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Die letzte Ehre

von

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23. Der Fluch der Schönheit

Blinzelnd schlug Shen die Augen auf. Sonnenstrahlen drangen zwischen den Vorhängen zu ihm ins Zimmer. Sein Blick wanderte neben sich. Doch außer ihm befand sich keiner im Bett.

Stöhnend drehte er sich wieder auf den Rücken. An seiner Bauchseite verspürte er ein unangenehmes Ziehen. Er hatte sich gestern wohl etwas zu viel bewegt. Dennoch hielt er es nicht länger im Bett aus und erhob sich mühsam. Er begab sich langsam zur Tür und stieg vorsichtig die Treppe runter. In den unteren Räumen befand sich niemand. Die anderen schienen schon gegessen zu haben.

Ohne lange nachzudenken, schlurfte er zur Haustür. Kaum hatte er sie geöffnet, hielt er sich stöhnend die Flügel vor Augen, als ihm die Mittagssonne blendete. Nachdem er sich an das Licht gewöhnt hatte, sah er sich draußen um. Zu seiner Erleichterung stand nur Yin-Yu neben dem Haus auf dem Rasen und sah in die Ferne. Es war gestern alles gar kein Traum gewesen.

Er machte ein paar Schritte auf sie zu. Sie bemerkte ihn nicht. Die Pfauenhenne schien sehr tief in Gedanken versunken zu sein. Als er direkt hinter ihr stand, hob er die Flügel und umfasste sorgsam ihre Schultern.

Sie schrak kurz zusammen. Erst als sie seine weißen Flügel sah, wurde sie wieder ruhiger.

„Oh, du bist wach?“ Sie drehte sich zu ihm um. „Aber du solltest nicht aufstehen…“

Er hielt ihr ein paar Federfinger vor den Schnabel. Er wollte von ihr keine Mahnung hören. Sie schloss gehorsam den Mund, was Shen ein Lächeln entlockte. Sie war nie provokant oder gebieterisch, was er an ihr besonders wertschätzte. Doch dann wurde seine Miene wieder ernst. Er ließ seine Flügel auf ihren Flügeln gleiten und sah ihr feste in die Augen.

„Geht es dir auch wirklich gut?“, wollte er wissen.

Sie senkte kurzfristig ihren Blick. „Ja, es geht mir gut…“

„Du wirkst so ausgelaugt“, stellte er fest.

Doch Yin-Yu schüttelte den Kopf. „Es ist gestern nur so viel passiert.“

Shen verengte die Augen. „Ist noch etwas vorgefallen? Wieso hat man mich nicht geweckt?“

Sie lächelte ihn an. „Nein, bis jetzt ist noch alles ruhig geblieben. Und außerdem, solltest du ausschlafen.“

Sie strich ihm über sein Gesicht, doch überraschenderweise wich er ihrer Berührung aus.

„Wo ist Shenmi?“

„Sie spielt mit ein paar Baumwollpuppen, die man ihr geschenkt hatte.“

Yin-Yu deutete mit dem Kopf hinter Shen. Tatsächlich hockte das weiße Pfauenmädchen vor dem Haus auf dem Hof im Gras. Zwischen den vielen Puppen hatte sie auch ein paar Origami-Figuren gebastelt.

Shen musste bei diesem Anblick lächeln. „Hat sie was gegessen?“

„Relativ wenig“, gab die Pfauenhenne zur Antwort, doch noch bevor Shen seine Tochter auf sich aufmerksam machen konnte, hielt sie ihn mit einer Frage zurück.

„Warum hast du sie überhaupt mitgenommen?“

Shen hielt inne. Dann sah er ihr feste ins Gesicht. „Ich hab sie nicht darum gebeten. Sie hat sich einfach unter das Gepäck geschmuggelt. Ich konnte da gar nichts machen.“

Yin-Yu senkte ihren Blick. „Viel hätte nicht gefehlt, und es wäre noch was passiert.“

Shen umklammerte mit seinen Federfingern ihre Schultern. „Schatz, ich verspreche dir, dass das nie passieren wird.“

Sie sahen einander an. Doch Shens Worte konnten Yin-Yu keinen Mut zusprechen. „Ich weiß auch nicht was mit mir los ist“, fuhr sie verzweifelt fort. „Ich hab so ein eigenartiges Gefühl. Seit heute Morgen erfasst mich so eine Unruhe…“

Tröstend nahm der weiße Pfau sie in die Arme. „Das ist die Aufregung“, beruhigte er sie. „Du weißt doch, wie du unter Stress reagierst.“

Er streichelte ihr über den Rücken. Yin-Yu atmete tief durch. „Mag sein, dass du recht hast.“

Ihr Blick wanderte den Hügel runter, wo die kleine Hütte mit den zwei Wächtern vor der Tür standen. „Vielleicht ist es ja auch wegen…“ Sie brach kurz ab und löste sich aus Shens Umarmung.

Auch Shen konnte es nicht vermeiden, einen Blick auf die Hütte zu werfen und verschränkte die Flügel. „Irgendeine neue Aussage von ihm?“, fragte er forschend.

