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But sometimes love hurts

von

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~17~

Es war schön, zur Abwechslung mal nicht erbarmungslos von einem Wecker wachgerüttelt zu werden, sondern in Ruhe ausschlafen zu können. Ich kräuselte die Nase, da mich etwas zu kitzeln schien. Widerwillig öffnete ich nur ein Auge und brauchte kurz, um mich an die Helligkeit im Zimmer zu gewöhnen. Reita hatte am Vorabend anscheinend mal wieder vergessen, seine Vorhänge zuzuziehen, und so wurde ich jetzt von den sanften Sonnenstrahlen geweckt, die ihren Weg hineinfanden und das Zimmer in schimmernden Goldtönen wärmten. Ich wusste nicht, wie spät es war, wollte es aber auch nicht wirklich wissen, da ich lieber weiterschlummern wollte. Immerhin musste ich meinen freien Tag vollends ausnutzen. Es kam in letzter Zeit nicht oft vor, dass ich ausschlafen konnte. Gerade als ich das Auge direkt wieder schloss, reizte irgendetwas meine Nase erneut, was mich zum Niesen antrieb. Mir gähnend über diese reibend öffnete ich das Auge erneut und erkannte den blonden, weichen Schopf, der mir entgegenglänzte. Reita hatte sich im Schlaf ganz dicht an mich herangeschmiegt, sodass er sein Gesicht in meiner Halsgrube versteckte. Der Ältere atmete mir immer wieder heiß gegen den Hals, da er mit leicht geöffnetem Mund schlief, und bescherte mir so ein wohliges Kribbeln am ganzen Körper. Ich grinste in mich hinein, schlang einen Arm um seine schmale Taille und merkte, wie er sich weiter gegen meinen Körper presste, als wolle er unsere beiden Körper miteinander verschmelzen. Es war schön, wenn Reita sich so an mich herankuschelte und ich ihm zur Abwechslung mal die schützende Schulter bieten konnte, da er sich sonst immer in dieser Rolle wiederfand. Immer darauf aus, mich zu beschützen und auf mich aufzupassen. Die Situation weckte in mir so eine Art Mutterinstinkt und mir wurde regelrecht warm ums Herz. Mein rechter Arm, der zuvor teilnahmslos zwischen uns gelegen hatte, schlich sich unter seinem Kissen hindurch. Ich legte meine rechte Hand von hinten auf seinen Hinterkopf und streichelte ihm seicht durchs Haar, was ihn im Schlaf genießend vor sich hin schnurren ließ. Glücklich lächelte ich in mich hinein und stützte mein Kinn auf seinem Kopf ab, unterdrückte einen weiteren Nieser und blieb mit geschlossenen Augen so liegen, bis er von allein wach wurde.
 

Durch seinen Job musste er noch früher aufstehen als ich. Und da ich wusste, dass ihn der frühe Schichtbeginn im Laufe der Woche immer so auslaugte, wollte ich, dass er an seinen freien Tagen seinen wohlverdienten Schlaf bekam. Doch mein Schatz hatte anscheinend andere Pläne. Es kam nicht oft vor, dass er von allein so früh wach wurde. Der Blonde regte sich leicht, kitzelte mich ein weiteres Mal mit seinem seidigen Haar und drehte den Kopf so, dass er seine Lippen an die Unterseite meines Kiefers pressen konnte. Also wirklich, kaum wach und schon wieder auf Schweinereien aus! Während ich noch immer fahrig durch sein Haar streichelte und dabei das Gefühl seiner Lippen genoss, die mir immer wieder hauchzarte Küsse auf die Haut drückten, schlich seine Hand ebenfalls von hinten in mein Haar, und er fing an, mit meinen vereinzelten Strähnen zu spielen, wie er es aus Angewohnheit schon immer tat. „Guten Morgen, Baby“, flüsterte er leise mit rauer Stimme und fuhr dann mit seiner Zunge die Kontur meines Kieferknochens nach, was mir einen genießerischen Laut entlockte. Es gab nichts erotischeres als Reitas tiefe Stimme nach dem Aufstehen. Er klang so noch viel kratziger als sonst. Ich hatte eben eine Schwäche für tiefe Stimmen. „Morgen, Schatz“, hauchte ich lächelnd und zuckte knapp mit den Schultern, als er wissen wollte, wie spät es war. „Wie geht’s dir?“, fragte er fürsorglich und ich verstand erst nicht, worauf er hinauswollte, ehe mir auch schon einfiel, worauf er anspielte, da sich bewegliche Bilder vor meinem inneren Auge abspielten, die mir die Hitze ins Gesicht trieben. Anscheinend hatte ich in der Nacht mit meiner Aktion nach dem Telefonat gehörig an seinem Männerego gekratzt, denn er war nicht sehr zärtlich mit mir umgegangen. Beschweren würde ich mich aber definitiv nicht! Mir hatte es immerhin genauso gefallen, wie ihm. „Hm, alles gut, glaube ich“, warf ich ein und kümmerte mich nicht weiter darum.
 

Reita seufzte tief und richtete sich plötzlich auf, drehte mich vorsichtig auf den Rücken und stützte sich mit beiden Armen links und rechts von mir ab, ehe er sich tief zu meinem Gesicht hinunterbeugte und mir einen hauchzarten Kuss auf die Stirn gab. Ich schloss sofort verträumt die Augen und lächelte selig vor mich hin, was ihm ein leises Lachen entlockte. „Es ist kurz vor zehn.. Hm. Meine Eltern sind sicher schon wach. Wollen wir runter? Wir könnten gemeinsam frühstücken“, schlug er vor und grinste verschmitzt, als ich unersättlich, „Wir könnten aber auch noch ein wenig hierbleiben und da weitermachen, wo du in der Nacht aufgehört hast?“, vorschlug, was ihn jedoch den Kopf bestimmend schütteln ließ. Er wirkte, als würde er keine Widerrede dulden. Ich schmollte nur und verdrehte die Augen, als er vorsorglich, „Ich glaube kaum, dass das eine gute Idee ist. So laut, wie du immer bist, hören die das noch. Wenn sie schlafen, ist das zwar ein anderes Thema, aber jetzt? Nein. Und außerdem hast du fürs erste genug durchgemacht!“, sprach und mir einen vielsagenden Blick zusandte. „Ich bin nicht aus Zucker, weißt du?“, empörte ich mich nonchalant, und mir entkam tatsächlich ein überraschter Schmerzenslaut, als Reita demonstrativ in einer schnellen Bewegung sein Knie gegen meine tiefere Region presste und mir somit den dumpfen Schmerz bewusst machte, der die ganze Zeit in meinem Unterleib geschlummert hatte. Das war mir wohl dezent entgangen. „Was musst du mich denn auch wie ein wildgewordenes Tier ficken? Jetzt mal im Ernst! Wo bleibt deine Selbstbeherrschung?“, motzte ich gespielt beleidigt und ignorierte sein herzhaftes Lachen. „Letzten Endes wolltest du es doch so, Schönheit. Und außerdem darfst du mir so etwas nicht vorwerfen. Bei deinem Anblick kann ich gar nicht anders“, säuselte er süffisant und zwinkerte mir kokett zu, was mich dazu trieb, mir frech grinsend auf die Unterlippe zu beißen.
 

Der erste Blick in den Spiegel hatte mich entsetzt. Was hatte der Kerl bitte mit mir angestellt?! Ich war übersäht von hellen und dunklen Knutschflecken, die verschieden groß waren. Die Flecke waren sporadisch verteilt, von meinem Hals, bis hinunter zu meinen Schlüsselbeinen. Wie sollte ich die denn auf der Arbeit kaschieren, um Himmels Willen? Das sah doch unprofessionell aus! „Spinnst du, Rei?! Bist du über Nacht zum Staubsauger mutiert oder was?“, meckerte ich und zog dabei den Kragen meines schlabberigen Shirts weiter runter, um mir den Schaden genauer zu besehen. Selbst meine Brust war mit Flecken besprenkelt. Während ich laut und verzweifelt rätselte, wie ich gleich seinen Eltern in diesem Zustand entgegentreten sollte, ohne vor Scham zu zergehen, putzte sich Reita gackernd die Zähne und schien meine Sorge nicht ernst zu nehmen. Schön, dass sich hier wenigstens einer amüsierte. Wir hatten uns im Bad für den Tag fertig gemacht und gingen jetzt Hand in Hand die Treppen zur Küche hinunter, und tatsächlich stand Reitas Mutter schon am Herd, während sein Vater Zeitung lesend am Tisch saß und aufmerksam aufsah, als er uns wahrnahm. Hoffentlich waren Reitas Schandtaten nicht direkt sichtbar. Ich wollte nicht wissen, was die beiden von mir denken würden, sollten sie die Flecke sehen. Das war doch peinlich! „Guten Morgen, ihr zwei. Setzt euch doch zu mir!“, grüßte er uns sofort mit einem warmen, väterlichen Lächeln und ich musste wie schon so oft das schmerzhafte Klopfen meines Herzens in meiner Brust ignorieren. Das passierte so gut wie jedes Mal, wenn ich den Älteren sah. Was würde ich nicht dafür geben, um meinen Vater wieder so in unserer Küche sitzen zu sehen.. Ich vermisste ihn so sehr. Sie hätten sich sicher gut verstanden, mein Vater und er. Reita hatte anhand meiner Körpersprache gespürt, dass ich gedanklich in der Zeit zurückgesprungen war, denn ich merkte, wie er bekräftigend meine Hand drückte, ehe er mir ein tröstendes Lächeln schenkte und mich dann bestimmend hinter sich herzog. „Dad!“, grüßte der Blonde munter und legte kurz seine Hand auf die Schulter seines Vaters, um fest zuzudrücken, was dieser mit einem zufriedenen Lächeln quittierte. Während Reita auf seine Mutter zuging und diese von hinten umarmte, um ihr zur Begrüßung einen Kuss auf die Wange zu geben, verbeugte ich mich leicht vor Reitas Vater, der irritiert eine abwinkende Handbewegung machte. „Wie oft denn noch, Kouyou? Es gibt keinen Grund mehr, so formell zu mir zu sein. Eure Kennenlernphase ist doch längst durch!“, witzelte der Ältere und brachte uns alle zum Lachen. Ich kratzte mich beschämt grinsend am Hinterkopf und gab mir einen Ruck, als er die Arme in meine Richtung ausbreitete und herzlich, „Jetzt komm her und gib mir eine anständige Umarmung, mein Junge!“, sprach. Gesagt, getan. So von Reitas Vater umarmt zu werden, war einfach noch zu ungewohnt. Mir fiel es schwer, ihm gegenüber so informell zu sein. Während mir der Ältere lachend auf den Rücken klopfte, stand Reita neben seiner Mutter, die Arme locker vor der Brust verschränkt, den Kopf leicht zur Seite geneigt und mit einem liebevollen Lächeln auf den Lippen, welches mir allein galt. Allein dieser Ausdruck machte mich so glücklich, dass ich meine Zurückhaltung über Bord warf und den Mann vor mir so fest es ging umarmte, was diesen prusten ließ. „Na, das nenne ich mal eine Umarmung. In Zukunft bitte mehr davon!“, lachte er und schob den Stuhl neben sich zurück, damit ich mich zu ihm setzen konnte. Ich war Reitas Vater wirklich dankbar dafür, dass er mich so behandelte.
 

