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Kapitel 19

Eine Welt scheint immer ein Ort zu sein, den man nicht verlassen kann, so sehr man sich auch bemüht. Was aber, wenn dir plötzlich jemand eine Welt zeigt, die du nie zuvor betreten hast? Wenn deine Welt nichts außer Asche war und sich nun eine Tür in einen blauen, klaren Himmel öffnet?
 

Kannst du dann an diesem neuen Ort leben, oder bleibt es doch letztlich die gleiche Welt, nur von einem anderen Punkt aus betrachtet?
 

Mein Leben war nie wirklich erfüllt gewesen. Familie habe ich keine mehr, die sich um mich sorgt, meine Arbeit zerrte an meiner letzten Kraft und wenn ich heute zurückblicke, frage ich mich, wofür ich eigentlich gelebt habe. Seit ich Victor begegnet bin, geht alles drunter und drüber. Er hat mich schlimme Dinge sehen lassen, die mich quälen, vielleicht den Verstand verlieren lassen… aber trotzdem fühle ich mich das erste Mal so richtig wach, wenn ich bei ihm bin. Mein Herz schlägt ganz schnell. Der Schweiß auf meiner Stirn rinnt unter meiner Aufregung herab. Jeden Tag, wenn ich bei Victor bin.
 

Das mit dem Club ist jetzt einige Stunden her. Von Victors Arbeitszimmer aus haben wir in seinem Schlafzimmer weitergemacht. Die ganze Nacht. Das Thema mit den Sendern hat er nicht mehr angesprochen und ich habe mich gehütet, ihn daran zu erinnern. Ich verstehe darunter, dass er mir glaubt. Zumindest hoffe ich das…
 

Und jetzt, kaum da es morgens ist, werde ich von Victor geweckt. Er kommt ans Bett, wirft mir ein paar Sachen zu und verlangt von mir, mich zu beeilen. Noch völlig von der Nacht erschöpft, schleife ich mich ins Badezimmer und später ebenso energielos hinunter in den Eingangsbereich. Als ich Victor gegen die Tür gelehnt auf mich warten sehe, ist meine Müdigkeit allerdings bald vergessen.
 

Ich glaube es ist das erste Mal, dass wir ohne seine Gefolgschaft unterwegs sind. Victor setzt sich ans Steuer seines Sportwagens, den er vor der Villa geparkt hat. Kaum sitze ich neben ihm, fahren wir los. Keine Ahnung, was er schon wieder geplant hat, aber es fühlt sich anders an, als gestern noch. 
 

Ein wenig kommt es mir vor, als hätte Victor eine Art Hemmschwelle durchbrochen. Die ganze Fahrt über kann ich nur zu ihm sehen, zu dem winzigen Schmunzeln auf seinen Lippen. Die restlichen vier Tage der Woche fühlen sich ebenso anders an, als noch zuvor. Vielleicht ist Victor nicht der Einzige, bei dem eine Hemmschwelle überwunden wurde.
 

Am Donnerstag fahren wir in ein riesiges Aquarium. Wir laufen durch die Becken voller exotischer Fische. Doch niemand ist da. Wir sind völlig allein. Victor hat tatsächlich das gesamte Objekt für den Tag gemietet. 
 

Wie wir durch den Glastunnel laufen, über uns die Haie und Schildkröten… Doch wir können die Blicke nicht voneinander nehmen. Mitten unter dem schier unendlich tiefen Becken reißt er mich an sich und küsst mich leidenschaftlich.
 

Am Freitag führt Victor mich in ein Theater aus. Das geschichtsträchtige Gebäude ist von außen mit Scheinwerfern beleuchtet, die sich mit dem Licht der untergehenden Sonne messen. Wir sitzen auf den besten Plätzen in der Loge, als die Opernsängerin ihre Leidensgeschichte singt. 
 

Die Menge jubelt, applaudiert für ihre Grazie. Doch wir beide scheinen nichts dafür übrig zu haben. Deshalb drückt mich Victor in die gepolsterten Sitze, während ich sein edles Jackett aufknöpfe. Ich kralle mich ins Geländer, beiße in meinen Arm, um nicht so laut zu stöhnen, dass man uns bemerken könnte, als Victor in mich eindringt.
 

