Zum Inhalt der Seite

Memento defuncti - Ein Requiem zu früh

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Gefunden!

Olba machte seine Drohung wahr und zwang Lucifer den halben Vormittag lang Kaugummis unter den Stühlen und Bänken der Versammlungshalle weg zu kratzen, während er selbst in der Nähe arbeitete und seinen Kumpan, wie ein Kettenhund, überwachte. Jedes Mal wenn der Engel versuchte, sich davonzustehlen, oder die Aufgabe nicht richtig erledigte, erfassten die Argusaugen des Erzbischofs die Sünde sofort und trieben den Faulenzer wieder zur Arbeit an. Nach vier Stunden hatte Lucifer überall blaue Flecken davon, mit diversen Werkzeugen eines wütenden Hausmeisters gestoßen, gestochen, geschlagen und beworfen worden zu sein. Als Olba ihm endlich erlaubte, zum Mittagessen in die Mensa zu gehen, reichte es dem ehemaligen Dämonengeneral endgültig und er beschloss, abzuhauen. Seine Möglichkeiten dazu waren inzwischen mannigfaltig. In der Mensa begegnete er zunächst Shinsuke und ging bei ihm sofort in die Vollen. Er tippte ihm auf die Schulter und wartete auf das glückliche Strahlen, das dessen Gesicht immer zeigte, wenn er Satori sah. Süß lächelnd legte Lucifer dem bulligen Knaben die Arme um den Hals und setzte sich auf dessen Schoß. Viele der wohlerzogenen, scheuen Japaner in der Nähe rümpften über diese schamlose Zurschaustellung von Zuneigung die Nase, sahen peinlich berührt weg oder reagierten sogar entsetzt. Aber Shinsuke hatte immer noch die Mentalität eines in Amerika aufgewachsenen Jungen und Lucifer kannte keine Scham, darum kümmerten sie sich nicht darum, was die anderen dachten.
 

Shinsuke griff nach Satoris Gesicht und wollte es zu einem Kuss näher an seines ziehen. Lucifer ließ es aufgrund der besonderen Umstände noch einmal zu, dass der Mensch ihn auf die Lippen küsste und strich währenddessen sogar zärtlich mit den Fingern durch dessen kurze, hellbraune Haare. Der Leiter des Wrestling Klubs schmolz, wie Wachs, in Lucifers Händen. Als sie sich voneinander lösten, hatten Shinsukes Augen den glasigen Blick eines willenlosen, verliebten Teenagers und er war bereit, alles zu tun, was seine Amatsuotome von ihm verlangte. Sie verlangte, er solle heute mit ihr auf seinem Motorrad wegfahren, weiter weg als nur bis zur nächsten Imbissbude. Er solle sie richtig umfassend ausführen, die ganze Nacht lang. Sie stellte ihm sogar in Aussicht, möglicherweise bei ihm übernachten zu wollen, wenn der Abend amüsant genug würde. Shinsuke wusste gar nicht, wie er dieses ganze Glück nur bewältigen sollte. Allein die Tatsache, dass das schönste Mädchen der Schule gerade auf seinem Schoß saß und ihn küsste, ließ ihn schon hart werden. Und nun – seine Hormone spielten vollkommen verrückt – wollte sie vielleicht sogar bei ihm übernachten! In seinem Zimmer! Er versprach ihr alles!
 

Lucifer wollte gerade weiter verlangen, sie sollten mit ihrem Date sofort anfangen und den Rest des Tages schwänzen, da entdeckte er seine Gang. Er drückte Shinsuke einen Zettel in die Hand, dass er sich auf den Ausflug freue und sie sich nach der Schule auf dem Parkplatz träfen, dann rutschte er von dessen Schenkeln und lief zu seiner Mädchenbande hinüber. Shinsuke konnte die gesamte Pause über nicht mehr von seinem Stuhl aufstehen, bis seine steife Reaktion auf Satoris Freizeitwünsche abgeklungen war.
 

Die Mädels waren leicht davon zu überzeugen, den Rest des Tages zu schwänzen und so verbrachte Lucifer die nächsten Stunden nicht unter der Fuchtel eines verrückten Hausmeisters, sondern lag nach ein paar gelungenen Diebstählen mit Snacks und Softdrinks ausgestattet im Park zwischen seinen Freundinnen. Er hörte deren Geschnatter und Gekicher nur mit halbem Ohr zu. Sie redeten über Spiele, über Klamotten, über Fernsehserien, die Schule, Sport und Jungs. Makoto wollte von Satori wissen, wie ihre Beziehung zu Shinsuke eigentlich so lief und wie sie überhaupt zueinander gefunden hätten. Sie erhoffte sich wohl Erfolg versprechende Tipps, die sie dann bei Katō Kainyū umsetzen könnte. Lucifer zuckte bescheiden mit den Schultern und winkte ab. Jetzt hatte er allerdings plötzlich die Aufmerksamkeit der ganzen Bande. Alle Augen starrten ihn begierig an. Besonders Toshikos Blick schien ihn zu durchbohren. Lucifer fing an zu ahnen, dass Toshiko eventuell mehr in Satori sah als nur eine Freundin und Anführerin, aber was wusste er schon von Menschen und ihren Paarungsritualen? Er konnte sich irren.
 

Da die anderen nicht locker ließen, nahm er innerlich seufzend seinen Notizblock zur Hand und schrieb in knappen Sätzen die zuckersüße Geschichte auf, wie Shinsuke Satori angerempelt und ihr Buch aufgehoben hatte, wie sie ihn mehrfach abwies, wie er sich prügelte, um ihre Ehre vor Katō zu verteidigen, wie er ihr aushalf, als ihre Karte in der Mensa nicht gedeckt war und wie sie sich schließlich zum ersten Mal küssten, nachdem er ihr als Zeichen seiner Liebe die PASTA schenkte, die er für sie vom Hausmeister gestohlen hatte. Die Mädchen zergingen vor Romantik, als sie das lasen.

„Mein Zukünftiger müsste auch ein harter Draufgänger sein. Darunter verschenke ich meine Jungfräulichkeit nicht!“, meinte Rin fest.

