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Mein ist die Dunkelheit

von

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IX. Kapitel

 

 

Mit großen Schritten marschiert Ashiya durch den knöcheltiefen Schnee. Er ist wütend auf sich selbst. Wie konnte ihm nur entgehen, dass Urushihara nichts sieht? Er ist fast vierundzwanzig Stunden sieben Tage die Woche mit ihm auf engstem Raum zusammen.

Wie konnte ihm so etwas Wichtiges entgehen?

Ein schöner General bin ich. Als derzeitiger Hausmann gehört es zu meinen Pflichten, dass im Devil's Castle alles reibungslos läuft und es den Bewohnern an nichts mangelt. Ich habe meine Pflichten sträflich vernachlässigt.

Er bleibt stehen, um sich einen Schneeklumpen aus den Halbstiefeln zu kratzen, bevor dieser schmilzt und seine Socken durchnässt. Und während er so da steht, frischt der Wind etwas auf und lässt ihn unwillkürlich erschauern. Er friert, trotz Mantel, Handschuhen, Mütze und Schal.

Jetzt, ohne seine Magie, spürt er die Kälte viel deutlicher und er weiß, wenn er in einer halben Stunde wieder zurück in der Hütte ist, wird er furchtbar durchgefroren sein.

Und Lucifer war sechzehn Stunden hier draußen!

Nur eine dreiviertel Stunde Fußmarsch von der rettenden Hütte entfernt!

Beim Gedanken daran wird ihm übel.

Wann … wann … wann … fragt er sich, während er weitergeht. Wann ist das passiert? Wie lange ist Lucifer schon blind und ich habe nichts davon bemerkt?

Aber je länger er darüber nachdenkt, desto mehr Merkwürdigkeiten in Lucifers Benehmen fallen ihm auf, die er jedoch nicht weiter beachtet hatte. Da war zum Beispiel seine neue Obsession für Zahlen.

Zum ersten Mal bemerkte er es ungefähr vor vier Wochen.

 

Er stand gerade am Herd und wandte Urushihara den Rücken zu, als er diesen plötzlich leise murmeln hörte.

Eins... zwei...drei...vier.. einhalb … links...“

Urushihara, was machst du da?“ fragte er ihn über die Schulter hinweg. Er drehte sich nicht zu ihm um, weil er nicht wollte, dass das Fleisch in der Pfanne anbrutzelte. Er probierte gerade aus, wieviel Speiseöl er einsparen konnte ohne das Risiko einzugehen, seinem König schwarze Fleischkohle vorzusetzen.

Ich geh ins Bad“, erwiderte Urushihara und dann hörte Ashiya wie die Badtür zurückgeschoben und dann wieder geschlossen wurde.

 

Er dachte sich nichts weiter dabei. Urushiharas Gedankengänge waren ihm schon immer ein Buch mit sieben Siegeln, auch, weil er sich nie mitteilte. Deshalb fragte er auch nicht, selbst dann nicht, als er dieses Verhalten immer öfter beobachten konnte. Urushihara zählte die Schritte bis zum Kühlschrank, bis zur Tür und sogar die bis zum Tisch. Er zählte, wieviele Schritte er von der Haustür zur Korridortür nach draußen brauchte. Er zählte die Treppenstufen, die nach unten in den Hof führten. Er zählte, zählte, zählte. Er zählte ständig, aber immer nur ganz leise vor sich hin, so dass es Ashiya leicht fiel, es irgendwann zu überhören.

Enttäuscht über sich selbst, schnauft Ashiya einmal laut auf. Er ist so ein Idiot!

Selbst, als Urushihara sein heißgeliebtes Internet von einem Tag auf den anderen ignorierte und sich stattdessen begann, im Haushalt einzubringen, hatte er immer noch keinen Verdacht geschöpft. Stattdessen war er einfach nur froh, dass der gefallene Engel wohl endlich Vernunft angenommen hatte und aus seiner Hikikomori-Ecke herauskam. Er war sogar so außerordentlich froh darüber, dass er all die kleinen Mißgeschicke, die Urushihara passierten, großzügig übersah. Was bedeutete schon ein zerbrochenes Glas, ein schlampig gewischtes Badezimmer oder verfärbte Wäsche, wenn dieser kleine Nerd ihm endlich, endlich half? Er wollte ihn natürlich auch nicht entmutigen, also schimpfte er ihn bei solchen Mißgeschicken nur ein ganz klein wenig aus.

Uruhiharas plötzlichen Drang, sich nützlich zu machen, hatte er nie hinterfragt, dabei liegt es doch jetzt, wenn er genauer darüber nachdenkt, auf der Hand: Im Internet konnte er sich nur noch bewegen, wenn Alas-Ramus auf seinem Schoß saß und für ihn alles anklickte – was sie häufig genug tat, wenn sie zu Besuch war. Dann sahen sie sich immer Zeichentrickfilme oder Katzenvideos an.

Nein, berichtigt er sich seufzend, Alas SAH es sich an. Lucifer hörte nur mit.

Jedenfalls so lange, bis er den Laptop und alles andere verkaufte.

Sein König hatte Recht – jetzt ist es kein Wunder mehr, dass Lucifer dieser Verlust nicht störte. Er hatte sich schon längst umorientiert und vertrieb sich die Langeweile mit Aktivitäten, bei denen er nicht unbedingt etwas sehen musste.

So etwas wie eintönige Hausarbeit zum Beispiel.

Oder kleine Kuscheltiere für Alas herstellen.

