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Mein ist die Dunkelheit

von

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XXVII. Kapitel

 

 

„... hier kommt noch was. Mund auf." Breit grinsend hält Mao seinem General ein sorgfältig geschnittenes Apfelstück an den Mund.

„Was ist es diesmal?" fragt Urushihara, doch da hat Mao ihm schon das Stück zwischen die Zähne geschoben.

„Apfel", erklärt Mao trotzdem. „Du hast nicht viel zum Abendbrot gegessen."

Nicht, dass er das nicht verstehen könnte - sein General hat in den letzten fünf Wochen kaum Nahrung zu sich genommen, sein Magen verträgt noch nicht viel. Was Mao aber nicht daran hindert, es trotzdem zu versuchen, ihn zu stopfen wie eine Weihnachtsgans.

„Und du brauchst die Vitamine."

Urushihara gibt nur ein „hm" von sich und kaut gehorsam. Derart umsorgt und verwöhnt zu werden fühlt sich ungewohnt, aber auch sehr gut an. Es wäre dumm, das nicht zu genießen. Auch wenn diese kleine Stimme in seinem Hinterkopf einfach nicht schweigen will und ihm immer wieder zuflüstert, dass dies alles zu schön ist, um wahr zu sein.

„Hier sind noch ein paar Weintrauben." Ashiya kommt mit einem neuen Obstteller aus der Küche und stellt ihn neben den anderen auf den Couchtisch, bevor er sich zu ihnen aufs Sofa setzt. Mit dem warmen Gefühl von tiefer Zufriedenheit sieht er sich um.

Das ist also das, was man hier einen Familienabend nennt.

Auf dem großen Flatscreen an der Wand läuft ein kindgerechter Anime. Wie Alas es wollte, haben Emi und Chiho ein paar Kissen auf dem Boden ausgebreitet und nun haben sie es sich dort bequem gemacht und verfolgen gebannt das Geschehen auf der Mattscheibe. Vor ihnen steht der Teller mit den Häppchen - natürlich hat sich Emi die Leckerbissen gekrallt, aber Ashiya wollte deswegen jetzt keine Szene machen, die Vitamine sind für Urushihara sowieso viel besser. Langsam lässt er seine Blicke über Mao und Urushihara neben sich auf der Couch schweifen.

Um seine Mundwinkel zuckt ein kleines Lächeln. Bis vor zehn Minuten hatte Urushihara noch an Alas-Ramus' neuem Kuscheltier gestrickt, so lange, bis seine Gelenke zu schmerzen begannen.

Jetzt kuschelt er sich an Mao, der ihn nur allzu gerne hält. Und weil es doch mit zunehmender Dunkelheit da draußen hier drinnen zugiger wird, hat Ashiya ihn vor einer halben Stunde in eine Fleecedecke gewickelt.

Ashiya beschließt jetzt mal, nicht darüber nachzudenken, was Maos Hände unter dieser Decke mit Urushihara gerade anstellen.

Tatsächlich stellen sie so einiges an. Mao nutzt es weidlich aus, dass man nichts sehen kann. Es ist wie eine Sucht – sobald Urushihara in Greifweite ist, muss er ihn einfach anfassen. Er muss ihn halten, ihn berühren, seine Wärme spüren und seinen Duft tief in sich aufsaugen.

Hölle, ja, Um Maos Mundwinkel zuckt ein kleines Lächeln, als er sein Gesicht in Lucifers Nacken vergräbt und seinen warmen Duft tief in seine Lungen zieht, während seine Hände von seinem Knie hoch zu seinen Hüften wandern und sich unter Hoodie und T-Shirt schummeln, um einen warmen, flachen Bauch zu liebkosen. Es fühlt sich an, als habe er jahrhundertelang genau darauf gewartet.

Und … vielleicht hat er das tatsächlich.

Unwillkürlich erinnert er sich an ihre allererste Begegnung.

 

Was machst du da?“ Lucifer entzog ihm so hastig seine Hand, als habe er sich an ihm verbrannt. In seinem schönen Antlitz blitzte für einen Moment etwas auf, das der kleine Satan Jacob erst viel später richtig zu deuten wußte: Unsicherheit. Jedes Mal, wenn jemand ihn unerwartet berührte, schreckte Lucifer auf dieselbe Art und Weise zurück.