„War klar, dass du noch Jungfrau bist, Rin.“, stichelte Nagori und es war irgendwie seltsam, so etwas aus dem Mund einer Gothic-Lolita zu hören, „Wenn du‘s nicht wärst, würdest du wohl kaum so eine gute Späherin abgeben.“

„Wie meinst du das?“, wollte Kotone mit ihrer sanften, melodischen Stimme wissen.

„Ist doch klar, Mensch!“, intervenierte Makoto, „Wenn du einmal gefickt hast, nimmt man dir das unschuldige, kleine Mädchen einfach nicht mehr ab. Du hast dann Ausstrahlung. Lebenserfahrung.“, erklärte sie im Brustton der Überzeugung.

„Ach und du hast schon mal, oder was?“, warf Toshiko an Makoto gewandt ein.

„Nee.“, feixte Makoto ehrlich, „Aber ich hab zwei ältere Schwestern und die treiben‘s, wie die Karnickel!“

Alle lachten und sogar Lucifer grinste. Rin wurde von den älteren Mädels freundlich auf die Schulter geboxt oder umarmt, je nach Charakter, um ihr zu signalisieren, dass sie es alle nicht böse meinten. Tatsächlich hatte wahrscheinlich noch keine von ihnen praktische, sexuelle Erfahrungen gesammelt, aber das war in dieser Runde völlig egal. Es herrschte einfach eine wohltuende Einigkeit zwischen den Mädchen, die Lucifer an seine Armeen erinnerte. Mit diesen Mädchen würde er seine bescheidenen Ziele hier auf Erden erreichen können, da war er sich ziemlich sicher.
 

Am Nachmittag traf er sich dann mit Shinsuke am Parkplatz und der nahm ihn, wie so oft, auf dem Soziussitz seines Motorrads mit in die Stadt. Zunächst machten sie von dort aus eine kleine Spritztour, bei der Shinsuke Satori die schönen und weiter entfernten Plätze der Gegend zeigte. Als sie sich an einem Aussichtspunkt ein Matcha-Kitkat und eine Tüte Mochi mit roter Bohnenpaste teilten, vibrierte Shinsukes Handy. Er holte es heraus und las die Nachricht.

„Hast du Lust auf Karaoke?“, fragte er an Lucifer gewandt. Dem war alles recht, was seine Entscheidung hinauszögern würde, ob er mit Shinsuke oder Olba die Nacht verbrachte. Er wollte schon nicken, als Shinsuke plötzlich feuerrot im Gesicht wurde und anfing, sich zu entschuldigen. Lucifer verstand erst gar nicht was los war, bis ihm wieder einfiel, dass er ja das stumme Mädchen spielte. Er hätte fast gelacht. Beruhigend legte er Shinsuke die Hand auf den Arm, lächelte und tippte sich ans gepiercte Ohr. Nur weil er nicht singen würde, konnte er ja trotzdem zuhören.

So fuhren sie wieder in Richtung Sasasuka und hielten dort vor einem Reihenhaus mit mehreren Stockwerken. Die Karaokebar befand sich im ersten Stock. Sie kauften Snacks, Süßigkeiten und Getränke und gesellten sich dann zu den anderen in die Kabine.
 

Es waren vor allem Freunde von Shinsuke anwesend, die Lucifer nicht kannte. Shinsuke stellte seine Satori stolz allen vor und Lucifer tat sein bestes, um süß und schüchtern zu wirken. Eines der anwesenden Mädchen hatte ihren älteren Freund dabei, der eine Flasche Shochu an alle ausschenkte. Shochu, so erfuhr Lucifer nach einer kurzen, verstohlenen Googlesuche auf seinem Handy, sollte in Japan die am meisten getrunkene Spirituose sein, ein absolutes Nationalgetränk. Gerade bei der jüngeren Generation seit Jahren sehr beliebt. Shochu ist eine durch Destillation gewonnene Spirituose, die in der Regel einen durchschnittlichen Alkoholgehalt von rund 25 bis 30 Prozent aufweist, manchmal auch bis zu 45 Prozent – dies ist in Japan allerdings die gesetzliche Obergrenze –, und als Erstes auf der Insel Kyushu im Süden Japans hergestellt wurde. Shochu wird in Japan bereits seit über 550 Jahren produziert. So viel wollte Lucifer eigentlich gar nicht wissen. Andererseits verkraftete sein menschlicher Körper gar nichts im Gegensatz zu seiner einst so überlegenen Engelsphysiologie. Und so sah er heimlich auf das Etikett der Flasche. 25% Alkohol. Außerdem mischte der Ältere die Spirituose mit verschiedenen Softdrinks zu Chuhai‘s, in den westlichen Ländern bekannt als Alkopops. Lucifer ließ sich einen Schuss in seine Mangolimo geben. Er schmeckte den Alkohol fast gar nicht heraus, als er probierte, aber ihm wurde warm, wohlig und gelöst. Eine himmlische Ruhe und Zufriedenheit breitete sich in ihm aus.
 

Er konnte diesen Zustand allerdings nicht lange genießen, denn zu seiner großen Bestürzung trafen bald nach ihm die Yandere und ihre Mädels ein. Offenbar waren sie von einem der anwesenden Mädchen eingeladen worden. Sie waren auch die ersten, die sangen. Einen lahmen Popsong mit dem zusammengefassten Inhalt >Ich liebe dich, du weißt es nicht, aber ich lass dich nicht mehr gehen<. Lucifer empfand es als minderwertige Trommelfellbeleidigung. Shinsuke schien die Musik allerdings zu gefallen. Besitzanzeigend legte er den Arm um Satori damit auch alle sahen, mit was für einer Schönheit er hier aufgeschlagen war. Der Yandere pochte bald darauf eine wütenden Ader auf der Stirn. Shinsukes Motorradjacke tat ihr übriges dazu, um ihn bei jedem und jeder entweder zum Helden oder zum Objekt des puren Neids zu machen. Lucifer wurde bewusst, dass sie beide hier das Königspaar waren. Dennoch fühlte er sich unwohl. Es war zu eng. Zu viele Menschen. Und er musste sich immer an Shinsukes Seite halten, um der Yandere keine Chance zu geben, ihn alleine zu erwischen. Das wurde jedoch zunehmend schwieriger, als die süße Alkohol-Limo-Mischung seine Blase füllte und anmerkte, dass es Zeit wurde, sie wieder los zu werden. Dabei brauchte Lucifer den Alkohol unbedingt, denn er spürte den Blick der Yandere auf sich haften, wie ein Kaugummi an einer Schuhsohle.
 