Am Samstag nimmt mich Victor mit in die 19te. Obwohl ich zuerst glaube, nur Verzweiflung an diesem Ort vorzufinden, muss ich erstaunt feststellen, wie viele Leute sich hier herumtreiben. Jetzt, da die 19te wieder unter der uneingeschränkten Kontrolle des Lassini-Clans steht, ist nicht nur das Revier wieder aufgebaut wurden. Viele Menschen scheinen tatsächlich an diesem Ort sowas wie Schutz zu suchen. Obdachlose, Waisenkinder, kranke Personen… Sie sitzen an den Baracken, nach etwas Geld bettelnd oder Victors Männern bei den Aufräumarbeiten helfend, ein Bier mit ihnen trinkend. Plötzlich muss ich an Blairs Worte denken, die gesagt hatte, dass die 19te mal ein florierender Stadtteil gewesen sein sollte. Ihre Worte… klingen auf einmal so wahr.
 

Auf dem Weg in die Lagerhalle kommen wir an einem kleinen Mädchen vorbei. Ihr langes Hemdchen weht im Wind, als sie zu mir läuft und an meiner Hose zuppelt.
 

»Haben Sie ein bisschen Geld, Sir?«
 

Eigentlich will ich bereits resigniert seufzen, weil Victor ja all meine Besitztümer beschlagnahmt hat. Allerdings legt dieser mir tatsächlich einen fünfzig-Dollar Schein in die Hand, bevor er mich stehenlässt und weiterläuft. 
 

Die Augen der Kleinen leuchten dankbar, als ich ihr das Geld überreiche. Sie umarmt mich stürmisch, bevor sie mit den nackten Füßchen zurück ins Haus läuft. Dann blicke ich zu Victor, der bereits einige Meter voraus ist. Kaum habe ich ihn eingeholt, frage ich: »Was sollte das gerade? Warum hast du ihr das Geld nicht selbst gegeben, wenn du schon so großzügig bis?«
 

Er steckt die Hände in seine Hosentasche. »Es gibt Personen, die Leben nehmen und Personen, die Leben geben«, ist seine rätselhafte Antwort darauf. »Man kann nicht beides sein.«
 

»Und warum nicht?«, höre ich mal wieder nicht auf, nachzuhaken. »Ich habe mal gehört, dass dieser Ort einst eine Zuflucht für viele Leute war. Warum nur sieht es dann jetzt so schlimm aus?«
 

Wir laufen durch die Baracken hindurch, bis wir zu dem Platz kommen, an dem ich Victor beobachtet habe, wie er jemanden getötet hat. Die Erinnerung spielt mir Streiche, lässt mich das Geschehene wieder und wieder sehen… Doch irgendwie wird mir nicht mehr schlecht. Auch wenn mein Atem stockt und ich kaum Luft bekomme.
 

Habe ich mich etwa daran gewöhnt?, schießt es mir durch den Kopf. Wie viel kann ein Mensch aushalten, bis er verdrängt was er fühlt…? Bis er verrückt wird?
 

»Du hast sicherlich auch gehört, wie der Carlos Clan damals hier eingefallen ist und alles zerstört hat«, will Victor mit Erklären beginnen.
 

Doch ich unterbreche ihn. »Das meine ich nicht. Ich frage mich nur, warum du diesen Ort nicht wieder aufbaust.«
 

Victor dreht seinen Kopf zu mir. Wir sehen uns direkt an. Seine Mimik regt sich unruhig, fast als hätte er tatsächlich noch niemals darüber nachgedacht.
 

Wir werden gestört, als einer von Victors Männer zu uns kommt. Er führt uns in die Lagerhalle. Das Treiben verstummt, als der Boss das Revier betritt. Die Personen an den Kisten drehen sich zu uns. Die Leute auf dem Gerüst an der Decke horchen ehrfürchtig auf. Die Menschen um uns herum blicken nur zu Victor und mir, als würden sie jede seiner Regungen aufnehmen wollen. Doch die Stimmung ist nicht angespannt. Es wirkt eher so, als wären alle glücklich, Victor zu sehen. Als würden sie ihn verehren.
 

