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Die letzte Ehre

von

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18. Zimmer des Horrors

Um ihn herum war alles dunkel. Allmählich kam der weiße Pfau wieder zu sich und schaffte es ein bisschen zu blinzeln. Zunächst erkannte er nur leichte Umrisse. Er konnte kaum etwas sehen. Nur der sehr schwache blasse Lichtschein einer Laterne erhellte den Raum. Stöhnend versuchte Shen seinen Körper zu bewegen, doch er hatte das Gefühl er würde in Eisen feststecken. Er drehte leicht den Kopf nach rechts und nach links, um irgendwie wieder klar denken zu können. Nur langsam kamen ihm die Ereignisse wieder in den Sinn, bevor ihn jemand so brutal auf den Kopf geschlagen und er das Bewusstsein verloren hatte. Wo war er gewesen? Was war passiert? Was war…?

Das war nicht Gongmen, auch nicht Yin Yan…

Der Pfau schloss die Augen und versuchte sich wieder zu erinnern.

War da nicht eine Reise gewesen…?

„Mendong“, murmelte er. Ja, so hieß die Stadt. Dann war da noch der Panda... und… Shenmi… „Shenmi.“

„Nett dich wieder aufwachen zu sehen“, wisperte eine andere Stimme neben ihm.

Shen kniff die Augen zusammen. Diese Stimme kannte er doch… War das nicht…

Mit einem Schlag war Shen hellwach. Er riss die Augen auf und sah links nicht weit von sich entfernt die dunkelblaue Gestalt eines Pfaus.

„DU!“

Shen wollte sich auf ihn stürzen, musste aber feststellen, dass er mit Stricken gefesselt war.

Seinen Zorn kurzfristig vergessend, riss Shen an den Stricken. Seine Flügel waren nach hinten zusammengebunden, die seinen Rücken gegen eine dünne Säule festhielten. Auch seine Beine waren miteinander verschnürt. Zudem war sein langer Hals mit Seilen an der Säule befestigt, was es ihm auch nicht ermöglichte seinen Oberkörper zu bewegen.

„Wie kannst du es wagen?!“, brüllte er Xiang an, während er weiter an den Stricken zerrte. „Wo ist meine Tochter?! Und wo ist meine Frau?! Hast du sie auf dem Gewissen?! ICH BRING DICH UM!“

„Hey!“, fuhr Xiang ihm dazwischen. Er klang selber auch etwas erschöpft. „Ich weiß es doch auch nicht! Bist du blind, oder siehst du nicht, dass ich selber hier feststecke?!“

Shen hielt inne. Erst jetzt bemerkte er, dass der blaue Pfau auf die gleiche Art gefesselt war wie er und ebenfalls an einer Säule hockte.

Das wirbelte in Shens Kopf wieder alles durcheinander. Oder wollte dieser Pfau ihn nur hereinlegen? Er kniff die Augen zusammen und betrachtete Xiang mit zornigem Blick. Es erstaunte ihn, dass sein Gefieder wieder vollständig nachgewachsen war. Das hätte er nie erwartet. Doch wenn er nicht für Yin-Yus und Shenmis Verschwinden verantwortlich war…

„Und wer war es dann?“, forschte Shen streng und hob seine gefesselten Füße.

Xiang senkte den Kopf. „Ich bin mir nicht ganz sicher“, murmelte er kleinlaut.

Shen sah ihn misstrauisch an. Hatte sein Rivale eine Vorahnung oder sowas?

Der weiße Pfau wandte seinen Blick von Xiang ab und nahm die Gelegenheit war, sich umzusehen. Der Raum stand komplett im Halbdunkeln. Nur eine Laterne brannte über ihren Köpfen an der Decke, umschirmt von einer kalten weiß-grauen Pappe, die dem Raum zusätzlich eine schaurige Atmosphäre verlieh. Doch das war kein Keller oder sowas, wie Shen anfangs vermutet hatte. Im Gegenteil, die Wände waren teilweise mit goldenen Rahmen verziert und der Boden war mit schönen glatten Marmorplatten ausgelegt. Als nächstes erkannte er im Dämmerlicht Möbel, wie Schränke, Kommoden, allesamt schön verziert und bestimmt auch teuer. Von den Decken hingen hier und da ein Seidentuch zur Dekoration und gegenüber stand ein Bett. Es schien unbenutzt zu sein. Die Decke war völlig faltenfrei und glattgestrichen.

„Wo sind wir hier?“, stellte Shen die nüchterne Frage.

Xiang schluckte, als scheute er sich davor die Antwort in den Mund zu nehmen. Schließlich bewegte er den Schnabel und hauchte nur ein paar heisere Worte.