„Ich geh mal aufs Klo. Wartest du hier?“, fragte Shinsuke plötzlich. Lucifer nickte automatisch, weil er das meistens tat, wenn er nicht zuhören wollte. Aber jetzt stand Shinsuke auf und ließ ihn allein. Lucifer sah ihm mit steigender Nervosität nach und empfand seinen schwachen Menschenkörper wieder einmal als ausgesprochene Last. Kaum war Shinsuke außer Sicht, näherte sich die Bobfrisur. Lucifer sprang auf, zwängte sich geschmeidig zwischen den herumstehenden und tanzenden Leibern hindurch und flüchtete aus der Kabine in den Flur. Erst hier wurde ihm schwindlig und er musste sich kurz an der Wand abstützen, um nicht zu fallen. Im Sitzen hatte er den Alkohol nicht so gemerkt, dafür störte er jetzt all seine Sinne. Mühsam orientierte er sich und ging dann vorsichtig auf die Türen der Toiletten zu. Inzwischen war er es gewohnt, die Damentoilette anzusteuern, doch diesmal wäre er wirklich lieber Shinsuke hinterher. In seinem Zustand würde er nicht kämpfen können und gegen die Yandere mit Gefolge kam er gleich dreimal nicht an.
 

Zwischen den Türen stehend, überlegte er, ob die Situation verzweifelt genug war, um Shinsuke auf die Herrentoilette zu folgen, ihn in eine Kabine zu ziehen und eine wilde Knutscherei mit ihm anzufangen, bis er gewillt war, ihn hier schleunigst wegzubringen. Bei Shinsuke Zuhause konnte er dann ja immer noch Kopfschmerzen vom Alkohol vortäuschen. Beziehungsweise... wahrscheinlich musste er die bis dahin nicht mal vortäuschen. Lucifer hielt sich den Kopf, während sich alles um ihn herum drehte.

Da hörte er hinter sich eine Tür zuschlagen und sah sich danach um. Die Yandere stand im Flur und offenbar hatte sie inzwischen ebenfalls getrunken, denn sie hatte leicht gerötete Wangen und einen recht glasigen Blick. Das war für Lucifer das Startsignal, seinen eben gefassten Plan in die Tat umzusetzen. Entschlossen stieß er die Tür auf und drang in den Toilettenraum ein. Hastig sah er sich um. Kein Shinsuke. Irritiert suchte Lucifer die leeren Kabinen ab. Er konnte nicht unbemerkt an ihm vorbeigegangen sein! Hatte Shinsuke ihn angelogen und war woanders hin verschwunden? Ein fieser kleiner Stich schmerzte in Lucifers Brust. Oh, so fühlte es sich also an, verraten und verlassen zu werden. Etwas ratlos stand Lucifer da und sah sich in dem leeren Raum um. Keine Urinale, bemerkte er mit wattigem Kopf. Da ging dem ehemaligen Dämonengeneral auf, dass er aus reiner Gewohnheit in die Damentoilette gestürzt war. Er war im falschen Raum!
 

Plötzlich spürte Lucifer eine grobe Hand auf seiner Schulter und etwas langes, kaltes und scharfes an seiner Kehle.

„Kein Mucks, stummes Mädchen.“, kicherte eine böse, weibliche Stimme rauchig in sein Ohr, „Schön mitkommen oder ich schneide dir gleich hier, die Kehle auf!“

Lucifer blickte hektisch aus den Augenwinkeln nach allen Seiten. Erst weigerte er sich noch, dem Ziehen der Yandere an seiner Schulter nachzugeben und versuchte sich aus ihrem Griff zu winden. Aber dann schlang sie ihm den ganzen Arm um die Brust und schnitt ihm in die Haut. Es brannte furchtbar und jagte Lucifer einen gehörigen Schrecken ein, sodass sein Widerstand verebbte. Flach atmend folgte er dem Druck des ihn leitenden Armes rückwärts in eine der Kabinen. Verdammt, verdammt, verdammt! Da er rückwärts geführt wurde, konnte er nicht vorausschauend genug planen, um sich eine Waffe oder etwas ähnlich hilfreiches auf dem Weg zu besorgen. Er sah die Gegenstände, die ihm eventuell geholfen hätten, immer erst, wenn er schon an ihnen vorbei war. Er brauchte ein Wunder; einen geeigneten Moment! Plötzlich hörte er die Yandere in seinem Nacken aufkeuchen. Kurz darauf riss ihr Arm ihn so heftig nach hinten, dass er das Gleichgewicht verlor und stürzte.
 

„Pass doch auf!“, hörte er die Bobfrisur über ihm rufen, die sich gerade wieder fing, nachdem sie mit jemandem zusammengestoßen und gestolpert war. Lucifer dagegen saß nun mit geprellter Hüfte am Boden.

„Bitte entschuldige, Kobayashi, ich bin wohl etwas zu stürmisch reingekommen. Alles in Ordnung?“, hörte er die Stimme des Mädchens mit dem älteren Freund antworten. Aus dem Augenwinkel sah er, wie die gerade als „Kobayashi“ angesprochene Yandere erneut die Hand nach ihm ausstreckte. Der scharfe Gegenstand, mit dem sie ihn verletzt hatte, war allerdings verschwunden. Um der erneuten Gefangennahme zu entgehen, warf sich Lucifer auf den Rücken und trat Kobayashi von vorne gegen das Knie. Das Mädchen mit der schwarzen Bobfrisur schrie gellend auf und krümmte sich nach der schmerzenden Stelle. Lucifer zögerte nicht und trat erneut zu. Diesmal erwischte er sie am Kopf. Doch statt ohnmächtig zu Boden zu sinken, wie Lucifer sich das erhofft hatte, blickte Kobayashi nun erst richtig sauer auf. Lucifers violette Augen weiteten sich. Seine Lippen öffneten sich zu einem stummen „Kacke“ und er begann rücklings davon zu robben. Aber Kobayashi warf sich nach vorne, packte Lucifers Unterarme und drückte seinen ganzen, schmalen Körper zu Boden. Ihr spitzes Knie bohrte sich in seine Hüfte und zwar gefährlich nahe seiner Hoden.
 