Wir hatten gemeinsam gefrühstückt, dabei ausgelassen geredet und gelacht und zum Schluss noch gemeinsam abgeräumt. Reita und ich hatten seine Mutter daran gehindert, auch nur einen weiteren Finger zu krümmen. Sie hatte immerhin ein Festmahl für uns gezaubert. Da musste sie nicht auch noch saubermachen. Reitas Eltern waren schon immer respektvoll gewesen, was Reitas und meine gemeinsame Zeit anging. Und sie versuchten, uns so wenig wie möglich dazwischenzukommen, da sie wussten, dass unsere gemeinsame Zeit durch unsere Jobs manchmal recht limitiert war. Ich schätzte es sehr, dass sie so rücksichtsvoll waren. Das konnte man von meiner Mutter nicht wirklich behaupten, platzte die Frau immerhin gerne zu jeder Stunde einfach in mein Zimmer, wenn mein Freund bei mir war. Bei dem Gedanken an sie und ihre Art musste ich innerlich lächeln. Sie war schon eine Nummer für sich. „Wir sind oben, wenn ihr uns braucht!“, machte Reita eine klare Ansage, erntete ein Nicken seines Vaters und ein, „Ist gut, Schatz!“, von seiner Mutter, und packte mich an der Hand, um mit mir gemeinsam aus der Küche zu schreiten. Ich wusste, dass sie uns nicht stören würden. Die beiden Älteren saßen noch gemeinsam am Tisch und genossen gemeinsam ihren Tee, während sie leise und verliebt miteinander tuschelten. Wie schön..
 

„Was gedenkst du wegen diesem dämlichen Schwanzlurch zu tun?“, war Reitas Frage an mich, die mich erst ziemlich verwirrte. Wir hatten uns gerade erst hingesetzt und schon überrannte er mich mit so einem Schwachsinn. Seine poetische Art, sich auszudrücken, war immer wieder wie Musik in meinen Ohren. „Wie meinen?“ „Keisuke“, murrte Reita nur vielsagend und mir fiel das Telefonat von letzter Nacht ein. „Ah, ja. Hm, keine Ahnung“, murmelte ich lethargisch, kratzte mich an der Wange und zuckte mit den Schultern. Ich hatte keine Lust, mit ihm zu telefonieren. Mein Tag hatte nicht einmal richtig angefangen, da wollte ich nicht, dass er so früh schon einen Teil davon für sich beanspruchte, egal wie lang oder kurz es sein würde. „Ihr wolltet euch aussprechen. Es wäre gut, es so schnell wie möglich hinter dich zu bringen, damit er dich mit dem Scheiß endlich in Ruhe lässt“, schlug mein Schatz vor und rutschte im Sitzen an die Kopfseite seines Bettes, um sich gegen den Rahmen zu lehnen. Er klopfte neben sich auf die Matratze und ich folgte ihm missmutig. Der Fakt, dass es Keisuke war, um den es ging, saugte mir jegliche Energie förmlich aus dem Körper. Ich wusste nicht, was es war und wieso, aber der Typ war mir einfach zu anstrengend. Ich war jemand, der sonst gut mit jedem auskam, aber der war mir definitiv ein Rätsel. Ein sehr unangenehmes Rätsel obendrein. Reitas Arme ließen mich aus meinen Gedanken schrecken.
 

Der Ältere hatte mich bestimmend zwischen seine Beine gezogen, sodass ich mich entspannt mit dem Rücken gegen seine Brust zurücklehnen konnte. Ich ließ den Kopf in den Nacken kippen, sodass dieser auf seiner Schulter ruhte, schloss dabei die Augen und grübelte still vor mich hin, während Reita es sich anscheinend zum Ziel gemacht hatte, meinem Hals noch weitere Flecke zu verpassen und mich somit gut sichtbar als sein Eigentum abzustempeln. Ich verzog mürrisch das Gesicht. „Lass das. Ich sehe sowieso schon total misshandelt aus..“, klagte ich leise und griff hinter mich und somit in seinen Schopf, um sanft daran zu zerren und ihn damit zum Knurren zu bringen. Reita hörte jedoch nicht auf mein Klagen, setzte seinen Willen unbeirrt durch und saugte schmatzend und genießend an meiner warmen Haut, während ich seufzend mein Handy aus meiner Jogginghose kramte und mit schiefgelegtem Kopf unverwandt auf das große Display starrte. Ich hatte einige Nachrichten von unseren Freunden und auch von Hotaru. Was sie wohl wieder von mir wollte? Kleine Nervensäge. Gelangweilt löschte ich alle unnötigen Emails und antwortete dann den Nachrichten, ehe ich mich kurzerhand dafür entschied, dem Partner meiner Mutter ebenfalls eine kurze Nachricht zu schicken, in der ich anfragte, was er in der Nacht von mir gewollt hatte. Denn ich wollte jetzt einfach nicht telefonieren.
 

Ich ließ das Handy gleichgültig zwischen meine Beine gleiten, um dann mein Gesicht so zur Seite zu drehen, dass ich Reitas volle Unterlippe einfangen und mit meinen Zähnen leicht zwicken konnte. Doch bevor ich den angefangenen Kuss intensivieren konnte, vibrierte es aufdringlich zwischen meinen Beinen, was mich ungeduldig schnauben und Reita gereizt stöhnen ließ. Ich gab’s auf, das gesamte Universum war ein einziger, verräterischer Cock-blocker! Irgendetwas Übernatürliches wollte uns anscheinend nicht zusammen sehen. Zeternd schnappte ich nach dem Gerät und ging mit einem scharfen, „Hallo?“, dran. Ich hasste es, wenn man den ersichtlichen Wink einfach nicht verstand. Das universelle Zeichen für “Ich will gerade nicht mit dir telefonieren“ war nun mal eine Textnachricht. Wieso musste er da so aufdringlich sein und trotzdem anrufen? Solche Leute waren mir schon immer unsympathisch. „Ah, Kouyou. Schön, dass es diesmal funktioniert hat. Ich hatte vor einigen Stunden angerufen, aber du hast scheinbar geschlafen“, faselte Keisuke, was mich mit den Augen rollen ließ. Reita machte derweil hektisch und stumm irgendwelche körperlichen Verrenkungen, da er anscheinend wollte, dass ich das Telefonat auf Lautsprecher stellte, was ich für ihn auch sofort tat. Ich legte das Handy auf meinem Oberschenkel ab und führte das Gespräch so fort, während Reita mich besitzergreifend an sich zog und mitlauschte. Meine Hände streichelten derweil fahrig über seine Arme.
 

„Als du sagtest, dass du dich die Tage bei mir meldest, hatte ich nicht erwartet, dass du es nach nur einigen Stunden, mitten in der Nacht machst“, warf ich ihm vor und ignorierte das heitere Lachen am anderen Ende des Hörers. Ich fand das jetzt nicht wirklich lustig. Ich merkte, wie Reita eine genervte Grimasse schnitt und den Älteren kindisch und lautlos nachahmte, was mich beinahe belustigt zum Grunzen gebracht hätte. „Das war keine Absicht gewesen. Ich habe nicht auf die Uhrzeit geachtet. Ich hoffe, Akira ist mir da nicht böse. Er klang nicht sehr begeistert“, kam es jetzt entschuldigend von der anderen Seite des Hörers und Reita hob daraufhin mit trockener Miene den Mittelfinger und hielt ihn demonstrativ in Richtung meines Handys, was mich grinsend zum Kopfschütteln antrieb. Ich versuchte, das Telefonat so kurz wie möglich zu halten, da ich damit keine Zeit verschwenden wollte. Der Ältere hatte wissen wollen, ob ich heute Abend etwas vorhatte, und Reita hatte diese Frage nicht im Geringsten gefallen. Aber es war sein Vorschlag gewesen, das Treffen mit Keisuke endlich hinter mich zu bringen. Wir hatten uns nach einem knappen Blickaustausch wortlos darauf geeinigt, dass ich Keisuke zusagen würde. Also sagte ich dem Schwarzhaarigen, dass ich Zeit hatte und verabredete mich mit ihm in demselben Café, in dem wir noch vor einigen Wochen gemeinsam gefrühstückt und uns etwas besser kennengelernt hatten. Wenn ich daran zurückdachte, schien mir der Tag völlig weit und unwirklich, als wäre das alles nie passiert. Wir hatten uns in dem Moment definitiv gut verstanden. Jetzt herrschte definitiv eine unangenehme Atmosphäre zwischen uns, wenn wir aufeinandertrafen. „Ich freue mich. Dann bis heute Abend!“, trällerte Keisuke und legte auf, nachdem ich, „Bis dann!“, sagte. Es herrschte kurz Stille zwischen Reita und mir. „Der Typ ist zum Kotzen!“, würgte er übertrieben herum und munterte mich mit seiner gespielt überspitzten Art auf. Ich schüttelte grinsend den Kopf und drehte mich im Sitzen zu ihm. Ich bemerkte, dass Reita seine Unsicherheit mit Albernheit zu überspielen versuchte, um mir so meine Sorge zu nehmen. Der Blick des Älteren wurde mit einem Mal schelmisch, und ehe ich mich versah, nahm er mein Gesicht sanft in seine Hände, grinste und sagte, „Da sind noch ein paar freie Stellen an deinem Hals!“, und ehe ich mich überhaupt beschweren konnte, hatte er mich fest an sich gezogen und hing wieder wie ein Putzerfisch an meiner Haut, während ich hilflos lachend meine Hände auf seinen Schultern platzierte und ihn angestrengt auf Abstand zu halten versuchte.
 