„In… meinem… Kinderzimmer…“

„Das hast du richtig erkannt.“

Xiang stockte er Atem, als ihn die Stimme einer Frau unterbrach. Auch Shen horchte auf. Sie waren nicht alleine in diesem Raum. Nur wusste der Lord nicht was er von dieser unüblichen Begrüßung halten sollte. Doch als er zu Xiang rüber schielte, schien dieser erstarrt zu sein.

Shen hasste es im buchstäblichen und ihm übertragenem Sinne im Dunkeln zu sitzen und wollte Klartext. Wieso versteckte sich die Person vor ihnen?

„Wer sind Sie? Zeigen Sie sich!“, forderte er.

Für ein paar Sekunden blieb alles still. Doch dann erklangen hinter ihnen Schritte. Shen lauschte angestrengt. Das waren blanke Füße auf harten Boden. Die Person trug keine Schuhe. Zudem war die Gangart von einem leichten Klang an Krallen begleitet. Es musste sich um Vogelfüße handeln, die verstörend langsam über den Boden wanderten. Zusätzlich war das Schleifen von Stoff zu hören. Shen versuchte den Kopf nach hinten zu drehen, doch er schaffte es nicht.

Die Schritte waren jetzt fast neben ihnen. Auf einmal blieben sie stehen. Für ein paar Sekunden herrschte absolute Stille. Die zwei Pfaue konnten nichts hören, außer ihren eigenen Atem.

„Lange nicht mehr gesehen“, begann die Frauenstimme mit einem spöttischen Unterton. „Mein lieber Xiang.“

Im nächsten Moment trat eine Gestalt ins schwache, fahle Laternenlicht. Shen zuckte zusammen, schüttelte dann aber wieder sofort den Kopf. Zumindest soweit ihm das möglich war. Nein, es war zwar eine Pfauenhenne, ohne Zweifel, doch es war nicht Yin-Yu. Bestimmt nicht. Diese hier unterschied sich deutlich von ihr. Allein schon durch ihre buschige langen Kopffedern, die von extrem langen Haarnadeln zusammengehalten wurden, die so lang wie Essstäbchen waren. Ihre Federn waren zwar dunkel gefärbt, genaueres konnte Shen in dem schwachen Licht nicht erkennen, aber sie musste viel Schwarzanteil in ihrem Gefieder besitzen. Das nächste Auffällige war ihr extrem langer schwarzer Mantel. Er war fast so lang wie die Schwanzfedern eines Pfaus und an den Enden ausgefranst mit langen Stoffstreifen, die sie hinter sich herzog.

Shen kniff die Augen zusammen. Diese Pfauenhenne hatte er irgendwo schon mal gesehen.

Sie neigte sich zu Xiang runter. Dieser sah ungläubig zu ihr auf. Sie lächelte ihn an. Aber es war ein äußerst hinterhältiges, kaltes Lächeln.

„Warum schaust du so?“, fragte sie liebevoll. „Bist du so überrascht mich zu sehen, oder erkennst du deine eigene Tante nicht mehr?“

Shen horchte auf. War das etwa…

Dann erinnerte er sich wieder an das Gemälde und was Huan gesagt hatte.

„Das ist Xiangs Mutter mit ihrer Schwester Chiwa. Eine nette Dame. Wie ihre Schwester. Die beiden Schwestern waren immer unzertrennlich gewesen und haben vieles gemeinsam gemacht. Aber seit dem Verschwinden von Xiangs Mutter hat sie sich auch nicht mehr hier blicken lassen.“

„Dann bist du also Chiwa?“, forschte Shen grimmig nach.

Die Pfauenhenne drehte sich zu ihm um. Dann schenkte sie ihm ebenfalls ein Lächeln. „Oh, sieh einer an, der Junge hat aufgepasst. Wie…“

„Was willst du von uns?!“, unterbrach Shen sie unwirsch.

In den Augen der Pfauenhenne blitzte es kurz auf. „Ganz schön vorlaut für einen - farblosen - Pfau.“

Das Wort „farblos“ sprach sie in einem so abfälligen Ton aus, als wäre es etwas Unanständiges. Shen versuchte diese Beleidigung zu überhören und wiederholte nochmal sein Anliegen.

