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Roter Mond

von

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Ungebetene Gäste

Missmutig starrte Scott in das Glas, auf dessen Boden sich der Rest einer bräunlichen Flüssigkeit befand. Worum genau es sich handelte, konnte er nicht sagen. In Filmen wurde in solchen Gläsern immer Whiskey, Scotch oder Bourbon serviert. Doch was immer es war, das die Bar unter dem Namen „Hollow“ verkaufte, es war sicherlich keine der genannten Spirituosen. Wenn er hätte raten müssen, hätte er getippt, dass sie das Zeug direkt aus den Raffinerien hierher lieferten, um es wahlweise in irgendwelche Turbinen oder in Schnapsflaschen zu füllen. Schlecht genug schmeckte es jedenfalls.
 

Er atmete noch einmal tief ein, bevor er den Rest des Drinks in einem Zug hinunterkippte. Ein brennender, fast schon bitterer Geschmack breitete sich in seinem Mund aus und der Nebel in seinem Kopf zog sich noch ein wenig weiter zusammen. Leider wurde er nicht dicht genug, um Scott vergessen zu lassen.
 

Scheiße!
 

Ein dumpfes Klonk ertönte, als er das Glas ein wenig zu heftig zurück auf die Theke stellte. Genau wie das restliche Mobiliar erweckte auch sie nur den Anschein, aus Holz zu bestehen. Vermutlich befand sich unter der oberflächlichen Maserierung irgendein Kunststoff. Es sah aus wie echt, aber es war es nicht. Wie so vieles in Scotts Leben.
 

„Noch einen?“
 

Der Barkeeper, ein hagerer Typ mit stechenden Augen und dem Flair eines Totengräbers, hielt eine Flasche in Scotts Richtung. Darin schwappte das braune Vergessen. Scotts Blick wanderte zu seinem Armband. Er hatte den Strich, den er heute verdient hatte, schon fast zur Hälfte ausgegeben. Das hieß, dass er sein Limit bereits weit überschritten hatte. Aber die Aussicht, sich noch ein bisschen tiefer in die weiche Umarmung des Alkohols sinken zu lassen, war so verlockend.
 

„Nein, danke“ antwortete er, bevor die Versuchung zu groß wurde. „Ich nehm nur noch ein Bier.“
 

Auch dieses Getränk verdiente seinen Namen mit großer Wahrscheinlichkeit nicht. Scott hatte keine Ahnung, was gerade wirklich seine Kehle hinabrann, aber er hatte gelernt, sich nicht allzu viele Gedanken darüber zu machen. Denn genau das war sein verdammtes Problem. Er dachte zu viel nach. Zum Beispiel darüber, wie er an das Geld kommen konnte, das Emile ihm in Aussicht gestellt hatte. Im Grunde war Scott sich sicher, dass es nur ein Ablenkungsmanöver gewesen war. Eine von Emiles Ideen, wie er Scott um seine hart verdiente Bezahlung bringen konnte. Und doch … Irgendwas an dem Ganzen ließ ihm keine Ruhe.
 

Warum hat er Pecares einfach erschossen, statt ihn zu befragen? Warum hat er ihn nicht durchsucht? Was übersehe ich?
 

Um sich abzulenken, schaute Scott in der Bar umher. Die von vergilbten Neonröhren und bunten Leuchtreklamen erhellte Spelunke, bildete eine fast schon beruhigend unruhige Geräuschkulisse. Ein paar Gäste amüsierten sich damit, mit imaginären Pfeilen auf eine elektronische Dartscheibe zu zielen. Andere spielten Pool und das animierte Klacken der holographischen Kugeln mischte sich unter die Gespräche, die sich um Drogen, Frauen und die verdammte Ungerechtigkeit des Seins drehte. Zumindest vermutete Scott, dass sie das taten. Vielleicht lag das aber auch an dem Rapsong, der gerade aus den Boxen dröhnte. Ärgerliche Lyrics, die sich in Scotts Gehirn fraßen wie der Alkohol.
 