Ich hatte mich am Mittag auf den Weg nach Hause gemacht. Reita hatte mir versprochen, später vorbeizukommen, da er plötzlich einen dringenden Anruf seines Arbeitskollegen bekommen hatte, der seine Hilfe bei irgendwas brauchte. Ich hatte nicht genau hingehört. Mich hatte es einfach nur beleidigt, dass wir die Zeit, die uns blieb, nicht gemeinsam verbringen konnten. Gedankenversunken lief ich den kurzen Weg von Reita zu mir, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben und den Blick gen Himmel gerichtet. Heute war definitiv ein schöner Tag. Umso ärgerlicher, dass ich ihn nicht vollends mit Reita verbringen konnte. Seufzend schloss ich die Haustür auf und trat hinein, verwundert darüber, dass laute Popmusik durch das Haus fegte. Nanu? Was war denn hier los? Mich meiner Schuhe entledigend lugte ich um die Ecke und somit in die Küche. Meine Mutter tänzelte vor der Arbeitsplatte herum, lautstark mitsingend und mit diversen Küchenutensilien herumwerkelnd. Anscheinend kochte sie. Wie immer also. Fies, wie ich war, schlich ich auf sie zu und sie bemerkte mich nicht, da sie in ihrer eigenen Welt zu sein schien. Als ich dicht hinter ihr stand, plärrte ich ihr ein lautes, „Ma!“, ins Ohr, was sie gefühlt zwei Meter in die Luft springen ließ vor Schreck. Schadenfreudig und mit leichten Gewissensbissen lachte ich sie aus und umarmte sie sogleich fest, um sie anständig zu begrüßen, während sie, eine Hand krampfhaft auf ihre linke Brust gepresst, vor sich hin keifte. „Undankbares Balg. Sowas muss ich hier mit mir machen lassen. Ich glaube, ich spinne!“, zeterte sie, hielt mir aber wie immer bereitwillig ihre Wange hin, als ich ihr einen Kuss geben wollte. Verträumt die Augen schließend schnupperte ich den wohligen Duft von herzhaftem Essen ein und sah dann neugierig an ihr vorbei, da es so köstlich roch. Ja, ich weiß, ich hatte eben erst gefrühstückt. Ich hatte eben einen gesunden Appetit, na und? „Was machst du denn schönes?“, wollte ich wissen und sie antwortete kurzangebunden, „Sukiyaki!“, und schnaubte nur eingeschnappt, als ich irritiert, „Zu dieser Jahreszeit?“, fragte. „Ich hatte eben Lust darauf, also lass mich!“, mäkelte sie und scheuchte mich von sich, was mich nur belustigt lachen ließ. Neugierig erkundigte ich mich nach ihrem Wohlbefinden. Wir unterhielten uns ausgelassen, hatten wir immerhin Nachholbedarf. Wir hatten uns gefühlt wochenlang nicht wirklich austauschen können, da sie immer auf Achse gewesen war. Während sie weiter ihrer Tätigkeit nachkam, saß ich am Küchentisch und hörte zufrieden ihren begeisterten Erzählungen zu.
 

„Oh, und die Promo-Party der Agentur und die darauffolgende Konferenz war ein voller Erfolg. Und stell dir mal vor, es wird schon überall gemunkelt, dass wir für unsere nächste Kampagne unter anderem Kiko Mizuhara bekommen!“, redete meine Mutter völlig aufgeregt vor sich hin, während sie Gemüse schnippelte, was mir ein Lächeln auf die Lippen trieb. „Das ist ja der Wahnsinn!“, sprach ich begeistert, wollte ich ihr immerhin zeigen, dass ich ihr aufmerksam zuhörte und mich einfach nur für sie freute, woraufhin sie sich strahlend zu mir herumdrehte und beinahe, „Nicht wahr?! Sie ist zurzeit eines der international berühmtesten, japanischen Models!“, rief. Im nächsten Moment wurde ihr Blick jedoch verwirrt, dann entsetzt und hinterher peinlich berührt. Bei dem emotionalen Gesichtskarussell wurde mir beinahe schwindelig. So ein Wechselspiel der Emotionen bekam auch nur meine hyperaktive Mutter hin. Und vielleicht Ruki. Die Frau war der Wahnsinn. „Äh, alles gut?“, wollte ich zögernd wissen und grinste beschämt, als sie fassungslos wissen wollte, wieso mein Hals so aussah wie er eben aussah. „Na ja, weißt du, wenn zwei Menschen sich lieben-“, fing ich an, wurde aber empört von ihr unterbrochen. „Du frecher Wanst, hör mir bloß auf! Dass ihr beiden immer so aufeinander losgehen müsst!“, rief sie aus und drehte sich gedämpft murrend wieder zum Herd und ich konnte sie nur herzhaft auslachen. Ich hatte mich geräuspert und überlegte jetzt still vor mich hin.
 

Bevor ich aber überhaupt etwas sagen konnte, sprach meine Mutter erneut, doch diesmal gefasster. „Keisuke ist begeistert von deiner Therapie“, kam es von ihr und ich konnte förmlich den Stolz aus ihrer Stimme vernehmen. Ich sah von der Seite, wie ihre Brust vor Stolz beinahe anschwoll. „Was meinst du?“, fragte ich, da ich mir nicht erklären konnte, wie nur zwei Behandlungen bei so einem schwerwiegenden Problem schon so zufriedenstellend sein konnten. „Er hat’s mir demonstriert. Einen Tag nach der letzten Behandlung hat er den Arm viel weiter heben können als davor. Die Schmerzen sind zwar noch da, aber er kann sich etwas besser bewegen. Was immer du machst, du machst es richtig, mein Schatz. Ich bin so stolz auf dich!“ Sie drehte sich mit einem atomaren Lächeln zu mir herum, den Kochlöffel dabei begeistert hin- und herwedelnd, dass sie dabei lauter Essensspritzer auf dem Küchenboden verteilte. Ich konnte mir bei dem Anblick nur die Hand vor die Stirn schlagen und benommen lachen.
 

Während meine Mutter neben mir schmatzend ihr Essen genoss, hatte ich mich auf dem Sofa im Wohnzimmer langgelegt und sah jetzt mit ihr fern. Sie fing immer wieder an, aufgeregt von ihren letzten Ausflügen zu erzählen und ich hörte ihr stumm zu und gab ihr an den passenden Stellen die passenden Reaktionen. Ich merkte, wie mich ihre verliebten und begeisterten Erzählungen über Keisuke müde machten. Es schmerzte mich selbst, dass es so war, aber ich konnte nichts daran ändern. Trotzdem versuchte ich so gut es ging, ihr etwas vorzumachen und Neugier zu heucheln. Ich wollte immerhin nicht, dass sie irgendetwas an den falschen Hals bekam. Und genau deswegen hielt ich es auch vor ihr geheim, dass ich ihren Partner heute ein weiteres Mal treffen würde, um mich mit diesem über unsere Differenzen auszusprechen. Das war etwas, was ich ihr ersparen wollte. Sie sollte sich nicht unnötige Sorgen machen.
 

Während sie sich lautstark mampfend über eine Szene aufregte, die gerade in der Serie stattfand, schreckte ich auf, da mein Handy in meiner hinteren Hosentasche vibrierte und mich somit aus meiner Apathie geweckt hatte. Es war Reita. Ich hatte eine böse Vorahnung. „Ja, Schatz?“ „Baby, ich schaffe es leider nicht, früher von hier wegzukommen. Tut mir wirklich leid. Wird wohl etwas später werden. Goro, der Depp, hat beim Schrauben seinen Motor geschrottet, und wir versuchen hier gemeinsam, das Ding wieder zum Laufen zu bringen. Ich werde aber rechtzeitig da sein, um dich in die Stadt zu fahren, ok?“, redete mein Schatz hektisch und ich konnte im Hintergrund Stimmengewirr und gereiztes Keifen hören. Dann folgten ein lautes Knallen und schallendes Gelächter, ehe jemand lauthals beleidigt wurde. Das waren sicher seine Arbeitskollegen. Na, da hatte er sich ja was eingebrockt. Es wäre für mich auch ein Wunder gewesen, wenn er es zeitig geschafft hätte, doch ich hatte mich schon darauf eingestellt. Immerhin war das Universum in letzter Zeit strikt gegen unsere Zweisamkeit. Ich atmete laut aus und sagte, „Alles gut, Rei. Mach dir keinen Stress. Ich kann auch einfach selbst fahren!“, doch Reita unterbrach mich und versprach mir, dass er vorbeikommen würde, damit ich mir die Suche nach einem Parkplatz ersparen konnte. Wie zuvorkommend er doch war. Ich verabschiedete mich dankend von ihm und legte auf. Meine Mutter war derweil noch immer in ihre Serie vertieft und fragte daher nur beiläufig, „Wohin geht’s denn?“ Mein Hirn brauchte keine Millisekunde, um sich eine gescheite Lüge auszudenken. „Ach, nur ein wenig runter in die Stadt mit Toshiya!“ Ah, ich würde jetzt am liebsten einfach nur schlafen und meine Verpflichtungen ignorieren.
 

„Wann sollte das nochmal losgehen?“ „19:30Uhr“, entkam es mir knapp. Reita hatte es nicht einmal für nötig gehalten, sich vorher umzuziehen. Er war an einigen Stellen seiner Klamotten ölbeschmiert, und langsam glaubte ich, dass dieser Zustand zu seinem Styling dazugehörte. „Also ehrlich, selbst an deinem freien Tag musst du arbeiten!“, meckerte ich, was den Älteren nur herzhaft lachen ließ. Wir saßen gemeinsam in seinen Wagen und unterhielten uns leise über das bevorstehende Treffen. „Ich wäre am liebsten dabei“, schmollte er beleidigt, und ich konnte mitbeobachten, wie ihm anscheinend plötzlich eine glorreiche Idee kam. Mich darauf vorbereitend, dass es nur Schwachsinn sein konnte, rollte ich wirklich mit den Augen und lachte leise, als er völlig aufgeregt und ohne Kontext, „Ich könnte dir mein Handy zustecken!“, brabbelte und mein Lachen gekonnt ignorierte. „Was soll ich bitte mit deinem Handy? Ich habe mein eigenes!“, grinste ich verwirrt und schlug innerlich die Hand vor die Stirn, als er, „Ich gebe dir mein Handy, verbinde aber vorher meine AirPods per Bluetooth damit und halte mich in der Nähe auf. So kann ich eurem Gespräch lauschen, ohne dass er weiß, dass ich es tue! Du musst es nur vor dir auf den Tisch legen!“, triumphierte und tatsächlich die Faust in die Luft stieß, als hätte er den Durchbruch erlangt. „Lassen wir das lieber, Inspector Gadget!“, gackerte ich und schüttelte ob seines beleidigten Anblicks nur grinsend den Kopf. Manchmal kam er auf Ideen, also ehrlich.
 