„Kobayashi! Was machst du denn? Lass Satori in Ruhe!“, rief das unbeteiligte Mädchen wütend.

"Halt die Klappe, Yoko, das geht dich nichts an!", fauchte die Yandere über die Schulter, während sie Lucifer in Schach hielt. Die Angefauchte ließ sich aber nicht so leicht einschüchtern. Sie trat vor und setzte Kobayashi fest, indem sie ihr die Arme um den Oberkörper schlang und sie von Lucifer herunter zog. Der Engel glitt unter der tobenden Yandere heraus. Dabei stieß er versehentlich mit der Schulter gegen ein Tischchen. Mehrere Gefäße und Fläschchen mit Seife, Parfüm und Hygieneartikeln kamen dadurch auf der Tischplatte ins Wanken, fielen schließlich um und rollten vom Tisch. Lucifer konnte gerade noch instinktiv die Hände über den Kopf halten, um nicht von einem Seifenschälchen erwischt zu werden. Daraufhin suchte er Deckung unter den Waschbecken.
 

Als er wieder aufsah, befreite sich Kobayashi gerade von Yoko, stieß sie zurück und sprang wie eine Furie erneut auf Lucifer zu. Er sah, wie ihre Hand in die Rocktasche glitt, wo das Miststück zweifellos ihre lange Stoffschere aufbewahrte. Dann huschte der Blick der violetten Augen nach oben, gefolgt von seinen Händen. Geistesgegenwärtig griff er nach der hölzernen Tischkante und warf ihn um, sodass er Kobayashi entgegensegelte. Der Plan funktionierte sogar besser als erwartet. Die Yandere wurde durch die Aktion nicht nur aufgehalten. Es landeten auch so viele Flüssigkeiten auf dem Boden, dass Kobayashi darin ausrutschte und hinfiel. Nun saßen sich Lucifer und sie wieder auf Augenhöhe gegenüber und atmeten beide schwer. Lucifer stellte überrascht fest, dass er lächelte. Der Kampf machte ihm Spaß.
 

Zwei Schreie folgten auf Kobayashis Sturz kurz nacheinander. Der erste kam von Yoko, die gleich darauf entsetzt die Hände vor den Mund schlug. Der zweite kam von Kobayashi selbst, als sie die große Scherbe aus ihrem Unterarm herausragen sah.

„Krankenwagen!“, stieß Yoko hervor und rief dann lauter: „Wir brauchen einen Krankenwagen! Bloß nicht rausziehen! Das könnte es noch schlimmer machen!“

"Halt die Schnauze, Yoko, so schlimm ist das nicht!", fuhr die Yandere sie an und operierte bereits an der Scherbe herum. Blut quoll aus ihrem Unterarm und tropfte auf den Boden des Waschraums. Lucifer nutzte die allgemeine Ablenkung, um unter den Waschbecken hindurch in Richtung der Tür zu krabbeln. Beim Anblick des Blutes wurde Yoko in dem Moment ohnmächtig, als Lucifer durch die Tür nach draußen entwischte. Er beschloss zu verschwinden, bevor noch jemand auf die Idee kam, mit dem Finger auf ihn als Schuldigen zu zeigen. Das Adrenalin verdrängte die Wirkung des Alkohols ein wenig, sodass er wieder klarer denken konnte. Unbemerkt schlich er sich in die Karaokezelle, in der Shinsuke bereits wieder bei den anderen saß. Er hatte seine Jacke inzwischen ausgezogen und an die Garderobe gehängt. Lucifer nahm sie und huschte damit erst auf den Flur zurück und dann aus dem Gebäude.
 

Auf dem Weg zu Shinsukes Motorrad, zog er die viel zu große Jacke über und fand in der Tasche die Schlüssel. Ohne zu zögern, schwang er sich auf die Maschine. Er hatte es eilig vom Tatort wegzukommen, solange er seine vollen Kräfte nicht wiedererlangt hatte! Er hatte von der Polizei und Gefängnissen gelesen und er hatte keine Lust, im Knast die „Frau“ eines verrückten Schwerverbrechers namens „Choke-chan“ oder so was zu werden. Lucifer ließ den Motor an, riss die Maschine in die Waagerechte und kickte den Ständer nach hinten. Dann strauchelte er und wäre beinahe mit dem schweren Gerät umgefallen. Shinsuke konnte seine Maschine mühelos halten, darum hatte Lucifer ihr Gewicht unterschätzt. Mit purer Willenskraft und eventuell einem Tropfen Magie, brachte er die Maschine wieder ins Gleichgewicht, hielt sich am Lenker fest, gab Gas und hob das zweite Bein von der Straße. Die Maschine sauste los. Der Engel brauchte nicht lange um ein Gefühl für die Maschine zu bekommen. Die wichtigsten Verkehrsregeln hatte er sich bei Shinsuke abgeschaut. Dennoch waren die Fahrkünste des Engels recht… selten. Die Maschine schwankte und schlingerte, fädelte sich eher durch Glück denn absichtlich in den Verkehr ein und Lucifer hatte einen unverschämten Dusel, dass so lange keine Ampel kam, bis er herausgefunden hatte, wo sich die Bremse befand. Es fiel ihm schwer, über ein Ziel seiner Fahrt nachzudenken, wenn er gleichzeitig noch diese Höllenmaschine reiten musste, obwohl ihm das Ding zugegeben einen Mordsspaß machte. Irgendwann setzte er den Blinker und steuerte die nächste Ausfahrt an. Zufällig war es der Bahnhof von Sasazuka. Dort fuhr er auf einen Parkplatz und brachte das Motorrad zum Stehen. Lucifer kippte die Maschine auf den Ständer, zog den Schlüssel ab und setzte sich dann mit angezogenen Beinen erst einmal auf eine Bank in der Nähe, um nachzudenken. Wo sollte er jetzt hin? Etwa zurück zu Olba, sich die nächste Strafe abholen?
 