Doch Yin-Yu schüttelte den Kopf. „Wir haben ihn bis jetzt in Ruhe gelassen.“

Sie sah ihn an. „Möchtest du mit ihm reden?“

„Nein.“ Shen wandte sich ab. „Und ich will ihn auch nicht mehr sehen.“

Die Pfauenhenne seufzte schwer. „Egal ob du ihn ignorierst oder nicht, aber falls wir das hier durchstehen, dann müssen wir uns dafür entscheiden, was mit ihm passieren soll.“

Shen verdrehte die Augen. „Entscheiden? Über ihn? Wie oft sollen wir das denn noch tun?!“

Er drehte sich hart zu ihr um. „Zweimal haben wir ihm das Leben noch gelassen. Irgendwann ist auch mal meine Geduld am Ende. Egal wie oft wir ihn verschonen, als Resultat erhalten wir nur Ärger.“ Er stützte seine Flügel an einem Zaun ab. „Es mag dir nicht gefallen, aber bei der nächsten Provokation sehe ich mich gezwungen ihn endgültig zu exekutieren.“ Er schwieg für mindestens drei Sekunden bevor er mit bitterer Stimme weitersprach. „Und tu nicht so als wäre ich im Unrecht. Ich kann nicht länger zulassen, dass er dich und die anderen ständig gefährdet.“

Yin-Yu senkte den Kopf. Sie konnte diese Aussage nicht leugnen. Xiang war schon mal aus einem Straflager entkommen. Ob eine isolierte Einkerkerung doch die beste Lösung war, oder sogar ein endgültiges Urteil, von der es keine Wiederkehr gab?

In diesem Moment schaute Shenmi von ihren Spielsachen auf. Als sie ihren Vater neben ihrer Mutter sah, erhob sie sich hastig und rannte auf ihn zu.

„Daddy!“

Shen wandte sich sofort in ihre Richtung, sodass sie in seine Flügel fallen konnte. Beinahe schon bettelnd drückte sich das Mädchen an ihn.

„Geht es dir wieder gut?“, fragte sie.

„Ja, es geht mir bestens“, behauptete er, selbst wenn er wieder ein starkes Seitenstechen verspürte. „Aber lass dich mal ansehen.“

Mit diesen Worten hob er sie etwas hoch und schien sie wirklich gründlich abzusuchen. Anschließend setzte er sie wieder auf den Boden ab, kniete sich vor ihr hin und sah sie ernst an.

„Jetzt sag mir mal, was gestern passiert ist. Hat er dir etwas getan?“

Shenmi sah ihn verwundert an. „Wer?“

„Der blaue Pfau“, klärte Shen sie auf. „Hat er dir wehgetan?“

„Na ja… ähm…“

Das Mädchen wusste nicht was sie antworten sollte, und schaute hilfesuchend zu ihrer Mutter. Diese nickte ihr aufmunternd zu. „Sag ihm ruhig, was du gesehen hast.“

Shenmi sah wieder unsicher zu ihrem Vater, als befürchtete sie etwas Schlimmes. Schließlich zwang sie sich zu einer objektiven Aussage.

„Er… er… er hatte ein Messer im Flügel. Ich hab Angst gehabt und bin weggelaufen, dann kam diese andere Vogelfrau, und hat mich die ganze Zeit umarmt… Au! Papa, du tust mir weh.“

Sofort lockerte Shen seinen Griff um Shenmis Schultern wieder. „Tut mir leid, tut mir leid.“

In diesem Moment legte Yin-Yu ihren Flügel auf seine Schulter. „Du solltest jetzt besser etwas essen. Du hast seit gestern Abend nichts gegessen.“

Shen wollte am liebsten protestieren, doch die Pfauenhenne sah ihn so eindringlich an, dass er seine Wut hinunterschluckte und sich erhob. Er ging an Yin-Yu vorbei, doch noch ehe er im Haus verschwand, flüsterte er ihr noch etwas zu: „Das letzte Wort zu diesem Thema ist noch nicht gesprochen.“

Dann ging er ins Vorzimmer.

Shenmi sah ihrem Vater verwundert nach. „Mama, was ist mit dem blauen Pfau?“

„Nun… vor ihm brauchst du keine Angst mehr zu haben.“ Sie strich ihrer Tochter über das Köpfchen. „Er kann dir gar nichts mehr tun. Er war nur, ziemlich durcheinander.“

„Ist er traurig?“

Yin-Yu zögerte mit der Antwort. Dann nickte sie leicht. „Ich denke schon. – Ich muss deinem Vater jetzt was zu essen besorgen. Spiel doch solange mit dem netten Panda.“

Kaum war ihre Mutter weg, ging Shenmi nachdenklich an den Häusern entlang. Bei dem Gedanken an gestern schauderte sie zwar immer noch, aber wenn ihre Mutter sagte, dass er traurig war, dann konnte man ihn doch wieder fröhlich machen. Vielleicht wäre er dann nicht mehr gemein zu ihr.

Eine Weile grübelte das Mädchen noch. Dann griff sie unter ihr Mäntelchen, wo drunter noch das blaue Papier steckte. Sie betrachtete es eine Weile. Dann setzte sie sich ins Gras und begann zu falten. Sie faltete und faltete… Innerhalb weniger Minuten war sie fertig.
 

„Po?“

Der Panda schreckte hoch. Er hatte unter einem Baum ein Nickerchen gehalten und stand sofort auf seinen zwei Beinen, als ihn eine Mädchenstimme angesprochen hatte.

„Wer… wo… was?! Wer ist da?... Oh! Ach du bist es.“

Erleichtert sah er auf Shenmi herab, die ihn fragend ansah.

