Zum Inhalt der Seite

Mein ist die Dunkelheit

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

X. Kapitel

 

 

Mao stellt schnell fest, dass er das Teleportieren gar nicht mehr gewohnt ist. Es ist beschämend, wie einem etwas, das noch vor einem Jahr ganz natürlich erschien, den Gleichgewichtssinn derart durcheinander wirbeln kann.

Er hat sich kaum materialisiert, da gerät er ins Straucheln, doch alles, woran er denken kann, ist Lucifers Gewicht auf seinem Rücken und dass er ihn verdammt nochmal nicht fallen lassen darf! - und so reißt er sich entschlossen zusammen.

Zu einer großen Erleichterung stellt er fest, dass er genau dort gelandet ist, wo er hinwollte: auf der Veranda, direkt vor der Eingangstür.

„Papa! Papa!“ Ein kleiner pinkfarbener Wirbelwind mit langen, silbernen Haaren stürmt heran. Alas-Ramus stolpert fast, so eilig hat sie es, die Treppe hinauf zu rennen.

„Alas-chan, vorsichtig, langsam!“ Chiho folgt ihr auf dem Fuße und Emi trottet etwas gemächlicher hinterdrein.

„Papa! Du hast Lucifer gefunden!“ Alas strahlt ihn an, doch dann runzelt sie die Stirn und legt fragend den Kopf schief. „Geht es Lucifer nicht gut?“

„Es wird ihm bald besser gehen“, verspricht er ihr und hofft, dass das keine Lüge war.

Dann starrt er erst einmal ratlos auf die Tür. Verflixt, er hat keine Hand frei, um sie zu öffnen. Aber da ist Chiho schon heran, bemerkt sein Dilemma und beeilt sich, ihm die Tür aufzuschließen. Dafür schenkt er ihr ein dankbares Lächeln, woraufhin sie verlegen errötet, aber das sieht er schon nicht mehr, weil er an ihr vorbei in die Hütte stapft.

Drinnen zögert er kurz, doch dann stiefelt er entschlossen auf die große, gemütliche Couch zu.

Er könnte Urushihara zwar auch nach oben ins Zimmer bringen, das er sich sowieso mit ihm und Ashiya teilen sollte – das King Size Bett ist riesig – aber Mao entscheidet sich für das Wohnzimmer. Hier ist Urushihara niemals allein. Außerdem ist dies hier der wärmste Ort in der Hütte.

Alas-Ramus in ihrem pinkfarbenen Schneeanzug folgt ihm aufgeregt, anders als ihr Ziehpapa nimmt sie sich aber die Zeit, sich die Schuhe von den Füßen zu ziehen und sogar ordentlich an die Wand zu stellen. Dann rennt sie die zwei Stufen von dem kleinen Garderobenraum hinüber in das Wohnzimmer und sieht Mao sorgenvoll zu, wie dieser Lucifer behutsam von seinem Rücken auf die Couch gleiten lässt.

Als er sich daran macht, Lucifer aus dem Parka zu pellen, zieht sie sich mit entschlossener Miene ihre Handschuhe aus, setzt sie sich auf die Couch, greift sich einen von Lucifers Füßen und beginnt, an den Schnürsenkeln seiner Schuhe herumzufingern.

„Papa“, maßregelt sie Mao dabei ernst, „du musst Lucifer sagen, was du tust, sonst erschrickt er sich doch. Lucifer, ich ziehe dir jetzt die Schuhe aus“, fügt sie dann hinzu und wirft Mao dabei einen auffordernden Blick zu.

Betroffen zuckt dieser zusammen, doch dann nickt er gehorsam.

Er beugt sich etwas hinab und flüstert ein „Hey, Lucifer“, in dessen Ohr. Sanft streicht er ihm das schneenasse Haar aus dem Gesicht und beißt sich kurz auf die Lippen, als er spürt, wie kalt Lucifers Haut ist.

Für eine Sekunde überfällt ihn die Panik, dass sein General schon längst tot ist, dass er eine Leiche gerettet hat, und so legt er ihm prüfend die Hand auf die Brust. Es folgt eine weitere bange Sekunde, doch dann fühlt er ein kaum merkliches Heben und Senken des Brustkorbes. Mit einem erleichterten Zischen stößt er die Luft, von der er gar nicht wußte, dass er sie angehalten hatte, wieder aus.

„Du bist jetzt in Sicherheit.“ Sachte fährt er mit dem Zeigefinger eine elegant gebogene Augenbraue nach.