„Du hast meine Frage nicht…!“

„Du redest nur wenn du gefragt wirst“, fiel Chiwa ihm hart ins Wort. „Ich darf mich wohl noch mit meinen Neffen unterhalten. Es ist unhöflich jemanden mitten in einem Gespräch zu unterbrechen. Jungs sollen sich nicht so aufführen, und schon gar nicht ungestüm, das gehört sich doch nun wirklich nicht.“

Als sie sich wieder ihrem Neffen zuwandte, bemerkte Shen, wie Xiang begonnen hatte zu zittern. Er sah die Pfauenhenne so entsetzt an, als würde ein Monster vor ihm stehen.

Die Pfauenhenne schien seine Angst zu gefallen und beugte sich noch weiter zum blauen gefesselten Pfau runter.

„Mein lieber kleiner Neffe“, säuselte sie mütterlich. „Wie lange haben wir uns nicht mehr gesehen?“

Der blaue Pfau schluckte schwer. „Nicht l-ang ge-genug“, stotterte er, was Shen etwas überraschte.

Die Pfauenhenne grinste und strich dem blauen Pfau über die Stirn, bevor sie seine Wange tätschelte. „Dachtest du wirklich du könntest mir ewig entkommen?“

Angewidert wich Xiang ihrer Berührung aus, was seiner Tante aber nicht störte. Stattdessen richtete sie sich wieder auf und verbarg ihre Flügel unter ihrem Gewand.

„Als du noch hier gewohnt hast, hast du mir auf ewig den Zutritt verweigert“, fuhr die Pfauenhenne gekränkt fort. „Und es war nicht leicht dich zu finden. Ich musste die Informationen aus deiner Ex-Frau regelrecht herausfoltern, damit sie redet.“

Shen hob ruckartig seinen Pfauenkamm. „Wo ist meine Frau?! Was hast du mit ihr gemacht?!“

Chiwa drehte sich zu ihm um. Als sich ihre Blicke trafen, zog sie die Augenbrauen hoch. Shen sah sie so aggressiv an, als wollte er sie in der Luft zerreißen. Doch diese schneidenden visuellen Gesten konnten die Pfauenhenne nicht beeindrucken.

„Oh, du willst zu deiner Frau?“ Ungerührt strich sie sich übers Kinn, als würde sie nachdenken. „Tja, ich denke, da lässt sich was machen.“ Sie klatsche kurz leicht in die Flügel. „Tongfu.“

Im nächsten Moment tauchten im Dunkeln mehrere leuchtende Augen auf. Kurz darauf traten viele kleine Gestalten ins spärliche Licht. Shen musterte sie mit Argwohn. Es waren Geckos, fast zehn Stück, gekleidet in schwarzen Hosen. Ihre roten Augen mit den schwarzen Pupillen verliehen ihnen ein besorgniserregendes Aussehen. Doch Shen war so mit Wut geladen, dass selbst der schlimmste Dämon ihn nicht hätte einschüchtern können. Einer der kleinen Reptilien trat hervor und sein stechender Blick blieb über dem weißen Pfau hängen.

Chiwa kicherte bei diesem Augengefecht. „Ihr hattet ja schon bereits das Vergnügen miteinander gehabt.“

Der kleine Gecko, wahrscheinlich den sie mit Tongfu gerufen hat, knurrte gereizt. „Ja, allerdings.“

Er deutete auf einen anderen Gecko im Hintergrund, der einen Verband am Arm trug. Wahrscheinlich war er es gewesen, den Shen beim Kampf mit seinem Schwert erwischt hatte.

Chiwa schmunzelte, kam dann aber wieder auf das Thema zu sprechen. „Sei doch bitte so nett und verschaff ihm das Gewünschte.“

Der Gecko zischte Shen nochmal kurz an, bevor er sich verneigte. „Wie Sie wünschen.“

Sie verschwanden kurz aus dem Blickfeld ins Dunkel. Dann wurde eine große Tür geöffnet, die in ein weiteres Zimmer führte. Shen kniff die Augen zusammen. Im schwachen Mondlicht, der durch die Ritzen der angenagelten Bretter am Fenster hindurchschien, erkannte er ein noch größeres Bett. Die Geckos krabbelten auf den Boden und zerrten etwas unter dem Bett hervor. Anschließend schleiften sie ein Bündel hinter sich her wieder ins sogenannte Kinderzimmer und warfen es dem weißen Pfau vor die gefesselten Füße.

Das Wesen wimmerte leise. Dann regte es sich und hob schwach den Kopf. Shen erkannte Yin-Yus silberne Augen, die ihn erschöpft ansahen.

Shens Herz machte einen erleichterten Sprung. Sie war zwar gefesselt, schien aber unverletzt zu sein. Zumindest konnte Shen keine Wunden entdecken. Shen versuchte mit seinen gefesselten Beinen sie anzustupsen, konnte sie aber nicht erreichen.

