vor ihm. Und daraus wurde blanke Panik, als sich diese riesengroße Pranke um seinen Schädel schloß und die spitzen Fingernägel an seiner Kopfhaut kratzten. Es kostete ihn all seine Willenskraft, sein Zittern zu unterdrücken, denn...

 

Warme, kräftige Finger, die ihm sanft durch den Haarschopf streichen und eine Stimme, an deren Klang er sich nur noch in seinen Träumen erinnern kann:

Hör zu, mein Sohn, eines merke dir gut, denn es ist überlebenswichtig: zeige diesen Geschöpfen niemals gegenüber Furcht, denn sie nähren sich davon.“

 

Auf Urushiharas blasser Stirn bilden sich die ersten Schweißtropfen, funkeln wie Diamanten im blassen Mondlicht.

 

Die sanften Hände auf seinem Hinterkopf wachsen und werden wieder zu Pranken mit spitzen, schwarzen Fingernägeln.

Jemand muss dir wohl mal wieder zeigen, wo dein Platz ist.“ Tiefrote Augen, die ihm Leid und Schmerzen versprechen und ein Grinsen, das gefährliche Fangzähne entblößt.

Plötzlich ist da ein Fuß in seinem Genick, der ihn Gesicht voran in den Straßenstaub drückt. Schlimmer als der Schmerz, als ihm kleine Splitter aus Glas und Beton das Gesicht aufreißen, sogar schlimmer als die aufkeimende Panik ist das Gefühl der Erniedrigung.

Er kniet vor niemanden. Seit Tausenden von Jahren hat er vor niemandem den Blick gesenkt und sich gebeugt. Und Satan weiß das. Er kennt seinen Stolz. Und zwingt ihn trotzdem dazu. Mit einem selbstzufriedenen Grinsen, das von einem Ohr bis zum anderen reicht.

Er wirft ihn in den Staub als wäre er ein Nichts! Vor den Augen seiner Feinde!

Er sieht sich selbst von oben, wie er da kniet, der feixende Mao Sadao über ihm und wie alle anderen auf ihn hinabschauen: Ashiya Shiro, Yusa Emi und zu allem Überfluss: das Menschenkind Sasaki Chiho.

 

Urushiharas Kehle entringt sich ein leises Stöhnen und zwischen seinen Augenbrauen bildet sich eine steile Falte. Hilfesuchend krallen sich seine Finger in Maos Pyjamaoberteil.

 

In seinem linken Augenwinkel blitzt es plötzlich weiß auf und dann streicht Gabriel mit der rechten Hand sanft durch Lucifers Flügel und dort, wo sie seine Federn berühren, färbt sich das rabenschwarz schwanenweiß.

Gabriels nachsichtiges Lächeln bringt eine Saite in ihm zum Schwingen und ein Hauch von Heimweh breitet sich in ihm aus.

In all den dreihundert Jahren, die du ihn kennst, ist er da jemals so mit einem seiner anderen Generäle umgegangen, hmmmm? Nein, nicht wahr? Selbst dem niedersten Untertan hat er mehr Respekt gezollt als dir.“

Unwillig runzelt er die Stirn. „Ich bin nicht sein Untertan. Ich diene niemandem.“

Gabriel lächelt nur und starrt, genau wie er, weiterhin auf die Szene unter ihnen, die wie in der Zeit eingefroren zu sein scheint.

Wieso sollte er plötzlich so nett zu dir sein, hmmmm?“

Gabriels Schwingen schlagen im genau demselben Takt wie seine eigenen, während sie weiter an Ort und Stelle verharren. Und diese typische Synchronizität verstärkt nur seine Sehnsucht nach der Heimat.

Das ist alles nicht echt, Lucifer.“

Vorsichtig greift Gabriel nach seiner Hand.

Nichts davon.“

Weinrote, erstaunlich ernste Augen bohren sich tief in seine.

Gar nichts.“

 

Ruckartig schlägt Urushihara die Augen auf.