„Darf ich zu dem blauen Pfau?“

Po hob verwundert die Augenbrauen. „Warum willst du dahin?“

„Ich möchte ihm was geben. Vielleicht ist er dann nicht mehr so traurig.“

„Der und traurig?“ Po sah sie verwirrt an. „Der ist mehr etwas… na ja, wie soll ich sagen…“ Er suchte nach einem harmloseren Synonym für „böse“, wobei er zugeben musste, dass Chiwa da noch schlimmer war. „… sehr nervös. Oder eher gereizt, sag ich mal so.“

Shenmi sah ihn bittend an. „Ach bitte.“

Po gab sich geschlagen. „Na gut. Aber du bist vorsichtig, sonst reißt mir dein Vater den Kopf ab.“

Er nahm das Pfauenmädchen an den Flügel und gemeinsam gingen sie zur kleinen Hütte rüber. Besonders wohl war Po nicht bei dieser Sache, doch was sollte Xiang schon machen? Er war unbewaffnet und kampfunfähig. Was sollte da schon passieren? Vielleicht war es sogar ganz gut mal mit friedlichen Absichten seiner grausigen Art entgegenzutreten. Zumindest könnte er sich vorstellen, dass Shifu ihm das so sagen würde.

Die Wächter vor der Hütte schauten verwundert, aber auch streng, auf die beiden herab.

„Dürfen wir kurz rein?“, fragte Po.

Doch die Wächter schüttelten die Köpfe.

„Ohne Erlaubnis darf keiner hier durch“, sagte der Erste.

„Es ist nur ganz kurz“, bat Po weiter. „Keine Sorge. Er kann uns schon nichts tun. Mal ehrlich. Er kann gerade mal nur auf einem Bein stehen. Da kann er gegen einen starken Drachenkrieger doch nicht ankommen.“

Die beiden Wärter tauschten kurz gegenseitige Blicke, dann nickte einer von ihnen. „Na gut, aber nicht lange.“

Er schob den Riegel beiseite und öffnete die Tür. Drinnen war es trotz des hellen Tages dunkel. Nur durch ein einziges kleines Fenster drang Licht in die Abstellkammer für Gartengeräte. Xiang saß auf den Decken an der Wand. Er schielte nur kurz zur Tür rüber, dann starrte er wieder geradeaus.

Po räusperte sich. „Äh, hallo?“

Doch der Pfau ignorierte seine Begrüßung. Po ließ sich nicht beirren und fuhr mit seinen Ausführungen fort. „Äh, die Kleine möchte dir etwas geben.“

Mit diesen Worten schob Po Shenmi nach vorne, wenn auch mit angespannter Haltung. Würde Xiang auch nur eine bedrohliche Bewegung machen, würde er sofort eingreifen.

Zögernd ging das Pfauenmädchen auf den zusammengekauerten Pfau zu.

„Hallo“, begann sie zaghaft. Xiang reagierte immer noch nicht. Unsicher holte Shenmi etwas unter ihrem Flügel hervor.

„Ähm, ich hab hier was für Sie.“

Mit diesen Worten hielt sie etwas blaues Gefaltetes hoch. Erst jetzt drehte der blaue Pfau seinen Kopf in ihre Richtung.

Shenmi versuchte ihn anzulächeln, doch Xiang hätte sie am liebsten mit seinen Augen totgestarrt. Da half auch nicht das, was das Pfauenmädchen ihm zeigte. Es war eine Origami-Figur aus blauem Papier. Genauer gesagt ein blauer Origami-Pfau. Das Mädchen bewegte die gefalteten Schwanzfedern, die man sowohl entfächern als auch absenken konnte, wie bei einem echten Pfau.

„Und was soll das sein?“, fragte Xiang eisig, obwohl er ganz genau wusste, was es war.

Shenmi war ein wenig enttäuscht. So hatte noch nie jemand auf ihre Faltarbeit reagiert, dennoch überwand sie sich dazu ihm zu erläutern, was sie gefaltet hatte.

„Das ist ein blauer Pfau.“ Sie lächelte ihn leicht an. „Ich mag blau.“

Xiang verengte die Augen zu gefährlichen Schlitzen.

Das Mädchen stellte den gefalteten Pfau auf eine Kiste ab. „Das hab ich für Sie gemacht.“

Po hielt sich zwar artig im Hintergrund, aber irgendwie war dem Panda die ganze Sache nicht geheuer. Xiangs Schultern verspannten sich unnatürlich extrem, jetzt begannen sie sogar leicht zu zittern.

Plötzlich schlug der Pfau mit der Faust auf die Papierfigur. „HÖR AUF MICH ZU NERVEN!“, brüllte er sie an und wischte das zerdrückte Papier von der Kiste auf den Boden. „HAU EINFACH AB! LASS MICH IN RUHE!“

Po meinte sein Herz würde aussetzen. Er war so vor den Kopf geschlagen, dass er sich gar nicht mal von der Stelle rühren konnte. Die nächste Sekunde der Stille kam ihm wie eine Ewigkeit vor. Er wagte nicht Shenmi anzusehen. Wenigstens stand das Mädchen mit dem Rücken zu ihm gewandt, sodass er nicht ihr Gesicht sah, aber er konnte sich sehr gut vorstellen, was jetzt passierte.

Das Mädchen sah Xiang zunächst völlig entgeistert an. Dann wandte sie sich mit einem Aufschrei von ihm ab.

„Shenmi!“

Hilflos musste Po mitansehen, wie das Mädchen weinend davonrannte. Po verschwendete keine Zeit und lief ihr sofort hinterher. Doch kaum war er über der Türschwelle, fiel ihm wieder Xiang ein. In Po zogen sich sämtliche Wutmuskeln zusammen und ballte die Fäuste.