„Ich bin so ein Idiot“, entfährt es Ashiya, dem es plötzlich wie Schuppen von den Augen fällt. Jetzt weiß er, wieso Urushihara ihn vor drei Wochen um Stricknadeln, Wolle und reine Schafswolle anflehte. Zuerst war er ja strikt dagegen, aber es war noch keine drei Tage her, als er Lucifer zum Weinen brachte und weil er sich deswegen immer noch schuldig fühlte, besorgte er ihm, was er sich so sehnlichst wünschte.

Bei der Erinnerung zieht er die Schultern hoch und senkt den Kopf tief zu Boden.

Ich bin so ein mieser Freund. Beschämt beißt er sich auf die Unterlippe, als ihm seine bösen Worte wieder einfallen, die er damals wütend hinausschrie:

 

Du bist ein Nichtsnutz, Lucifer!“ Er war so zornig, dass er nicht nur vergaß, dass außer Mao auch Emi, Chiho, Suzuno und Alas-Ramus anwesend waren, sondern besagten „Nichtsnutz“ auch bei seinem richtigen Namen nannte. Deshalb wirkten seine Worte natürlich viel verletzender als beabsichtigt, aber darüber machte er sich in dem Moment keine Gedanken. „Du kostest uns mehr, als du wert bist! Wenn du Hunger hast, dann SAG es, plündere nicht einfach heimlich den Kühlschrank! Das Teriyaki war für heute Abend gedacht! Mao-sama arbeitet schwer dafür, dass wir hier leben können und ich versuche wirklich mein Bestes, um uns gesund zu ernähren und du grätschst mir einfach dazwischen! Was sollen wir jetzt bitteschön essen? Sieh mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede!“

Doch Lucifer, der wie ein begossener Pudel vor ihm stand, senkte den Kopf nur noch tiefer, schlug die Hände vors Gesicht und dann hörte Ashiya zu seinem großen Entsetzen etwas, was er von Lucifer noch nie vernommen hatte: Ein Schluchzen.

Das hämische Getuschel von Seiten des Tisches verstummte abrupt und aus dem Augenwinkel konnte er sehen, dass die anderen genauso geschockt waren wie er.

Innerhalb eines Sekundenbruchteils stürmte eine wutschnaubende Alas-Ramus auf ihn zu, trat und boxte gegen seine Beine und schrie ihn an, „ihren“ Lucifer in Ruhe zu lassen. Emi sprang auf, um ihre tobende Ziehtochter von dem wie erstarrt dastehenden Ashiya fortzuziehen und dafür fing sie sich von Alas-Ramus auch einen Hieb, gefolgt von einem „Ich hasse euch!“ ein.

Es war das erste Mal, dass Ashiya dieses sonst immer so fröhliche, ausgeglichene Kind so wütend erlebte.

Lucifer murmelte etwas von „Migräne“, wischte sich übers Gesicht, ging in die Hocke, streckte nur auffordernd die Arme aus und Alas-Ramus flog ihm sofort in die Arme. Sie umarmten sich, Lucifer flüsterte etwas in ihr Ohr und sie nickte zögernd.

Lucifer strich ihr noch einmal über das Haar, dann erhob er sich, streckte die Hand aus und tastete sich an der Wand entlang zurück zu seinem Einbauschrank, während Alas-Ramus zu Mao lief.

 

Später erzählte ihm Mao betroffen, der von seinem Platz am Tisch aus Lucifers Gesicht gut im Blick hatte, dass diesem die Tränen nur so über die Wangen strömten.

Da niemand von ihnen wirklich wußte, wie sie darauf reagieren sollten, taten sie – nichts. Suzuno lud sie zu sich nach nebenan ein. Ihre Vorratskammer sei gut gefüllt und zusammen kochen mache doch Spaß.

Also ließen sie Lucifer allein zurück. Als Mao und Ashiya später wiederkehrten und einen zaghaften Blick in den Wandschrank warfen, hatte sich Lucifer zu einer Kugel zusammengerollt und fauchte sie an, sie sollten ihn in Ruhe lassen, er habe Migräne.

Am nächsten Morgen entschuldigte er sich am Frühstückstisch für sein Benehmen und erklärte es wieder mit höllischen Kopfschmerzen, die ihn nicht geradeaus denken ließen.

Und sie … kauften es ihm ab.

Weil sie nicht wußten, was sie sonst hätten tun sollen.

Weil sie... furchtbare Idioten sind.

Und weil sie so furchtbare Idioten sind, hat Lucifer ihnen wahrscheinlich auch nie etwas gesagt.

Ashiya kann es ihm wirklich nicht verübeln.

Wir hätten ihn nicht zu diesem Kurztrip hier zwingen müssen. Verärgert ballt er die Fäuste. Er wollte nicht hierher. Wieso auch? Was kann er hier schon tun? Jeder Schritt ist hier ein Schritt ins Unbekannte für ihn.

Ashiya hält inne, holt einmal tief Luft und schließt dann die Augen. Dann setzt er sich wieder in Bewegung, gibt nach zwei Schritten aber schon entmutigt auf. Es waren nur zwei Schritte, aber er hatte furchtbare Angst, hinzufallen oder gegen etwas zu stoßen.

Und Emi hat ihn aus dem Auto geworfen und ich habe ihn auch noch verspottet.

Er war ganz alleine hier draußen.

Völlig hilflos.

„Wir haben sehr viel wieder gut zu machen.“



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