In diesem Moment jedoch fühlte sich der kleine Black Goat einfach nur zurück gewiesen und übertünchte seine Enttäuschung mit einem nervösen Grinsen.

War das falsch? Ich habe gehört, man besiegelt einen Pakt mit einem Handschlag.“

In diesem kurzen Sekundenbruchteil, als er Lucifers Hand umklammerte, hatte er trotz dessen Lederhandschuhs etwas gespürt: Wärme. Seine gesamte Handinnenfläche kribbelte noch Stunden später von dieser Wärme.

Und in den folgenden Jahren, während er heranwuchs, hatte er immer wieder versucht, einen Hauch dieser Wärme zu erhaschen. Hier ein vorgetäuschtes Stolpern und Anrempeln, dort ein flüchtiges, unabsichtlich erscheinendes Streifen.

Aber je größer und mächtiger er wurde, desto mehr entwuchs er diesem Wunsch. Außerdem war es nicht leicht, dem distanzierten Lucifer so nahe zu kommen und was anfangs noch als jugendlicher Eifer und Leichtsinn durchging und leicht verziehen wurde, fing ihm irgendwann nicht nur von Lucifer mißbilligende Blicke ein. Außerdem gewann er bald Alciel als neuen General und der war seinen Vertraulichkeiten nicht so abgeneigt.

Aber es gab auch andere, kostbare Momente, in denen Lucifer aus eigenem Antrieb auf ihn zukam – wenn er ihm eine Nahkampftechnik beibrachte und ungeduldig seine Haltung korrigierte. Wenn er an ihm Maß nahm für ein neues Kleidungsstück. Als er ihn festhielt und mit ihm übers Land flog, weil die Flügel des kleinen Black Goats noch nicht stark genug waren, um selbst zu fliegen. Und wenn er ihm sanft über den Kopf strich oder aufmunternd die Schulter drückte, weil Mao von den Erinnerungen heimgesucht wurde, wie seine Eltern und sein gesamter Clan vor seinen Augen abgeschlachtet wurden.

 

Ich vermisse das.

 

Ohne sich dessen wirklich bewußt zu sein, hat er damit begonnen, viele kleine Küsse über Urushiharas empfindlichen Nacken zu hauchen, doch als dieser in seinen Armen plötzlich erschauert, hält er erschrocken inne.

„Entschuldige“, wispert er. „Zuviel?“

Sein General schüttelt nur den Kopf. Er zögert, nagt unsicher an seiner Unterlippe herum und gibt sich dann einen Ruck. Und in genau jenem Moment, wo er nach Maos Hand greift, um sie vielsagend auf seinen Schritt zu legen, dreht Alas-Ramus den Kopf zu ihnen.

Alarmiert durch die Sorge in der Stimme ihres Ziehvaters, mustert sie die beiden jungen Männer auf der Couch scharf. Ihr Blick ist viel zu ernst für ein Kleinkind ihres Alters und wieder schimmert diese uralte Präsenz ganz tief in ihren Pupillen. Mao läuft es heiß und kalt den Rücken hinunter. Und weil ihm seine Handfläche gerade eine vielversprechende Härte in Urushiharas Jogginghose meldet, fühlt er sich gleich doppelt ertappt. Eine verräterische Hitze steigt ihm in die Wangen und breitet sich auch über seine Ohren aus, doch Alas' intensiver Blick hält ihn gefangen, selbst wenn er wollte, könnte er die Augen nicht abwenden.

Und dann nickt Alas-Ramus ihm einmal kurz zu und dreht sich dann wieder um. Als wäre nichts geschehen, kichert sie über etwas auf dem Bildschirm und klettert dann auf Emis Schoß, um mit ihr zu kuscheln.

Mao klopft das Herz plötzlich bis zum Halse. Er wird das seltsame Gefühl nicht los, dass seine kleine, süße Ziehtochter, dieser Sephirot ihm hier soeben seinen Segen erteilt hat. Es fühlt sich an, als habe sie ihren Lucifer an ihn übergeben.

All das hat sich innerhalb von Sekunden abgespielt und niemandem ist etwas aufgefallen, nicht einmal dem ständig wachsamen Ashiya, der doch direkt neben ihm sitzt.

Plötzlich wird sich Mao wieder bewußt, wo sich seine Hand gerade befindet und entläßt die angehaltene Luft mit einem leisen Zischen. Ein Geräusch, das Urushihara, weil er (natürlich) auch nichts von der stummen Kommunikation mitbekam, auf etwas ganz anderes bezieht. Und so verzieht er die Lippen zu einem fiesen Grinsen und drückt Maos Hand noch fester gegen seinen Schoß.