Plötzlich liegt er wieder dort. Unter ihm der eisige Schnee und neben ihm die unter ihrer Schneelast ächzenden Bäume. Er blinzelt hinauf in einen dunklen Himmel, während die Schneeflocken auf ihn herabfallen.

Bei jedem Atemzug schickt er kleine weiße Wölkchen in die eiskalte Luft.

Langsam richtet er sich in eine sitzende Position auf.

 

Eine Sekunde später liegt er im Matsch und vor seinen Augen tanzen schwarze Flecken. Nur gedämpft dringt der Schlachtlärm an seine Ohren, während die warme Lache seines eigenen Blutes unter ihm immer größer wird. Seine Brust brennt, als habe sie jemand mit Säure gefüllt und jeder Atemzug ist eine Qual.

 

Und dann ist er wieder zurück im Schnee und Gabriel steht vor ihm und reicht ihm lächelnd die Hand.

„Komm nach Hause, Lucifer.“

Und Lucifer … greift zu.

 

 

„Was zur Hölle?“ von einer Sekunde zur anderen hellwach, fährt Mao in die Höhe. Irgend etwas hat ihn geweckt und während seine Augen noch versuchen, sich an das Halbdunkel zu gewöhnen, wird das Gefühl, dass etwas Schreckliches passiert ist, immer stärker.

„Mylord...?“ neben ihm rappelt sich Ashiya verschlafen auf.

Beim Klang seiner Stimme dreht Mao den Kopf in seine Richtung und plötzlich greift eine eisigkalte Hand nach seinem Herzen. Schockiert starrt er auf die leere Stelle zwischen ihnen.

„Lucifer?“

Mit einem Satz ist er aus dem Bett und starrt aus weit aufgerissenen Augen auf den Platz, wo sein gefallener Engel hätte liegen sollen.

„Vielleicht ist er nur im Bad?“ schlägt Ashiya zögernd vor, bemüht, sich nicht von der Panik seines Königs anstecken zu lassen.

Irritiert sieht er zu, wie sein König – wahrscheinlich einer Eingebung folgend - zum Fenster herumwirbelt, einen Blick hinauswirft, erschrocken aufschreit und dann aus dem Zimmer stürmt.

Und während mao schon die Treppe hinunterpoltert, hechtet Ashiya neugierig ebenfalls zum Fenster. Ein Blick nach unten in den Garten und er hetzt seinem König hinterher.

 

 

„Au.Auau.“ Mao zuckt schmerzhaft zusammen, als seine nackten Sohlen den Schnee berühren, doch er schiebt das genauso beiseite wie die eisige Luft, die ihn mit voller Wucht trifft. Zum Glück haben sie den Schnee in den letzten Tagen hier festgetrampelt und es ist auch kein nennenswerter Neuschnee gefallen, so dass er schnell von der Stelle kommt.

„Lucifer!“ So schnell wie es ihm möglich ist, rennt er zu seinem General, vorbei an einer ganzen Armee unterschiedlich großer Schneemänner. Mit Karottennasen und ohne. Mal mit Steinen und mal mit Kastanien als Augen.

Im bläulichen Mondlicht scheint es, als würden sie ihn beobachten.

„Lucifer.“

Endlich hat er ihn erreicht und packt ihn am Arm.

Seit er ihn von oben sah, hat sich sein General nicht einen Zentimeter gerührt. Er steht immer noch, nur in T-Shirt und Jogginghose und barfuß wie er im Schnee und er reagiert auch nicht auf Maos Anwesenheit. Weder auf seine Stimme noch auf seine Berührung.

Aber Mao hat nicht die Zeit, darüber nachzudenken, seine einziges Begehr besteht darin, ihn so schnell wie möglich aus dieser Kälte hinein in die warme Hütte zu bringen. Und so packt er ihn nur fester und zieht ihn mit sich am Arm zurück.

