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Die Götter hassen mich

von

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Letzte Vorbereitungen

Ihre Gliedmaßen kribbelten unangenehm bei jeder Bewegung. Valka hing hier schon seit über drei Stunden an der Wand und ihre Arme, Beine und Flügel waren längst eingeschlafen.

Noch vor einigen Jahren hätte ihr das wenig ausgemacht, aber sie war eben kein heißblütiger Teenager mehr, sondern eine Frau mittleren Alters, auch wenn sie sich nicht so fühlte.

Eigentlich war ihr Körper auch ihre kleinste Sorge. Sie machte sich Gedanken um Mala, Heidrun und all die anderen, die auf Platon nun ohne ihre Führung waren.

Anführerin – Valka konnte dieses Wort nicht leiden. Das war nicht, wie sie sich selbst sah, aber irgendwie war sie in diese Rolle gerutscht und erfüllte sie nun nach bestem Wissen und Gewissen. Ohne die Hilfe von Heidrun und Mala wäre sie mit diese Aufgabe allerdings hoffnungslos überfordert. Und auch ihr eigener Paratei war ihr eine große Stütze – so selten er auch bei ihr war. Sie vermisste Wolkenspringer schrecklich, aber es nahm ihr eine schwere Last von den Schultern zu wissen, dass er ein Auge auf ihre ehemalige Heimat und ihre zurückgelassene Familie hatte.

Mühevoll zog Valka sich mit den Armen klimmzugartig in ihren Fesseln nach oben, um ihrem Körper wenigstens für einen kurzen Moment ein Mindestmaß an dringen benötigter Bewegungsfreiheit zu verschaffen. Dann hing sie weiter ihren Gedanken nach – viel mehr hatte sie hier drin ja auch erst mal nicht zu tun.

Hoffentlich kam Wolkenspringer bald wieder nach Platon. Er war schon lange nicht mehr bei ihr gewesen und so langsam begann sie sich Sorgen um ihn zu machen. Natürlich wusste sie, wie stark und intelligent ihr Paratei war, und spürte ganz deutlich, dass er noch lebte. Wäre sie nicht so ausgelaugt von ihrer Gefangenschaft, hätte sie auch spüren können, wie nah oder fern er jetzt gerade war, aber sie sollte ihre Kräfte sparen.

Wieder kehrten ihre Gedanken zu ihrer Familie zurück. Wenn sie sich nicht verrechnet hatte, musste ihr kleiner Hicks inzwischen auch in dem Alter sein, in dem er sein Training abschließen und zu einem vollwertigen Mitglied der Wikinger-Gemeinschaft werden würde.

Unsicher biss sie sich auf die Unterlippe. Was Hicks wohl über sie dachte? Konnte er sich überhaupt an sie erinnern? Er war noch so klein gewesen, als sie ihn hatte verlassen müssen, aber als Paratei auf Berk zu bleiben, hätte ihr nur den Tod und über ihren Mann und ihren Sohn Schande gebracht.

Es war besser so. Das musste sie sich immer wieder deutlich vor Augen halten, so sehr es auch schmerzte.

Ein weiteres Mal zog sie sich hoch und versuchte trotz des stechenden Kribbelns, ihre Beine und Flügel etwas zu bewegen.

Sie würde hier herauskommen, auf Wolkenspringer warten und sich dann von ihm erzählen lassen, wie es ihrem Mann und ihrem Jungen ging. Sie würde die mentalen Bilder, die ihr Paratei ihr von Berk mitbrachte, in ihrem Geist abspeichern und stolz auf Hicks sein – ganz egal, welchen Weg er für sich gewählt hatte und wie sehr ihr die Einstellung der Berkianer gegenüber Drachen widerstrebte.
 

Aufmunternd stieß Ohnezahn seinen Paratei an, der sich grübelnd über metallene Kleinteile und wirre Zeichnungen beugte. Seit einer gefühlten Ewigkeit tüftelte und werkelte er an irgendwelchen Gerätschaften herum und schien mit nichts so richtig zufrieden zu sein. Erneut zupfte Ohnezahn an der grünen Tunika und endlich gab Hicks mit einem geschlagenen Seufzen auf.

„Ist ja gut. Du hast gewonnen. Ich ergebe mich.“ Mit einem schwachen Schmunzeln strich er einmal durch Ohnezahns Haare. „Ich krieg jetzt eh nichts Vernünftiges mehr hin. Ein kleiner Flug durch die Nachtluft hilft mir vielleicht, den Kopf etwas frei zu kriegen.“ Ein triumphierendes Grinsen ließ Ohnezahns Mundwinkel nach oben wandern und Hicks schüttelte nur lachend den Kopf.

„Mala würde sagen, ich verzieh dich. Aber das müssen wir ihr ja nicht verraten.

Aber werd bloß nicht übermütig, okay?“ Mit einem schwachen Kichern schlüpfte Hicks aus seiner Weste und ließ sich widerstandslos von Ohnezahn nach draußen ziehen.

Der Winter stand quasi schon vor der Tür und besonders am Abend und in der Nacht wurde es bereits ziemlich frostig. Daher fiel ihr Flug unterm Sternenhimmel auch eher kurz und zügig aus.

Hicks musste sich schnell und viel bewegen, damit er auch in der kalten Nachtluft hoch über der Insel noch seine Körpertemperatur halten konnte. Bei nächster Gelegenheit sollte er sich dringend dickere Kleidung besorgen, sonst würde er wohl bald als Eisblock aus dem Himmel fallen.
 

Wieder auf dem Boden fühlten Hicks' Gliedmaßen sich steif vor lauter Kälte an. Sofort zog Ohnezahn ihn zu sich und hüllte ihn in seine wärmenden Flügel ein. Menschen waren einfach so schrecklich zerbrechlich. Der Körper des Nachtschattens war unverändert warm, denn sein inneres Feuer hielt ihn zuverlässig auf Temperatur.

Hicks' Finger tauten so langsam in Ohnezahns Händen wieder auf und Müdigkeit machte sich in ihm breit. Er war sowohl körperlich als auch seelisch erschöpft. Ihm bereitete der Zeitdruck zunehmend Sorgen. Sie mussten die Anführerin Platons bald befreien, wenn sie sie vor einem Verkauf bewahren wollten.

Astrid hatte sich gut in die weibliche Führungsriege der Insel integriert und gemeinsam mit Mala und Heidrun an der Planung der Rettungsaktion gearbeitet. Auch Hicks hatte sich daran beteiligt, doch zwischen Training, Ohnezahn und der Schmiede blieb ihm nur wenig Zeit dafür.

Er wollte seine neuste Erfindung einsatzbereit haben, bevor sie zur Insel der Jäger aufbrachen, also musste er sich zusammenreißen und diszipliniert arbeiten. Auch dann, wenn Ohnezahn ihn viel lieber zu wilden Flügen oder ausgiebigem Kuscheln animieren würde.

Also setzte Hicks sich nochmal an seinen Tisch und sortierte einige Bauteile, während Ohnezahn sich bereits auf dem Bett zusammenrollte und seinen Paratei von dort aus beobachtete. Es widerstrebte ihm, dass Hicks abends nicht mehr ihm allein gehörte, so wie er es eigentlich gewohnt war, aber er sah die Notwendigkeit dafür ein.

Als Hicks endlich vom Schreibtisch aufstand und ins Bett krabbelte, war Ohnezahn längst in einen lockeren Halbschlaf gesunken. Trotzdem hob er instinktiv einen Flügel und zog Hicks verschlafen in seine Arme.

Der kuschelte sich müde zu ihm und ließ Ohnezahn seinen Schwanz um seinen Knöchel wickeln. Diese Angewohnheit hatte sein Nachtschatten seit einiger Zeit und Hicks hatte keine Einwende dagegen. Er konnte mittlerweile gar nicht mehr verstehen, wie er so lange ohne seinen Paratei einschlafen konnte. Er fand inzwischen nur noch Ruhe, wenn Ohnezahn bei ihm war, und auch dessen Wärme half ihm im aufziehenden Winter erholsam zu schlafen.
 