Du bekommst nur einen Versuch, verpass nicht deine Chance …“
 

Scott schüttelte unmerklich den Kopf. Als wenn irgendjemand hier auch nur den Hauch einer Chance gehabt hätte. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, dass keiner von ihnen hier jemals rauskam. Niemals. Sie saßen hier ebenso fest wie er. Ein namenloser Trinker, der mit seinem Platz am Ende der Bar mehr als deutlich gemacht hatte, dass er keine Gesellschaft wünschte. Es war erbärmlich, ganz ohne überraschende Pointe.
 

Das Zischen der Luftschleuse ließ Scott aufsehen. Jemand hatte die Bar betreten und Scotts innere Alarmglocken begannen sofort zu läuten. Der Typ, der ein wenig unschlüssig an der Tür herumstand, stank. Scott konnte es förmlich riechen. Da war etwas an seiner Kleidung, seiner Art sich zu bewegen, das dafür sorgte, dass sich Scotts Nackenhaare aufrichteten. Auf den ersten Blick wirkte er wie irgendein Kerl von der Straße. Wenn man jedoch genauer hinsah, bemerkte man, dass ihm seine Sachen nicht wirklich passten. Sie waren zu groß, die Ärmel und Hosenbeine umgeschlagen, die Jacke schlotterte um seinen Leib. Das alles hätte Scott noch nicht stutzig gemacht, wenn die Sachen nicht tadellos in Schuss gewesen wären. Sauber. Zu sauber für jemanden, der aus den Baracken kam.
 

Es passt nicht zusammen, konstatierte Scott und versuchte das lästige Jucken, das ihm diese Tatsache im Gehirn verursachte, geflissentlich zu ignorieren. Doch jetzt, wo er es bemerkt hatte, war es, als hätte jemand einen dicken, roten Neonpfeil aufgestellt. Es kam einfach nicht daran vorbei.
 

Wider besseres Wissen folgte Scott dem Fremden mit den Augen. Da war noch mehr, was ihn auffällig machte, auch wenn die restlichen Besucher der Bar sich nicht um ihn kümmerten. Er sah sich oft um; aber nicht so, als würde er jemanden suchen, sondern auf die Art, mit der man nach Verfolgern Ausschau hielt. Für diese Theorie sprach auch, dass er die Kapuze der grauen Trainingsjacke immer noch nicht abgelegt hatte, ebenso wenig wie die schwarze Atemmaske, die sein halbes Gesicht bedeckte. Das Ding war hier drinnen nicht notwendig und sie weiter aufzubehalten, war somit Verschwendung von teurem Sauerstoff.
 

Es sei denn, sie dient dazu, ihn unkenntlich zu machen.
 

Als hätte der Kerl ihn gehört, blickte er in diesem Moment genau in Scotts Richtung. Sofort senkte Scott den Kopf. Wer immer da reingekommen war, hatte Dreck am Stecken, und er hatte nicht vor, sich etwas davon mehr aufzuhalsen. Sein Beruf sorgte ohnehin dafür, dass er fast immer mit dem Rücken zur Wand schlief. Die Probleme von anderen Leuten konnten ihm da gefälligst gestohlen bleiben.
 

Ein Barhocker in der Nähe wurde bewegt und jemand setzte sich darauf. Scott musste nicht hinsehen, um zu wissen, dass es die Kapuze war.
 

Verpiss dich!, dachte er so laut er konnte.

 

Aber der Kerl tat ihm den Gefallen nicht. Stattdessen kam der Barkeeper auf ihn zu.
 

„Was willst du?“
 

Der Fremde erstarrte für einen Augenblick und Scott verdrehte innerlich die Augen. Noch auffälliger konnte man sich wohl kaum verhalten. Wenigstens schien dem Schwachkopf jetzt aufgegangen zu sein, dass er mit der Maske nichts trinken konnte. Er nahm sie ab, sein Gesicht blieb jedoch weiterhin im Schatten. Mit leiser Stimme bestellte er etwas, das dem Barkeeper ein Schnauben entlockte.
 