Der Blonde ließ mich bei rot leuchtender Ampel vor dem Café aussteigen, aber nicht, ohne mich vorher innig zu küssen und mir eindringlich, „Wenn irgendetwas ist, ruf mich bitte an. Ich komme dich sofort holen, ja?“, zuzuflüstern. Ich hatte genickt, ehe ich schluckend ausgestiegen war. Dass er und auch unsere Freunde direkt vom Schlimmsten ausging, war für mich nicht sehr aufmunternd. Aber zugegeben, ich dachte ja auch nicht wirklich anders. Mit den anderen hatte ich im Laufe des Tages telefoniert und von dem bevorstehenden Treffen erzählt. Ich hatte ein flaues Gefühl im Magen. Doch meine Freunde hatten versucht, mir letzten Endes gut zuzureden. Ungeduldiges Hupen hinter mir riss mich zurück ins Hier und Jetzt. Reita schenkte mir entschuldigend ein herzerwärmendes Lächeln, bevor er weiterfuhr, und ich hob nur schwach die Hand zum Abschied. Laut und tief einatmend drehte ich mich dann auf dem Absatz herum und besah mir das Café von außen. Das “BlueMoon“ war heute besonders gut besucht, was für einen Samstagabend nicht ungewöhnlich war. Ein Vorteil also, da ich mich so viel sicherer fühlte. Gewiss würde Keisuke nichts Merkwürdiges sagen oder tun und somit eine Reaktion meinerseits provozieren, wenn ein Haufen fremder Leute um uns herumsaß. Oder? Ein kurzer Blick auf meine Armbanduhr zeigte mir, dass er noch knappe fünfzehn Minuten Zeit hatte. Ich entschied mich, draußen auf ihn zu warten, da ich nicht reingehen und alleine an einem Tisch sitzen und warten wollte. Während ich also Toshiya eine knappe Nachricht zurückschickte, da der Ältere wissen wollte, ob es denn schon losgegangen war, wartete ich auf die Ankunft des Älteren. Doch das flaue Gefühl von vorhin sollte mich schon bald zurecht einholen.
 

Inmitten meines Textes wurde mein Display schwarz und zeigte mir einen eingehenden Anruf von niemandem anders als Keisuke an. Was war denn jetzt los? Ich ging mit einem irritierten, „Ja, hallo?“, dran und mir fiel sofort alles aus dem Gesicht, als Keisukes tiefe Stimme am anderen Ende zu hören war. So ein Szenario hatte ich schon erahnt. „Kouyou, es tut mir aufrichtig leid. Ich werde mich wohl verspäten. Ich habe kurzfristig im Café angerufen und unsere Reservierung gekänzelt. Mir kam ein Meeting dazwischen, über das ich zu spät informiert wurde!“, sprach er energisch, während ich im Hintergrund mehrere Stimmen hörte, die hektisch durcheinanderredeten. Wirklich großartig. Jetzt stand ich hier wie bestellt und nicht abgeholt und hatte nicht einmal ein Auto. Musste ich also mit der Bahn nach Hause, was? Reita würde ich damit nicht belasten, der war gerade erst losgefahren. Ich wollte nicht, dass er sich wieder unnötig aufregte. Mir an den eigenen Hemdkragen fassend, da mir dieser plötzlich zu eng vorkam, obwohl die ersten Knöpfe nicht zugeknöpft waren, murmelte ich verstimmt, „Das weißt du doch sicher nicht erst seit, fünf Minuten, oder? Wieso hast du denn nicht eher Bescheid gesagt? Dann wäre ich zu Hause geblieben und würde hier jetzt nicht unnötig herumstehen. Ich wurde hier gerade erst abgesetzt!“, was den Älteren fassungslos die Luft geräuschvoll einziehen ließ. „Du bist schon vor Ort?!“, krächzte er mit hörbar schlechtem Gewissen und unterbrach mich in meinem Satz. Natürlich war ich schon da, das nannte man Pünktlichkeit, verdammt noch mal! Ich hatte gerade zerknirscht bejaht und wollte sagen, dass es schon in Ordnung war und wir das wann anders nachholen könnten als er auch schon, „Gib mir bitte eine halbe Stunde. Ich komme dich holen, sobald ich fertig bin!“, sprach und einfach auflegte, ohne auf meine Einwilligung zu warten. Bitte was?! Er kam mich holen? Um Himmels Willen, nein!
 

Überfordert auf- und abgehend und mir dabei die Unterlippe grübelnd zerkauend, kratzte ich mich hinterm Ohr und ignorierte die neugierigen und teils skeptischen Blicke der Passanten um mich herum. Ich wirkte wahrscheinlich wie ein eingesperrter Tiger, der in einem viel zu kleinen Käfig auf und ab schritt. Sollte ich Reita vielleicht doch anrufen? Oder einen unserer Freunde? Vielleicht Kai? Immerhin wusste der ebenfalls, dass ich mich heute mit dem Partner meiner Mutter traf. Er würde sicher wissen, was jetzt zu tun war. Während ich nervös mein Handy herauskramte, ging ich auf einen der Fahrradlehnbügel am Straßenrand zu, um mich kurzerhand draufzusetzen. Es mochte womöglich auch sein, dass ich mir gerade ungerechtfertigt das Hirn zermarterte, da ich generell nicht so gut auf Keisuke zu sprechen war. Ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden, rief ich Kai an, der aber auch nach dem fünften Freizeichen nicht ans Handy ging. Verdammt! Sicher arbeitete er wieder. Ich hatte seinen Arbeitsplan nicht im Kopf. Ich wog in Gedanken ab, wie sauer Toshiya auf mich sein würde, wenn ich ihn, statt Reita, anrief, und tat es dann trotzdem. Der Ältere ging auch sofort mit einem, „Uruha, Schätzchen?“, an den Hörer und schwieg erst, als ich kryptisch, „Er verspätet sich und holt mich später von hier ab. Ich weiß aber nicht, ob ich überhaupt zu ihm ins Auto steigen will, Totchi. Wenn Rei das hört, flippt er sicher wieder aus! Das scheint mir doch alles wie ein abgekartetes Spiel!“, plapperte und jetzt stumm auf meiner Unterlippe kaute, während sich mein gesamter Körper so anfühlte, als würde alle Spannung schlagartig aus ihm weichen. Es war ein Wunder, dass ich hier noch sitzen konnte, ohne wie ein Kartenhaus in mich zusammenzusacken. „Okay, nun mal langsam. Keisuke verspätet sich?“, fragte Toshiya und fuhr fort, als ich knapp, „Ja!“, in den Hörer murrte. „Und du ziehst es mal wieder vor, jeden, außer Reita, anzurufen?“, war die anschuldigende Frage, die mich beschämt die Hand vor Augen halten ließ. Woher wusste er das schon wieder? „Kai und Ruki sind zu Besuch. Ich habe dem Sonnenschein befohlen, nicht ranzugehen, als dein Anruf durchkam. Ich konnte es mir schon beinahe denken. Uruha, du bist erwachsen. Im Endeffekt kannst du tun und lassen, was du willst. Nimm meinen Rat als dein Freund an, oder lass es bleiben, Schätzchen. Entweder, du rufst Reita jetzt an und klärst ihn über die kommende Situation auf, oder du lässt es bleiben, lässt alles auf dich zukommen und riskierst vielleicht ein Donnerwetter. Wahrscheinlich machst du dir aber auch nur grundlos Sorgen!“ Toshiya war gut darin, mir ein schlechtes Gewissen zu machen. Der Ältere unterhielt sich noch eine ganze Weile mit mir und tadelte mich, was mir das Gefühl gab, etwas Falsches zu tun, was ich wiederum ziemlich unfair fand. Ich hatte in meiner Ratlosigkeit doch nur seine Hilfe gewollt!
 

Mich grob und überfordert am Nasenbein massierend, hatte ich den Blick gen Boden sinken lassen, während ich das Handy noch immer ans Ohr hielt und der Rüge meines guten Freundes betroffen lauschte. Ich wusste nicht, wie viel Zeit schon vergangen war. Gerade, als ich mich aufgerichtet hatte, da ich merkte, wie mein Hinterteil wegen der unbequemen Sitzmöglichkeit schon zu schmerzen angefangen hatte, registrierte ich, wie mir plötzlich etwas Großes in den Weg trat und die Lichtquelle vor mir abschirmte. Irritiert schaute ich an den langen Beinen, die in einer schwarzen, akribisch gebügelten Anzughose steckten, hinauf und direkt in Keisukes markantes Gesicht, der mich nur entschuldigend anlächelte und, „Tut mir leid, dass du auf diese unbequeme Weise auf mich warten musstest!“, sprach. Der Teufel persönlich! Ich verabschiedete mich knapp von Toshiya, nickte Keisuke wortlos zu und ließ mich von diesem die belebte Straße entlangführen. Ich hatte ihn nicht einmal bemerkt. So sehr war ich in mich gekehrt gewesen. Er hatte mir gesagt, dass er seinen Wagen etwas weiter weg abgestellt hatte, da die Parkmöglichkeiten in diesem Teil der Stadt katastrophal waren. Zwischen uns herrschte peinliche Stille. Es war jedoch eine Genugtuung, zu sehen, dass er anscheinend mindestens genauso verunsichert war, wie ich selbst. Er wirkte leicht nervös, was ich durch das unruhige Fummeln seiner langen Finger an den Knöpfen seiner Anzugjacke ablesen konnte. Ich hoffte nur, dass er sein Wort halten und meiner Mutter nichts hiervon erzählen würde. Während ich so in meinen Gedanken versunken war, merkte ich nicht, wie er seine Hand mit Nachdruck auf meinen unteren Rücken legte, um mich so bestimmend an den Leuten vorbeizudirigieren. Wir brauchten nicht lange, bis wir bei seinem Wagen ankamen. Und als er seine warme Hand zurückzog, merkte ich erst, dass er mich die ganze Zeit auf diese Art und Weise geführt hatte. Meinen Kommentar dazu verkniff ich mir. Mir war aufgefallen, dass Keisuke jemand war, der anscheinend viel auf Körpersprache und Berührung setzte. Es wäre schöner, wenn er einen vorher warnen oder einfach nur um Erlaubnis fragen würde.
 