Yin-Yu bewegte die Lippen, brachte aber kein Wort hervor. Sie war völlig entkräftet, was Shen eine unsagbare Wut hochtrieb.

„Was hast du mit ihr gemacht?!“, schrie er Chiwa an.

Doch die schwarze Pfauenhenne hob nur tadelnd den Kopf. „So ein frecher Junge. Er hat eine weitaus größere Lippe als du…“ Damit meinte sie Xiang, der immer noch völlig starrt vor Angst dasaß. „Wenn du überhaupt ein Rückgrat hättest…“

„Wo ist meine Tochter?!“, forderte Shen als nächstes.

Yin-Yu hob ruckartig aber schwach den Kopf. Doch nicht Shenmi, hoffte sie.

Chiwa lächelte. „Ach, du meinst das kleine blasse Ding, dass mein Neffe mit sich hat mitgehen lassen?“

Shens vernichtender Blick traf Xiang mit solcher Wucht, dass der blaue Pfau fast einknickte. Doch Chiwa kümmerte sich nicht um den privaten Streit zwischen den beiden und wandte sich wieder an Tongfu.

„Och, Tongfu, hab ich was versäumt, oder hast du mir was zu sagen, was ich noch nicht weiß?“

Der Gecko trat neben sie. „Nein, das weiße Federbällchen ist irgendwohin. Sollen wir es auch noch holen?“

Doch die Pfauenhenne winkte ab. „Nein, sie ist nicht notwendig.“ Ihr Blick wanderte zu Xiang. „Es ging mir nur um ihn.“

Ein fieses Grinsen glitt über ihre Schnabelwinkel, als der blaue Pfau innerlich zusammenbrach und schicksalsergeben den Kopf hängen ließ.

„Und außerdem“, fuhr sie fort. „Ist sie für eine Pfauenhenne eh schon hässlich genug. Aber ein hässlicher Pfau…“ Ihre Aufmerksamkeit galt wieder Shen. „Das ist selten.“

Shen spannte die Augenlider an. Er hasste es, wenn jemand über seine Farbe herzog. Sein Blick wanderte zu Yin-Yu, die nun ebenfalls gerade rechts von ihm an einer Säule gefesselt wurde.

Nachdem die Geckos mit ihrer Fesselkunst fertig waren, ließen sie von Yin-Yu ab und die schwarze Pfauenhenne trat an sie heran. Yin-Yus eingeschüchterte Augen wanderten zu ihr hoch. Chiwa blickte auf sie herab.

„Es wundert mich, dass du ihn mit so einen ausgetauscht hast“, bemerkte sie spitz. „Mein Neffe hatte da äußerlich mehr zu bieten.“

Shens Körperhaltung verkrampfte sich. Dieses fiese Weib wusste wohl nicht, dass Yin-Yu farbenblind war. Doch er biss die Zähne zusammen und verkniff sich eine Beleidigung. Die Situation war angespannt genug. Dennoch wusste er nicht, was diese Pfauenhenne plante. Aber es war eine Tatsache, dass es nichts Gutes war.

„Oh ja“, fuhr Chiwa wehmütig fort. „Er hatte schon immer mit seiner Schönheit hervorgestochen… Was für meine Schwester jedoch ein Dorn im Auge war.“

Yin-Yu nahm einen tiefen Atemzug, bevor sie es schaffte den Schnabel zu bewegen.

„Warum das alles?“, fragte sie schwach.

Chiwa lächelte sie an. „Das hast du mich schon mal gefragt, bei unserem Gespräch…“

Shens Kammfedern zitterten vor Wut. Er wollte sich nicht vorstellen, wie dieses sogenannte „Gespräch“ von statten gegangen war. Er fragte sich, ob man Yin-Yu überhaupt über die Tage etwas zu essen gegeben hatte.

„Aber wenn du eine Antwort haben willst“, fuhr Chiwa gelassen fort. „Vielleicht sollte dir mein Neffe die Antwort geben.“

Xiang zuckte zusammen, als Chiwa sich ihm zuwandte und ihn herausfordernd ansah.

„Na, willst du es ihr nicht sagen?“

Der blaue Pfau drehte den Kopf zur Seite und presste die Schnabellippen zusammen, was Chiwa als deutliche Verweigerung interpretierte. Dann kicherte sie.

„Tja, er will wohl nicht sagen, dass er meine Schwester ermordet hat…“

„Sie wollte mich umbringen!“, schrie Xiang dazwischen. „Das sie geplant! Die ganze Zeit! Ihr beide habt das geplant…!“

Die Ohrfeige von seiner Tante war heftig. Xiang stiegen die Tränen in die Augen. Ohne Hemmungen ließ er ihnen freien Lauf.