„So was ham wir hier nicht. Willst du Bier oder Schnaps? Hast die Wahl.“
 

Die braune Flasche, die der Barkeeper kurz darauf vor dem Neuling absetzte, machte seine Wahl auch für Scott ersichtlich. Der Typ griff sogar danach und führte sie zum Mund. Die Art, wie sein Kopf im nächsten Moment zurückzuckte, ließ auf Ekel schließen.
 

Idiot!

 

Scott wandte sich wieder seinem eigenen Bier zu. Wenn er schlau war, sah er zu, dass er hier wegkam, bevor der Kerl sich in Schwierigkeiten brachte. Denn das er das tun würde, stand außer Frage.
 

Der letzte Schluck der lauwarmen Plörre rann gerade Scotts Kehle hinab, als sich die Tür erneut öffnete. Gleich drei Gestalten betraten die Bar und dieses Mal wusste Scott sofort, warum bei ihm alle Lampen angingen. Da war so ein Aufnäher auf der Jacke des rechten Schlägers, der ihm nicht nur vage bekannt vorkam. Er hatte genau dieses Emblem heute schon einmal gesehen. Das dort hinten waren Margeras Leute und es war unübersehbar, dass sie jemanden suchten.
 

„Fuck“, knurrte er und wollte sich zum Gehen wenden, als sich auf einmal auch die Kapuze erhob und offenbar die Flucht antreten wollte. Dabei rannte er genau in Scott hinein und stolperte fast über seine eigenen Füße. Scotts Hände schossen vor. Er bekam die Arme seines Gegenübers zu fassen, die zu große Jacke rutschte ein Stück hoch und er erhaschte einen Blick auf die bloßen Handgelenke seines Gegenübers.
 

Kein Armband? Scheiße. Noch so jung?
 

„Entschuldigung“, murmelte der Junge und zum ersten Mal konnte Scott sein Gesicht sehen. Grüne Augen musterten ihn unter einem langen, dunklen Pony hervor. Sofort korrigierte Scott seine Altersschätzung um mindestens fünf Jahre nach oben. Das hier war ein Milchgesicht, aber definitiv schon ein Teenager. 16 oder 17, wenn er richtig schätzte. Wieder etwas, das nicht zusammenpasste. Die Ameisen in Scotts Kopf liefen Amok.
 

Instinktiv sah er sich nach Margeras Leuten um. Sie hatten begonnen, die Gäste unter die Lupe zu nehmen. Ärgerliches Gemurmel drang an Scotts Ohr, aber die wenigsten setzten sich wirklich zur Wehr. Es würde nicht lange dauern, bis die drei Kanaillen den Jungen entdeckten. Und der konnte hier nicht weg, ohne von ihnen gesehen zu werden. Das Spiel war aus, noch bevor es richtig angefangen hatte.
 

Er hätte nicht herkommen sollen.

 

Scott presste die Kiefer zusammen und überlegte. Das Ganze schmeckte ihm nicht. Die Kapuze war ihm herzlich egal, aber das Margera jetzt seine Lakaien losschickte, statt Scott für den Job anzuheuern, war mehr, als er hinzunehmen gedachte.
 

Dann wollen wir doch mal sehen, wie gut ihr wirklich seid.
 

Bevor der reagieren konnte, hatte Scott den Burschen am Arm gepackt und in Richtung der Toiletten gedrängt.
 

„Komm mit“, murmelte er und schob seinen Fang kurzerhand durch die Tür in den düsteren Korridor, von dem aus es zu den Örtlichkeiten ging.
 

„Was … ?“, begann der Junge, aber Scott fuhr ihm über den Mund.
 