Er wollte zurück in die Hütte stürmen und ihn ordentlich eine verpassen, doch die Wärter hatten diese Flucht als Bedrohung gedeutet und sofort wieder die Tür hinter dem Panda geschlossen.

„Hey, lasst mich rein!“, protestierte Po. „Ich schlag ihn zusammen!“

Doch die Wärter ließen ihm keine Möglichkeit die Tür zu erreichen.

„Ohne König Wangs Erlaubnis, dürfen wir sowas nicht dulden“, meinte der erste Ochse.

„Genau“, stimmte der zweite ihm zu. „Bis dahin musst du dich beherrschen, Drachenkrieger.“

Po hielt inne. Beherrschung… Selbstbeherrschung. Selbstbeherrschung.

Was hatte sein Meister über Selbstbeherrschung mal gesagt?
 

Vor langer Zeit…
 

„Drachenkrieger“, begann Meister Shifu. „Ich habe dir vieles beigebracht. Du hast gelernt Kraft, Disziplin, Mut, Stärke…“, er räusperte sich. „und Bescheidenheit zu erwerben. - Und doch fehlt dir etwas.“

Po hob überrascht die Augenbrauen. „Was denn? Fliegen? Oder Objekte bewegen? Einen Berg sprengen?“

„Selbstbeherrschung.“

„Hä?“ Po sah ihn verwundert an. „Davon hab ich doch jede Menge. Alleinschon als Ihr mir die Klöße vorgehalten habt, und darauf gewartet habt, wie lange ich es aushalte ohne davon zu essen…“

Der kleine Meister hob die Hand. „Ich spreche nicht von der Selbstbeherrschung der Enthaltung, sondern von der Selbstbeherrschung unter extremen Bedingungen.“

Po hob die Augenbrauen. „Extreme Bedingungen?“

Meister Shifu wandte sich zum Gehen, während der Panda ihm durch den Jadepalast folgte.

„Es ist eine große Stärke selbst unter großen Belastungen nicht die Kontrolle über sich zu verlieren“, erläuterte Meister Shifu. „Dazu gehört seine Wut im Zaum zu halten und die Ruhe zu bewahren.“

Der Panda winkte mit der Hand. „Das ist doch leicht.“

„Dann wollen wir mal sehen wie gut du Selbstbeherrschung umsetzen kannst. Nämlich damit.“

Sie blieben stehen, und Shifu deutete vor sich. Po riss die Augen auf, als er um die Ecke ein Schwein-Baby im Essstuhl sitzen sah, vor ihm eine Schüssel mit Brei.

„Eine extreme Bedingung kann so belastend und nervenzerrend sein wie ein kleines Kind“, fuhr Meister Shifu fort. „das jeden an die Belastungsgrenze drängt.“

Po überlegte kurz, dann lachte er heiter. „Ha, ha, okay, alles klar. Wenn’s weiter nichts ist. Das schaff ich mit der linken Kung Fu Hand.“

Er trat an das Baby im kleinen Stuhl heran und lächelte ihm amüsiert zu. Dann fiel ihm eine Frage ein.

„Okay, und was muss ich jetzt tun?“

„Füttere es“, stellte Shifu ihm die Aufgabe.

Po strich sich übers Kinn. Dann griff er zu einem Löffel, der neben der Breischüssel stand und schöpfte damit einen Löffel voll Brei auf. Anschließend führte er diesen zum Babymund. Doch das kleine Schweinchen dachte nicht daran, diesen Brei zu kosten und drehte den Kopf weg.

„Och, komm schon“, versuchte Po das Baby zu überreden. „Schön den Mund aufmachen. Jetzt kommt der Kranich und serviert dir ein schönes Happi.“

Doch kaum war der volle Löffel wieder in Babyschweinchen-Nähe, haute dieses dem Panda den Löffel aus der Hand und der Brei landete in Pos Gesicht.

„Hey, was soll das?“, beschwerte sich Po und wische sich den Brei aus dem Gesicht.

Shifu lächelte. „In so einer Situation muss man Geduld üben.“

Po seufzte und atmete tief durch. „Okay… Geduld, Geduld… AH!“

Eine weitere Breiladung war in Pos Gesicht gelandet, die das Baby ihm babbelnd zugeworfen hatte und Po war erneut damit beschäftigt, sein Fell vom klebrigen Essen zu befreien. „Hey, was soll das?!“

Shifu lachte. „Übe dich in Selbstbeherrschung.“

Po warf einen Blick an die Zimmerdecke. „Selbstbeherrschung… Selbstbeherrschung…“ Er sah das kichernde Baby mit einem erzwungenen Lächeln an. „Oh, du süßes kleines…“

Das Schweinebaby hatte die Schüssel genommen und die Breiladung flog dem unbeholfenen Panda entgegen. Sofort reagierte der schwarz-weiße Bär und zerschlug das klebrige Geschoss. Brei und Scherben landeten klirrend und klatschend zu Boden.

Verlegen legte Po die Hände zusammen. „Uh, das krieg ich wieder hin… die Schüssel meine ich.“

Er schielte schüchtern zu Shifu rüber. Doch im nächsten Moment begann das Baby vor lauter Frust zu schreien. Verzweifelt hielt Po sich die Ohren zu. „Shhh! Sei doch bitte ruhig…“

Doch dadurch schrie das Baby nur noch lauter.