„Hey, gehört das Motorrad dir?“, fragte eine freundliche Stimme, die Lucifer wage bekannt vorkam. Aber er sah nicht auf und antwortete auch nicht. Ihm knurrte der Magen. Er war den ganzen Tag lang erst mit seinen Girls und dann mit Shinsuke unterwegs gewesen und hatte außer Süßkram noch nichts in den Bauch bekommen. Jetzt war es schon spät und er saß irgendwo an einem Bahnhof als Ausgestoßener fest. Wieso fühlte sich das so merkwürdig vertraut an?

„Ui, also ich will ja nicht unhöflich sein, aber das Magenknurren habe ich sogar bis hier her gehört. Willst du vielleicht mit mir kommen? Ich arbeite bei dem MgRonalds da drüben, bin gerade auf dem Weg zur Arbeit. Meine Schicht fängt gleich an. Ich nehm' dich mit, wenn du willst.“ Lucifer runzelte die Stirn. Wieso war diese Tussi so versessen darauf, ihn mit ihrer klebrigsüßen Honigstimme einzulullen? Fest entschlossen, dieses Menschenweib zur Hölle zu schicken, sah er auf und öffnete schon den Mund. Vor ihm stand ganz allein ein sehr kleines Fräulein mit sehr großen Brüsten und zwei kleinkindmäßigen Zöpfen, die ihr vom Kopf abstanden. Er erkannte sie. Es war Chiho aus der 2B. Wortlos klappte er den Mund wieder zu. Dann griff er in seine Rocktasche nach seinem Notizblock, um mit ihr zu reden, aber der Block war nicht mehr da. Er musste ihn auf der wilden Fahrt durch die Nacht verloren haben. Verdammte Scheiße! Hilflos drehte er die Rocktasche auf links, als könnte sich der Block in einer Stoffalte versteckt haben.

„Oh, ich verstehe. Du hast kein Geld dabei. Na, macht nichts. Ich leih' dir was. Wir sind doch schließlich Schulkameradinnen.“, interpretierte sie Lucifers Griff in die leere Tasche erfreulicherweise falsch. Lucifer stand auf und nickte, um zu zeigen, dass er einverstanden war. Zusammen liefen sie die vielleicht 50 Meter bis zum MgRonalds am Bahnhof und traten ein. Drinnen war es angenehm warm und stickig und es roch verlockend nach ungesundem, vor Fett triefendem Zeug. Lucifer wurde der Mund wässrig.
 

Hinter dem Tresen stand ein mäßig attraktiver Durchschnittstyp mit grünschwarzem Haar in der üblichen senf- und ketchupfarbigen Arbeitskleidung der Fastfoodkette. Lucifer verschwendete keinen zweiten Blick auf ihn.

„Willkommen, haben Sie sich schon… oh Chiho, du bist es. Wen bringst du denn da mit?“, kam die Bedienung von ihrem vorgeschriebenen Begrüßungssatz ab, weil sie die Kollegin erkannte. Chiho hoppelte auf den Tresen zu, wobei sowohl ihre Zöpfe, als auch ihre Brüste affig wippten. Lucifer schlurfte hungrig hinterher. Am Tresen schnappte er sich eine der Menükarten und zeigte auf die Dinge, die er haben wollte: Ein BigMgBurger, Chicken Nuggets, Pommes und eine Mangolimonade. Wobei er nicht einen Gedanken daran verschwendete, dass ihm das Geld dafür geliehen wurde, und er deshalb vielleicht höflicherweise nicht ganz so gierig sein sollte. Chiho wirkte wie ein Reh im Scheinwerferlicht eines heranrasenden Autos. Lucifers Verhalten war ihr vor dem Kollegen offenbar peinlich.

„Äh...“, stammelte sie überfordert und ihr Blick huschte Hilfe suchend herum, dann lachte sie höflich und legte Lucifer sanft einen Arm um die Schultern, wie um ihn vor den bösen Gedanken anderer in Schutz zu nehmen.

„Sadao, das ist Satori. Wir gehen auf dieselbe Schule. Sie ist stumm und hat leider ihren Block nicht dabei, auf den sie sonst immer aufschreibt, was sie sagen möchte. Tut mir leid.“, erklärte sie mit einer kleinen Verbeugung und drückte auch Lucifer den Kopf runter. Der Engel knurrte stumm in sich hinein und verfluchte das Gör, das ihm dummerweise erst noch das Essen zahlen musste, bevor er grob zu ihr sein konnte.
 

„Ach so, macht doch nichts. Ich kümmere mich um die Bestellung. Zieh du dich lieber schon mal um, sonst fängst du noch aus Versehen deine Schicht zu spät an, Chiho.“, erinnerte er sie, während er Lucifers Bestellung in den Computer eingab. Gelangweilt sah Lucifer ihm dabei zu. Irgendetwas an diesem Typen fing nun doch an, seine Aufmerksamkeit zu erregen.

„Das Essen kommt gleich.“, meinte er, während Lucifer mit dem gesamten Oberkörper auf dem Tresen lümmelte, das Gesicht halb in den vor der Nase verschränkten Armen vergraben, und zu ihm auf sah.