Die Schatten um seine Augen sind schon fast so dunkel wie sein Haar.

Und seine Haut ist so KALT!

„Ich ziehe dir jetzt die Jacke aus, okay?“

Er öffnet gerade langsam den Reißverschluß, da eilt Chiho heran.

„Alas-chan, warte, zieh dich doch erst Mal selbst aus, sonst überhitzt du dich nur.“

Alas. Mao zuckt zusammen und dreht erschrocken den Kopf. Er hat seine kleine Ziehtochter völlig vergessen und fühlt sich sofort schuldig.

„Danke, Alas-chan“, er schenkt ihr ein liebevolles Lächeln. „Hör bitte auf Chiho. Zieh deinen Schneeanzug aus, dann kannst du mir gerne weiterhelfen.“

Alas-Ramus schmollt.

„Papa, du trägst auch noch deine Jacke“, murrt sie, gehorcht dann aber und befreit sich mit Chihos tatkräftiger Unterstützung von ihrem gefütterten Schneeanzug, während Mao sich daran macht, Alas' begonnene Arbeit weiterzuführen. In Gedanken tadelt er sich, nicht besser auf seine Ziehtochter geachtet zu haben. Sie meint es gut, aber niemand weiß, ob Urushihara an den Füßen irgendwelche Verletzungen davongetragen hat und er möchte Alas-Ramus diesen Anblick lieber ersparen.

„Alas-chan hat Recht: Beherzige deinen eigenen Rat“, ertönt da Emis Stimme hinter ihnen. „Und zieh dir wenigstens die Stiefel aus. Ashiya wird alles andere als begeistert sein über den Schnee und Dreck, den du hier hereingetragen hast.“

„Putz ich später weg“, bügelt er sie ab. Er hat wirklich Wichtigeres im Kopf.

Emi beobachtet das ganze eine Weile, dann stößt sie einen tiefen Seufzer aus und streckt die Hand nach ihrer Ziehtochter aus.

„Komm mit mir, Alas-chan. Lass uns mal ein paar Decken holen.“

Die Kleine nickt eifrig, ergreift ihre Hand und dann gehen sie gemeinsam Richtung Flur, um aus dem dortigen Wandschrank das Nötige herauszusuchen.

„Ashiya hat gesagt, ich soll ihm trockene, warme Kleidung anziehen“, murmelt Mao mehr zu sich selbst als zu Chiho, während er ganz, ganz vorsichtig, eine durchnässte Socke von Urushiharas linkem Fuß rollt.

„Ich hole seine Tasche“, erklärt sich Chiho sofort bereit und eilt davon.

Mao nickt nur abwesend, er ist damit beschäftigt, Urushiharas Fuß auf Auffälligkeiten zu untersuchen. In der Dämonenwelt gibt es auch Berge, Eis und Schnee, aber um Kälteschäden muss sich dort niemand wirklich Sorgen machen, weil genug dunkle Magie zur Verfügung steht, mit der man sich sofort heilen kann.

Noch nie hat er es mehr verflucht, auf der Erde zu sein und damit nur einen Bruchteil seiner magischen Kräfte zu besitzen. Noch nie fühlte er sich so hilflos.

Glücklicherweise, stellt er schließlich erleichtert fest, zeigen Urushiharas Füße – beide – keine Anzeichen von Erfrierungen. Die Zehen sind etwas bläulich und der Rest der Haut gespenstisch blaß, aber das ist alles.

Mao stößt einen langen Seufzer der Erleichterung aus und dann noch einen. Jetzt, wo alle anderen fort sind, gestattet er sich einen klitzekleinen Moment der Schwäche.

Er sinkt förmlich in sich zusammen. In einer hilflos anmutenden Geste beugt er sich über seinen bewußtlosen General und presst seine Stirn gegen die kalte, blasse des anderen.

„Bitte, Lucifer. Bitte“, wispert er, ohne sich dessen wirklich bewußt zu sein.

 

Und plötzlich ist er wieder in der Dämonenwelt und ein Bote platzt mitten in seine Lagebesprechung mit seinen Generälen und Beratern. Die Nachricht, die er ihm zu überbringen hat, ist ihm sichtlich unangenehm, so, wie er anfangs herumdruckst. Doch schließlich platzt es doch aus ihm heraus:

Mein König, wir haben den Westen verloren. General Lucifer ist gefallen!“

 

Mao ließ es sich nicht anmerken, er durfte nicht zeigen, welch einen Aufruhr diese Nachricht in seinem Inneren verursachte, schließlich befanden sie sich gerade im Krieg. Ein Teil von ihm weigerte sich, zu glauben, dass Lucifer tatsächlich getötet worden war – von einem Menschen noch dazu! - und ein anderer versank in einem bleiernen Schockzustand.