„Was machst du hier draußen? Was ist los mit dir? Bist du ein Idiot oder was?“

Urushihara folgt ihm widerstandslos mit sonderbar hölzern wirkenden Bewegungen, doch Mao achtet nicht darauf. Ashiya empfängt sie in der geöffneten Tür mit einer roten Wolldecke, die er Urushihara sofort um die Schultern legt.

Mao verlangsamt seinen Schritt erst, als sie mitten im Raum stehen. Erst dann dreht er sich zu Urushihara um und sieht ihm zum ersten Mal richtig ins Gesicht. Ihm genügt ein blick, um zu verstehen, was passiert ist.

„Fuck. Du schlafwandelst.“

Ashiya kommt mit zwei Handtüchern zu ihnen, kniet sich hin und macht sich wortlos daran, erst urushihara und dann seinem König die Füße abzutrocknen, während Mao, der jetzt, wo der Adrenalinschub nachläßt, plötzlich nicht mehr weiß, was er tun soll.

Irgendwo hat er mal gelesen, dass man Schlafwandler nicht wecken soll. Oder doch?

Noch während er darüber nachdenkt, tauchen, aus dem Schlaf gerissen und angelockt vom Lärm, Emi und Chiho in ihren Flanellschlafanzügen auf.

„Was habt ihr blöden Dämonen jetzt schon wieder angestellt?“ will Emi sofort ungnädig wissen.

„Ist etwas mit Urushihara-san?“ besorgt eilt Chiho herbei und stellt sich neben Mao, um urushihara gründlich von Kopf bis Fuß zu mustern. Als ihm die Decke über die Schultern zu rutschen droht, zieht sie sie wieder hoch und wickelt ihn noch fester darin ein.

Prüfend berührt sie ihn an der Wange.

„Er ist ganz kalt“, stößt sie dann erschrocken hervor. „Wie lange war er draußen?“

„Ich weiß es nicht.“ Fröstelnd zieht sich Mao seine eigene Decke zurecht. „Mehr als ein paar Minuten können es nicht gewesen sein. Er schlafwandelt“, fügt er dann noch erklärend hinzu, was bei Emi nur einen genervten Blick gen Decke auslöst – als würden sie das nicht alle deutlich sehen.

„Ich weiß nicht, warum. Er macht das sonst nicht“, klagt Mao, der sich zunehmend hilfloser fühlt. „Was machen wir denn jetzt mit ihm? Wie geht man mit so etwas um? Chi-chan, kannst du das mal googeln?“

„Fesselt euch einfach aneinander“, schlägt Emi amüsiert vor. „Und wenn du willst, helfe ich euch auch gerne dabei.“

Mao ignoriert sie geflissentlich.

„Wage es nicht, Hand an Mao-sama zu legen“, warnt Ashiya sie mit funkelnden Augen. „Und wehe, du rührst Lucifer an.“

Emi will gerade etwas Passendes entgegenn, da weht eine dünne Kinderstimme zu ihnen hinüber.

„Mama?“ Aus dem dunklen Flur tapst Alas-Ramus heran. In ihrer rechten Hand hält sie Okto, mit der anderen reibt sie sich verschlafen die Augen. Sie gähnt herzhaft, doch als sie Urushihara sieht, ist sie sofort hellwach.

„Was ist mit meinem Lucifer? Geht es meinem Lucifer gut? Lucifer?“

Ehe sie jemand daran hindern kann, stürmt sie zu ihm und schlingt ihre Arme um seine Knie.

„Lucifer?“

Kaum hat sie ihn berührt, zuckt er heftig zusammen. Und plötzlich ist es, als wäre er eine Marionette, der man die Fäden durchgeschnitten hat. Völlig unverhofft sackt er in sich zusammen. Er fällt auf die Knie und wird sofort von einem besorgten Kleinkind umarmt.

Doch die Art, wie sie ihm durchs dunkelviolette Haar streicht ist alles andere als kindlich.

„Frater meus iuvenis“, hören sie sie alle murmeln. „Noli timere. Tantum habent tantum in te potestatem, quantum permittis.“

„Mein kleiner Bruder“, übersetzt Ashiya murmelnd und mehr zu sich selbst. „Fürchte dich nicht. Sie haben nur soviel Macht über dich, wie du es zulässt.“

Emi und Chiho werfen ihm einen verblüfften Blick zu.