Chiwa hatte sich unterdessen wieder soweit gefasst, dass sie ihre verbale Rüge kurzfristig unterbrach und ihn wieder mit Worten attackierte.

„Gehorsam ist wirklich eine Schwachstelle von dir“, fauchte sie böse. Dabei sah sie ihn so tief in die Augen, dass Xiang unter seinem Tränenschleier noch stärker erzitterte.

Doch dann glitt über Chiwa ein fieses Grinsen. Sie ließ ihren Flügel zum Hinterkopf ihres Neffen wandern und grub sich mit den Fingerfederspitzen durch seine Federn.

„Du weißt, dass ich dich dafür bestrafen muss…“

„Hey!“, mischte Shen sich ein und zog an seinen Fesseln. „Eure Familienangelegenheiten gehen uns nichts an. Lass uns gehen!“

Die Pfauenhenne ließ von Xiang ab und wandte sich dem weißen Lord zu. Dabei sah sie ihn so gehässig an, dass Shen sich nichts Sehnlicheres wünschte, als sie mit seinem Schwert zu erdolchen.

Chiwa legte die Federspitzen ihrer Flügel aneinander und ging mit langsamen Schritten auf den gefesselten Pfau zu. „Da muss ich dich leider enttäuschen. Ist ein Pfau erstmal in unseren Fängen, und damit meine ich mich und meine Schwester, wird seine Pracht niemanden mehr erfreuen können.“

In Shen zog sich der Magen zusammen. Diese Pfauenhenne strahlte etwas so derartiges teuflisches aus, die selbst seine Boshaftigkeit von damals übertraf.

Chiwa weidete sich an Shens Verwirrung und beugte sich zu ihm hinunter. Anschließend umfasste sie das Gesicht des weißen Pfaus und streichelte seinen Kopf.

„Du könntest mir noch von Nutzen sein“, raunte sie ihm zu. „Ihr Pfaue haltet euch ja für so schön, was man von dir nicht gerade behaupten kann…“

Blitzartig griff sie in seinen Federkamm und riss ihm eine der langen Federn raus.

„Autsch!“

Wütend stieß Shen sie mit seinen gefesselten Beinen von sich. Doch Chiwa kicherte nur und betrachtete geringschätzig die weiße mit dem rot-schwarzen Muster herausgerissene Feder.

„Äußerst primitiv“, sagte sie abfällig und ließ die Feder zu Boden fallen. Anschließend wanderte ihr verachtenswerter Blick zu Yin-Yu rüber.

„Bei deiner Frau allerdings könnte ich mich zu einer Freilassung überreden lassen.“ Sie ging auf die jüngere Pfauenhenne zu, die sie unsicher beobachtete. Chiwa hatte so einen scheinheiligen Ausdruck auf ihrem Gesicht. Ihre Befürchtungen schienen sich zu bestätigen, als Chiwa ihre Federfinger unter ihr Kinn hielt und ihren Kopf nach hinten neigte. Dann drückte sie ihr ein wenig auf die Kehle.

„Sobald ich ihr eine Hässlichkeits-OP verpasst habe“, vollendete Chiwa ihre Ausführung mit einem hinterhältigen Grinsen. „Sie erscheint mir ein bisschen zu hübsch.“ Sie strich mit dem anderen Flügel über Yin-Yu zitterndes Gesicht. „Das würde sonst mein Schönheitsideal etwas eintrüben.“

Shen kochte vor Zorn. Wenn sie sie auch nur anrührte…

„Denkst du, du siehst danach besser aus?!“, herrschte er sie an.

In der nächsten Sekunde hörte man nur Xiangs erstickten Atem. Der blaue Pfau zog so extrem den Kopf ein, dass er fast in seinen Fesseln einsank.

Chiwa schien für einen Moment wie eingefroren zu sein. Dann löste sie sehr langsam ihre Flügel von Yin-Yu und richtete sich auf. Ihre Augenwinkel trafen eiskalt auf Shen.

Anschließend wandte sie sich von der silberäugigen Pfauenhenne ab und bewegte sich mit steiniger Miene auf den an der Säule weißen gefesselten Pfau zu. Dabei kam sie ihn wieder extrem nah, bis sie sich vor ihm leicht vorneigte und ihm in die Augen sah.

Shen meinte er würde bei ihrem Blick zu Eis erstarren, so kalt war ihr Antlitz, dem sie ihn zuwarf. Dann hob sie einen Flügel und drückte ihre Federzeigefeder auf seine Schnabelspitze. Anschließend schob sie ihren Kopf zu ihm vor.

„Ich sehe, du redest gerne, nicht wahr?“, flüsterte sie ihm ins Ohr.

Dann zog sie eine ihrer Haarnadeln aus ihrem Kopffedern heraus, die die Länge einer Fingerfeder besaßen. Drohend hielt sie das spitze Teil vor Shens Gesicht. Im kalten Laternenlicht fiel dem Lord besonders das dolchartige Ende der Nadel auf. Doch er kam nicht dazu sie genauer zu begutachten. Denn im nächsten Moment verschwand das Haarschmuckstück aus seinem Sichtfeld und Chiwa legte einen Flügel auf seinen Hals.

„Dann muss ich dich wohl ablenken“, raunte sie ihm zu. „Damit du nicht so viel redest.“

Plötzlich presste sie ihren Flügel auf seinen Schnabel. Shen riss die Augen auf, als kurz darauf ein heftig stechender Schmerz seinen Bauch durchdrang. Er wollte schreien, doch sie drückte ihren Flügel so feste auf seinen Mund, dass er nur beschwerlich durch die Nase nach Luft ringen konnte. Er versuchte sich freizukämpfen. Doch die Pfauenhenne hielt ihn eisern fest. Sie schien es regelrecht zu genießen, wie der Pfau sich unter ihr wandte

Yin-Yu stieß einen ersticken Angstschrei aus, als Chiwa ihm die Nadel in den Bauch stach.

„Nein! Hör auf!“

Im nächsten Moment ließ sie wieder von ihm ab. Der Stich verschwand, doch der schreckliche Schmerz danach verschlimmerte sich blitzartig. Ungläubig sah Yin-Yu zu wie Shen keuchend nach Luft rang und sich vor Schmerzen krümmte.

Chiwa kümmerte das Leiden ihres Gefangenen nicht im Geringsten und strich seelenruhig mit den Federfingerspitzen über die Nadel an der Shens frisches Blut noch dran klebte.

„Das wird dich für eine Weile beschäftigt halten“, meinte sie spöttisch. Dann wandte sie sich von dem schwer atmenden Pfau ab und sah zu ihrem Neffen rüber.

„Nun zu dir…“

Yin-Yu achtete nicht mehr auf sie. Ihr verzweifelter Blick war nur auf Shen gerichtet, der keuchend an der Säule saß und mit dem Schmerz kämpfte. Der weiße Lord kniff die Augen zusammen und dachte in diesem Moment nur: Wo war dieser Panda, wenn man ihn mal brauchte?!
 

„Wo sollen wir nur suchen?“, fragte Po mehr zu sich selbst. „Sie können über all sein. In jedem Zimmer.“

Bei dieser Aussage wurden Po wieder die Knie weich.

Huan nickte verständnisvoll. „Das dürfte schwierig werden. Wir haben doch schon jedes Zimmer, bis auf zwei, systematisch durchsucht.“

Po sah ihn verwundert an. „Von welchen zwei Zimmern sprechen Sie?“

„Na von denen, die extrem verriegelt sind. Nach Yin-Yus Verschwinden haben wir nur die Türen überprüft. Sie wurden nicht angerührt. Von daher haben wir sie auch nicht aufgebrochen.“

Po legte die Stirn in Falten. „Aber wenn es diese Geheimgänge gibt… Könnte es nicht sein, dass jemand auf diesem Weg dorthin gelangt ist?“

Der alte Stier zog die Nase kraus. „Schon möglich…“

„Könnte es vielleicht die verbotene Zone sein?“, wollte Liu wissen, was das nächste Fragezeichen in Pos Kopf bildete.

„Hä, verbotene Zone?“

„Xiang sprach davon“, erklärte die Pfauenhenne. „Das wäre ein Raum, den niemand betreten dürfte.“

König Wang war da nicht so ganz sicher. „Aber sie könnten doch auch genauso gut irgendwo in den Gängen sein…“

„Ach was“, ging Po schnell dazwischen. „Lasst uns doch einfach mal nachsehen. Kommt schon. – Jedenfalls besser als nochmal alles abzuklappern.“
 

Xiang drückte sich enger gegen die Säule, während Chiwa bedrohlich auf ihn zukam.