Er hatte niemals die Zeit, diesen Verlust zu beklagen – und als Lucifer putzmunter vor ihm auftauchte, war es auch nicht mehr nötig, aber dennoch hängt seit diesem Tag ein kleiner, nichtsdestotrotz aber schwerer Mühlstein an seiner Seele und legt sich besonders jetzt wie eine eiserne Klammer um sein Herz.

Chihos Rückkehr reißt ihn aus seinen schweren Gedanken zurück ins Hier und Jetzt. Hastig richtet er sich wieder auf und pellt Urushihara endgültig aus seinem Parka.

Zusammen mit Chiho kommen auch Emi und Alas zurück, wobei Alas unter den drei Decken, die sie trägt, fast gar nicht mehr zu sehen ist.

Lächelnd setzt Chiho Urushiharas Reisetasche neben Mao ab, wendet sich aber schnell verlegen ab, als sie sieht, dass Mao gerade an Urushiharas Gürtel herumnestelt. Das muss sie nicht sehen. Stattdessen zückt sie lieber ihr Smartphone, um zu recherchieren, wie man eine Unterkühlung behandelt.

Alas-Ramus strahlt voller Stolz, als sie herankommt und die Decken auf die Couch legt. Doch bevor sie ihrem Ziehpapa helfen kann, nimmt Emi ihre Hand und zieht sie wieder fort.

„Nicht, Alas-chna, das ist kein Anblick für eine junge Dame. Lass Mao etwas Freiraum. Was hältst du davon, wenn wir dir einen heißen Kakao kochen? Du kannst Mao wieder helfen, wenn er Lucifer umgezogen hat.“

Zuerst sträubt sich Alas-Ramus, aber als Mao ihr nur zustimmend zunickt und lächelt, gibt sie sich geschlagen.

„Bis gleich, Lucifer“, zwitschert sie und winkt. „Ich bin gleich wieder da.“

Mao sieht ihr stolz nach, wie sie mit Emi in Richtung Küche verschwindet – die Kleine ist wirklich ein Schatz – und wendet sich dann wieder dem Bewusstlosen zu. Es ist nicht leicht, ihn aus der Jeans zu pellen, der Stoff ist fast gefroren und fühlt sich unangenehm klamm an und dort, wo er in Kontakt mit dem Schnee kam, ist er völlig durchnässt.

Als es geschafft ist, wirft er die Jeans achtlos zu den restlichen Klamotten auf den Fußboden. Aus der Reisetasche kramt er das Wärmste hervor, was er finden kann: eine gefütterte Jogginghose, Wollsocken, ein noch fast neues T-Shirt und einen Hoodie. Er zögert, doch dann greift er sich auch eine neue Boxershorts. Lucifer wird es ihm sicher verzeihen, derart seine Intimsphäre zu verletzen, denn eine Blasenentzündung möchte er bestimmt nicht riskieren.

Außerdem gehen sie regelmäßig in den Onsen – einmal in der Woche ist ihnen eben auch nach einem Bad, nicht nur nach einer Dusche – und daher wissen sie genau, wie sie nackt aussehen.

Auch wenn sie Urushihara in den letzten Wochen jedes Mal wegen Migräne oder anderer Unpäßlichkeiten nicht begleitete. Ashiya war natürlich froh darüber, denn so sparten sie dreihundert Yen Eintritt und Mao wollte keinen Streit, also gingen sie beide allein.

Und wieder etwas, weswegen er sich jetzt Vorwürfe machen kann.

Unwillig schüttelt Mao den Kopf und schiebt diese Gedanken ganz weit von sich. Jetzt ist es erst einmal wichtig, seinem General zu helfen.

Erstaunlicherweise fühlt sich nicht anders an, als wenn er eine sich noch im Halbschlaf befindende Alas-Ramus ankleidet. Es ist, als würde er eine Puppe anziehen. Eine erstaunlich dünne Puppe.

Hat er an Gewicht verloren? Mao stutzt kurz.

Sicher, sein General war schon immer klein und zierlich, kein Vergleich zu ihm selbst und seinen beeindruckenden Muskelpaketen oder zu Alciel, aber jetzt erscheint ihm Lucifer nur noch wie ein Schatten seiner selbst.