„Willst du überleben?“ Der Junge nickte. „Dann tu, was ich dir sage. Rein da und Klappe halten.“
 

Scott bugsierte den Jungen in eine der Kabinen und folgte ihm. Dann schloss er die Tür.
 

„Rauf da!“
 

Scott deutete auf die Toilettenschüssel, die nur noch aus einem weißen Porzellanbecken bestand. Sie hatte einen Sprung, dessen Ränder gelb angelaufen waren. Es war kalt im Raum und roch nach öffentlicher Bedürfnisanstalt. Scotts Sinne blendeten all das aus. Stattdessen öffnete er seine Hose.
 

„Was …?“, fing der Junge schon wieder an. Scott bedeutete ihm still zu sein.
 

„Kein Wort, dann kommst du hier vielleicht in einem Stück raus.“
 

Mit heruntergelassener Hose ließ Scott sich auf dem Sitzplatz zwischen den Beinen des Jungen nieder. Er hörte ihn über sich atmen.
 

„Sei leise. Halt notfalls die Luft an. Und duck dich. Sie kommen.“
 

Schon von Weitem konnte Scott die schweren Schritte der Männer hören, die sich ihrem Standort näherten. Er ahnte, was in ihren Köpfen vorging. Sie hatten den Jungen in die Bar hineingehen sehen und da sie ihn draußen nicht gefunden hatten, war dies der letzte Ort, an dem er sich verstecken konnte. Einer von ihnen wurde dazu abkommandiert, draußen Schmiere zu stehen. Die restlichen zwei betraten mit viel Getöse die Toilette.
 

Trampel!

 

Scott zwang sich, den eigenen Atem zu beruhigen. Wenn das hier funktionieren sollte, musste er ganz natürlich wirken.
 

Die Tür der Kabine nebenan wurde mit voller Wucht aufgetreten und das komplette Gebilde um ihn herum geriet dabei ins Wanken. Für einen Moment hatte Scott die Befürchtung, dass es einfach in sich zusammenfallen würde wie ein Kartenhaus, aber es gab Dinge, die waren eben für die Ewigkeit gebaut.
 

„Hey!“, rief er mit täuschend echt wirkender Empörung in der Stimme. „Kann man hier nicht mal in Ruhe kacken?“
 

„Aufmachen!“, schnauzte es von draußen.
 

„Ich bin aber noch nicht fertig“, konterte Scott motzig. „Geh halt nach nebenan.“
 

Er hörte Gemurmel und die Geräusche verrieten ihm, dass sich jemand auf den Boden legte. Ein Gesicht erschien in dem Spalt unter der Kabine. Scott reagierte sofort.
 

„Ey, du Arschloch!“, schrie er und trat nach dem Spähenden. Dabei machte er keine Hehl aus seinem Zustand. „Fuck! Scheiße! Kacke! Jetzt … ach fuck! Für die Reinigung kommst du aber auf.“
 

Scott bemühte sich, möglichst viel Lärm zu machen. Er schimpfte und zog mit umständlichem Getue seine Hose hoch, während er dem Jungen ein Zeichen gab, sich nicht zu bewegen. Dann öffnete er die Tür einen Spalt weit und stürmte hinaus.
 

„Ey, du Pen…“, er stockte, als wäre ihm angesichts der Bewaffnung der beiden Schläger das Herz in die Hose gerutscht. „Ich … also ich …“
 

Ich müsste einen verdammten Oscar kriegen.
 

Scott fing sich und wurde wieder wütend,
 

„Was sollte die Scheiße? Wolltest du mir einen blasen, oder was?“
 

Der Typ mit dem Aufnäher auf der Jacke gab seinem Kumpel ein Zeichen, sich die Toilettenkabine vorzunehmen. Scott schnaubte belustigt.
 

