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Mein ist die Dunkelheit

von

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VI. Kapitel

 

In der Hütte ist es still geworden. Alas-Ramus schläft tief und selig und auch Emi und Chiho haben sich zur Ruhe begeben. Nur noch Mao und Ashiya halten Wacht. Keinem von beiden ist nach schlafen. Ashiya sitzt auf der Couch und nippt an einem Glas Wein, während er seinen König dabei besorgt im Auge behält. Seiner bescheidenen Meinung nach gehört Mao ins Bett, doch er hütet sich, ihn darauf anzusprechen. So wie er seinen König kennt, wird dieser diese Nacht sowieso kaum ein Auge zumachen.

Mao steht am Fenster und starrt hinaus, als könne er den Vermissten allein durch Kraft seiner Gedanken herbeizwingen.

„Es schneit immer noch, Ashiya.“ Mao seufzt tief auf. „Wenn es so weitergeht, haben wir bald keine Spuren mehr, denen wir folgen können.“

„Wenn wir ihn nicht finden, Mylord, holen wir die örtliche Polizei zu Hilfe.“ Die Worte schmecken Ashiya wie Asche im Mund, aber so sehr sie es auch sonst immer vermeiden, mit den Behörden in Kontakt zu treten, ist die Polizei doch eine gute Alternative, wenn alle anderen Mittel erschöpft sind. Es ist das einzige Zeichen seiner eigenen Besorgnis, das er zu zeigen bereit ist. Sein König braucht schließlich einen starken Getreuen an seiner Seite, jemanden, der ihm Mut und Hoffnung schenkt.

„Mao-sama...“ aus den Schatten des Flures schält sich plötzlich eine kleine Gestalt in einem rosa Flanellpyjama.

Sofort zaubert Mao ein freundliches Lächeln auf sein Gesicht.

„Was ist, Chiho-chan? Kannst du nicht schlafen?“ erkundigt er sich besorgt.

Die Teenagerin lächelt schief und verlagert verlegen das Gewicht von einem Fuß auf den anderen.

„Mao-sama... ich...“, sie holt einmal tief Luft und dann sprudelt es regelrecht aus ihr heraus:

„Also, ich wollte nur klarstellen, dass es nicht stimmt, was Alas-Ramus gesagt hat. Ich habe nichts gegen Urushihara. Ich kann ihn sogar ganz gut leiden. Ich betrachte ihn als Freund … uhm, na ja, ich wollte nur, dass du das weißt.“

„Ich danke dir, Chiho-chan. Ich bin mir sicher, Urushihara wird sich freuen, wenn du ihm das sagst. Sobald er wieder bei uns ist“, fügt Mao dann mehr zu selbst hinzu.

Aber Chiho versteht jedes Wort und sie hört auch den traurigen Unterton heraus. Es klingt, als habe er schon aufgegeben. Nein, entschieden schüttelt sie den Kopf. Das darf nicht sein.

„Wir finden ihn. Ganz bestimmt sogar“, versichert sie ihm eifrig und zögert dann.

„Hm … Mao-sama“, räuspert sie sich, plötzlich ganz schüchtern. „Also, ich möchte euch morgen bei der Suche nach Urushihara helfen, wenn ich darf.“

„Natürlich, Chiho. Deine Hilfe ist uns sehr willkommen. Das ist wirklich sehr lieb von dir.“

Erfreut über das Lob, wünscht sie den beiden eine gute Nacht und eilt dann mit hochroten Wangen zurück in ihren Raum.

Mao sieht ihr lange nach und Ashiya mustert ihn besorgt. Ihm gefallen die Schatten nicht, die die Sorge in das junge Antlitz seines Königs malt, von dem grimmigen Zug um dessen Mundwinkel ganz zu schweigen.

„Mylord“, zieht er Maos Aufmerksamkeit auf sich. „Bitte, setzt Euch einen Moment zu mir.“

Tatsächlich folgt Mao seiner Bitte, wenn auch etwas zögernd, und als er schließlich neben ihm sitzt, hat Ashiya sein Glas wieder gefüllt und reicht es ihm nun mit einem auffordernden Lächeln.

Und Mao, froh, sich mit etwas ablenken zu können, mit irgend etwas, nimmt es nur zu gerne an.

 

 

Urushihara erwacht von einem ungewöhnlichen Gefühl: jemand streichelt ihm mit den Fingern durchs Haar. Es ist nicht das unbeholfene Tätscheln kleiner Kinderhände, also nicht Alas-Ramus, sondern das bedächtige Sortieren einzelner Haarsträhnen. Es fühlt sich überraschend gut an.

Und dann vernimmt er ein leises Glucksen. Doch es steckt keine echte Belustigung dahinter.

„Na, da hast du dich ja mal wieder in schöne Schwierigkeiten gebracht, hmmm?“

Beim Klang dieser Stimme zuckt Urushihara überrascht zusammen.

„Gabriel...?“

„Hm-hm“, kommt es in dem typischen, immer leicht verspielten Summton zurück, der eine falsche Oberflächlichkeit suggeriert, die schon viele zu dem Fehler verleitet hat, den ältesten aller Erzengel zu unterschätzen.