Und Victor nimmt sich Zeit für seine Untergebenen. Er setzt mich auf eine der Kisten ab, bevor er von seinen Leuten abgefangen wird, die allesamt wichtige Fragen haben und sich am liebsten zur gleichen Zeit auf ihren Boss stürzen würden.
 

Fasziniert lege ich mein Kinn auf der Hand ab, beobachte die Menge um Victor herum, die ihn wie eine Berühmtheit einkesselt. Es scheint so, als haben sie ihn Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Sie zeigen ihm die Bestände, den Fortschritt in den Bauarbeiten… Alle sind mit einer Art Leidenschaft dabei, die auch Adrian und Elliot zu besitzen scheinen.
 

Am Samstag zeigte Victor mir ein Stück vom Lassini-Clan. Obwohl sie Verbrecher sind, suchen auch sie anscheinend nur Schutz, eine Familie… all das, was Victor ihnen bietet.
 

Am Sonntag werde ich nicht von ihm geweckt. Er lässt mich ausschlafen, bis es zehn Uhr ist. Weil ich keine Spur von ihm finde, laufe ich zu seinem Arbeitszimmer. Doch gerade als ich anklopfen will, wird die Tür aufgezogen und jemand kommt mir entgegen. Es ist Hektor. Seine Augen weiten sich ein Stück, als wäre er erschrocken, eine Person zu treffen. In seiner Hand hält er einen dünnen Stapel Blätter. Doch bevor ich diesen weiter untersuchen kann, rämpelt mich Hektor einfach an und läuft weiter. Schluckend werfe ich einen Blick ins Zimmer, der meine Annahme bestätigt: Victor ist nicht hier.
 

Ich habe ein schlechtes Gefühl, huscht es mir durch den Kopf. Der Typ ist nicht ganz sauber. Sollte ich Victor davon erzählen? Quatsch… da mische ich mich nicht ein. Oder?
 

Heute ist der letzte Tag meines Urlaubs. Eigentlich müsste ich morgen wieder nach Hause und zur Arbeit gehen. Seufzend setze ich mich in Bewegung. Warum beschleicht mich die Ahnung, dass Victor mich nicht einfach gehen lassen wird? Er kann mich nicht für immer einsperren. Ich muss doch nach Hause.
 

Weil Victor vom Erdboden verschluckt scheint, streife ich durch die Gänge der Villa, bis mir auf dem Boden in der unteren Etage eine leere Art Phiole auffällt. Nachdem ich sie aufgehoben und zwischen den Fingern gedreht habe, bin ich mir sicher, welcher Person das gehören müsste. Lessiko finde ich allerdings auch nirgendwo. Erst, als ich in einem der Besprechungsräume stehe, sehe ich die platinblonden Haare zwischen der geöffneten Tür hervorblitzen. Ich laufe dem jungen Arzt nach, allerdings ist er bereits durch eine offenstehende Tür am Ende des Ganges verschwunden.
 

Als ich nähertrete, bemerke ich sofort das Sonnenlicht, das einen Spalt breit auf den Marmorboden leuchtet. Und als ich die Tür weiter öffne, atme ich tief durch. Tatsächlich stehe ich direkt an einem Ausgang zum mehr oder weniger gut angelegten Garten. Hier war ich noch nie gewesen, habe ich mich doch nie getraut, das Haus zu verlassen.
 

In der Mitte des Gartens steht ein ausgeschalteter Springbrunnen, umrandet von einer niedrigen Hecke und einigen wettergegerbten Bänken. Dahinter liegt ein kleiner Schuppen, sowie ein Weg, der zum Haus von Adrian und Elliot führt.
 

Langsam setze ich einzelne Schritte hinaus. Heute ist der Himmel wolkenlos, sodass ich in meinem langärmeligen Shirt nicht friere. Durch den recht verwahrlosten Garten laufend, merke ich immer wieder, wie weit wir uns im Wald, abseits des Lebens, befinden. Nicht nur Vögel haben es sich am Trinkbrunnen gemütlich gemacht, sogar Eichhörnchen und Hasen hoppeln hier herum. Als ich näherkomme, schrecken sie auf, laufen weit in den Wald hinein.
 

Warum sieht dieser Teil des Grundstücks so ungepflegt aus?, frage ich mich, während ich zum Schuppen laufe. Die Villa selbst hat wahrscheinlich mehrere Vermögen gekostet. Der Garten passt nicht hierher. Ob Victor die Natur nicht mag? Wieso zieht man dann in einen Wald?
 

Obwohl an der Tür des Schuppens ein Schloss hängt, ist es bereits geöffnet. Kurz stutze ich, doch dann betrete ich die wenigen Quadratmeter, in denen sich jemand befinden müsste. Doch niemand ist da. Ich bin bloß von Abstellkram, Schaufeln und einem alten Staubsauger umgeben – abgesehen von den etlichen Spinnweben, durch die ich mich kämpfe.
 

Hinten an der Werkbank entdecke ich allerdings eine unnatürliche Lichtquelle unter dem Tisch. Als ich mich auf den Boden knie, erkenne ich auch dessen Ursprung. Versteckt unter der abgenutzten Arbeitsfläche ist sowas wie… eine Klappe? Aus Holz bestehend, nach oben aufgeschlagen und wahrscheinlich sonst mit dem Bierfass bedeckt, das gerade zur Seite gerückt wurde, leitet diese Klappe zu einem Durchgang nach unten. Wie ein Keller.
 

Ich streiche meine feuchten Hände an der Hose ab, bevor ich meine Beine auf die erste Stufe nach unten schwinge. Die Treppe, welche spärlich von vergitterten Seitenlampen ausgeleuchtet wird, führt zu einem unbestimmten Ort unter der Erde. Gerade bin ich mir nicht sicher, ob ich wirklich hinunter soll. Was liegt dort versteckt, wenn sie diesen Ort derart geheimnisvoll verheimlichen müssen? Noch mehr Blut…? Noch mehr Tod…?
 

Weil ich vom Zögern auch nichts erfahren würde, folge ich schließlich der Treppe nach unten ins Kellergewölbe. Der Schein von oben trügt. Dieser Keller mit kahlen Betonwänden und einfachem Steinboden ist größer als angenommen. Obwohl es nur einen Gang gibt, ist dieser länger, als dass ich auf die Schnelle alle Räume an den Seiten zählen kann. Die feucht-stickige Luft hier unten treibt mir den Schweiß auf die Stirn.
 

Um den Faden nicht zu verlieren, laufe ich zuerst zum einzigen Raum, der aufgeschlossen scheint. Je weiter ich mich nähere desto lauter werden Klimpergeräusche. Irgendjemand kramt darin an lauter Sachen herum, die gegeneinander schlagen. Zum ersten Mal bemerke ich den eigenartigen Aufbau dieser Türen. Im Gegensatz zu normalen Kellern, die meistens mit altmodischen Holztüren ausgestattet sind, kommt es mir plötzlich vor, als würde ich mich in einem Hochsicherheitsgebäude befinden. Das Material ist dicker Stahl. Im Gegensatz zum Schuppen, ist das Schloss keines, das man einfach irgendwo dranhängt. Stattdessen sind die Räume ohne Klinken, dafür aber mit einer Art Kartenlesegerät ausgestattet. 
 

Das passt alles nicht zusammen…, schießt es mir durch den Kopf. Dann schleiche ich in den offenen Raum. Sofort klappt mein Kiefer staunend herunter.
 

Ein riesiges Labor breitet sich vor mir aus. An den sterilen Metallwänden bahnen sich Reihen an Reihen von Regalen, mit allerlei wissenschaftlichen Kram, den ich gar nicht zu beschreiben weiß. Mikroskope, seltsamfarbene Proben, Bücher und Ordner mit Dokumentationen. Direkt in der Mitte stehen mehrere stählerne Arbeitsflächen, ausgestattet mit Waschbecken und eingebaute Geräten, die stürmisch blinken. An der hinteren Wand hängt zudem ein mehrere Meter breiter Bildschirm, Bilder von Bakterien anzeigend.
 

Und natürlich befindet sich hier die einzige Person, welche wie die Faust aufs Auge passt.
 

»Lessiko.«
 

Angesprochener fährt heftig zusammen, lässt alles los, was er gerade in den Händen hält. Einige Notizbücher fallen dumpf zu Boden, einige Phiolen hingegen zerspringen scheppernd. Hastig wirbelt der junge Arzt herum. »J-Jesse…?«
 

»Ich wollte dich nicht erschrecken«, erkläre ich, beginne damit aufzuheben, was Lessiko fallengelassen hat. Sofort hockt er sich zu mir herunter und hilft mir dabei. Erst als wir alles das nicht zerschellt ist auf dem Arbeitstisch bugsiert haben, können wir uns richtig in die Augen sehen.
 