"Setz dich doch schon mal. Ich bring die Sachen gleich.", erklang Chihos Stimme von irgendwo aus den Personalräumen. Lucifer zog den Oberkörper vom Tresen, suchte sich einen Tisch in der Nähe und lümmelte dort weiter. Er vermisste seine PASTA. Außer ihm waren noch eine Dreiergruppe Jugendliche da, ein alter Mann, der wie ein Penner wirkte und ein Glatzkopf in den besten Jahren mit Rottweiler. Lucifer runzelte die Stirn. Dann nahm er sich eine Serviette und schrieb mit dem Kugelschreiber, der glücklicherweise noch da war, etwas auf. Als Chiho mit seinem Essen kam, drückte er ihr die Serviette in die Hand und deutete darauf, bis sie hinsah und las, was er geschrieben hatte.

>Sag mal, Chiho. Hast du keine Angst mitten in der Nacht so nah am Bahnhof zu arbeiten?<, stand darauf. Chiho errötete.

„Nuuuun.“, druckste sie herum. Dann warf sie einen Blick zum Tresen, den ihr Kollege gerade verlassen hatte, um nach den Fritten zu sehen und beugte sich vor, um Lucifer zuzuflüstern.

„Najaaa. Also, um ehrlich zu sein … normalerweise würde ich mich für die Spätschicht nicht melden. Aber … mein neuer Kollege, er... ist so cool. Er hat als Aushilfe hier angefangen und steigt voll schnell auf. Der kann sich alles merken und ist der perfekte Mitarbeiter. Und, ja, er ist einfach total cool.“
 

Lucifer verkniff sich ein genervtes Augenrollen. Die Hormone trieften der Göre ja aus allen Poren, so verknallt war die. Was ne erbärmliche Vorstellung. Wuhuu, mega toll, eine Saftschubse in rot-gelb, was konnte geiler sein? Dann fuhr es ihm wie ein elektrischer Schlag durch das unterzuckerte Gehirn. Sadao! Was war das denn für ein Name? Grünschwarze Haare und rote Augen? Lucifer lehnte sich zurück und betrachtete den Kerl noch einmal genauer. Sich die Hände an einem Tuch abwischend und in topsauberer MgRonalds-Uniform trat er gerade wieder nach vorne, um nach Chiho zu sehen. Diese Körperhaltung!

Lucifer riss Chiho die Serviette aus den Händen und kritzelte einen neuen Satz darauf.

>Wie lange ist Sadao schon in Japan?<

Chiho las mit und legte den Finger an ihr spitzes Kinn.

"Hmm, ich glaube er hat mal gesagt, er sei vor etwa einem halben Jahr hier angekommen. Er meinte, seine Heimat wäre im Vergleich zu Japan eine völlig andere Welt gewesen.", sie lachte. Lucifers Augen hingegen weiteten sich. Die Haare. Die Gesichtszüge. Deutlich weicher, schmaler und ohne die dämonische Präsenz. Aber die Art, wie sich dieser Kerl bewegte: Immer im Wechsel zwischen animalisch gebückt und militärisch kerzengerade. Diese fließenden, bewussten Handbewegungen, als sei er es gewöhnt mit scharfen Krallen zu gestikulieren. Und diese Ausstrahlung. Das war nur ein mickriger, schwacher, nicht einmal besonders auffallender Mensch, aber wenn er sprach, war ihm die Aufmerksamkeit aller Anwesenden im Umkreis sicher.
 

„Sadao Mao ist der coolste Mitarbeiter, den diese Filiale jemals hatte.“, schwärmte die Sechzehnjährige mit den großen Hupen verliebt. Lucifer knirschte mit den Zähnen. Das konnte doch kein Zufall sein. Hatte dieser arrogante Knilch nicht einmal versucht, seine Identität zu verschleiern! "Sadao Maou" bedeutete nichts anderes als "Dämonenkönig Satan"! In Lucifer begann ein Feuer wieder hoch zu lodern, das beinahe schon von der Asche der Zeit erstickt worden wäre. Sadao hatte indes Chihos letzte Worte gehört und lachte.

„Nun mach aber mal halblang. Ich mach hier auch nur ganz normal meinen Job. Auch wenn ich schon teuflisch gut darin bin, muss ich zugeben.“, schnarrte er ohne die geringste Scham. Jetzt war Lucifer totsicher, dass er den Dämonenkönig in seiner menschlichen Gestalt gefunden hatte. Dieses Großmaul würde er unter hunderten wiedererkennen! Chiho kicherte, wünschte Satori einen guten Appetit und kehrte an den Tresen zurück. Lucifer ballte die Fäuste und erlitt einen kleinen Schwindelanfall.

Etwas zehrte mit Gewalt von der Kraft in diesem zierlichen Körper. Der ehemalige Dämonengeneral musste mit eiserner Willenskraft die Mordgier in sich unterdrücken, um sich nicht zu enttarnen. Er war ganz blass geworden.
 

Lucifer wollte in diesem Moment nichts lieber, als diesem Dreckssack Sadao, der ihn sterbend im Westen zurückgelassen hatte, genüsslich die Kehle durchzuschneiden und ihn dann über offenem Feuer am Spieß zu rösten! Er war also teuflisch gut in seinem Job, ja?! Wo war dieses Engagement, diese Hilfsbereitschaft und dieser Elan, als Lucifer aus dem Himmel fiel?! Hier machte er seit einem halben Jahr Karriere, hatte auf Ente Isla aber keinen halben Tag entbehren können, um den zerschmetterten Leib seines Generals vom Schlachtfeld zu tragen?! Lucifers Blick bohrte sich mörderisch in seinen dampfenden Burger. Direkt daneben fing seine Limo an, zu kochen. Woran dachte Sadao wohl, wenn er hier stand und Chicken Wings frittierte? Bestimmt nicht an gebrochene, schwarze Schwingen, die für ihn in den Krieg gezogen waren! Schwingen, die Sadaos Wissen nach nie wieder rauschen würden, weil Lucifer tot war! Wirkte er deswegen so froh und unbeschwert, weil er zu wissen glaubte, Lucifers Rache nicht mehr fürchten zu müssen? //Oh, warte es nur ab, mein König.//, dachte der Engel, //Du selbstsüchtiges, verräterisches Stück Goblinscheiße! Du wirst meine Flügel über dir rauschen hören und wenn es so weit ist, dann wird es das Letzte sein, das du hörst!//
 