„Schon lange her, dass ich dich mal hart rangenommen habe“, meinte die Pfauenhenne ungerührt. „Deine Erziehung hat eh etwas nachgelassen. Es wird Zeit das wir das wiederholen… und hoffentlich auch zum letzten Mal.“

Ihr Blick wanderte vom Horror erfüllten Pfau durch das Zimmer. „Schön, dass du alles noch so gelassen hast, wie zu Zeiten deiner Mutter“, lobte seine Tante heuchlerisch. „Sie hätte bestimmt gerne dabei zugesehen.“

Sie schielte zum Bett rüber. Dann schnippte sie kurz mit den Federfingern.

„Packt ihn dorthin und bindet ihn dort fest.“

Als ihr Flügel auf das Bett deutete, überflutete Xiang eine Panik. Doch er konnte nicht verhindern, dass die Geckos ihrem Befehl sofort gehorchten, ihn von der Säule losbanden und anschließend zum Bett rüber zerrten.

„NEIN!“, schrie Xiang und sträubte sich verzweifelt dagegen. „Lasst mich los!“

„Jetzt zier dich nicht so!“, schimpfte Tongfu gereizt.

Vielleicht hätte Xiang sich eventuell von der Geckobande losreißen können, wenn er beide Beine bewegten könnte. Doch in seinem halbgelähmten Zustand waren seine Entkommensversuche vergeblich. Kaum am Bett angekommen, zwangen die Geckos ihn auf die Decke. Chiwa beobachtete in aller Ruhe wie sie den zappelnden Pfau aufs Bett drückten. Anschließend banden sie blitzschnell an jeden Flügel und Bein ein Seil, bevor sie ihn wieder losließen. Xiang wehrte sich mit aller Gewalt, konnte aber nicht verhindern, dass die geschickten Reptilien seine Gliedmaßen streckten. Einer sprang auf seinen Bauch und Xiang landete mit dem Rücken auf der Matratze. Diesen Augenblick nutzten die Geckos und banden die Seile an den Bettpfosten fest.

Xiang wandte sich in seiner neuen gefesselten Position. Doch seine Tante zeigte dafür kein Verständnis und trat neben ihn ans Bett auf die rechte Seite.

„Das rechte Bein lasst ihr frei“, befahl sie. Einer der Geckos entband das gelähmte Bein wieder und entfernte sich.

Zufrieden blickte Chiwa auf ihr angebundenes Opfer, das ängstlich zu ihr aufsah.

„Ich habe Dunoa gebeten, dich nicht zu hart dran zu nehmen“, klärte Chiwa ihm nebenbei auf und Xiang wurde klar, weshalb diese Bärin in der Kurresidenz ihm so merkwürdig vorkam. „Es war nicht leicht gewesen sie zu dieser Aufgabe zu überreden dich aus deinem bescheidenen Gefängnis herauszuholen.“

Ihr Flügel strich über sein taubes Bein. Der blaue Pfau versuchte sich zur Seite zu drehen, doch Chiwa hielt sein Bein fest und hob es etwas an.

„Vielleicht sollten wir damit beginnen, indem ich dich von deiner unnötigen Last erlöse.“

Xiang riss geschockt die Augen auf, während seine Tante mit einem Federfingerspitze schneidende Bewegungen auf seinem Fuß vollführte, die sie mit jeder Ausmahlung ihrer Fantasie nach oben wandern ließ, als würde sie etwas in Scheiben schneiden.

„Wie wäre es, wenn ich Stück für Stück deinen Fuß abschneide? Du spürst doch eh nichts mehr darin.“

Der blaue Pfau ballte die Federhände zu Fäusten und wünschte sich, dass alles nur ein Albtraum war. Aber es war blanke Realität.

In der Zwischenzeit unternahm Shen sämtliche Versuche sich irgendwie von der Säule loszureißen. Natürlich waren seine Federmesser in den Flügeln nicht mehr vorhanden, sodass er keine Möglichkeit hatte die Fesseln durchzuschneiden. Er keuchte auf. Der Schmerz in seinem Bauch wuchs und allmählich hegte er Zweifel, dass man sie hier fand, bevor sie alle tot waren. Vielleicht bis auf Yin-Yu. Sein zittriger Blick wanderte zu ihr. Sie sah ihn immer noch hilflos an. Schließlich warf der weiße Pfau den Kopf in den Nacken und stieß so laut er konnte einen Pfauenschrei aus. Irgendjemand musste sie doch hören. Dann schrie er nochmal und nochmal. Sein Ruf hallte durch den ganzen Raum.

Genervt drehte Chiwa sich zu ihm um.

„Meine Güte! Tongfu, tut doch mal was dagegen.“

Der Gecko verdrehte genervt die Augen. „Na schön. Ich mach ja schon was.“

Noch bevor Shen weiter seinen pfauentypischen Hilfeschrei äußern konnte, stopfte ihm Tongfu einen Lappen in den Mund, dem er ihm anschließend zuband.