Und wo kommen all die blauen Flecken her?

Betroffen betrachtet Mao einen besonders großen Fleck auf Urushiharas linkem Knie. Sein General weist mehr blaue Flecken auf als Alas-Ramus nach einem wilden Tag auf dem Abenteuerspielplatz.

Sind die etwa alle von letzter Nacht?

Betreten beißt er sich auf die Unterlippe und zieht ihm hastig die Unterhose an, gefolgt von einem T-Shirt.

Dann wirft er einen unsicheren Blick zu Chiho hinüber, aber die steht immer noch mit dem Rücken zu ihm. Er hört das leise klack-klack-klack ihrer Fingernägel auf dem Handydisplay und der Gedanke, der ihm dabei durch den Kopf fährt, lässt ihn regelrecht erstarren.

Chiho spürt plötzlich, dass sie beobachtet wird und wirft einen schüchternen Blick über die Schulter zurück.

„Uh, Mao-sama? Ist etwas?“

Er starrt sie noch einen Moment an, blinzelt einmal hart und konzentriert sich dann wieder darauf, Urushihara die gefütterte Jogginghose über die Hüften zu ziehen.

„Ich dachte nur gerade...“, erklärt er dabei in bitterem Tonfall, „wenn wir ihm ein Smartphone erlaubt hätten, hätte er uns um Hilfe rufen können und dann läge er jetzt nicht hier.“

Chiho schluckt einmal schwer. Und da Urushihara inzwischen fast wieder züchtig bekleidet ist, wagt sie es, neben ihren heimlichen Schwarm zu treten. Sie streckt die Hand aus, um sie ihm auf die Schulter zu legen, zieht sie im letzten Moment aber wieder zurück.

Diese zärtliche Geste, mit der er Urushihara über die Wange streichelt, schreckt sie aus ihr unerfindlichen Gründen ab.

Stattdessen räuspert sie sich einmal schüchtern.

„Ich habe im Internet recherchiert, was man bei einer Unterkühlung machen soll. Wir müssen ihn warm halten, und seinem Körper Zeit geben, wieder auf Temperatur zu kommen.“ Sie nimmt eine der Decken auf und breitet sie zusammen mit ihm über Urushihara aus. „Wenn er wieder bei Bewusstsein ist, können wir ihm heiße Getränke einflößen und ihm ein warmes Bad einlassen. Wir müssen aber aufpassen, dass es nicht zu heiß wird, sonst verbrennt er sich. Selbst wenn seine Körpertemperatur wieder normal ist, braucht er noch einige Tage Bettruhe.“ Sie seufzt einmal voller Mitgefühl. „Der Arme. So hat er sich diese Ferien bestimmt nicht vorgestellt.“

Mao antwortet nicht. Sein Schweigen ist fast noch verdächtiger als der niedergeschlagene Ausdruck auf seiner Miene, mit der er Urushihara betrachtet. Und dann streicht er ihm wieder durchs Gesicht, diesmal, um ihm eine Haarsträhne zurück hinters Ohr zu stecken.

„Ich weiß, er wollte nicht mit“, versucht sie, ihn zu trösten. „Aber ich bin sicher, am Ende hätte es ihm Spaß gemacht. Wer spielt nicht gerne mit Alas im Schnee?“ fügt sie dann scherzhaft hinzu, in dem Bestreben, ihn aufzuheitern.

Mao schüttelt nur den Kopf, schlüpft endlich aus seiner eigenen Jacke und den Stiefeln und lässt alles dort liegen, wo es hinfiel.

„Chiho“, erwidert er betrübt, während er sich auf die Couch setzt und seinen leblosen General in seine Arme zieht und dann die Decke wieder fester um ihn stopft. „So einfach ist das nicht mehr.“

Chiho greift zu einer zweiten Decke und wartet geduldig auf seine Erklärung, während sie diese über Urushihara ausbreitet und Mao hilft, sie genauso festzustopfen wie die andere. Und obwohl sie die Ohren spitzt, hätte sie Maos Worte fast überhört, so leise – und unfassbar - sind sie:

„Ich weiß nicht wann, ich weiß auch nicht wie, aber, Chiho – er ist blind.“

Aus der Küche ist ein lautes Klirren zu hören, gefolgt von Alas-Ramus vorwurfsvollem:

„Mama! Meine Tasse!“



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück