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Somewhere over the rainbow

von

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Wirklichkeit Teil 3

Wieder herrschte nasskaltes Wetter in London und der Regen prasselte gegen die Fensterscheiben des Krankenhauses St. Barts.

Sherlock Holmes saß an John Watsons Bett und hatte den kleinen Toto, mit dem er vorhin eine kleine schnelle Runde im Park gedreht hatte – der Hund mochte den Regen auch nicht – auf dem Schoss. Liebevoll kraulte er das kleine Tier, das die Augen zufrieden und vertrauensvoll geschlossen hatte, hinter den Ohren.
 

Sein Blick ruhte nun schon seit einer halben Stunde unentwegt auf dem Militärarzt.

Seine Augen glitten über das bleiche Gesicht des Mannes und nahmen jede noch so winzige Kleinigkeit in sich auf.

John sah nicht gesund aus, die Blässe und die Tatsache, dass er sehr abgemagert war, ließen ihn zerbrechlich wirken, aber was war nach nun schon wochenlangem Koma auch anderes zu erwarten. Dennoch sah Sherlock ihm an, dass John unter anderen Umständen eine durchaus ausgeprägte körperliche Fitness an den Tag gelegt hätte. Immerhin war er Soldat.

Sein Haar war blond mit einigen grauen Strähnen und wies einen militärischen Haarschnitt auf, der jetzt allerdings raus gewachsen war. Die Länge, die seine Haare jetzt hatten, wäre wohl etwas, das John, wäre er wach, nicht gefallen würde, vermutete Sherlock.
 

Er würde gerne Johns Augen sehen.

Er wusste, dass sie blau waren, Mike Stamford hatte es ihm gesagt.

Aber ... er würde sie gerne sehen.

Denn, und das war etwas, was er sich selber nicht erklären konnte, trotz der Blässe und Eingefallenheit gefiel ihm John.

Mehr noch, obwohl er ihn ja eigentlich nicht kannte, mochte er ihn.
 

Sehr.
 

Die Tür zum Zimmer öffnete sich, und Sherlock verdrehte genervt die Augen.

Sein Bruder Mycroft trat ein und hatte seinen Gatten, Greg, im Schlepptau. Die beiden Holmes-Lestrades hatten heute seit langem einen freien Nachmittag und daher beschlossen, Toto und auch John Watson gemeinsam zu besuchen.

Toto sprang von Sherlocks Schoß und rannte freudig bellend auf Greg zu. Der nahm die Leine vom Haken und machte sich mit dem Hund auf in den Park.
 

„Mycroft! Was willst du hier?“, fragte Sherlock bissig. „Willst du mir sagen, dass ich endlich dieses elende Krankenhaus verlassen darf?“

Mycroft seufzte. Sein Bruder war ein Ausbund an Charme, wie eh und je.

Er wollte zu sprechen ansetzen, als Sherlock ihm über den Mund fuhr.

„Du brauchst gar nicht erst wieder davon anfangen, dass ich zu euch ziehen soll. Das kommt nicht in Frage!“
 

Gestern war es gewesen, als Mycroft auf die Frage nach Entlassung mit dem Vorschlag geantwortet hatte, Sherlock solle sein Quartier bei ihm und Gregory beziehen. In einem der Gästezimmer ihres Stadthauses.

Sherlock hatte auf diesen Vorschlag nur mit Hohn und Spott und unverhohlenem Entsetzen geantwortet. Das hätte ihm gerade noch gefehlt, tagtäglich unter der Fuchtel seines anstregenden und unter Kontrollwahn leidenden Bruders!

Greg wäre ja vielleicht noch auszuhalten, aber auch der würde ihm vermutlich nach wenigen Tagen auf den Nerv gehen. Und gar erst Mycroft. Pah!
 

„Schon gut, schon gut“, sagte Mycroft. „Ich habe ja verstanden, dass du dich mit Händen und Füßen dagegen wehrst, Bruderherz. Trotzdem werde ich nicht zulassen, dass du wieder auf der Straße landest. Du bist dem Tod gerade noch mal von der Schippe gesprungen, und ich könnte mir nie verzeihen, wenn du hier raus gehst und dich gleich dem nächsten Drogendealer an den Hals wirfst. Denn ob du es nun glaubst oder nicht, du bist mein kleiner Bruder und ich sorge mich um dich.“

Sherlock seufzte. In gewisser Weise hatte Mycroft ja recht. Es wäre sicher nicht schlecht, wenn jemand ein wenig auf ihn achten würde. Aber das würde er um Himmels Willen niemals zugeben.
 

Mycroft fuhr fort.

„Hör zu, ich habe eine Idee. Du erinnerst dich an Mrs. Hudson?“

Natürlich erinnerte Sherlock sich an Mrs. Hudson. Die freundliche alte Dame, der er mal einen großen Gefallen getan hatte.

„Nun, Sherlock, Mrs. Hudson vermietet eine Wohnung in der Baker Street. Gute Lage, nahe der City, und nicht all zu teuer, wenngleich letzteres keine Rolle spielt, denn ich werde dir die Miete ...“

„Nein“, sagte Sherlock.

„Ich werde die Miete selbst aufbringen. Ich möchte unabhängig sein.“

Er sah Mycroft selbstbewusst an.

„Ich werde wieder Fälle annehmen, und darauf achten, dass ich mich dafür auch bezahlen lasse. Und außerdem ... habe ich bei Mrs. Hudson einen Stein im Brett, ich bin sicher, sie wird mir die Wohnung zu einem guten Preis vermieten.“

Mycroft sah erstaunt drein. Das klang vernünftig, und sein Bruder war nicht oft so vernünftig.
 

Sherlock schien nachdenklich.

„Sag mal“, sagte er, „Baker Street ... ich kenne das Haus. Es ist doch die Nummer 221 nicht wahr?“

Mycroft nickte.

„Ja“, sagte er, „genau genommen ist es 221B.“

„Ich bin schon mal in der Wohnung gewesen. Ich erinnere mich, dass sie zwei Schlafzimmer hat, nicht wahr?“

„Ja“, antwortete Mycroft, „das zweite steht dann leer, aber das macht nichts. Und ich wäre wirklich beruhigt, wenn Mrs. Hudson ein wenig auf dich achten könnte.“
 

Sie schwiegen.

Dann sagte Sherlock langsam:

„Mycroft, was wird eigentlich mit John, wenn er aus dem Koma erwacht? Mir ist klar, dass er danach noch eine Weile im Krankenhaus bleiben muss, um wieder auf die Beine zu kommen. Unter Umständen wird das noch lange dauern. Aber dann ... was dann?“

Mycroft sah ihn fragend an.

„Ich meine“, fuhr Sherlock fort, „Stamford hat mir erzählt, dass er niemanden hat. Die Eltern leben nicht mehr, er hat noch eine Schwester, aber zu der besteht keinerlei Kontakt. Stamford würde ihn aufnehmen, hat aber selber nur eine winzige ein-Zimmer-Wohnung.“

„Nun, Sherlock, es gibt Wohnheime für pensionierte ...“

Aber der jüngere fiel ihm ins Wort.

„Pah, Wohnheime. Kaninchenbuchten sind das.“
 

Sherlock schluckte.

„Du sorgst dich doch ständig um mich, großer Bruder. Was würdest du davon halten, wenn in das zweite Schlafzimmer ein Mitbewohner zieht? Jemand, der ebenso ein bisschen auf mich acht gibt?“

Und sein Blick wanderte zu John.

Blitzschnell überschlugen sich die Gedanken in Mycrofts Kopf.

Ein Soldat, der vielleicht ein wenig Struktur und Disziplin in Sherlocks Leben bringen würde? Ein Arzt der sich um ihn kümmern würde? Und, nach allem, was er von Stamford gehört hatte, ein freundlicher, hilfsbereiter Mensch, der vielleicht, ja vielleicht so etwas wie ein Freund für seinen kleinen Bruder werden könnte?

Ich darf nicht zu viel erhoffen, dachte er sich. Aber die Idee ist gut.
 

Er nickte.

„Ja, ich denke, das könnte gut funktionieren. Lass uns hoffen, dass er erwacht und wieder auf die Beine kommt. Und wenn du das dann immer noch möchtest, werden wir ihm den Vorschlag unterbreiten.“

Sherlock strahlte.

Und zum ersten Mal seit langem war er mit seinem Bruder vollständig einer Meinung.



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