»Du hast hier unten ja eine richtige Basis«, scherze ich, drehe meinen Kopf in alle Richtungen, um mich genauer umzusehen.
 

Lessiko spielt an den Nähten seiner Handschuhe. »V-Victor hat das für mich eingerichtet… Damit ich f-forschen kann…«
 

»Tut mir leid, wegen den Phiolen.«
 

Er schüttelt schnell den Kopf, findet erneut zu Boden, um die Glasscherben per Hand aufzusammeln. Als er wieder auftauchen will, stößt er sich mit einem schmerzhaft klingenden Rumpsen an der Kante des Tisches. Er stöhnt, rubbelt sich über die wohl pochende Stelle, nachdem er das Glas in einen nahen Eimer geworfen hat. Dann lacht er nervös. »Passiert mir immer… haha… Bin ein hoffnungsloser Fall…«
 

»Übrigens, der Grund warum ich hier bin…« Ich halte Lessiko die Phiole hin, die ich in der Villa gefunden habe. »Du hast sie verloren.«
 

Mit einem schiefen Grinsen nimmt der Arzt mir sein Werkzeug ab. »Wenn ich ehrlich bin… hab ich sie mit Absicht dorthin gelegt… haha…«
 

»Hä?«
 

»Naja, weißt du… I-Ich hätte dir gerne mal das Labor gezeigt, a-aber… ich hab mich nicht getraut, es dir zu sagen…«, erklärt Lessiko kleinlaut. »Das war seltsam von mir. I-Ich bin eben so seltsam…«
 

»Ist doch nicht schlimm…« Ich winke ab, trete um den Tisch herum, um mich zu einigen blubbernden Substanzen zu beugen, an denen er wohl gerade gearbeitet hat.
 

»D-Du bist wirklich verständnisvoll… Victor hätte mich längst geschellt und Hektor… nun, du hast es letztens ja mitbekommen…«
 

»Aber ich bin Jesse«, sage ich schmunzelnd über die irgendwie liebenswürdige Art des Älteren. Dann konzentriere ich mich wieder auf die Experimente. »Sind das alles Drogen?«
 

Ohne auf meine Frage zu antworten, tritt Lessiko neben mich und meint leise: »Und weil du Jesse bist, kann ich dir… naja, ich kann dir doch vertrauen. Oder?«
 

»Klar«, sage ich spontan.
 

Lessiko sieht angespannt zur Tür. Er entscheidet sich, diese zu schließen, bevor er zurückkommt. Dann beißt er sich etliche Male auf die Lippe. »V-Vielleicht… W-Was ich dir erzähle, ist sehr w-wichtig, weißt du… ha…«
 

Ich ziehe die Augenbrauen zusammen. »Worum geht es?«
 

»Victor. E-Er ist v-vielleicht in Gefahr.«
 

Jetzt stelle ich mich aufrecht hin, sehe meinen Gegenüber direkt an. Dasselbe Bauchgefühl wie bei Victors Arbeitszimmer tritt ein. Obwohl ich mich besser nicht einmischen sollte, kann ich mich nicht zurückhalten zu fragen: »Hat es… etwas mit Hektor zu tun?«
 

Die dämmrigen Augen des Arztes weiten sich. »Ja! W-Woher weißt du das? Hast du… etwa auch etwas bemerkt?«
 

Also lag ich richtig. Irgendwas stimmt nicht mit Hektor, denke ich, balle die Fäuste. Trotzdem… Wenn ich mich zu viel einmische, komme ich vielleicht nicht mehr raus. Aber wenn es um Victor geht… wenn er in Gefahr ist… Ich mustere kurz den jungen Arzt. Seine verpeilte Art, lässt mich ein wenig aufatmen. Und ihm kann ich es doch erzählen. Er wird das sicherlich nicht gleich herumposaunen, wenn wir im Vertrauen reden.
 