Mao kichert nur nervös und versucht das Geräusch schnell damit zu ersticken, indem er sein Gesicht in diesen dunkelvioletten Haarschopf vergräbt.

Hölle, das ist so forsch!

Um ehrlich zu sein, hatte Mao bisher nie daran gedacht. Natürlich hätten all ihre Küsse und Zärtlichkeiten genau darin früher oder später geendet, aber wenn, dann wäre es etwas gewesen, was einfach so passiert. Wie jeder Dämon wäre er einfach seinem Verlangen gefolgt, hätte sich vom Moment mitreißen lassen und später darüber nachgedacht – wenn überhaupt.

Aber sich jetzt damit konfrontiert zu sehen, nüchtern und bei klarem Verstand, das verunsichert ihn.

Plötzlich wird Urushiharas schmaler Körper von einem Hustenanfall durchgeschüttelt und all diese Gedanken sind sofort vergessen, als Mao ihm hilft, sich etwas aufzurichten und ihm dann das störende Haar aus dem Gesicht streicht.

„Alles okay“, beeilt sich Urushihara hastig zu versichern, sobald er wieder etwas zu Atem kommt. Er räuspert sich ein paar Mal und schenkt ihm ein dünnes Lächeln. „Wirklich, es ist nur lästig.“

Ashiya neben ihnen gibt nur ein Brummen von sich, fischt das Fläschchen Hustensirup vom Tisch, gießt etwas davon auf einen Löffel und hält ihm diesen mit den Worten „Schnabel auf“ vor den Mund.

Nicht nur er beobachtet aufmerksam, wie der gefallene Engel brav die Medizin schluckt, auch Emi, Chiho und Alas-Ramus verfolgen alles ganz genau und sie drehen sich erst zufrieden wieder um, als er schluckt und Ashiya das Fläschchen wieder zurückstellt.

Mao kann gar nicht anders, er muss grinsen wie ein Honigkuchenpferd, als er das bemerkt.

„Hey“, sanft legt er seine Finger unter Urushiharas Kinn und dreht seinen Kopf in seine Richtung. Sein Atem ist ein warmer Hauch auf dessen Haut, als er leise gegen seine Lippen wispert:

„Wirklich schade, dass du die Blicke der anderen eben nicht gesehen hast. Sie sind richtig besorgt um dich.“ Es ist vielleicht nicht das Klügste, was man zu jemanden sagen kann, der Nettigkeit einer falschen Realität zuordnet, aber Mao ist so stolz auf ihre kleine Gemeinschaft (und ja, das schließt Emi mit ein), dass er ihn einfach daran teilhaben lassen muss.

Und um Urushihara auch gar keine Möglichkeit für Widerworte zu geben, versiegelt er seine Lippen mit einem zärtlichen Kuß. Er kann den süßen Erdbeergeschmack des Kinderhustensaftes an ihm schmecken, doch es dauert nicht lange, bis er sich verflüchtigt und er sich wieder in Urushiharas ureigenem Geschmack verliert.

Für einen klitzekleinen Moment flackert sein schlechtes Gewissen auf – Chiho! – doch seine Sehnsucht und sein Verlangen sind stärker als jede Rücksicht. Und sie sagte doch, er solle sich nicht wegen ihr zurückhalten.

Also zeigt er seinem schlechten Gewissen den Mittelfinger, schlingt seine Arme noch ein wenig fester um Urushihara und lässt sich dann mit ihm langsam nach hinten sinken, bis sein Hinterkopf auf der Couchlehne landet. Zufrieden lächelt er in ihren Kuss hinein, als Urushihara auf ihm zu liegen kommt. Ah ja, Druck und Wärme an genau den richtigen Stellen!

Und dann, langsam, aber sicher, beginnt Urushihara ihren Kuss zu dominieren und Mao ergibt sich ihm nur allzu bereitwillig. Die Schmetterlinge in seinem Bauch tanzen inzwischen Rumba und ihm ist so viel Blut südwärts gerutscht, dass er nicht weiß, ob dieses leichte Schwindelgefühl von diesem wahnsinnig machendem Kuss oder der Blutleere in seinem Hirn stammt. Wahrscheinlich eine Mischung aus beidem.