Lucifer nahm seinen Burger in beide Hände und grub die Zähne hinein als gelte es, ein Stück Fleisch aus Sadao persönlich herauszubeißen. Die kurzen, lackierten Fingernägel versanken in Burgerbuns und Soße. Düster über äußerst kreativen Mordgedanken brütend, saß er da und kaute. Je länger er kaute, desto besänftigter fühlte er sich und je voller sein Magen wurde, desto leichter wurde sein Geist. Auf Ente Isla hätte er sich nie von einem Burger aus seinen Plänen reißen lassen. Doch als Mensch war der Magen oft stärker als der Kopf. Viel stärker. Mit Heißhunger machte er sich über seine Bestellung her und bekam wieder Farbe im Gesicht. Als die letzte Fritte vertilgt war, verließ er grußlos das Restaurant. Er hatte Maou gefunden. jetzt musste er sich darüber klar werden, was er wollte. Wollte er den Deal mit Olba durchziehen und diesen gehörnten Mistkäfer vernichten, weil er ihn im Stich gelassen hatte? Oder wollte er ihm eine Chance geben und eventuell wieder zu ihm überlaufen? Eine schwierige Entscheidung. Vor allem brauchte er jetzt dringend seine Kräfte zurück, solange er nicht wusste, was Maou noch drauf hatte.
 

Lucifer ließ das Motorrad stehen und zog zu Fuß durch die Straßen. Er hatte viel, worüber er nachdenken musste. Bis ihn ein junger Kerl mit zwei Einkaufstüten in den Armen anrempelte und ihn so aus seinen Gedanken riss. Plötzlich projizierte sich Lucifers gesammelte Wut auf die Menschheit auf diesen einen unbeteiligten Kerl! Lucifers Groll gegen Maou, Alciel, Emilia, Olba, die Yandere und ihre Gang kochte unaufhaltsam in ihm hoch und ließ seine Fäuste lila aufleuchten.

"Hey, Arschloch!", rief er dem Kerl hinterher, der ihn angerempelt hatte. Der Typ drehte sich um und machte eine unflätige Geste mit der Hand. Lucifer grinste diabolisch über das ganze Gesicht. Er hatte gehofft, dass der Kerl so reagieren würde. Ohne nachzudenken streckte er die Handfläche nach vorne aus und schoss eine magische Entladung ab. Der lila Energieball traf den Typen in den Magen und schleuderte ihn in eine Gasse, abseits der zu dieser Stunde ohnehin leeren Straße. Lucifer folgte ihm gemessenen Schrittes. In der Gasse waren dem Typen die Einkaufstüten aus den Armen gerutscht und er krümmte sich würgend. Lucifer hockte sich neben ihn und griff ihm ins Haar.
 

"Ihr Menschen seid so zerbrechlich.", meinte er gelangweilt. Doch in der Gasse erblühten noch etwa eine halbe Stunde lang immer wieder lila Lichtkegel, gefolgt von erstickten Schreien, Ächzen und Stöhnen. Lucifer quälte den Menschen, bis dessen Angst, Schmerz und Verzweiflung die magischen Batterien des Ex-Engels auf ein befriedigendes Level gefüllt hatten und der Kerl das Bewusstsein verlor. Erst dann ließ Lucifer von ihm ab und ließ ihn blutend in der Gasse liegen. Bevor er ging, durchsuchte er den Mann noch und nahm ihm seine Brieftasche ab. Anschließend durchstöberte er die Einkaufstüten und nahm alles mit, was interessant aussah. Vor allem Snacks, Batterien und eine Flasche Pflaumenwein.

Frisch mit magischer Energie betankt, wie er war, breitete Lucifer seine schwarzen Schwingen aus und genoss das Gefühl des vorbeistreichenden Windes an seinen Federn. Er schloss die Augen, schlug mit den Flügeln und löste die Gummisohlen seiner Chucks vom dreckigen Asphalt der Straße. Um ihn herum war finstere Nacht, sobald er die Lichter der Stadt unter sich zurückgelassen hatte. Diese Welt war anders als Ente Isla, aber aus der Vogelperspektive war sie neu und interessant. Wenn er der Einzige mit magischen Kräften blieb, konnte er in kurzer Zeit hier König sein, dachte er. Doch das wollte er nicht. Er hatte gesehen, wie sehr Maou sich auf seinem Thron immer gelangweilt hatte und er konnte es verstehen. Nein, er wollte kein König sein. Er wollte der Lichtbringer in dieser Welt sein; derjenige, der die Menschheit den süßen Schrecken eines Dämons lehrte.
 

Plötzlich stellte Lucifer die Flügel senkrecht auf und blieb mitten in der Luft stehen. Eine bekannte Präsenz hatte den Radius seiner magischen Wahrnehmung gestreift. Eine Präsenz, mit der er noch eine Rechnung offen hatte! Leise, mit sachtem Flügelschlag, ließ er sich auf die Höhe einiger Dächer herabsinken, bis er das richtige Fenster ausfindig gemacht hatte. Ein kurzer Wink aus dem Handgelenk und das Fenster schwang auf. Mit einem gekonnten Satz ließ er sich aus der Luft fallen, landete mit beiden Füßen zugleich auf dem schmalen Fensterbrett und sprang elegant ins Zimmer. Die Yandere, Kobayashi, war allein und stand erschrocken mit dem Rücken zur Wand neben ihrer Zimmertür, die Schere in den Händen. Ihr Unterarm war professionell verbunden worden. Sie war also doch in der Notaufnahme gewesen.

"W-Was...?", stammelte sie, während Lucifer gemächlich die Schwingen auf dem Rücken faltete. Er strich mit der Hand über ihr Bettgestell, während er bedrohlich langsam auf sie zu ging.

"Satori! Ich wusste, dass mit dir was nicht stimmt!", bellte Kobayashi, aber ihre Knie zitterten sichtlich. Lucifer lächelte boshaft, schwieg aber beharrlich.
 