„Du kannst Engelssprache?“ flüstert Emi ihm leise zu. Sie wagt es nicht die Stimme zu erheben, denn das Benehmen ihrer Ziehtochter flößt ihr eine geradezu heilige Ehrfurcht ein.

Ashiya nickt nur stumm.

Mao kichert nervös auf und kratzt sich verlegen im Nacken.

„Er kann es fließend“, gibt er zu. „Besser als ich.“ Es ist ihm peinlich, aber das hatte er wirklich vergessen.

Emi gibt nur ein „hm“ von sich. Ihr Blick ruht nachdenklich auf Alas-Ramus und Urushihara.

Sie betrachtet ihn also als ihren kleinen Bruder? Nun, ich schätze, das erklärt, wieso unser Sonnenschein ihn immer in Schutz nimmt.

„Alas-chan?“ vorsichtig lässt sich Mao neben den beiden in die Hocke nieder. Etwas Uraltes und absolut Primitives in ihm knurrt verärgert auf, und seine Hände gieren danach, ihr seinen General zu entreißen, doch er beherrscht sich.

„Was meinst du damit? Vor wem fürchtet sich Lucifer?“

Er kann sich nicht helfen, aber vor ihrer Antwort ist ihm wirklich bang. Trotzdem – er muss es wissen, denn wie sonst könnte er seinem General denn helfen? Es ist nicht Alas' Aufgabe, Lucifer zu beschützen, sondern seine!

Er gehört mir. MIR! Ich habe ihn zuerst gefunden!

Alas-Ramus wirft ihm über Lucifers Schulter hinweg einen langen Blick zu. Wieder schimmert in ihren violetten Augen dieses silberne, uralte Licht und es fühlt sich an, als würde sie bis tief in seine Seele hinein sehen.

Aber bevor sie etwas sagen kann, hebt Urushihara den Kopf und funkelt ihn aus seinen blinden Augen an.

„Das einzige“, knurrt er heiser, „wovor ich mich fürchte, Mao-sama, ist, dass unsere Alas-chan sich erkältet, wenn unsere Heldin sie nicht schnurstracks wieder zurück in ihr warmes, weiches Bett steckt.“

Mao zuckt zusammen, als hätte er ihn geschlagen, doch er schluckt die bissige Bemerkung herunter, die ihm auf der Zunge liegt.

„Phhh...“ schnaubt Emi nur, beugt sich zu Alas-Ramus hinab und nimmt sie auf ihre Arme. Die Kleine läßt sich tatsächlich widerspruchslos, jedoch nicht, bevor sie Urushihara ihr Kuscheltier in die Hand gedrückt hat.

Sie sagt kein Wort und lässt sich gehorsam in ihr Zimmer zurücktragen, doch der Blick, den sie ihrem Ziehvater dabei über Emis Schulter hinweg zuwirft, will so gar nicht zu einem Kleinkind passen. Genauso wenig wie das listige Lächeln, das plötzlich um ihre Mundwinkel zuckt.

„Lucifer?“ Jetzt, wo sie fort ist, wagt Mao es wieder, seinem General eine Hand auf die Schulter zu legen. Und als dieser unter der Berührung nicht zusammenzuckt, wird Mao mutiger, nimmt ihn an der Hand und zieht ihn behutsam mit sich in die Höhe.

Chihos Bauchgefühl rät ihr, es Emi gleich zu tun und sich ebenfalls zurückzuziehen und so tätschelt sie noch einmal tröstend Urushiharas Schulter, murmelt einen Abschiedsgruß und folgt der Rothaarigen dann schnell.

Urushihara presst Okto fest gegen seine Brust und wartet, bis er das Klicken ihrer Zimmertür hört, bevor er eine wichtige Frage stellt:

„Was zur Hölle ist passiert?“

 

 



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