Die Idee, ihn zu fragen, wohin es ging, kam mir erst, als ich in seinem teuren Mercedes saß. Während er den Motor laut aufheulen ließ und dann langsam anfuhr, um in den hektischen Verkehr einzuscheren, schnallte ich mich schluckend an und überspielte das flaue Gefühl im Magen, was sich langsam aber stetig wieder bemerkbar machte, als ich das laute Klicken der Türverriegelung vernahm. Ich musste damit aufhören, mich selbst wahnsinnig zu machen. Das war hier immerhin der Partner meiner Mutter. Was sollte denn schon passieren? Er würde mich ja nicht entführen und irgendwo gefangen halten. Oder mich an die Yakuza verkaufen. „Das lief alles leider nicht nach Plan heute“, fing er belanglos an, während er aufmerksam von links nach rechts sah, da er anscheinend die Stille zwischen uns brechen wollte. Nachdem ich einen fragenden Laut von mir gab, sprach er unbekümmert, „Die PR-Abteilung hat nicht rechtzeitig mit mir kommuniziert. Daher ist mir das für heute anstehende Meeting leider entgangen. Verschieben konnte ich es aber auch nicht, da es ziemlich wichtig war. Ich hoffe, du bist mir nicht allzu böse“, und ich schüttelte nur den Kopf, ehe ich ihn endlich fragte, wohin wir denn nun fahren würden. „Oh, ich dachte mir, da es Samstagabend ist und wir geringe bis keine Chancen haben, jetzt noch ohne Reservierung irgendwo einen Tisch zu bekommen, dass wir einfach zu mir nach Hause fahren. Ist das für dich in Ordnung?“, fragte er mich im nonchalanten Ton und ich sah ihn nur flüchtig aus dem Augenwinkel an.
 

Wenn ihr beide euch noch einmal aussprecht, sorge bitte dafür, dass es an einem öffentlichen Platz passiert. Ein Café oder ein Park. Hauptsache es sind genug Leute drumherum. Mir bekommt der Gedanke nicht, dich mit dieser Pfeife allein zu lassen!“ Das waren Reitas bittenden Worte an jenem Abend gewesen, an dem wir uns zum ersten Mal in unserer dreijährigen Beziehung in den Haaren gehabt hatten. Würde ich Reitas Vertrauen missbrauchen, wenn ich das hier durchziehen würde? Und wieso zerbrach ich mir eigentlich den Kopf so sehr darüber? Ich wusste, wieso. Insgeheim ging mir die Nacht in der Diskothek noch immer wie ein Stummfilm durch den Kopf, und ich glaubte, dass das der Grund war, wieso ich dem Älteren gegenüber so abgeneigt und misstrauisch war. Dasselbe galt auch für Reita. Er sah das alles genauso. Ich senkte den Blick, schloss kurz die Augen und sah wieder auf, als Keisuke mich fragte, ob bei mir alles in Ordnung war, da ich ihm nicht auf seine vorherige Frage geantwortet hatte. „Ja, ist okay“, resignierte ich und merkte nicht einmal, wie der Ältere freudig vor sich hinlächelte, während er uns im gemächlichen Tempo an unser Ziel brachte. Er wohnte mitten in der Stadt Yokohamas, in einem dieser pompösen, luxuriösen Hochhäuser, die man schon von mehreren Kilometern Entfernung problemlos am Horizont ausmachen konnte. Das große, abgesicherte Tor der Tiefgarage vor uns fuhr automatisch hoch und legte die Einfahrt in das Gebäude frei, sodass Keisuke direkt hineinfahren konnte. Beim Einfahren nickte er noch einer Wache zu, die in ihrem kleinen Wachposten neben der Schranke stand und knapp zurücknickte. Ich konnte lauter kleine Bildschirme hinter ihm sehen, die anscheinend mit Überwachungskameras gekoppelt waren. Was war das denn hier für eine Hochsicherheitsburg? War das alles denn nötig?
 

Nachdem er in der riesigen Tiefgarage geparkt hatte, in der lauter teure Schlitten standen, die ich sonst nur aus Filmen und Fotos kannte, führte er mich zu einem Aufzug, den er mit einer kleinen Chipkarte betätigte, und ich fragte mich insgeheim, wie ich hier später ohne seine Hilfe wieder rauskommen sollte. Die Tür öffnete sich sofort mit einem leisen “Pling“, und vor mir befand sich eine unscheinbare Aufzugkabine, die links, rechts und an der Decke verspiegelt war. „Dieses ganze Prozedere ist leider notwendig, weil hier einige wichtige Berühmtheiten residieren. Ich hatte nur das Glück, etwas Preiswertes zu ergattern, als es darauf ankam“, sprach er plötzlich, als hätte er mal wieder meinen wirren Gedanken gelauscht, und ich merkte, wie seine Stimme einige Oktaven tiefer gerutscht war. War das überhaupt möglich? Der Klang seiner tiefen Stimme hallte vibrierend durch den Fahrstuhl und löste in mir eine Gänsehaut aus. Misstrauisch sah ich ihm dabei zu, wie er die Knöpfe seiner Anzugjacke aufknöpfte und den Jackensaum mit der rechten Hand in einer fließenden Bewegung nach hinten wischte, um seine Hand sogleich tief in seiner Hosentasche zu vergraben und unruhig an dem darin liegenden Autoschlüssel zu fummeln. Wenn man sich das aus dem Augenwinkel besah, wirkte es so, als würde er an etwas ganz anderem fummeln. Weg mit dem Gedanken, weg! Die andere Hand hielt seine Aktentasche fest umklammert. „Ah ja“, machte ich gespielt interessiert und folgte dann der rotleuchtenden Stockwerkanzeige. Der Aufzug fuhr ungewöhnlich schnell für meinen Geschmack. Ich merkte, wie mir durch die einwirkenden G-Kräfte instantan schwindelig wurde, was ich erfolglos zu überspielen versuchte, indem ich mich am Handlauf in meinem Rücken krallte und stur geradeaus starrte. „Gleich vorbei. Ich habe ewig gebraucht, bis ich mich an die Geschwindigkeit gewöhnt habe! Ich weiß, wie du dich gerade fühlst“, verriet Keisuke mir ungefragt, als hätte er meine Körpersprache lesen können. Mich nervte es ungemein, dass er das andauernd tat. Wir kamen mit einem Signalton im 70ten Stockwerk an und ich staunte nicht schlecht. „Wie viele Stockwerke hat das Gebäude?“, wollte ich interessiert wissen und hörte seine Antwort nicht einmal mehr, da die Tür vor mir langsam aufging und somit einen prachtvollen Anblick freigab, der mich nicht mehr aus dem Staunen herauskommen ließ. Anscheinend waren wir mit seiner Karte direkt in sein Penthouse gefahren. Er hatte nur grinsend, „70!“, geantwortet, seine Jacke ausgezogen und folgte mir jetzt, während ich überfordert in den Empfangsraum trat.
 

Dass Keisuke hinter mir seine Aktentasche direkt neben der Aufzugtür stehen ließ, bemerkte ich nicht. Zu beeindruckt war ich von der breiten Marmortreppe mit dem verglasten Treppengeländer, die links neben mir ins zweite, offenstehende Stockwerk führte. Verdammt, wie viel Geld verdiente dieser Kerl?! Bevor ich einen weiteren Schritt machte, um mir die riesigen Deko-Vasen näher anzusehen, die links und rechts neben der Treppe standen und aus denen exotisch wirkende Pflanzen rankten, fielen mir meine Manieren wieder ein, und ich wollte gerade vorbildlich meine Schuhe ausziehen, doch der Größere winkte mit einem knappen, „Lass sie ruhig an!“, ab, was mich nur gehorsam nicken ließ. Kurzerhand folgte ich Keisuke, der mich die dunklen Treppen mit einem lockeren, „Hier entlang, bitte!“, hinaufführte, und ich war kurz davor gewesen, einen ungläubigen Laut von mir zu geben. Der weite Raum vor mir bot einen wunderschönen 180 Grad Ausblick über ganz Yokohama, da die Wände hier komplett verglast waren. Mir war der Mund aufgeklappt. Das war anscheinend das Wohnzimmer, wobei man hier nicht mehr von einem Zimmer reden konnte. Der Raum glich eher einer kleinen Halle. Hier stand sogar ein Billardtisch herum, mitten im Raum! „Darf ich?“, fragte ich zögernd mit einem Fingerzeig zu den Fenstern und biss mir aufgeregt auf die Unterlippe, als er grinsend eine ausschweifende Handbewegung machte und mich dabei beobachtete, wie ich an seiner riesigen Sofalandschaft und dem Billardtisch vorbeischritt, um nahe an die Glaswand zu treten und auf die Lichter hinunterzuschauen, die man von hier oben nur noch knapp erahnen konnte. Der Anblick löste einen leichten Schwindel in mir aus, doch das ignorierte ich gekonnt. Ich konnte kilometerweit gucken, da der heutige Abend recht klar war. Der Wahnsinn! Jetzt verstand ich, wieso meine Mutter andauernd von Keisukes Penthouse schwärmte!
 

„Sind wir hier ganz oben?“, fragte ich jetzt, da mir die Erkenntnis plötzlich gekommen war, und Keisuke bejahte knapp. Ich hätte mir nie auch nur im Traum eingebildet, dass ich so etwas mal persönlich sehen würde. Meine Sorge und das Misstrauen war für den Moment wie weggeblasen, was, zugegeben, schon ziemlich naiv von mir war. Anscheinend war ich leicht zu beeindrucken. Das leise Räuspern hinter mir hielt mich davon ab, meine Nase und meine flachen Hände wie ein Vollidiot gegen das saubere Glas zu pressen und nach unten zu glotzen. Ich drehte mich fragend herum und erwischte Keisuke dabei, wie dieser sich gerade den letzten Knopf seiner schicken Anzugweste, die seine schmale Taille perfekt zur Geltung brachte, aufknöpfte und abstreifte und jetzt mit zwei Fingern in den Knoten seiner schwarzen Krawatte griff, um diese in einer geübten, langsamen Bewegung zu lockern und mich mit dieser Aktion leicht zu verunsichern. Peinlich berührt, da mein Gehirn mir wieder irgendwelche Bilder in den Kopf zu setzen versuchte, wandte ich mich von diesem Anblick ab und schaute erneut auf, als der Schwarzhaarige fragte, ob es für mich in Ordnung war, wenn er sich eben frisch machen würde. Ich bejahte und dankte ihm, als er mir einen Sitzplatz anbot. „Wasser und Gläser findest du unter der Tischplatte. Du musst die Platte nur zur Seite schieben!“, bot er mir an und machte kehrt, um durch den langen Flur zu schreiten und dann um die Ecke zu verschwinden. Verdammt, wie groß war dieses Penthouse eigentlich? Mir juckte es in den Fingern, auf Erkundungstour zu gehen, aber das würde ich mir verkneifen. Vielleicht würde mir Keisuke eine Rundführung anbieten?
 

Während ich mir etwas zu trinken einschenkte, sah ich mich um und staunte nicht schlecht. Der Fernseher vor mir, der frei an der beigen Steinwand angebracht war, war vermutlich so groß wie das Garagentor, durch das wir bis noch vor wenigen Minuten hindurchgefahren waren. Plötzlich kam ich mir so winzig vor, als mir bewusstwurde, wo ich mich hier aufhielt. Solche Dinge sah man für Gewöhnlich nur im Fernsehen. Und mit einem Schlag waren diese übertriebenen Lebensverhältnisse plötzlich Realität. Mit keiner Silbe wollte ich jetzt behaupten, dass wir in ärmlichen Verhältnissen lebten. Meiner Mutter und mir ging es sehr gut, und wir hatten ein wundervolles Haus, welches mit viel Liebe für uns erbaut wurde, aber das hier spielte definitiv in einer ganz anderen Liga. Verunsichert nippte ich an meinem Glas und zuckte zusammen, als mein Handy in meiner Hosentasche plötzlich vibrierte. Fragend nahm ich das Gerät heraus, und mir sank das Herz in die Hose. Es war jetzt kurz vor halb neun und Reita wollte per Text wissen, wie es so weit lief. Oh Gott, das hatte ich tatsächlich der Aufregung wegen vergessen! Verunsichert sah ich den hell erleuchteten Gang hinter mir hinunter, in dem Keisuke verschwunden war, und entschied mich, meinen Freund einfach per Facetime anzurufen und in den sauren Apfel zu beißen. Es dauerte auch nicht lange, ehe das verwirrte Gesicht des Blonden auf dem Display erschien. „Was ist los, Baby?“, fragte er irritiert und verengte sofort die Augen, als ich verlegen die Mundwinkel zu einem schiefen Grinsen verzog, mich am Hinterkopf kratzte und mich somit verriet. Wo sollte ich jetzt nur anfangen? „Lange Geschichte, Rei. Ich wollte mich nur eben melden und dir sagen, dass alles in Ordnung ist“, murmelte ich und schluckte trocken, nahm dann einen weiteren Schluck von meinem Wasser, als Reita wissen wollte, wo ich war, da ihm aufgefallen war, dass das nicht das Café war, vor dem er mich abgesetzt hatte. Ich schwenkte die Ansicht zögernd auf meine Rückkamera und zeigte ihm den großzügigen Wohnraum, ehe ich ihm beschämt antwortete. „Uruha.. Dein Ernst? Es war nur die eine Sache, die ich von dir wollte, und du gehst zu ihm nach Hause? Wirklich?“ Er hatte die Stirn in tiefe Falten gelegt und sah mich missmutig an. „Ich sagte ja, lange Geschichte. Es kam etwas dazwischen. Er hat mich angerufen und sich entschuldigt. Bitte, Schatz. Mach dir keinen Kopf, ja? Ich werde mich zwischendrin einfach immer wieder melden, okay? Mir geht’s gut. Hier ist so weit alles in Ordnung!“ „Ja, Akira. Hier ist alles in Ordnung, also keine Sorge. Ich werde ihn schon rechtzeitig zu Hause absetzen!“ Mir gefror das Blut in den Adern und anscheinend konnte man es mir im Gesicht ablesen. Ich hatte den Älteren gar nicht bemerkt, der plötzlich hinter mir aufgetaucht war. Keisuke stützte sich mit beiden Armen auf der Rückenlehne des Sofas ab und hatte sich weit nach vorne gelehnt, sodass sein Gesicht dicht neben meinem in der Kamera erschienen war. Der körperlich Größere zeigte ein beinahe arrogantes Lächeln. Oh, bitte nicht! Alles, nur keine Provokationen! „Verdammt, erschreck mich doch nicht so!“, zeterte ich und brachte ihn damit nur zum Lachen. Einzig Reita schien sehr wenig begeistert von der Situation, denn ich konnte sehen, wie sein Mundwinkel gefährlich zuckte, während er in die Kamera starrte.
 

„Ich verlasse mich auf dein Wort, Keisuke!“, schnarrte mein Freund dann, leckte sich nervös über die Lippen und ich konnte ihm ansehen, dass ihm die Umstände überhaupt nicht zusagten. Und plötzlich hatte ich ein überaus schlechtes Gewissen. Das hatte ich definitiv nicht gewollt. Nach seiner Beichte hätte ich etwas nachsichtiger sein müssen. Aber wir konnten nicht ewig so reagieren, wenn es um Keisuke ging. „Verlass dich drauf. Hier ist alles im Lot!“, sprach Keisuke nur, weil er die Situation anscheinend entschärfen wollte. Ich würde den heutigen Abend sinnvoll ausnutzen und all unsere Differenzen und die ungeklärten Fragen ein für alle Mal ansprechen und hinter mich bringen. „Ich liebe dich, Rei!“, sprach ich jetzt fest und musste lächeln, als mein Freund sich dadurch anscheinend wieder beruhigte, denn sein Gesicht erhellte sich plötzlich. Er wischte sich mit gesenktem Blick das Haar zurück in den Nacken und erwiderte meinen Liebesschwur, ehe er auflegte. „Ah, junge Liebe. Ihr beiden seid niedlich“, redete der Ältere heiter, während er sich mir gegenüber auf einen Sessel schmiss und das eine Bein gelassen über das andere schlug. Ich gab nur ein Murren von mir, was ihn sichtlich amüsierte. Der Ältere hatte anscheinend schnell geduscht. Das lange, feuchte Haar war in den Nacken zurückgekämmt. Er machte mir gegenüber auch kein Geheimnis mehr aus seinem Tattoo, da ich es ja schon gesehen hatte. Dementsprechend trug er ein ärmelloses, weißes Shirt. Und die schwarze Jogginghose, die er trug, hing gefährlich tief um seine Hüften. Der Typ war eine wandelnde Provokation, wie ich fand. „Hast du Hunger, Kouyou? Möchtest du etwas essen?“, holte er mich mit seiner Frage wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Ihm war sicher aufgefallen, dass ich ihn wieder zu lange gemustert hatte, doch ließ er sich nichts anmerken.
 

„Ein wenig, ja. Aber willst du jetzt noch etwas kochen?“, war mein Einwand, der ihn nur grinsen ließ. Essen war definitiv eine gute Idee. Ich konnte besser denken, wenn ich einen vollen Magen hatte. „Ich und kochen? Eher weniger. Am Ende brennt mir noch die Küche ab. 20 Stockwerke unter uns befindet sich ein Restaurant. Wir können uns etwas bringen lassen“, verriet er mir und beeindruckte mich damit. Ja, ich war heute leicht zu beeindrucken, ich gab’s ja schon zu. „Hast du vielleicht eine Menükarte für mich?“, war meine kleinlaute Frage. Ich hatte bemerkt, wie mein Magen schon wieder zu knurren angefangen hatte, also kam mir sein Angebot gelegen. Wer wäre ich denn, wenn ich diese Großzügigkeit ausschlagen würde? Wäre Reita hier, würde er sich wieder über meine Verfressenheit lustig machen. Ich hatte nämlich noch vor kurzem etwas gegessen. „Natürlich!“, sprach der Größere entgegenkommend, der sich direkt aus seinem Sessel schwang und um die Sitzlandschaft herumging, um aus einem der Sideboards eine Karte hervorzuzaubern. Hüfte schwingend kam er auf mich zu und ließ sich diesmal schwungvoll neben mir nieder, ehe er mir mit einem, „Hier!“, die Karte unter die Nase hielt. Ich kräuselte diese ob der Situation nur, bedankte mich jedoch knapp und besah mir diese neugierig. Ich merkte gar nicht, wie Keisuke den Kopf schief gelegt hatte und mich jetzt eingehend musterte, während ich konzentriert die Fremdwörter zu lesen versuchte. Der Ältere hatte den linken Arm locker von sich gestreckt, sodass dieser auf der Rückenlehne ruhte, die Beine wieder übereinandergeschlagen und der Blick wie paralysiert auf mich gerichtet.
 

Ich war viel zu beeindruckt von den Angeboten und eingeschüchtert von den Preisen auf der Speisekarte, dass ich nicht einmal merkte, wie sich seine rechte Hand meinem geschundenen Hals näherte, an dem all die hellen und dunklen Knutschflecke nur so vor sich hin leuchteten. Ich hatte schon längst vergessen, dass sie überhaupt da waren. Der Größere hakte wortlos seinen Finger in meinen Hemdkragen und zog diesen leicht hinunter, was mich erschrocken hochfahren ließ, da er somit meine Schulter halb entblößt hatte. Ich hatte die Karte vor Schreck auf meinen Schoß fallen lassen. Ehe ich jedoch fragen konnte, was das verdammt noch mal werden sollte, fragte er mit einem undeutbaren Blick, „Selbstbeherrschung ist wohl nicht Akiras Stärke, was?“, während er diesmal meine langen Strähnen mit seinen Fingern dreist zur Seite strich und sich meinen Hals von der Seite besah. „Bitte?!“, krächzte ich perplex und war wie versteinert, als er im Sitzen plötzlich näher an mich heranrutschte, mein Gesicht packte und es grob zur anderen Seite drehte, um mich genauestens zu mustern. „Wow, selbst hier? So etwas sieht man auch nicht alle Tage!“, ließ er sich jetzt ungläubig aus und starrte ungeniert in meinen Ausschnitt, was mir die Röte auf die Wangen trieb. War ich hier im falschen Film, oder was?! „Hast du sie noch alle?!“, fuhr ich ihn an und schlug seine Hand hastig aus meinem Gesicht, da er mich noch immer im Klammergriff hielt. Ich hatte hier gerade ein sehr unangenehmes Déjà-vu. Was erdreistete sich dieser Trottel eigentlich? Ich versuchte hier, der ganzen Sache eine zweite Chance zu geben, und da vergeigte dieser sie so schnell? Wir hatten nicht einmal anständig miteinander geredet! Was war in seinem Kopf nicht richtig, dass er überhaupt auf die Idee kam, mich so etwas zu fragen, geschweige denn, sich darüber auszulassen und mich anzupacken? „Ich glaube kaum, dass meine Beziehung und die Art, wie mein Partner mich behandelt, dich etwas zu kümmern hat, Keisuke!“, giftete ich ihn an und stand jetzt mit vor der Brust verschränkten Armen vor ihm, da ich aufgebracht hochgesprungen war. „Warte, tut mir leid, du hast ja recht! Ich war nur ziemlich überrascht von dem Anblick und konnte es mir einfach nicht verkneifen. Ehrlich, ich nehme alles zurück!“, hob der Schwarzhaarige beschwichtigend die Hände und bat mich, mich wieder zu setzen. Widerwillig ließ ich mich eine Armlänge von ihm auf den Sitz plumpsen und verschränkte verstimmt die Arme vor der Brust.
 