In stummer Frustration verkrallt Urushihara seine Finger im kalten Schnee. Dass ihn ausgerechnet sein ehemaliger Mentor in dieser Lage antreffen muss, ist mehr als erniedrigend!

„Schau dich nur an Luci“, tadelnd schnalzt Gabriel mit der Zunge und Urushihara kann sein vorwurfsvolles Gesicht fast schon vor sich sehen: die aristokratischen Gesichtszüge, die denen Alciels so ähnlich sind, dazu diese weinroten, ernsten Augen und das schulterlange, silberne Haar.„Liegst hier ganz allein im Schnee. Dabei hättest du ihnen doch nur die Wahrheit sagen müssen. Dann würdest du jetzt auf deinen zwei Quadratmetern privaten Paradieses im Warmen hocken anstatt hier jämmerlich zu erfrieren.“

Zwei Quadratmeter Paradies. Ja, stimmt, so hatte er seine Computerecke in Maos Wohnung bezeichnet, nicht ahnend, wie bald er doch aus diesem Paradies vertrieben würde. Um Urushiharas Mundwinkel zuckt ein bitteres Lächeln.

Langsam öffnet er die Augen, doch da erwartet ihn natürlich nur die übliche Dunkelheit.

Er hört das typische Rascheln vom schweren Stoff einer weißen Toga und spürt, wie sich jemand über ihn beugt und seine großen Schwingen über ihm ausbreitet. Gabriels Flügel halten den Wind und den fallenden Schnee gnädig zurück, unter ihnen ist es warm und trocken, fast schon gemütlich.

„Sag, Lucilein“, schnurrt Gabriel in sein Ohr, „was ist eigentlich schlimmer? Langsam im Schnee zu erfrieren oder auf einem Schlachtfeld im Nirgendwo zu verbluten?“

Das Schlachtfeld. Ungebeten kommen die Erinnerungen zurück. Sein Luftkampf mit Emilia, wie sie ihm ihr Schwert mitten durch die Brust stieß, wie er aus fünfzig Metern Höhe auf die Erde stürzte, wie der Schmerz erst kurz vor seinem Aufprall über ihn zusammenschlug, sein Aufprall, untermalt vom Bersten seiner Flügelknochen, auf denen er unglücklicherweise landete, gefolgt von weiteren unsäglichen Schmerzen und Blut...

Unwillig schüttelt Urushihara den Kopf - das heißt, er würde es tun, wenn er noch die Kraft dazu hätte.

„Wie sich die Dinge doch wiederholen, nicht wahr? Damals hat dich auch niemand gesucht.“

Das stimmt.

Urushihara spürt, wie der letzte Funken Widerstand ins einem Inneren erlischt, als er wieder an diesen unglückseligen Tag zurückdenkt, an dem er begriff, dass diejenigen, die er dreihundert Jahre lang als seine Kameraden angesehen hatte, die er sich gestattet hatte, zu mögen, ihm einfach so den Rücken zukehrten.

Das war viel schlimmer als all das Blut und die Schmerzen.

„Es tat weh, zu sehen, wie schnell sie sich mit den Menschen angefreundet hatten, nicht wahr? Wie schnell sie dich doch vergessen hatten. Sie dachten nicht einmal mehr an dich. Du warst nicht einmal eine Fußnote in ihrem Leben.“

Das stimmt. Alles in ihm zieht sich bei dieser Erkenntnis schmerzhaft zusammen und es ist, als würde sich ein großes, schwarzes Loch auftun, um ihn zu verschlingen. Eine Schwärze, dunkler noch als die Finsternis vor seinen Augen.

„Niemand vermisst dich.“

Doch. Ein kleiner Hoffnungsstrahl durchzuckt ihn.

„Alas...“

„Sie hat Mao und alle anderen und wird dich schnell vergessen haben. Sie braucht dich nicht. Ohne dich ist sie sogar viel besser dran, denn wegen dir gibt es immer Streit mit ihrer Mama.“

Oh.

Ja, das stimmt.

„Armer Lucifer.“ Plötzlich sind da wieder diese sanften Finger in seinem Haar. „War es das wirklich wert, deine Heimat zu verlassen?“

War es das? Er weiß es nicht. Im Moment erinnert er sich nicht einmal mehr, warum er damals fortging.

Müde schließt er wieder die Augen. Er ist so unendlich furchtbar müde.

„Ich weiß.“ Gabriels Stimme ist ein leises, schmeichelndes Raunen an seinem Ohr. Und plötzlich wechselt er von japanisch in die Sprache der Engel und diese insgeheim so vermisste, wohlklingende Sprachmelodie erweckt in Urushihara so großes Heimweh, dass ihm für einen Moment der Atem stockt.

„Quae omnia momento desinunt. Reviertere ad nos, Lucifer. Deus te exspetcant. Tu Mama caret te.“

Aber all das kann hier und jetzt enden. Komm zurück zu uns, Lucifer. Gott wartet auf dich. Deine Mama vermisst dich.

Ignora … vermisst ihn?

In einer letzten, großen Kraftanstrengung, rappelt sich Urushihara auf die Knie auf und greift nach Gabriels ausgestreckter Hand.

 

 



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