Dafür, dass er hier langsam das Kommando übernimmt, nimmt sich Urushihara sehr viel Zeit beim Küssen. Bedächtig, beinahe ehrfürchtig, taucht er mit seiner Zunge nach Maos, spielt mit ihr und schwelgt im seinem unvergleichlichen Geschmack. Mit jeden Atemzug zieht er mehr von diesem betörenden Vanille-Duft in sich auf und zwischen seinen Fingern spürt er Maos seidige Locken und sein ganzer Körper glüht regelrecht, dort, wo sie sich berühren.

Ich wünschte, ich könnte sein Gesicht sehen. Plötzlich kriecht die Angst wieder hervor. Was ist, wenn das nicht real ist? Wenn er mir nur etwas vorspielt?

Und plötzlich ist er wieder dort.

Schnee.

Kälte.

Das Knarzen von Bäumen, die unter ihrer Schneelast ächzen.

Ein leises Räuspern.

Aber bevor Gabriel irgend etwas sagen kann, stürzt sich Urushihara noch tiefer in diesen Kuss hinein.

Das ist nicht echt.

Das hier ist echt.

Mao ist echt.

Dieser Kuss ist echt.

Plötzlich erklingt ein feines, metallisches Pling und dann schreien alle durcheinander.

„Was zur Hölle!"

„Verdammt!"

„Mama!"

Erschrocken zuckt Urushihara zusammen, aber da schließen sich schon Maos Arme um ihn und halten ihn sicher fest.

„Was ist-" stößt er entsetzt hervor.

„Der Strom ist weg", erklärt ihm Mao, nicht minder erschrocken. Zufällig liegt Urushiharas Hand auf seiner Brust, er kann spüren, wie Maos Herz rast und für einen Moment ist er so fasziniert, dass er alles andere um sich herum ausblendet.

Alas-Ramus' Greinen holt ihn wieder zurück ins Hier und Jetzt.

„Mama! Papa!"

„Schon gut, Alas-chan, es ist nur ein Stromausfall", hört er Emis beruhigende Stimme, gefolgt von einem scharfen: „Tu was, Mao."

„Und was soll ich bitteschön machen?" gibt dieser gereizt zurück.

Im Hintergrund ist Chihos sanfte Stimme zu hören, wie sie versucht, Alas-Ramus zu beruhigen, während ihre Zieheltern drohen, sich in einen ihrer berühmt-berüchtigten Wortgefechte zu verstricken.

„Haben wir Taschenlampen?" unterbricht Aahiyas sachliche Stimme sie.

Wieder reden alle durcheinander.

„Nein. Mein Handy ist in meinem Zimmer."

„Mein Smartphone liegt auf den Esstisch."

„Ich glaube, meins ist noch in meiner Jackentasche."

Aber keiner von ihnen macht Anstalten, sich zu bewegen.

„Vielleicht ist nur eine Sicherung rausgeflogen", schlägt Urushihara vor. „Wie wäre es, wenn mal einer nachsieht?"

„Wir haben einen Sicherungskasten?" fragt Emi verdutzt.

Urushihara verdreht die Augen. „Unter der Treppe", erklärt er zuvorkommend.

„Es ist sehr dunkel", gibt da Ashiya zu bedenken. Man kann den Unwillen deutlich aus seiner Stimme heraushören. „Ich werde erst einmal nach den Handys suchen."

Das lässt Urushihara aufhorchen. Das ist es also: sie haben Angst, sich in der Dunkelheit nicht zurecht zu finden. Und vielleicht spielt auch diese uralte Furcht vor dem Unheimlichen, was in der Dunkelheit lauert, eine Rolle, dass hier keiner von ihnen einen Finger rührt.

„Es tut mir leid", murmelt Mao zerknirscht. „Ich hab keine Magie mehr, sie reicht nicht mal mehr für Lichtkugeln."

Ja, weil er uns beide hierherteleportiert hat, meldet sich Urushiharas schlechtes Gewissen. Aber auch ohne diese Erkenntnis weiß er genau, was er machen muss. Er ist hier scheinbar nicht nur der einzige, der weiß, wo genau sich der Sicherungskasten befindet, sondern auch der einzige, der ihn problemlos finden wird.

Entschlossen windet er sich aus Maos Umarmung und steht auf.

„Nur keinen Stress. Ich mach das schon. Ich kenn mich aus in der Dunkelheit."

 



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