Shifu schmunzelte amüsiert. „Übe nur weiter, Drachenkrieger. Versuche es zu beruhigen. Ich gehe in der Zwischenzeit meditieren.“

Damit verließ der kleine Meister die beiden, während das Baby nur noch lauter schrie. Da half auch das Ohrenzuhalten nichts. Schließlich hielt Po es nicht mehr länger aus und stieß ebenfalls einen Schrei aus.

„AHH!“
 

„AHHH!“

Po hielt abrupt inne. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er bei dieser Erinnerung selber noch, wenn auch leiser, aufgeschrien hatte. Die Wächter, die immer noch hinter ihm standen, sahen ihn verwundert an. Po lächelte ihnen verlegen zu. Dann machte er sich hastig davon.

„Okay, okay, Selbstbeherrschung, Selbstbeherrschung“, murmelte Po immer wieder. „Selbstbeherrschung.“

Doch dann fiel ihm etwas anderes ein. Wo war Shenmi hingelaufen? Zu ihren Eltern?

Wenn Shen erfuhr, was passiert war, würde es eine Katastrophe geben. Sofort nahm Po die Beine in die Hand und steuerte auf das Haus zu, in dem sich der weiße Pfau aufhielt.
 

Yin-Yu war froh, dass eines der Schafe sich dazu bereit erklärt hatte, etwas zu Essen zu kochen. Während dieser Zeit, saß Shen am Essenstisch und hing seinen Gedanken von gestern nach. Yin-Yu saß neben ihm und trank einen Tee.

Schließlich seufzte Shen. „Findest du wirklich ich sehe zu blass aus?“

Die Pfauenhenne sah ihn erschrocken an. „Das ist doch gar nicht wahr.“

Sie stand schnell auf und drückte sich gegen Shens Rücken. „Sie ist eine Teufelin. Auf so eine brauchst du gar nicht zu hören. Die hat doch keine Ahnung.“ Sie massierte seine Schultern. „Für mich ist es völlig egal wie du aussiehst.“

Der weiße Pfau kannte zwar ihre Einstellung, doch im Allgemeinen hatte es die alten Wunden aus seiner Kindheit wieder aufgerissen.

„Es kann für dich auch keine Rolle spielen, weil die Farben dir verwehrt wurden sie zu betrachten. Aber was wäre, wenn du Farben sehen könntest?“

Sie schmiegte sich an ihn. „Wen jemand wie sie nur nach dem Äußeren geht, der wird für immer alleine sein.“ Sie strich ihm übers Gesicht. „Aber bist du allein?“

Ihre Flügel wanderten zu ihm hinunter. So langsam verflogen Shens Anspannung und er genoss ihre Liebkosungen. Es erinnerte ihn immer an die schönen Abende, die sie miteinander verbracht hatten.

Beide fuhren hoch, als die Tür aufgerissen wurde und ein keuchender Panda im Türrahmen stand.

„Shenmi?“, stieß Po aufgeregt hervor. „Ist sie hier?“

Die Pfaueneltern sahen sich verwirrt um. Schließlich schüttelte Yin-Yu den Kopf.

„Nein, nicht dass ich wüsste…“

Shen, dem es äußerst verdächtig vorkam, dass der Panda ihn nicht wie gewohnt zuerst grüßte, sprang von seinem Sitz auf. „Ist etwas passiert?!“

Po wich einen Schritt zurück. „Passiert?“ Er setzte ein gequältes Lächeln auf, sichtlich erleichtert, dass Shenmi nicht sofort zu ihrem Vater gerannt war. „Oh, nein, nein, natürlich nicht. Wir… wir spielen nur Verstecken.“

Er schaute zur Seite und tat so als würde er um die Ecke des Hauses schauen. „Oh, oh, ich sehe sie schon dort drüben…. Hey, Shenmi. Ich hab dich gleich gefunden!“

Mit diesem Jubel rannte Po davon. Shen wollte ihm folgen, doch Yin-Yu hielt ihn an der Schulter fest. „Nein, du schonst dich noch. Bitte, bleib sitzen.“
 

Po schaute hinter sich. Es fiel eine Zentnerlast von seinen Schultern, als er sah, dass Shen ihm nicht hinterherkam. Doch damit war das Problem für ihn nur halbgelöst.

„Okay, okay, wo kann sie nur sein, wo kann sie nur sein?“

Er sah sich um. Schließlich fiel ihm nichts anderes ein als die Schafe zu fragen, die hier und da ihre Arbeiten im Dorf verrichteten.

Schließlich wurde er fündig, als ihn ein Holzsammler darauf hinwies, dass das Mädchen nach unten in den Wald gerannt war. Schnell steuerte Po in die gewiesene Richtung. Er schaute hinter jedem Baum und jedem Stein, fand sie aber nicht sofort. Erst ein Stück weiter den Berg runter, vernahm er ein Schluchzen. Po stellte die Ohren auf und folgte den weinenden Lauten.

„Shenmi?“ Po reckte den Hals und wühlte sich durch die Büsche. „Shenmi? Bist du das?“

Endlich erblickte er das Mädchen irgendwo vor einem großen Baum im Gras. Sie lag mit dem Gesicht auf dem Boden und hatte den Kopf in die Flügel vergraben. Schnell ging Po auf sie zu.

„Shenmi, alles okay?“ Er beugte sich besorgt zu ihr runter. „Sag doch was. Hey.“

Vorsichtig schob er seine Hände unter ihren kleinen Körper, der unter seiner Berührung etwas zitterte. Sie weinte immer noch.

„Na, na, na“, redete Po auf sie ein. „Nun beruhige dich erst mal.“

Er setzte sich hin und nahm das Mädchen auf den Schoss. Allmählich legten sich die schluchzenden Laute, während der Panda ihr über den Kopf streichelte.

„Geht’s wieder?“, erkundigte er sich und neigte sich tiefer zu ihr runter.

Shenmi bewegte ihren Schnabel, der leicht zitterte, sodass sie kaum im Stande war ruhig zu reden. „Er… er… er hat…“

„Ja, ich weiß“, half Po ihr bei dem Satz. „Er hat dein Figürchen kaputt gemacht.“

Po biss sich auf die Unterlippe, um nicht ebenfalls seinen Frust freien Lauf zu lassen. Damit würde er Shenmi nur ein schlechtes Vorbild sein und sein Meister würde das auch nicht gut finden. Schließlich rang Po sich dazu durch, die ganze Sache abzudämpfen, selbst wenn er Xiang dafür ein kleinwenig in Schutz nehmen musste.

„Hör mal, das hat er bestimmt nicht mit Absicht gemacht“, sagte er. „Ich bin sicher… es hat ihm… dass ihm dein Papierfigürchen gefallen hat.“

Shenmi sah ihn mit Tränengefüllten Augen an. „W-warum tut er das dann?“

„Tja, weißt du…“ Das brachte Po erst mal in Erklärungsnot und rieb sich verlegen den Nacken. „Hey, wann hattest du denn mal Streit mit deinen Brüdern gehabt, wo du sogar mal weinen musstes?“

Shenmi schluckte heftig. „Papa… hat… immer aufgepasst…“

Po suchte erneut nach einer Erklärung. „Tja, dann hattest du ja Glück gehabt. Bei ihm hat niemand aufgepasst. Er hatte immer jemanden gehabt, der auf seinem Spielzeug rumgetrampelt ist…“ Po überlegte kurz. Stimmte doch. Wenn Xiangs Behauptung stimmte, dass er von Anbeginn von seiner Mutter drangsaliert wurde, dann konnte man es doch so nennen. Zumindest glaubte er das. „Ja, weißt du“, fuhr er fort. „Weil man gemein zu ihm war, verhält er sich auch gegenüber anderen so.“

Po fand seine Aussage nicht gerade in Ordnung. Im Grunde hatte Xiang kein Recht sich gegenüber einem guten Kind so aufzuführen, doch im Moment fiel Po auf die schnelle nichts Besseres ein, um die Wogen zu glätten. Besonders da Shen sonst noch wirklich Xiang die Kehle „aus Versehen“ durchschneiden könnte.

Wenigstens hatte Shenmi sich wieder etwas beruhigt.

„Glaubst du das wirklich?“, fragte sie unsicher und sah zu ihm hoch.

Po lächelte sie an. „Aber natürlich.“ Er strich ihr eine Träne von der Wange. „Sag, warum bist du nicht zu deinen Eltern gegangen?“

Shenmi senkte ihren Blick. „Ich möchte nicht, dass Papa sich nochmal prügelt.“

Po seufzte niedergeschlagen. Er war irgendwie froh, dass sie die Kämpfe zwischen ihm und ihrem Vater nie mitansehen musste. Aber er wusste, dass man es ihr irgendwann sagen musste. Xia und Sheng wussten bereits über alles Bescheid und waren sich im Klaren, wozu ihr Vater in der Lage war. Wenn Po in Shenmis Augen sah, dann tat es ihm weh, dass sie einen Vater hatte, der so viel Schlimmes in seinem Leben getan hatte.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte Shenmi beunruhigt, als sie Pos trauriges Gesicht bemerkte.

„Was? Oh, ja, alles okay. Ich hab nur gedacht…“ Er schüttelte hastig den Kopf. „Ich finde, wir sollten jetzt wieder zu den anderen gehen.“

Er lächelte sie an. „Na komm. Wisch dir mal die Krokodilstränen aus den Augen.“

Der Panda zog ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und hielt es ihr vor. Nachdem alle Spuren der Trauer beseitigt waren, stand Po auf.

„Und nur keine Sorge“, ermutigte er sie. „Ich klär das mit ihm. Ich bin sicher, dass er sich bei dir entschuldigen wird.“

Das Mädchen sah ihn schüchtern an. „Sicher?“

„Absolut sicher.“

Und er hoffte, dass er nicht lügen würde.
 

Nachdem Po die Kleine sicher bei ihren Eltern abgeliefert hatte, Shen wunderte es etwas, dass Shenmi etwas ruhig war, begab sich der Panda mit festen Schritten wieder zur Hütte runter. Nur mit großer Überredenskunst konnte er die Wärter dazu überreden ihn noch einmal durchzulassen. Dennoch erforderte es von Po sämtliche Selbstdisziplin beim Anblick der offenen Tür keinen Kriegsschrei auszurufen. Stattdessen marschierte er mit finsterem Blick hinein. Xiang saß wieder auf den Decken. Als der Schatten des Pandas auf ihn fiel, hob er nur bockig den Kopf. Po verengte die Augen.

„Hey! Eines möchte ich sofort klarstellen!“, donnerte der Drachenkrieger. „Ich warne dich. Wenn du sowas nochmal Shenmi antust, dann lernst du mich richtig kennen!“

Er hob drohend die Fäuste. Doch diese Geste ließ Xiang völlig kalt. Entweder zielte er darauf ab, den Drachenkrieger zu provozieren, oder es war ihm völlig egal, ob Po ihn verprügeln wollte oder nicht. Tonlos und gleichgültig, sah er den Panda an.

„Ach, dir tut also dieses Gör leid?“

Plötzlich huschte ein gemeines Lächeln über seinen Schnabel. Po presste die Fäuste noch fester zusammen. „Ich rate dir, dich bei ihr alsbald zu entschuldigen.“

Xiang gehässiges Grinsen verschwand. Stattdessen sah er den Panda jetzt an, als habe er ihm gerade ein Märchen erzählt. „Entschuldigen?“, fragte er ungläubig. „Ich soll mich entschuldigen?“

Diese Frage verunsicherte den Panda jetzt ein bisschen. „Äh… ja. Das habe ich gesagt.“

Der Schnabel des Pfaus begann zu zittern. „Ich soll mich entschuldigen?! Bei einem Weib???!“ Xiang schien völlig fassungslos zu sein. Dann hob er den Kopf. „Eher würde ich sterben!“

Po meinte sich verhört zu haben. War das Entschuldigen bei einer Frau so erniedrigend für ihn? Der Panda verengte die Augen. Beide starrten sich an. Po wusste nicht was er mehr verabscheuen sollte. Den Pfau selber, oder seine verdrehte Vorstellung von Frauen. Egal wie er es betrachtete, Xiangs Verachtung gegenüber dem anderen Geschlecht war wie ein Schatten, der ihn nicht losließ. Schließlich zog Po sich aus dem visuellen Gefecht zurück und begab sich entrüstet zur Tür. Xiang scherrte sich nicht um die abweisende Haltung des Pandas und sah ihm wütend hinterher.
 

Liu fühlte sich nicht gut an diesem Morgen. Sie mied bewusst die anderen. Sie hatte Angst vor ihren Blicken. Angst vor ihren Fragen. Im Grunde war sie teilweise mitschuldig an der ganzen Sache. Hätte sie Xiang nicht von den Geckos befreit, dann wären die andern wohl nicht ins Kreuzfeuer geraten. Dennoch scheute sie sich davor es zu bereuen, obwohl sie Xiangs Missetaten genauso wenig gutheißen konnte. Bis zum Mittag verbrachte sie den Tag still und teilnahmslos in ihrem Zimmer, bis sie von draußen Schritte hörte, dicht gefolgt von einem Klopfen an der Tür.

„Herein“, rief sie.

Sie war überrascht den Panda eintreten zu sehen.

„Oh, guten Tag.“ Sie bemerkte Pos ernsten, teils wütenden, Gesichtsausdruck und ihr schwante Böses. „Ist etwas passiert?“

Po ging nochmal tief in sich.

Selbstbeherrschung.

Der Panda atmete nochmal tief durch, bevor er antwortete.

„Also, ich weiß zwar nicht, was Sie an ihm so sympathisch finden“, begann er mit gepresster Stimme. Er hatte immer noch eine ungeheure Wut auf den blauen Pfau. „Aber wenn Sie etwas für ihn tun wollen, dann sollten Sie mal mit ihm reden, dass er sich gefälligst gegenüber bestimmen Personen benehmen soll.“

Liu sah ihn fragend an. „Wieso? Was hat er getan?“
 

Xiang hob genervt den Kopf, als zum dritten Mal heute die Tür geöffnet wurde. Als er Liu hereinkommen sah, hob er spöttisch die Mundwinkel und erhob sich. „Und ich dachte schon, das Tötungskommando käme hereingestürmt.“

Liu seufzte schwer. „Dann wissen Sie, weshalb ich hier bin?“

Xiang schnaube abfällig. „Weiber halten doch immer zueinander.“

Die Pfauenhenne schluckte diese Beleidigung hinunter. Sie war Xiangs frauenfeindlichen Äußerungen zwar gewohnt, dennoch fand er immer eine neue frische Wunde, in die er in die Seele stechen konnte.

„Hören Sie“, begann sie ruhig. „Ich weiß es ist schwer im Moment. Ich weiß auch nicht, wo mir der Kopf steht…“

„Deine Verwirrtheit interessiert mich nicht“, schnitt er ihr das Wort ab und sah sie böse an. „Fasel doch nicht so blöd rum. Na los. Sag schon, dass du mir am liebsten an die Gurgel gehen willst, wie dieses Fettungetüm.“

Liu nahm nochmal all ihren Mut zusammen. „Ich bin nicht bekommen, um Sie dafür auszuschimpfen“, sagte sie mit fester Stimme. „Ich kann nur nicht verstehen, warum Sie sie so verletzt haben. Sie ist doch noch ein Kind.“

Xiang verzog den Schnabel. „Nur ein Kind? So, so. Nur ein Kind.“ Er lehnte sich gegen die Wand. „Je hässlicher eine Pfauenhenne, desto gefährlicher ist sie.“ Der Pfau verengte die Augen. „Hässlich war meine Mutter nicht, aber das hätte sie auch nicht davon abgehalten, mich zu quälen.“

Liu sah ihn mitleidig an. „Aber warum? Sie muss doch einen Grund gehabt haben.“

Xiang hob überrascht die Augenbrauen. „Liegt das nicht auf dem Flügel? Sie war eifersüchtig, weil Männer schöner sind als Frauenpfaue. Allein schon dieses Balg, findet wohl meine Farbe schön. Früher oder später wird sie mich dafür hassen, dass sie nicht so schön ist wie ich. Was bin ich? Ein Ausstellungsstück?!“

Lius Blick fiel auf den kaputtgedrückten Papierpfau auf den Boden in der Ecke, während Xiang weitererzählte. „Genauso wie meine Mutter mit ihrer verruchten Schwester. Wie oft haben die beiden mir zum Spaß die Federn rausgerissen und sich damit geschmückt.

Als ich mich einmal selber verunstalten wollte, drohte meine Mutter mir die Augen auszustechen. Mein Körper wäre nicht mehr meiner. Ich hätte kein Recht auf ihn.“

Liu schüttelte ungläubig den Kopf. „Sie werden doch wohl nicht glauben, dass alle Frauen so sind?“

Sie ging auf ihn zu und wollte ihn an der Schulter berühren, doch noch ehe sie dazu kam, schlug er ihr den Flügel von sich. „Ihr Frauen seid doch nur auf eines aus: Auf die Schönheit um besser dazustehen!“

„Das ist nicht wahr!“

„Du machst es mit deinen frechen Lügen nur noch schlimmer.“

„Für mich sind Sie mehr als nur ein schöner Pfau…!“

Sie hielt sich erschrocken den Schnabel zu. Selbst Xiang stand wie vereist da. Eine Weile starrten sie sich einander an.

Schließlich stieß der Pfau ein abfälliges Kichern aus. „Tz, du bist viel jünger als ich. Wieso solltest du dich für mich interessieren? Vor allem, da meine Vollkommenheit dahin ist.“

Er sah an seinem lahmen Bein herunter.

„Das würde nichts daran ändern“, wagte Liu zu sagen und hob mit fester Miene den Kopf. „Und außerdem, ich bin über 20. Also alt genug.“

Xiang sah sie verwundert an. Dann winkte er abwertend mit seinem Flügel. „Du bist doch nur eine billige Angestellte. Wenn du nicht auf mein Äußeres aus bist, dann nur auf mein Geld. Falls ich überhaupt noch welches besitze.“

Liu schluckte schwer. Sie war den Tränen nahe, als er ihr wieder die kalte Schulter zeigte. Dennoch fand sie die Kraft ihm das zu sagen, was sie ihm schon immer hätte sagen wollen. „Ich würde vieles für Sie tun.“

Xiang hielt inne. Langsam drehte er den Kopf zu ihr. Sein Gesicht war überfüllt von Skepsis. „Vieles?“

„Außer das illegale“, korrigierte Liu. „Was Sie der Kleinen angetan haben, war schon schlimm genug gewesen. Aber ich würde Ihnen vergeben, wenn Sie es bedauern würden.“

Einen Moment lang wusste Xiang nicht, was er darauf erwidern sollte. Dann wich er ihrem Blick aus.

„Ich bedaure eher, dass ich geboren wurde. Aber noch mehr bedaure ich es, ein Pfau zu sein.“

Es wurde still zwischen ihnen. Doch dann, zu Lius Verwunderung, begann er zu lächeln. Schließlich lachte er sogar ein bisschen.

„Willst du mal was ganz Verrücktes hören?“ Er wartete nicht auf eine Antwort von ihr, sondern fuhr einfach fort. „Ich weiß zwar nicht wie viele Lügen mir meine Mutter aufgetischt hat, aber sie hatte einmal behauptet, ich hätte eine Schwester gehabt.“ Wieder musste er kichern, allerdings war es ein eher krankhaftes Kichern. „Kaum kam es raus, wer von uns der Junge war, den pickte sie sich raus.“ Er deutete auf sich. „Was aus ihr wurde…“

Er schwieg einen kurzen Moment. „Wer weiß. Ein schöner Junge habe ihr genügt, um zu beweisen wer schöner ist… Das andere Küken wäre für sie eh zu hässlich gewesen. Warum sollte es dann noch leben?“

Er schaute amüsiert zu Liu, die ihn entsetzt ansah. Ungerührt redete der Pfau weiter.

„Tja, wenn ich das Mädchen gewesen wäre… Wer weiß. Vielleicht wäre mir dann einiges im Leben erspart geblieben. Wie sagt man doch so schön? Wer schön sein will muss leiden?“

Er strich mit einem Federfinger über ein Regal, als würde ihm das Holz faszinieren. Anschließend wanderte sein gehässiger Blick wieder zur Pfauenhenne, der etwas der Mund offenstand.

„Was denkst du soll ich von Gören halten, die mich um meine Federn beneiden?“

Für einen Moment sah es so aus, als würde Liu etwas sagen wollen, doch dann drehte sie sich einfach um und ging zur Tür. Doch bevor sie sie öffnete, hielt sie noch einmal kurz inne.

„Ich habe mich über 4 Jahre um Sie gekümmert“, flüsterte sie. „Denken Sie wirklich ich hätte nicht mehr als einmal die Gelegenheit gehabt Sie zu schikanieren?“ Sie seufzte. „Ich hab nie eine Sekunde daran gedacht. Denken Sie mal darüber nach.“

Mit diesen Worten zog sie die Tür auf und ließ Xiang einfach alleine.

Draußen lehnte Liu sich gegen einen Baum und atmete ein paar Mal tief durch. Xiang schien mit seinem Hass die ganze Umgebung zu vergiften, sodass sie erst wieder zu sich kommen musste. Es dauerte mindestens eine Minute bis sie wieder klar denken konnte. Schließlich trat sie entschlossen gegen einen Stein.

„Ich werde es ihm beweisen.“
 

Falls ihr Shenmis Origami-Pfau sehen wollt, dann könnt ihr gerne hier reinschauen:

https://www.youtube.com/watch?v=63h9Ct6MrDw

Das Video stammt nicht von mir, aber so in etwa könnte der Papierpfau aussehen. :-)



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