Müde schmiegte Hicks sich an den warmen Körper neben sich und dessen Besitzer drückte ihn bereitwillig an sich. Ohnezahn genoss es sehr, mit ihm zusammen aufzuwachen, morgens noch ein wenig mit seinem Paratei zu kuscheln und seine Zunge über den vernarbten Schnitt auf dessen Wange wandern zu lassen. Auch dieses spielerische Ritual hatte sich inzwischen so bei ihnen eingebürgert und wiederholte sich jeden Morgen.

Anschließend stiefelten sie wie üblich zu dem Turm, in dem die Truppe damals nach ihrer Ankunft hatte warten müssen. Dort erwartete sie wie üblich bereits Astrid, die mit Heidrun und Mala angeregt die letzten Details ihres Rettungsplans durchging.

„Guten Morgen, ihr Langschläfer. Auch endlich wach?“, begrüßte sie Astrids vergnügte Stimme.

„Tut mir leid. Ich hab gestern noch lange gearbeitet“, verteidigte sich Hicks halbherzig und sah entschuldigend zu Mala. Sie mochte keine Unpünktlichkeit und war sie von ihren Schülern auch nicht gewohnt. „Wie sieht´s mit dem Plan aus?“, wechselte er daher schnell das Thema.

„Es gibt nur noch wenige Lücke, aber einige davon werden wir aufgrund fehlenden Hintergrundwissens wohl nicht zufriedenstellend füllen können. Trotzdem sollten wir innerhalb der nächsten Tagen zur Tat schreiten können“, erklärte Mala knapp.

Die drei Frauen wirkten zuversichtlich und gaben damit auch Hicks' Optimismus einen Schub. Der anstehende Angriff machte ihm mehr Angst, als er zugeben wollte, aber das durfte ihn nicht aufhalten.

„Nun, dann beeilen wir uns mit deinem Training lieber. Ich lasse Niemanden unzureichend vorbereitet in einen Kampf ziehen – vor allem niemanden, der eine Schlüsselrolle in Valkas Befreiung spielt.“ Astrid und Heidrun nickten zustimmend und Mala machte sich bereits auf den Weg in Richtung Tür.

Hicks hingegen verabschiedete sich erst von Ohnezahn, der ihn wiederum eng an sich drückte und einmal flüchtig über dessen Wange leckte. Hicks entschuldigte sich unhörbar für jeden anderen über ihre Verbindung bei ihm und erwiderte die Umarmung, bevor er ihn schließlich losließ und Mala zum Training folgte.
 

„Ihr tut ja geradezu so, als würdet ihr euch nie wieder sehen. Wir trainieren doch nur für einige Stunden“, merkte Mala spontan an, während sie gemeinsam zur Arena liefen.

„Ich weiß. Aber irgendwie fühlt es sich falsch an, wenn wir nicht zusammen sind. Als würde etwas fehlen.“

„Tut es ja auch. Euch fehlt jeweils eure andere Hälfte.

Das geht jedem Paratei so, aber bei euch beiden scheint dieses Gefühl besonders ausgeprägt zu sein. Ihr seid eben Nachtschatten.“ Hicks stutzte ein wenig und rang sich nun endlich dazu durch, die Frage auszusprechen, die er sich selbst schon seit Längerem heimlich stellte.

„Sag mal, Mala. Was sind wir eigentlich? Sind wir noch Menschen oder schon Drachen?“ Malas Mundwinkel zuckten kaum merklich nach oben, als sie ihr wissendes Schmunzeln zu unterdrücken versuchte.

„Diese Frage stellen wir Flüsterer uns wohl alle. Wir sind als Menschen geboren, haben menschliche Eltern und unser ganzes Leben als Menschen gelebt, und plötzlich sehen wir einem Drachen in die Augen und uns wachsen Flügel.

Wir können fliegen, mit Drachen sprechen und erlangen andere Fertigkeiten eines Drachens, aber verlieren wir dadurch unsere Menschlichkeit?“ Etwas verwirrt sah Hicks zu seiner Mentorin, deren Augen nachdenklich über den Himmel wanderten. „Der Legende unserer Insel nach sind wir Menschen mit der Seele eines Drachens. Also würde ich sagen, dass wir beides sind, aber eben keins von beidem in Vollkommenheit.

Valka bezeichnet uns Flüsterer gerne als Brücke. Wir können beide Seiten verstehen und von beiden Seiten verstanden werden – der Eine mehr der Andere weniger.

Aber das ist keine befriedigende Antwort auf deine Frage, nicht wahr?“ Hicks nickte betreten, aber es beruhigte ihn, dass er wohl nicht der Einzige war, den diese Frage umtrieb.

„Manchmal hab ich das Gefühl, ich werde mehr und mehr zum Drachen. Nicht nur durch meine Teilverwandlungen sondern auch wegen einiger Gefühle und Instinkte, die ich vorher nicht hatte.“

„Das ist völlig normal und einer der Gründe, weshalb ich meinen Schülern stets Kontrolle und Disziplin zu lehren versuche. Sie dürfen keine Angst vor ihrem eigenen Selbst haben. Wenn Andere Angst vor dir haben, ist das schrecklich, aber wenn man sich vor sich selbst fürchtet, ist man völlig verloren.

Jeder menschliche Paratei wird mit diesen drachenartigen Instinkten konfrontiert und muss eine Balance für sich finden. Ich lehre, diese Instinkte so gut wie möglich zu kontrollieren und wenn nötig zu unterdrücken, damit keiner meine Schüler sich in seiner Angst verliert.

Kontrolle schafft Sicherheit, und Sicherheit schafft Zuversicht.“ Sie machte eine kurze Pause und ihre Augen wanderten wieder zu Hicks. „Du hingegen scheinst deine Instinkte und drachenartigen Seiten vorbehaltslos anzunehmen und dadurch dein volles Potenzial auszuschöpfen. Du fürchtest dich nicht vor dem Fliegen und sprichst mit Drachen genauso mühelos wie mit Menschen.

Du rufst deine Gabe durch Emotionen wach und kannst dadurch seinen Körper erstaunlich stark verwandeln, allerdings fehlt dir durch diese Methode auch ein gewisses Maß an Kontrolle.“ Mala versank erneut in Fachsimpelei und vergaß dabei ganz unbemerkt ihr diszipliniertes Auftreten.

Mehr und mehr Begeisterung fand ihren Weg in ihre Stimme und ihr Gesicht ließ weitaus mehr Gefühlsregungen erkennen, als es üblicherweise der Fall war.

„Valka ist auch so“, schloss Mala ihren Monolog schließlich. „Nur wenige Flüsterer haben mit dieser Herangehensweise Erfolg, aber genau wie Valka scheinst du zu diesen Wenigen zu gehören.

Du wirst viel von ihr lernen können. Aber dafür müssen wir sie erst einmal befreien, also verschwenden wir nicht weiter Zeit, sondern machen da weiter, wo wir gestern aufgehört haben.“
 

„Nimm´s ihm nicht übel“, zog Astrid nach einer Weile Ohnezahns Aufmerksamkeit auf sich, als sie dessen Blick in Richtung Arena bemerkte. Ertappt biss Ohnezahn sich auf die Unterlippe und sah die blonde Wikingerin an. Beschwichtigend hob sie eine Hand und der Nachtschatten lehnte sich ihr ein Stück weit entgegen und erlaubte ihr, ihm über den Kopf zu streichen.

Eigentlich mochte Ohnezahn es nicht besonders, von Menschen angefasst zu werden, aber bei Astrid machte er eine Ausnahme. Er hatte viel Zeit in Übungskämpfen und beim Warten mit ihr verbracht, während Hicks in der Schmiede oder im Training mit Mala war, und sich inzwischen an die junge Reiterin gewöhnt. Er mochte ihre direkte Art und respektierte ihren Mut und ihre Fähigkeiten im Kampf. Außerdem schien sie ihn erstaunlich gut zu verstehen, obwohl sie keine Flüsterin war.

„Wenn er könnte, würde er mehr Zeit mit dir verbringen, glaub mir. Er ist momentan einfach im Stress. Nimm´s ihm nicht zu krumm, okay?“ Dankbar stieß Ohnezahn sie mit dem Kopf an und musste schwach schmunzeln. Sie verstand ihn wirklich erstaunlich gut. „Hicks hat wirklich Glück, dass du so geduldig mit ihm bist.

Ich weiß, wie schnell er sich in seiner Arbeit verlieren kann. Aber dafür verhätschelt er dich ja auch ständig.“ Sofort fing Astrid sich einen spielerischen Schlag mit dem Flügel gegen die Schulter ein und lachte wissend auf. „Na ist doch so.

Sturmpfeil und ich wollen noch eine Runde um die Insel drehen. Kommst du mit, oder willst du lieber weiter die Arena anstarren?“ Kurz zögerte Ohnezahn, doch dann schloss er sich den beiden an und ließ sich von ihnen zu einem kleinen Wettfliegen herausfordern.

Auch Astrid und Sturmpfeil hatten inzwischen Fortschritte im Flug gemacht und gaben sehr viel forderndere Gegner ab als noch zu Beginn. Sturmpfeil hatte in ihrer vollwertigen Drachengestalt keine Probleme mehr mit dem zusätzlichen Gewicht auf ihrem Rücken und Astrid hatte gelernt, wie sie ihre Körperhaltung verändern konnte, um ihrer Nadder schärfere Kurven und schnelle Flugmanöver zu ermöglichen.

Folglich musste Ohnezahn sich vollkommen auf ihren Wettstreit und das Fliegen konzentrieren, um nicht den doch noch den Anschluss zu verlieren.
 

Kontrolliert sog Hicks die Luft in seine Lungen und stieß sie wieder aus. Anfangs war er sich dämlich dabei vorgekommen, von Mala im Atmen unterrichtet zu werden, aber inzwischen hatte er gelernt, wie mächtig diese eigentlich simple Technik war.

Die Geschwindigkeit und Tiefe von Atemzügen konnte erheblichen Einfluss auf den ganzen Körper und vor allem den Geist nehmen, und diesen Einfluss bewusst steuern und einsetzen zu können, eröffnete für Hicks neue Ebenen seiner Fähigkeiten.

Seine Krallen funktionierten auf ganz ähnliche Art und Weise wie seine Flügel. Die schwarzen Schwingen brachen hervor, wenn Hicks Sehnsucht nach dem Himmel hatte oder große Angst seinen Fluchtreflex auslöste. Die Klauen regten sich ebenfalls durch bestimmte Emotionen, allerdings war es weder Angst noch Wut, die sie hervorkommen ließ, sondern sein Beschützerinstinkt.

Beim ersten Mal damals auf Berk wollte er Ohnezahn vor den Verbannten schützen und beim zweiten Mal hier auf Platon hatte er Astrid vor Malas Angriff bewahren wollen.

Wenn er sie also bewusst auch ohne unmittelbare Lebensgefahr wachrufen wollte, dann musste er sich mental in eine Situation versetzen, in der er jemanden beschützen wollte. Damit er das schnell und zuverlässig schaffte, absolvierte er täglich Konzentrationsübungen, praktizierte Atemtechniken und unterzog sich einem Kampftraining – alles unter Malas fachkundiger Anleitung.

Begleitet wurden Hicks' Teilverwandlungen meistens von stechenden Schmerzen und flachen Stacheln, die aus seinen Unterarmen und manchmal auch aus seinen Unterschenkeln erwuchsen. Anfangs hatte Hicks nichts mit diesen Stacheln anzufangen gewusst, doch inzwischen hatte er gelernt, dass sie ihm mehr Wendigkeit im Flug verschafften und er sie mit etwas Geschick als Schild gegen stumpfe Angriffe verwenden konnte.

An der Rückverwandlung scheiterte er allerdings nach wie vor. Ohne Ohnezahns Hilfe blieb er in seiner Teilverwandlung stecken, egal was er auch versuchte.
 

„Du bist schon ein außergewöhnlicher Fall“, stellte Mala mit einem schwer zu deutenden Gesichtsausdruck fest. „Kaum etwas an dir und deinem Nachtschatten scheint wie bei anderen Paratei-Paaren zu sein. Aber trotzdem funktioniert es für euch.“ Der Umstand, dass Hicks und Ohnezahn auf so anderem Wege Erfolg hatten, als sie es gewohnt war, wurmte Mala aus Gründen, die sie selbst nicht so recht benennen konnte.

Aber wie sagte Valka so gern? 'Anders ist nicht automatisch falsch, sondern oft nur eine Variante von richtig.'

„Also gut. Für heute sind wir fertig“, entließ Mala ihren sonderbaren Schüler aus ihrem strengen Training. Sofort sprang Hicks auf und klopfte sich den Staub von der Kleidung. „Gehst du wieder in die Schmiede?“

„Ja. Nur noch ein bisschen Feinschliff, dann ist meine Armschiene einsatzbereit.“

„Was genau soll diese neue Apparatur denn bewirken?“, gab Mala endlich ihrer Neugierde nach, aber versuchte dabei möglichst beiläufig zu klingen.

„Ich versuche eine Waffe zu bauen, die ich mit in die Luft nehmen kann, ohne dass sie mich beim Fliegen stört. Also hab ich eine Armschiene konstruiert, die ich entweder zu einem kleinen Rundschild oder einer Armbrust ausklappen kann.

Die Einzelteile der Jäger waren ziemlich hilfreich. Ihr Metall ist leicht und stabil, und ihre Bauteile klein und raffiniert. Sie müssen unglaublich begabte Schmiede und Erfinder haben.“

„Mit dem Reichtum, den sie sich aus dem Handel mit Drachen und deren Rohstoffen aneignen, können sie die besten Handwerker des Archipels anheuern, damit diese uns dann mit ihrer Kunst das Leben schwer machen und die Käfige und Truhen der Jäger weiter füllen.“

Hicks' anerkennendes Lächeln erstarb sofort. Er hatte sich der Bewunderung für die Arbeit anderer Tüftler hingegeben, ohne darüber nachzudenken, was deren Arbeit für die Bewohner Platons bedeutete.

„Tut mir leid. Du hast recht.“

„Nun, du erschaffst ja etwas Nützliches daraus, das uns helfen soll, Valka zu befreien und den Jägern in Zukunft ihre Machenschaften zu erschweren, also nimm es nicht zu schwer.

Aber achte bitte dennoch besser auf deine Wortwahl. Nicht Wenige hier haben durch die Jäger und ihre Waffen – für die du hier so bedenkenlos deine Bewunderung äußerst – schlimme Erfahrungen, Schmerzen und Verluste erlitten.

Mir macht das eher weniger aus, aber mir wurde bereits mehrfach gesagt, dass solche Aussagen verletzend sein können.“ Eine Kurze Pause folgte, dann war das Thema für Mala auch schon wieder erledigt. „Also dann. Ich erwarte, dass du morgen pünktlich bist.“

„Natürlich. Tut mir leid. Das werde ich.“ Betreten sah Hicks für einen Moment zu Boden. Manchmal ging sein Interesse einfach mit ihm durch. Allerdings war das auch nicht ganz allein seine Schuld.
 

„Ich bin ja ma ganz ehrlich mit dir, Junge. Als du halbe Portion hier zum ersten Mal in meiner Schmiede stand´st, dacht ich, du taugst nix.

Aber du hast echt n bisschen was auf´m Kasten. Das muss ich dir lass´n.“ Anerkennend klopfte der Bär von einem Mann Hicks auf die Schulter. „Die Meisten hier versteh´n nix vom Schmieden – besonders die Flüsterer nich – aber du hast Potenzial.“

Ein stolzes Grinsen huschte über Hicks' Lippen. Der grobschlächtige Schmied hatte sich seinerseits ebenfalls als wahres Universalgenie am Amboss entpuppt und glänzte durch vielerlei Talente – von der Eisenpfanne über raffinierte Rüstungselemente bis zu perfekt ausbalancierten Klingen konnte er nahezu alles schmieden. In diesem Punkt hatte er damals also nur geringfügig übertrieben.

„Aber sach mal, Bursche. Warum bist´n du dieses Mal mit den Dingern hier? Hätt´ dich fast mit deinem Nachtschatten verwechselt.“ Er deutete auf Hicks' Flügel und der zog sie reflexartig aus dessen Reichweite. Seit er von Alvin so grob an den Schwingen gepackt worden war, mied er es – ähnlich wie die Drachen-Hybride es taten – ganz instinktiv, sich dort anfassen zu lassen. Ohnezahn war selbstverständlich die einzige Ausnahme von dieser Regel.

„Ich bin etwas im Stress, darum kann ich sie allein nicht verbergen, und mein Paratei ist momentan irgendwo im Osten der Insel unterwegs.“ Der Schmied hob etwas verwirrt die Augenbrauen.

„Warum denn im Osten?“

„Keine Ahnung. Ich spüre ihn einfach in dieser Richtung.“

„Ihr Halbdrachen seid wirklich n seltsamer Hauf´n. Aber solange ich dabei helf´n kann, was gegen diese vermaledeiten Jäger zu machen, soll´s mir egal sein.“

„Du kannst die Jäger wohl auch nicht leiden.“ Die Miene des bärtigen Schmieds wurde finster.

„Kann man so sagen. Siehste den Dolch da?“ Er deutete auf ein wunderschönes Stück Schmiedekunst, das an einer Wand mit besonders gelungenen Arbeiten ausgestellt war. Die Klinge war klein und zierlich und wirkte völlig unpassend in der Sammlung. „Den hab ich für meine Tochter gemacht, als sie 6 Sommer alt war.

Er war das Einzige, was von ihr zurückblieb, nachdem die Jäger unsre Insel angesteuert und von ihr´m Zustand erfahr´n hatten. Wir ham´s damals für ne Krankheit gehalten und sie versteckt, doch irgendwer hat uns an die Jäger verkauft.

Ich kann demjenigen nich ma böse sein. Die Jäger haben behauptet es sei ansteck´nd und gefährlich.

Meinem klein´n Mädchen kann ich nicht mehr helf´n, aber ich werd nich tatenlos zuseh´n, wie die weitermach´n.“ Wut und Trauer mischten sich in der Stimme des gestandenen Mannes und im Licht des Schmiedeofens erkannte Hicks ein verräterisches Glänzen in dessen Augen.

Fahrig wischte er sich übers Gesicht und räusperte sich einmal. „Ja, also... Genug davon.

Mach deine Armschiene fertig, hol uns´re Valka zurück und gib diesen Jägern was se verdienen!“ Ein letztes Mal klopfte er Hicks auf die Schulter, dann wandte er sich eilig wieder seiner Arbeit zu.

Kurz sah Hicks ihm noch nach. Mala hatte recht. Er sollte wirklich von bewundernden Worten für die Ausrüstung der Jäger absehen, wenn er keine alten Wunden aufreißen wollte. Viele hatten vermutlich ähnliche Geschichten, die sie hierher gebracht hatten, und ähnliche Motive, die sie antrieben.

Er selbst und seine Freunde waren ja auch nicht zum Spaß hier.



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