„Ja klar, nur zu. Geh rein. Aber ich muss dich warnen. Die Spülung ist kaputt.“
 

Trotz der Maske, wieder so ein schwarzes Halbmaskenmodell, konnte Scott sehen, wie Margeras Mann das Gesicht verzog. Er hingegen wartete nicht ab, was seine Verfolger tun würden, sondern ging zum Waschbecken, um dort vorzugeben, sich mit dem erbärmlich dünnen Rinnsal die Hände zu waschen. Je unbeteiligter er sich gab, desto besser. Außerdem war er so näher an der Tür. Sollten die beiden tatsächlich die Kabine öffnen, würde er zusehen, dass er hier wegkam.
 

Tut mir leid, Kleiner, aber meine eigene Haut ist mir näher als deine.
 

„Scheiße, Zip, ich geh da nicht rein.“

„Hast du etwa Schiss vor einem Scheißhaufen?“

„Wenn du unbedingt wissen willst, ob da wer drin ist, geh doch selber nachsehen.“
 

Der Anführer mit dem Emblem, grunzte etwas Unverständliches. Dann gab er seinem Kumpel ein Zeichen und die beiden rückten wieder ab. Als sich die Tür hinter ihnen schloss, atmete Scott hörbar auf.
 

„Amateure“, murmelte er halblaut vor sich hin, bevor er zu der Toilettenkabine ging und die Tür öffnete. Im nächsten Moment wich er einem Faustschlag aus.
 

Scott reagierte instinktiv. Er griff nach dem Arm des Angreifers, drehte ihm ihn auf den Rücken und brachte ihn zu Fall. Erst, als er das Gesicht des Jungen auf die dreckigen Fliesen drückte, wurde ihm bewusst, mit wem er es zu tun hatte.
 

„Fuck!“, fluchte er und ließ den Halbstarken os. „Was sollte das denn? Wolltest du dich umbringen?“
 

Ein trotziges Funkeln glomm unter der Kapuze auf, während der Junge wieder auf die Füße kam.
 

„Ich dachte, das sind die anderen.“

„Tja, falsch gedacht.“
 

Scott hatte nicht übel Lust, noch einmal hinzulangen. Nur zur Sicherheit. Damit der Jungspund verstand, dass das hier verdammt nochmal kein Spaß war. Er war sich ziemlich sicher, dass Margeras Männer nicht lange gefackelt hätten, wenn sie ihn erwischt hätten. Zudem, ohne dass Scott auch nur einen müden Heller gesehen hatte. Das passte ihm immer noch nicht. Er zog geräuschvoll die Nase hoch und spuckte in das Waschbecken. Sein Speichel schmeckte nach schlechtem Bier und verbrauchter Luft.
 

„Am besten wartest du noch ein bisschen und dann verziehst du dich von hier. Geh nach Hause zu deiner Mama und lass dich von ihr in den Schlaf singen oder sonst was.“
 

Damit drehte er sich um und wollte schon gehen, als ihn die Worte des Jungen noch einmal zurückhielten.
 

„Meine Mutter ist tot. Sie starb, als ich zwei Jahre alt war.“
 

Scott drehte sich nicht um.
 

„Tja, dann musst du wohl mit deinem Vater vorlieb nehmen. Hat auch noch niemanden umgebracht.“

„Das kann ich nicht.“
 

Scotts Finger gruben sich in den Türrahmen. Er sollte gehen. Er musste gehen. Das hier dauerte schon viel zu lange. Er hatte … nichts, zu dem er zurückkehren konnte. Nichts, außer einer leeren Wohnung und einem ebenso leeren Leben. Zumindest bis der nächste Auftrag reinkam.
 

„Und warum nicht?“
 

Die Frage war Scott über die Lippen geschlüpft, bevor er richtig darüber nachgedacht hatte. Über die Schulter hinweg sah er zurück zu dem Jungen, der jetzt mit hängendem Kopf dastand.
 

„Weil sie ihn umgebracht haben. Ich hab es gesehen.“

„Wer? Margeras Leute?“
 

Ein Kopfschütteln.
 