„Es tut mir leid. Ich muss mir dieses Gegrabsche abgewöhnen. Ich habe mich schon oft selbst in Schwierigkeiten gebracht deswegen“, seufzte der Größere und wandte den Blick beschämt ab. „Du musst dir auch dringen abgewöhnen, dich in Sachen einzumischen, die dich nichts angehen. Ernsthaft!“, murrte ich gereizt und hob irritiert eine Augenbraue, als er nur leise lachte. Doch schnell fing er sich wieder. „Hast recht, ich sehe es ein. Na gut, Neustart! Von nun an keine blöden Kommentare meinerseits!“, versprach er mir und hielt mir seine geballte Faust seitlich hin, von der sich der kleine Finger erwartungsvoll abspreizte, um mir zu verdeutlichen, dass er mir das Gesagte mit einem Fingerschwur versprechen würde. „Der Fakt, dass du Namis Sohn bist, bringt mich immer wieder dazu, in die informelle Schiene abzurutschen. Ich wünsche mir nur, dass wir formlos miteinander umgehen können, wie gute Freunde es tun würden!“ Tief seufzend verwob ich unsere kleinen Finger ineinander und nickte bei dem Gesagten, um zu verdeutlichen, dass ich ihm eine weitere, letzte Chance gab. Mit einem immer lauter werdenden, unguten Gefühl in meinem Inneren lauschte ich dem Älteren, während dieser wenig später mit einem schnellen Anruf unser Essen für uns hochbestellte. Ich verstand ihn zwar, aber seine Herangehensweise war bis jetzt jedes Mal fragwürdig gewesen. Ich schob es auf die für ihn und auch mich fremde Situation.
 

Er hatte mich in seine Küche geführt, die dafür gesorgt hatte, dass mir heute zum unzähligen Mal die Kinnlade aufgeklappt war. Abgesehen davon, dass das bestellte Essen himmlisch war, war die Küche der Wahnsinn. Was würde ich nicht alles dafür geben, um in solch einer gut ausgestatteten Küche einmal etwas zu kochen! Die freistehende Kochinsel, die aus einer massiven, ellenlangen, dunklen Marmorplatte bestand, diente zeitgleich als Esstisch. Er hatte sich mir gegenüber auf einem der vielen silbernen Barhocker niedergelassen und genoss gerade mit geschlossenen Augen seinen Rotwein, während ich misstrauisch das Glas in seiner Hand beäugte und dabei grübelnd kaute. Würde ich also doch mit dem Taxi nachhause fahren, alles klar. Der Ältere bemerkte meinen zögernden Blick, und er fragte verwirrt, während er in seinem Essen stocherte, „Stimmt etwas nicht?“, und als ich ihm meinen flüchtigen Gedanken nahebrachte, lachte er nur abwinkend und sagte, „Keine Sorge, von einem Glas passiert schon nichts. Selbstverständlich fahre ich dich nach Hause. Du nimmst um diese Uhrzeit definitiv kein Taxi mehr!“ Wie taktlos ich das Gesagte von ihm fand, hätte ich eigentlich nicht erklären müssen.
 

„Ernsthaft? Ich weiß nicht, aber ich finde das ziemlich rücksichtslos von dir“, äußerte ich enttäuscht und entlockte ihm tatsächlich einen fragenden Blick. War der Typ denn so schwer von Begriff? „Keisuke.. Es ist mir egal, ob du nur ein Glas oder eine ganze Flasche austrinkst. Ich fühle mich definitiv nicht sicher damit, dass du dich ans Steuer wagst, wenn du Alkohol zu dir genommen hast! Ich will mich mit dem Wissen nur ungern in deinen Wagen setzen!“, sprach ich aus und ballte dabei die linke Hand, die auf meinem Oberschenkel ruhte, zur Faust, sodass er es nicht sah. Schreckliche Bilder, die mich auf ewig traumatisiert hatten, und Erinnerungen von vor drei Jahren, die mich noch immer nachts aus meinem Schlaf schrecken ließen, holten mich ein und sorgten dafür, dass ich die Brauen dicht zusammenzog und unverwandt auf meinen halbvollen Teller starrte, während ich die Tränen krampfhaft hinunterzuschlucken versuchte. Nicht hier, nicht jetzt! Meine Mutter hatte ihm doch sicher erzählt, was passiert war. Er wusste sicher, was wir durchgemacht hatten. Wie konnte dieser Snob da nur so taktlos sein? Der Autounfall war so schrecklich gewesen, dass es meiner Mutter und mir verwehrt geblieben war, meinen Vater ein letztes Mal zu sehen und uns angemessen von ihm zu verabschieden. Der heftige Zusammenstoß hatte die Front unseres Wagens schier pulverisiert. Dieser Fakt war der Grund, wieso ich Alkohol noch heute verfluchte und nicht anrührte. Daher war für mich der Anblick von besoffenen Menschen ekelerregend und löste bei mir unter anderem auch Aggressionen aus. Ich würde es niemals über mich bringen, einem Rauschmittel zu verfallen, welches den frühen Tod meines Vaters herbeigeführt hatte.
 

Die Nachrichtensender waren damals voll davon gewesen, und selbst die Zeitungsausschnitte hatte meine Mutter mit gebrochenem Herzen aufbewahrt. Mein Vater hatte an diesem verheerenden Abend von der Arbeit zurück nach Hause gewollt. Es war an meinem 17. Geburtstag gewesen. Er hatte mir vorher noch ein Geschenk gekauft, weil er mich überraschen wollte, und war von einer Landstraße aus in Richtung Innenstadt gefahren. Ein kompletter Umweg also. An einer unübersichtlichen Kreuzung hatte er abbiegen wollen und hatte das Auto, welches sich rasend schnell auf ihn zubewegt hatte, nicht bemerkt, denn der verdammte Fahrer war betrunken gewesen und hatte vergessen, die Scheinwerfer anzumachen. Was mein Vater in diesem letzten, schrecklichen Moment seines viel zu kurzen Lebens gefühlt haben musste, konnte und wollte ich mir nicht einmal ansatzweise ausmalen. Die Angst, die er verspürt haben musste. Die Gewissheit, dass er uns womöglich nie wiedersehen würde. Die Schuldgefühle würde ich mit ins Grab nehmen. Gott, wieso musste ich gerade jetzt daran denken?
 

Ich ließ das Besteck geräuschvoll aus meiner Hand in meinen Teller fallen und hob beide Hände gebrochen vors Gesicht, um dieses darin zu verstecken, um wenigstens einen Funken Würde zu bewahren, während ich bitterlich weinte. Dass ich Keisuke mit meinen Tränen überforderte, merkte ich nicht einmal. Zu sehr war ich in Gedanken in die schmerzhafte Vergangenheit zurückgereist, konnte es gerade noch so verhindern, laut und krampfhaft zu schluchzen. Stattdessen vergoss ich meine Tränen stumm in meine Hände und hielt angestrengt die Luft an. Ich hatte das Gefühl, dass meine Brust von innen nach außen zerriss. Zum Teufel mit diesem ignoranten Vollidioten! Ich hörte, wie die Beine des Barhockers plötzlich schrill über den Boden kratzten, und im nächsten Moment vernahm ich die hektischen, barfüßigen Schritte Keisukes auf dem kalten, glatten Marmorboden. Trocken schluckend richtete ich den verschwommenen Blick auf und sah verwundert, wie der Ältere sowohl den Inhalt seines halbvollen Glases als auch die noch volle Rotweinflasche konsequent in den Abfluss goss und sich dann zu mir herumdrehte. „Kouyou, es tut mir so unendlich leid. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Ich wollte die Situation weder abwerten, noch herunterspielen. Deine Ansicht ist völlig nachvollziehbar. Ich habe nicht mitgedacht!“, redete der Schwarzhaarige reuleidig und ging um die Kochinsel herum, um sich mir zögernd zu nähern. Ich konnte mir nur stumm mit einer Hand über die nassen Wangen wischen, während ich stumm weiter weinte und ihn unsicher aus leicht geschwollenen, blutunterlaufenen Augen ansah. Hoffentlich würde die Schwellung zurückgehen, bevor Reita mich so sah.
 

„Darf ich?“, wollte der Ältere zögernd wissen und breitete die Arme unsicher aus, um mich fragend zu mustern. Ich überlegte gar nicht, als ich ihn mit einem knappen Nicken gewähren ließ und mich zaghaft in die unbekannte Umarmung schmiegte. Es war ein völlig befremdliches Gefühl, da Keisuke so viel größer und auch breiter war als Reita und ich mir plötzlich so viel kleiner vorkam. Er war beinahe hart wie eine Wand, jedoch trotzdem warm und biegsam. Ich wusste nicht, wieso mir das Blut warm in die Wangen schoss, als ich meine Stirn kapitulierend gegen seine harte Brust lehnte und sein Oberteil mit meinen Tränen befeuchtete. Keisuke schlang derweil seine Arme wortlos um mich und drückte mich fest an sich, während er mich in meiner sitzenden Position beruhigend von links nach rechts wiegte und sogar anfing, meinen Schopf zu kraulen, während ich mich allmählich beruhigte und meine Hände beiläufig von hinten an seinem Rücken hochgleiten ließ, um diese auf seinen muskulösen Schulterblättern ruhen zu lassen. Die gesamte Situation war vollkommen befremdlich, doch trotzdem war ich dem Schwarzhaarigen gerade dankbar, dass er mir wortlos Trost spendete. Ganz so übel war der Vollidiot wohl doch nicht.
 