„Problem gelöst“, kommentierte der Gecko zufrieden, was Chiwa nur teilweise zufriedenstellte. „Dich nehme ich mir noch später vor“, nahm sie sich düster vor. „Doch zuerst kommst du dran.“

Wieder hob sie Xiangs gelähmtes Bein hoch. Der blaue Pfau versuchte irgendwie Zugang zu seinem tauben Gliedmaß zu finden und spannte vergeblich sämtliche Muskeln an. Chiwa grinste. Es schien ihre regelrechte Freude zu bereiten, dass er seinen gelähmten Fuß nicht wegziehen konnte.

„Na dann.“ Mit diesen Worten holte sie ein dolchartiges Messer unter ihrem schwarzen Gewand hervor.

Xiangs Schnabel begann zu beben. „Nein! Nein! NEIN!“

Blitzartig presste sie ihren Flügel auf seinen Schnabel. „Psst! Wir sind hier nicht allein in diesem Gemäuer“, zischte sie ihm zu. „Du willst doch wohl nicht, dass man uns entdeckt, oder?“

Doch diesmal ließ Xiang sich nicht ruhigstellen und hörte gar nicht mehr auf zu Wimmern und zu Zappeln.

Mit einem bösen Fauchen schaute Chiwa sich um. „Ach, Tongfu!“

„Geht’s heute noch?!“, beschwerte sich der Gecko entrüstet. „Das ist vielleicht ein lästiger Job hier.“

Doch dann kam er ihren Wunsch nach und knebelte auch noch den anderen Pfau. Als das erledigt war, machte Chiwa wieder da weiter wo sie aufgehört hatte.

„Also, bringen wir es schnell hinter uns.“

Sie riss Xiangs Bein hoch und vollführte mit dem Messer sägende Bewegungen auf seinem Zeh. Xiang schrie auf.
 

Keuchend kamen Po und die anderen um die Ecke gerannt.

„Hier muss es sein! - Autsch! Was ist das denn?“

Der Panda war fast gegen einen Eimer gestolpert, der zusammen mit anderen Putzgeräten an der Wand stand.

„Den haben die Putzleute hier stehen lassen“, erklärte Huan atemlos. „Falls wir mal die Muße haben das Zimmer doch mal sauber zu machen. Im Moment haben wir es gelassen, man weiß ja nie weshalb man ein Zimmer abriegelt.“

Po rieb sich seinen schmerzenden Zeh und rannte zur Doppeltür. Sie war wirklich extrem gut verbarrikadiert. Sie war fast vollständig mit Brettern vernagelt und noch zusätzlich mit mehreren Vorhängeschlössern gesichert. Auch die andere Doppeltür, die etwas weiter daneben lag, war auf die gleiche Art und Weise verschlossen.

„Ist Daddy da drinnen?“, fragte Shenmi vorsichtig, die immer noch in Pos Armen saß.

Po zuckte die Achseln. „Keine Ahnung. Finden wir es heraus.“

Er drückte sein Ohr auf das Holz und lauschte. Zuerst hörte er gar nichts. Doch dann drangen dumpfe Laute zu ihm durch.

„Da ist jemand drinnen“, verkündete er teilweise erleichtert. „Wir müssen die Tür so schnell wie möglich aufbekommen.“

Huan trat neben ihn. „Um diese Türen aufzubekommen könnte das lange dauern.“

„Dann müssen wir sie eben eintreten“, schlug Po vor.

„Das haben wir schon am Anfang versucht“, bemerkte der Stier. „Es ging nicht.“

Po verengte die Augen. „Aber ihr hattet keinen Drachenkrieger gehabt.“

Er wandte sich an den Hunnenkönig.

„Wang, würden Sie die Ehre haben und mit mir eine Tür einrennen?“

Der Ochse hob überrascht die Augenbrauen.

„Meinst du das ernst?“

Po hob entschlossen das Kinn. „Mein voller Ernst.“

Sein Blick fiel auf Shenmi und wanderte anschließend zu Liu.

„Halten Sie sie fest“, befahl Po und drückte der Pfauenhenne die Kleine in die Flügel. „Und lassen Sie sie nicht mehr aus den Augen.“

Dann wandte er sich an Wang. „Also los!“

Beide positionierten sich ein gutes Stück von der Doppeltür weg, um einen Anlauf zu nehmen.

„Okay, auf drei“, begann Po entschlossen. Wang nickte. Er war jederzeit bereit.

Po verengte die Augen. „Eins – zwei – drei! Achtung! DRACHENPOWER!“



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