„Nein. Es war ein anderer Mann. Aber sie waren dabei. Ich wollte mich verstecken, aber sie haben mich erwischt und mitgenommen. Ich … ich konnte fliehen, aber jetzt weiß ich nicht, was ich jetzt machen soll. Und da diese Typen immer noch hinter mir her sind, hab ich gedacht …“
 

Der Junge sprach nicht weiter. Stattdessen sah er Scott an. Da war eine Bitte in seinem Blick. Eine Bitte, die Scott unbedingt ablehnen musste.
 

„Sorry“, machte er und wandte sich ab. „Ich nehm keine Arbeit mit nach Hause. Und du bist noch nicht mal ein Kunde.“
 

„Aber ich hab Geld.“
 

Der Junge klang jetzt verzweifelt. Genau so verzweifelt, wie ein Junge in seinem Alter klingen sollte, wenn er mutterseelenallein irgendwo im Nirgendwo gestrandet war, nachdem sein Vater vor seinen Augen abgeknallt worden war. Nicht, dass Scott sich damit auskannte. Er stellte sich nur vor, dass man dann so klingen musste.
 

Noch einmal schüttelte er den Kopf.
 

„Du hast ja nicht mal ein Armband. Ich weiß nicht, wer es dir wie geklaut hat, aber wer immer es war, ist jetzt mit deinem Geld und deiner ID unterwegs. Also entweder …“
 

Entweder du findest jemanden, der dir hilft, oder du bist tot.
 

Die Tatsache, dass der Junge die Nacht nicht überleben würde, stand plötzlich so klar vor Scotts Augen, das er beinahe danach gegriffen hätte. Anscheinend wirkte das Bier doch, wenngleich auch etwas späte als erwartetr. Er redete mit einer Leiche. Das entbehrte nicht einer gewissen Ironie.
 

„Geh nach Hause, Junge. Irgendwer wird dir schon helfen.“
 

Irgendwer, der nicht ich ist.
 

Entschieden stieß Scott sich vom Türrahmen ab und machte sich auf den Rückweg zum Gastraum. Er bezahlte dem Jungen noch das Bier und machte sich dann auf den Weg in die eiskalte Nacht. Als er vor die Tür trat, begann es zu regnen.

 
 

Die Straßen waren menschenleer und dunkel. Scott hastete mit hochgeschlagenem Kragen über die gesprungenem Gehwegplatten und verfluchte sich, den Jungen, das Wetter und denjenigen, der dafür gesorgt hatte, dass es hier keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr gab. Er wusste, woran das lag. Sparmaßnahmen nannte es sich offiziell, aber in Wahrheit hatte man dieses Viertel einfach sich selbst überlassen. Es gab Dinge, die dadurch besser geworden waren.
 

In der Eile wären Scott beinahe die Schritte entgangen, die sich unter seine eigenen mischten. Unwillkürlich wurde er langsamer und lauschte gegen den rauschenden Regen an. Wer immer ihm folgte, war gut, aber nicht gut genug. Er reagierte zu spät und so konnte Scott ausmachen, dass sein Verfolger sich etwa 30 Meter hinter ihm befinden musste. Als er sich umdrehte, sah er gerade noch einen Schatten hinter der Säule einer Eisenbahnüberführung verschwinden.
 

Nachlässig, brummte er in Gedanken und fragte sich, wer das wohl war. Er hatte eine Ahnung, aber er musste sichergehen. Bei der nächsten Gelegenheit weiter bog er unvermittelt in eine enge Gasse ein und drückte sich dort gegen die Wand. Er musste nicht lange warten, bis Schritte sich seinem Standpunkt näherten. Eine Silhouette tauchte aus der Dunkelheit auf und im nächsten Moment hatte Scott seinen Verfolger gegen die Wand gedrückt und ein Messer an seine Kehle.
 

„Ich hatte gesagt, dass du nicht mitkommen kannst.“
 

Seine Stimme wurde durch die Maske gedämpft, aber Scott war sich sicher, dass der drohende Unterton trotzdem seine Wirkung nicht verfehlte. Das Gleiche galt für die Klinge, die er zwischen den Stoffschichten hindurch gegen die Kehle des Jungen drückte.
 

„Aber ich … ich weiß doch nicht …“
 

Der Junge schluckte. Scott konnte die Bewegung unter seinen Händen spüren. Wahrscheinlich fehlte nicht viel und er würde anfangen zu heulen.
 

„Ist nicht mein Problem“, knurrte Scott noch einmal möglichst drohend. „Du wirst doch wohl irgendwelche Freunde haben. Verwandte. Eine Putzfrau. Irgendwer, der dich kennt und bei dem du unterkommen kannst.“
 

Der Junge schüttelte den Kopf. Eine dumme Bewegung, wenn man ein Messer am Hals hatte. Ganz automatisch zog Scott die Klinge ein Stück zurück.
 

„Ich … da ist niemand.“
 

„Blödsinn.“ Scott schnaubte und nahm das Messer jetzt endgültig runter. „Sogar ich hab Nachbarn.“ Wenn auch von der nervigen Sorte.
 

Wieder ein Kopfschütteln.
 

„Nein. Ich … ich kenne niemanden. Mein Vater und ich, wir lebten sehr abgeschieden. Wir hatten ein Haus und …“
 

Okay, also ein reicher Schnösel und sein Spross. Margera hat ihn ausgeraubt und gedacht, er könnte noch ein Extraschnäppchen machen, wenn er das Bürschchen mitnimmt. Nette Idee. Zu blöd, dass der Kleine entkommen konnte.
 

„Ist mir egal“, blaffte Scott. „Wenn du Geld hast, dann bezahl halt jemanden, damit du bei ihm wohnen kannst.“
 

„Ich könnte dich bezahlen.“
 

Dieser Satz ließ Scott aufhorchen. Wenn es stimmte und der Junge tatsächlich Geld hatte, war vielleicht eine Belohnung für ihn drin. Und falls er ihn angelogen hatte, konnte er das Bürschchen immer noch an Margera ausliefern. Womöglich zahlte der ihm Finderlohn.

 

Scott warf noch einmal einen Blick auf die durchnässte Gestalt, die da in viel zu großen Sachen vor ihm stand und verzweifelt versuchte, ihr Zittern zu verbergen. Unter diesen Umständen mussten ihn nicht einmal Margeras Leute erwischen. Es reichte vollkommen, wenn er die nächsten Stunden im Freien verbrachte.
 

„Na schön“, knurrte Scott schließlich, obwohl er bereits ahnte, dass er es bereuen würde. „Du kannst mitkommen. Aber nur für eine Nacht.“
 

Der Junge nickte. „Okay. Danke.“ Er zögerte, bevor er hinzusetzte: „Mein Name ist übrigens Kael.“
 

„Das will ich gar nicht wissen.“
 

Ohne ein weiteres Wort drehte Scott sich um und stopfte die Hände in die Jackentaschen. Das Gefühl, gerade einen Riesenfehler zu machen, wurde mit jedem Schritt größer. Doch als Kael zu ihm aufschloss und für einen kurzen Moment den Kopf hob, um ihn anzulächeln, da war Scott, als würde er jemand anderen sehen. Ein blasses Gesicht, nicht unähnlich seinem eigenen. In der Nase einen durchsichtigen Schlauch und um ihn herum zu viel Weiß. Eine Hand entfernte gerade die Luftzufuhr und Scott wollte sie schlagen, damit sie wegging. Er hasste die Hand.
 

„Er hat es nicht geschafft“, sagte eine Stimme und die Hand zog ein Tuch über das Gesicht. Es war das letzte Mal, das Scott es gesehen hatte.

 



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