Es waren einige Minuten auf diese Art und Weise verstrichen. Meine Tränen waren versiegt. Plötzlich war mir die Situation extrem unangenehm, aber ich wusste nicht, wie ich mich aus der festen Umarmung Keisukes lösen sollte. Er hatte sein Kinn problemlos auf meinem Kopf abgestützt, so wie ich es meist bei meiner Mutter machte, und streichelte mir stätig mit einer Hand über den oberen Rücken. „Geht’s wieder?“, fragte der Größere, als hätte er meine Gedanken gelesen, und ich bekam eine unangenehme Gänsehaut, da seine tiefe Stimme in seiner Brust vibriert und ich dies somit in meinem Gesicht gespürt hatte. Gott, wie unbehaglich. Ich nickte nur wie ein verschrecktes Kleinkind, da ich mich nicht traute, den Blick anzuheben. Ich wollte gar nicht wissen, wie ich gerade aussehen musste. Immerhin hatte ich mich vor dem Treffen geschminkt. Sicher war alles verlaufen. Im nächsten Moment ging ein plötzlicher Ruck durch meinen Körper, der mir einen verzerrten Angstlaut entlockte, da der Ältere mir einfach ohne Vorwarnung unter die Arme gegriffen und mich mit einer beiläufigen Bewegung vom Hocker gehoben hatte, als würde ich nichts wiegen. Mir war fassungslos der Mund aufgeklappt. Ich war doch kein kleines Mädchen! Auch wenn ich manchmal wie eins heulte.. Und was war eigentlich mit seinem rechten Arm? Ich dachte, er hatte Schmerzen! Ich stand bedröppelt vor ihm und sah aus verheulten Augen zu ihm hoch, was ihm ein mildes Lächeln entlockte. „Komm mit, ich führe dich ins Badezimmer. Nimm dir die Zeit, dich zu sammeln und herzurichten. Und danach will ich dir etwas zeigen!“
 

Dass das Badezimmer so groß war, wie unsere Küche, hatte mich schon gar nicht mehr überrascht. Abgesehen davon, dass ich durch das Weinen mit plötzlich aufkommender Müdigkeit kämpfte, wie es meist der Fall war, hatte ich mich dabei erwischt, wie ich verzückt von links nach rechts gesehen hatte, während Keisuke mir den Weg zum Badezimmer gezeigt hatte. Ich hatte mich frisch gemacht, was bitternötig gewesen war, und ging jetzt wieder hinter dem Größeren her, der irgendwelches belangloses Zeug von sich gab, da er sich anscheinend nicht anders zu helfen wusste. Ich musste aber zugeben, dass ich seine Bemühung, mich auf andere Gedanken zu bringen, nett fand. Auch wenn seine ignorante Art erst der Grund dafür gewesen war, dass ich überhaupt angefangen hatte, zu weinen. Er wies mich an, kurz zu warten, und schritt dann in eines der Nebenzimmer, kam gleich darauf mit zwei flauschigen Decken zurück und drückte mir eine davon in die Hand, was mich irritiert dreinblicken ließ. Was sollte ich denn bitte damit? Wir hatten Hochsommer! „Mitkommen!“, ordnete er an und ich tat, wie mir geheißen. Wäre ich nicht so übermüdet, hätte ich sicher wieder patzig auf seinen Befehl reagiert. Wir gingen den Gang entlang und erklommen tatsächlich eine weitere, schmale Wendeltreppe, die in eine Art Lounge führte. Wie viele Treppen nach oben gab es hier? Und wozu brauchte ein einziger Mensch so viel Wohnraum? Als Keisuke mich auf eine Balkontür zuführte, fiel ich aus allen Wolken. Er hatte einen Balkon?! In dieser Höhe? Wollte ich da überhaupt raus?
 

„Nach dir!“, sprach der Ältere überschwänglich und öffnete mir die Tür und sofort peitschte mir ein harter Wind durchs Haar und brachte meine sowieso schon wirre Frisur noch weiter durcheinander. Deshalb also die Decken. Brav legte ich mir diese über die Schultern, hielt sie vorne zu und machte zwei zögernde Schritte nach draußen. Das robuste Geländer war brusthoch und verglast, was trotzdem ein mulmiges Gefühl in mir auslöste. Doch der Ausblick war der Wahnsinn. Hier oben hörte man das laute, hektische Treiben, was ganz weit unter uns stattfand, schon längst nicht mehr. Nur der Wind, der sich immer wieder laut zischend ankündigte und um meine Strähnen tänzelte, war zu vernehmen. „Keine Sorge, das ist Panzerglas. Da geht nichts kaputt“, lachte der Größere, da er mein Zögern registriert hatte, und ging mutig auf das Geländer zu, um die Arme darauf zu verschränken und runterzuschauen, als würde er den lieben langen Tag nichts anderes machen. Die Decke hing locker um seine Schultern. Ich fasste all meinen Mut zusammen und trat neben ihn, krampfte aber nur zögerlich meine rechte Hand um das Geländer. Die andere hielt noch immer die Decke vor meiner Brust fest, während ich einen Schritt vom Geländer entfernt stand. Ich brauchte den Nervenkitzel gerade definitiv nicht. „Hier verbringe ich meine Abende meistens, wenn ich den Kopf freibekommen möchte“, hauchte Keisuke neben mir so leise, dass es mir schwerfiel, ihn zu hören. Der Wind peitschte so laut um meine Ohren, dass es beinahe schmerzte. „Muss schön sein. Sowas hier für sich allein zu haben, meine ich..“, nuschelte ich und unterdrückte einen Schüttelanfall, da mir doch etwas kalt war hier oben. Es herrschte zum ersten Mal eine angenehme Stille zwischen uns. Ich hatte nicht das Gefühl, etwas sagen zu müssen, um die Atmosphäre zu lockern. „Noch schöner ist es, wenn deine Mutter dabei ist, um das hier mit mir zu genießen“, waren seine leisen Worte, die ich gekonnt ignorierte. „Weißt du, Kouyou.. Sui und ich haben auf die Bitte von Nami hin Eiji vor einigen Wochen gemeinsam zur Rede gestellt, nachdem wir mehrere unschöne Diskussionen miteinander geführt haben“, redete Keisuke plötzlich ohne Vorwarnung und sorgte dafür, dass meine Gesichtszüge überfordert entgleisten. Wie war das? Das war mal ein Themawechsel!
 

„Der Barkeeper aus dem Club “Juice“. Du erinnerst dich?“, frage er überflüssigerweise und biss die Zähne sichtbar fest zusammen, als ich im sarkastischen Ton, „Wie könnte ich das vergessen?“, schnarrte und dabei den Blick unverwandt abwandte. Weit und breit keine Sterne am Himmel zu sehen. Nur der Mond, der voll und rund vor sich hin leuchtete. Was war das bitte für eine Frage? Diesen schrecklichen Abend würde ich nie vergessen. Immerhin hatte er uns allen eine unschöne Erinnerung ins Hirn gebrannt. „Sui hat viel durchgemacht. Und ich gebe zu, ich habe mich an dem Tag ihm gegenüber wie ein herzloses Arschloch benommen und weiter dazu beigetragen, aber erneut mit so einer Situation konfrontiert zu werden, war kräftezehrend für mich. Vor allem, da ich das alles schon einmal mit meinem besten Freund durchgemacht habe. Sowas ist auch für den Außenstehenden nicht leicht“, erklärte der Ältere sich und richtete sich jetzt auf, drehte sich zu mir und lehnte sich seitlich ans Geländer. „Ich bin untröstlich. Was dir an dem Abend widerfahren ist, hätte niemals passieren dürfen. Ich kann mir gar nicht vorstellen, was du und Nami durchgemacht haben müsst!“, waren seine entschuldigenden Worte, die mich aufhorchen ließen. Es war mir sehr unangenehm, über diesen Abend zu reden. Aber umso dankbarer war ich, dass er von sich aus dieses Thema aufgegriffen hatte, denn wir hatten schon lange Redebedarf gehabt. Ich nahm seinen Wink dankend an. „Du sagtest, ihr hättet Eiji zur Rede gestellt.. Was kam dabei raus?“, sprach ich die Frage aus, die seit Wochen innerlich wie verrückt an mir genagt hatte. Würde ich endlich meine Antwort bekommen? Keisuke schnaubte abfällig, ignorierte erst gekonnt meinen verunsicherten Blick und sah mir dann doch stur in die Augen, als er, „Er hat uns gebeichtet, dass er es gewesen ist. Sein mickriger Stolz hat die klare, wiederholte Abfuhr Suis einfach nicht vertragen. Und deshalb hat er kurzerhand den Cocktail mit Drogen versetzt, weil er davon ausgegangen war, dass dieser Sui gehört. Durch die Reservierungsinfos hatte er genug Zeit gehabt, alles zu planen und vorzubereiten. Immerhin hatte er Einsicht auf die Namen auf der Gästeliste gehabt. Sei aber versichert, dass ich gründlich dafür gesorgt habe, dass dieser Typ nie wieder irgendwo Fuß fassen wird, Kouyou. Und womöglich habe ich auch dafür gesorgt, dass man ihm.. Manieren beigebracht hat“, schnarrte mein Gegenüber bedrohlich, was mir unangenehme Gänsehaut bescherte. Es war eine deutliche Veränderung in seiner Aura zu spüren, die mir gar nicht gefiel. Ich wollte lieber nicht nachfragen, was genau er damit meinte. Auch wenn mir diese kryptische Aussage Sorgen bereitete. Jetzt hatte ich meine Antwort auf die Ungewissheit, die mich seit Wochen geplagt hatte. Aber irgendwie war sie ziemlich ernüchternd und nicht zufriedenstellend gewesen. Es schien mir beinahe so, als hätte ich mir selbst mehr erhofft. Ich wusste nicht, wie ich dieses leere, unbefriedigte Gefühl in mir beschreiben sollte.
 

„Weiß Ma davon?“, wollte ich innerlich kapitulierend wissen und gab einen überlegenden Laut von mir, als der Ältere knapp nickte. „Wir haben dich damit nicht weiter belasten wollen, weshalb wir dir auch nichts davon erzählt haben. Nimm es ihr nicht übel, ja?“, bat er mich und legte eine Hand auf meine Schulter, um aufmunternd draufzuklopfen. Ich verzog die Lippen zu zwei dünnen Strichen und nickte. Eine brennende Frage sauste mir noch immer ungehalten durch den Kopf, doch ich wusste nicht, wie ich sie stellen sollte. Ich hatte mir immer wieder ausgemalt, wie ich es wohl anstellen würde, wenn es soweit war. Doch jetzt stand ich hier, hatte zum unzähligen Mal die Chance und traute mich einfach nicht, sie zu formulieren. Wie würde der Ältere reagieren? Würde er es abstreiten? So tun, als wüsste er nicht, wovon ich redete? Ich würde es nur dann herausfinden, wenn ich jetzt meinen Mut zusammennahm und endlich fragte. Meinen leicht geöffneten Lippen entwich ein zaghaftes, „Keisuke?“, und der Größere starrte mir wie gebannt auf eben diese, ehe er sich weiter zu mir vorbeugte, um meine unsicher geflüsterte Frage besser zu verstehen.



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