»Hektor war vorhin in Victors Arbeitszimmer«, beginne ich, lehne mich gegen den Tisch. »Aber Victor war nicht da. Das kam mir seltsam vor. Was hatte Hektor alleine in dessen Arbeitszimmer verloren? Und als er herauskam, hatte er auch noch Dokumente bei sich…«
 

Lessiko stützt sich auf den Tisch, sodass sein Gesicht ganz nahe kommt. »Hast du gesehen, was auf den Dokumenten stand?«
 

»Leider nicht. Er ist gleich danach weggegangen.«
 

Lessikos Schultern sinken herab. »Dann ist es vielleicht noch schlimmer, als gedacht… nein, das ist unmöglich…« Unsicher lachend zieht er sich zurück, läuft durch den Raum. »Du musst sowieso schon denken… ha… dass ich verrückt bin und mir alles nur a-ausgedacht habe… Wenn ich jetzt noch meine Vermutung ä-äußere…« Er schlingt die Arme um den Körper, als würde er frösteln. Dabei dreht er mir den Rücken zu.
 

Ich laufe zu ihm, lege meine Hand an seine Schulter. »Das denke ich nicht. Ich will deine Vermutung hören.«
 

»Wirklich?« Lessikos Blick gleicht einem einsamen Welpen, als er sich umdreht. Dann nickt er entschlossen, eilt hinüber zu einem der Schränke. Dort kramt er etwas hervor, das ich als Schokoladenschachtel erkenne, als er es vor mir ausbreitet. »Der Abend, an dem Victor zusammengebrochen ist… wir haben uns erst kennengelernt, erinnerst du dich?«
 

»Schon, ja… aber was hat das mit Hektor zu tun?« Die Schachtel ist wirklich exakt dieselbe, die ich Victor geschenkt habe. Und als Lessiko sie aufschlägt, fehlen die Pralinen, die Victor gegessen haben muss. »Ich habe ihm aus Versehen Schokolade mit Nüssen geschenkt, deshalb hatte er ja diesen Schock…«
 

»Dachten wir.« Lessikos Augen blitzen auf einmal ganz wach zu mir auf. »Dass Victors Zusammenbruch an Nüssen lag, ist nicht bestreitbar. Doch niemals wurde festgestellt, dass es die Schokolade war, durch die Victor Nüsse zu sich genommen hat. Wir sind nur alle fälschlicherweise davon ausgegangen, weil es perfekt in die Situation gepasst hat.«
 

Kurz bin ich erstaunt, wie gut Lessiko sprechen kann, wenn er in seinem Element ist. Doch dann konzentriere ich mich lieber auf die wichtigen Dinge.
 

»Heißt das, Victor wurde vorsätzlich vergiftet?«, schlussfolgere ich.
 

Lessiko fummelt eine Praline aus der Schachtel, hält sie ins Licht der Industrielampen an der Decke. »Auf den Warnhinweisen der Schokolade steht nichts von Nüssen. Natürlich habe ich das nochmals untersucht, immerhin können die Pralinen trotzdem Spuren enthalten. Aber negativ.« Er legt sie zurück in die Schachtel. »Du weißt, was das heißt, oder?«
 

Ich schlucke. »Jemand hat Victor absichtlich Nüsse verabreicht und wollte es so aussehen lassen, als wäre die Schokolade Schuld.« Ein Schlucken rinnt meine Kehle hinab. »…Hektor?« 
 

»Wegen den Sendern, die dir zugesteckt wurden…«, beginnt Lessiko, was mich kurz stutzen lässt. Anscheinend weiß jeder bereits über den Vorfall Bescheid. »Hast du eine Ahnung, wer es gewesen sein könnte?«
 

Die Augen schließend, lege ich meinen Kopf nachdenklich zur Seite. Innerlich gehe ich den ganzen gestrigen Tag durch. »Keine Ahnung. Neben Victor und euch hatte ich sowieso keinen Kontakt, also… Naja, außer die ganzen Leute, neben denen ich kurz getanzt habe. Aber von denen könnte es jeder gewesen sein…« Plötzlich schießt eine Erinnerung durch meinen Kopf. Ich öffnen schnell meine Lieder und hebe den Zeigefinger angespannt hoch. »Warte! Auf dem Weg zur Tanzfläche bin ich in einen großen Mann mit einem auffälligen Gesicht hineingelaufen. Mir kam das gleich merkwürdig vor, weil ich überhaupt nicht mitbekommen habe, dass jemand vor mir lief…«
 

»Hatte d-dieser Mann vielleicht eine Narbe, die sich bis zum Ansatz seiner Haare zog?«
 

»Ja!«, rufe ich sofort aus. »Woher weißt du das?«
 

Lessiko spielt nervös mit einer seiner hellblonden Strähnen. »Das war einer von Hektors wichtigen M-Männer. Ein wenig wie Adrian und Elliot untersteht dieser Hektor direkt.«
 

»Aber das heißt ja…«, hauche ich sprachlos.
 

Seufzend verstaut Lessiko die Schokolade wieder im Schrank. »Wir habe keine Beweise, lediglich Mutmaßungen.« Plötzlich fassen mich seine in dicken, weißen Handschuhen eingepackten Hände an den Oberarmen. Er fängt meinen Blick ein, bevor er nachdrücklich meint: »Deshalb bist du auch der Einzige, mit dem ich darüber sprechen kann.« Seine Hände gleiten hinab, bis sie meine eigenen halten. Er drückt sie fest, beinahe tut es schon weh. »Dir kann ich vertrauen, ha… Aber die anderen dürfen nichts davon erfahren!«
 

»Ist es nicht besser, wenn wir alle über Hektors mögliche Pläne informieren?«
 

Lessiko schüttelt energisch den Kopf. »Denkst du, sie glauben mir…?«
 

»Aber wenn ich Victor…«
 

»Nein«, unterbricht mich der junge Arzt. »Auch du kannst Victor nicht davon überzeugen, vertrau mir. Egal wie sehr er dich mag, die Familie wird für ihn immer an erster Stelle stehen. Und dazu gehört eben auch Hektor… haha… Wir sind die letzten aus der Blutlinie, sind zusammen aufgewachsen. Auch wenn die beiden sich oft am liebsten an die Kehle gehen würde, ist Hektor dennoch einer von Victors besten Männern überhaupt und sein Stellvertreter.… ha…« Lessiko fröstelt übertrieben, als würde ihm ein Schauer über den Rücken laufen. »Was denkst du, wird Hektor tun, wenn er weiß, dass wir ihm auf die Schliche kommen? Haha… Ich will es mir nicht vorstellen…«
 

»Victor wird das nicht zulassen…«, beginne ich, frage mich aber gleichzeitig, warum das so schwach klingt. Als wäre ich von ihm abhängig. Deswegen reiße ich mich zusammen. Räuspernd nehme ich ein wenig Abstand. »Adrian und Elliot sind ja auch noch da. Und erstmal müsste Hektor überhaupt eine Gelegenheit bekommen, uns etwas anzutun.«
 

Nervös lachend tritt Lessiko zur Tür, die er wieder öffnet. »Verstehe. Du vertraust mir nicht… Würde ich wahrscheinlich auch nicht, haha… Das Wichtigste ist, dass wir Hektor aufhalten. Wenn ich dafür mit meinem Leben bezahlen muss… soll es mir recht sein.«
 

Dann lässt mich Lessiko stehen.
 

Ich atme tief durch. Es wird immer komplizierter, habe ich recht? Jetzt werde ich nicht nur von einem Mafia-Boss festgehalten, sondern von einem potenziellen Verräter bedroht? Ich sollte Hektor aus dem Weg gehen und was Lessiko betrifft… Meine Lippe beginnt zu schmerzen, als ich fest auf sie beiße. Mit seinem Leben bezahlen? Sieht die Lage wirklich so ernst aus? Es wäre besser, wenn ich den anderen von Hektor erzähle, aber Lessiko scheint mehr zu wissen. Natürlich. Ich bin dumm, unerfahren. Was weiß ich schon von der Mafia?
 

Meine rasenden Gedanken werden unterbrochen, als ich plötzlich einen leisen Schrei vernehme. Überrascht trete ich aus dem Raum und sehe den Gang nach rechts, woher ich den Schrei vermute. Doch Lessiko kann es nicht sein, ihn habe ich die Treppe nach oben laufen hören.
 

Mein Magen zieht sich zusammen, als ich begreife, dass wir nicht allein hier unten waren.



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