"W-was willst du?!", fragte die Bobfrisur und hob ihm abwehrend die Schere entgegen. Lucifer war klar, dass er die magische Energie, die er bisher ansammeln konnte, größtenteils aus ihrem Hass auf ihn und ihrem verzweifelten Liebeskummer generiert hatte. So blieb er jetzt anderthalb Meter vor dem Mädchen stehen, dann beugte er sich blitzartig vor und spannte die Flügel aus, als wolle er sich, wie ein Raubvogel, auf sie stürzen. Kobayashi kreischte, drehte sich um und griff nach der Tür, doch ein lässiger Wink von Lucifer genügte, um die Tür unverrückbar geschlossen zu halten. Als das Mädchen begriff, dass hier höhere Mächte am Werk waren, hatte sie bereits keine Zeit mehr, sich wieder zu Lucifer umzudrehen, denn dieser stand bereits direkt hinter ihr, die Hände in den Taschen der Motorradjacke und hauchte ihr ins Ohr: "Ich will nur meine Rache."

Damit nahm er die Hände aus den Taschen, drückte das Mädchen gegen die Wand und hielt ihr den Mund zu.
 

"Ich würde dir ja gerne erlauben, zu schreien. Die verzweifelten Schreie der Unterlegenen sind Musik in meinen Ohren. Aber bedauerlicherweise hast du Nachbarn. Und ich will hier nicht vorzeitig gestört wer-Aargh!", seine Rede ging je in einen gequälten Schmerzenslaut über, als Kobayashi die Faust mit der Schere nach hinten stieß und die spitze Schneide in Lucifers Seite eindrang. Der Stich ging tief, verletzte aber keine Organe. Ärgerlich sprang der Engel von dem Mädchen zurück und besah sich die Wunde. Dann heilte er sie, noch bevor sie anfangen konnte, richtig zu bluten.

"Du verdammtes Miststück.", meinte er grinsend.
 

Mit dem Mut der Verzweiflung stürzte Kobayashi auf ihn zu. Lucifer fing ihren Angriff ab, dabei entstand ein Handgemenge, bei dem Lucifer immer wieder der blitzenden Schere ausweichen musste. Der Kampf machte ihm solchen Spaß, dass er dabei auf den weiteren Einsatz von Magie verzichtete und die Verzweiflung des Mädchens einfach genoss, welche ihn zudem auch noch stärkte. Er stellte fest, dass ihr Hass auf Satori im Speziellen, ihn viel mächtiger machte, als die allgemeine Panik damals, nachdem er den Feueralarm ausgelöst hatte. Und so verletzte er sie bei ihrem Kampf nicht zu sehr. Sie allerdings wollte ihn nicht nur ernsthaft verletzen, sondern sie wollte ihn töten.
 

Lucifer trieb sein Spiel mit ihr so lange, bis Kobayashi mit Tränen der Verzweiflung in den Augen auf einmal seinen Pferdeschwanz zu fassen bekam und die Schere hindurch zog. Lange, seidige, lila Haarsträhnen fielen leicht, wie Federn, zu Boden. Das Halstuch, mit dem er seine Haare zusammengebunden hatte, rutschte ihm ebenfalls vom Kopf, sodass sich die nun schief geschnittene lila Pracht über seine angespannten Gesichtszüge verteilte.

Lucifer stieß Kobayashi heftig vor die Brust, sodass sie fiel. Aber sie griff nach seiner Jacke und zog ihn im Fallen mit sich, sodass er über ihr aufgestützt zu liegen kam. Sofort blitzte die Schere wieder auf und das Gerangel setzte sich auf dem Boden weiter fort. Bis Lucifer endlich die Schere zu fassen bekam, sie ihr entwand und wegschleuderte.
 

"Nein!", schrie sie auf und wollte hinterher, doch Lucifer hielt sie fest und drückte sie mit seinem ganzen Gewicht zu Boden.

"Schön hiergeblieben.", keuchte Lucifer erhitzt und grinsend, "Mir ist da gerade was eingefallen, wie ich dir deine Misshandlungen heimzahlen kann, ohne dich zu töten.", ließ er sie wissen. Bei dem Wort "töten" holte das Mädchen schon so tief es konnte Luft und wollte um Hilfe schreien. Da stupste Lucifer ihr mit dem Zeigefinger direkt über der Nasenwurzel gegen die Stirn. Ein kleiner lila Blitz entlud sich an der Aufprallstelle.

Das Mädchen schloss erschrocken die Augen und den Mund. Doch dann entspannte sich ihr Körper. Sie atmete tief ein und aus und öffnete die schwarzen Augen wieder. Sie sah ihm offen ins Gesicht. Kleine Schweißperlen hatten sich auf ihrem schlanken Hals gebildet. Ihre hübschen, rosa Lippen öffneten sich.
 

"Satori.", hauchte sie mit sinnlicher Wärme in der Stimme.

"Nenn mich Lucifer.", entgegnete er, während er zuließ, dass ihre Hände unter die Motorradjacke glitten.

"Ja, mein Lucifer. Dann nenn mich bitte Hikari.", erwiderte sie und schob ihm die Jacke von den Schultern. Dann zog sie sich an ihm hoch, schlang die Arme um ihn und küsste ihn mit hungrigem Verlangen auf den Mund. Es klapperte, als das Leder zu Boden rutschte, was Lucifer an die Flasche Pflaumenwein erinnerte, die er dem Typen auf der Straße geklaut hatte. Er löste seine Lippen von Hikaris und holte den Alkohol heraus. Jetzt da er die Yandere nicht mehr zu fürchten brauchte, konnte er sich nun auch in aller Ruhe mit diesem Zeug vertraut machen.

"Lucifer, ich will dich.", flehte das Mädchen, streichelte ihn und zupfte an seiner Kleidung herum. Der Engel nahm sich die Spange aus dem Haar, sodass ihm die Strähnen wie gewohnt ins Gesicht fielen. Nun fühlte er sich endlich einmal wieder wie er selbst. Gönnerhaft reichte er Hikari die Flasche Pflaumenwein und ließ sich zufrieden lächelnd, neben ihr auf dem Boden nieder.

"Dann lass uns feiern.", antwortete er verrucht.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück