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Dein rettendes Lachen

von

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Weihnachtsaufführung

Die Zeit verging wirklich wie im Flug. Durch die Physio machte ich schnell Fortschritte und konnte bald wieder Klavier spielen. Mein Vater ging wieder arbeiten und ich ging wieder in die Werkstatt, auch wenn ich nur leichte Arbeiten erledigen durfte. Wenn ich nicht in der Werkstatt oder bei Jaden war, verbrachte ich viel Zeit mit der Vorbereitung für die Weihnachtsaufführung. Zu diesem Anlass hatte ich Naomi gebeten, meinem Vater an diesem Abend keine Schicht einzutragen. Ich wollte ihn überraschen. Nach dem Tod meiner Mutter hatte ich das Klavier spielen aufgegeben und er war noch immer der Überzeugung, dass sich daran nichts geändert hatte.
 

~*~
 

Die Leute nahmen allmählich ihre Plätze ein und ich ließ den schweren Samtstoff des Vorhangs los, der die Sicht auf die Zuschauer wieder verbarg. „Im Prinzip war es dein Plan. Mal sehen, ob es funktioniert“ sagte ich. Wir standen hinter der Bühne. Jaden grinste optimistisch. „Wird schon schief gehen.“ Ich hatte eher ein schlechtes Gefühl. Ob das so eine gute Idee war? Vielleicht hätte ich es lassen sollen. „Hey, im schlimmsten Fall wird dein Vater vielleicht sauer sein und der Plan geht schief.“ Das entlockte mir ein kurzes Lachen. „Sehr aufbauend, danke.“ Auch er lachte kurz auf, gab mir einen flüchtigen Kuss und grinste. „Na dann!“ sagte er im Gehen, während er die Hand hob. „Hals- und Beinbruch!“ Mit diesen Worten verschwand er, um seinen Platz einzunehmen.
 

Belustigt schüttelte ich den Kopf und sah ihm nach. Doch mein Lächeln erstarb. Heute Morgen hatte ich noch gehofft der Plan funktioniert. Mittlerweile hoffte ich einfach nur, dass mein Vater es mir nicht übelnehmen würde. Wieder schob ich den Stoff des Vorhangs etwas beiseite, um auf die Zuschauer zu sehen. In der dritten Reihe entdeckte ich meinen Vater, der neben Jadens Eltern Platz genommen hatte. Jaden war auch bei seinen Eltern angekommen und setzte sich dazu. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. „Alles in Ordnung?“ hörte ich die Stimme von Alexis und ließ den Vorhang wieder los. Sie musterte mich besorgt. „Du siehst blass aus.“

Ich winkte ab. „Nein, schon gut. Ich bin nur nervös.“

Fragend zog sie eine Augenbraue nach oben. „Ernsthaft? Du spielst großartig, außerdem standest du doch schon auf einer Bühne.“ Ein sanftes Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. „Jetzt mal ehrlich. Das wird schon. Wir haben so viel geübt.“

„Hast recht“ antwortete ich und zwang mich zu einem Lächeln. Auch wenn es nicht der Auftritt war, weswegen ich so nervös wurde.
 

* Die Sicht von Hakase *
 

Noch einmal sah ich mich suchend um. Der Saal war bereits fast voll und noch immer war keine Spur von meinem Sohn zu sehen. Seit ich Naomi und ihren Mann in der Menge ausgemacht hatte, war er unauffindbar. Dabei wollte er doch unbedingt bei dem Auftritt von Alexis dabei sein. Das grelle Licht der Aula wurde gedimmt, sodass abgesehen von der Bühne nur die Gänge beleuchtet waren und die Gespräche um uns herum wurden gedämpfter. „Merkwürdig“ murmelte ich und sah zu Naomi. „Weißt du wo Yusei steckt?“

Sie lächelte amüsiert. „Sicher bei Jaden. Er wollte den anderen hinter der Bühne viel Glück wünschen. Aber er sollte sich langsam beeilen, die Vorstellung beginnt jeden Augenblick.“ Ehe ich etwas darauf erwidern konnte, sah sie an mir vorbei. Ich folgte ihrem Blick und entdeckte Jaden. Den einzelnen, leeren Stuhl neben mir ignorierend, schlängelte er sich an mir und seinen Eltern vorbei, um ebenfalls Platz zu nehmen. Wieder sah ich in die Richtung, aus der er kam, aber von meinem Sohn war noch immer nichts zu sehen. Langsam machte ich mir Sorgen. Wo könnte er nur stecken? Ob ich ihn suchen sollte? Aber selbst wenn ich losgehen würde, hätte ich keine Idee wo er sein könnte. „Mach dir keine Gedanken“ hörte ich wieder Naomis Stimme und sah in ihr zufriedenes Gesicht. „Bleib einfach hier und genieß die Vorstellung.“
 

Eine Bewegung zu meiner Rechten. Jemand streifte meinen Arm. Dann hat Yusei es doch rechtzeitig vor Beginn des Auftritts geschafft. Wenn auch nur knapp, denn der schwere Samtvorhang der Bühne bewegte sich zur Seite und gab langsam die Sicht dahinter Preis. Ich drehte mich zu ihm, doch entgegen meiner Erwartung, saß nicht mein Sohn neben mir. Meine Muskeln verspannten sich. Irritiert sah ich die Silhouette der Frau neben mir an, die mich keines Blickes würdigte. „Hallo Hakase“ sagte sie mit gedämpfter Stimme, den Blick weiterhin auf die Bühne gerichtet. Es dauerte einige Augenblicke, ehe ich mich wieder gefasst hatte. Ich verstand einfach nicht, warum ausgerechnet Kazuko sich die Vorstellung ansehen wollte. Noch dazu von dem Platz aus, den ich für Yusei freigehalten hatte. „Der Platz ist besetzt“ sagte ich kühl und ebenso leise. Was hat sie hier zu suchen? Einen Moment lang zog sie ehrlich irritiert die Stirn in Falten und sah mich an. Im Nächsten holte sie einen kleinen Zettel aus ihrer Handtasche, warf einen Blick darauf und zeigte ihn mir. „Yusei sagte, er würde mir genau diesen Platz freihalten.“ Ich warf einen kurzen Blick auf den Zettel. Reihe und Platz stimmten, aber sonst war hier kein Stuhl mehr frei.
 

„Ich muss dich enttäuschen, aber den Platz hatte ich für Yusei freigehalten, sobald er hier auftaucht.“ Ein verhaltenes Kichern neben mir. Das war Naomi. Die Gespräche um uns herum kamen zum Erliegen. Ich sah noch immer abwartend zu Kazuko, doch sie machte keinerlei Anstalten den Platz zu wechseln. Stattdessen verstaute sie den Zettel wieder in ihrer Tasche und sah mich überrascht an. Ihre Antwort war nur ein Flüstern. „Warum, um alles in der Welt, sollte Yusei bei den Zuschauern sitzen? Er ist dort vorn.“
 

Was? Mein Blick wanderte zur Bühne, über die Gruppe von Schülern, die mit ihren Instrumenten bereits an ihren Positionen waren, der hochgewachsenen, bebrillten Frau, die in diesem Moment das Mikrofon zur Hand nahm, bis zu dem Schüler am Klavier. Ich konnte es nicht fassen. Dort auf der kleinen Bank vor dem Klavier saß tatsächlich Yusei und warf mir einen kurzen Seitenblick zu, während die Frau am Mikrofon zu sprechen begann. „Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich freue mich, Sie zur Weinachtsaufführung unserer Schule willkommen zu heißen. Mein Name ist Fonda Fontaine. Im Laufe des Abends werden wir Ihnen einige Musikstücke präsentieren, die die Schüler der Jahrgänge zwei und drei einstudiert haben. Am Cello haben wir…“ Wieder sah ich zu Yusei, während seine Lehrerin die Schüler an den Instrumenten vorstellte. Wann hat er wieder begonnen, Klavier zu spielen? Nach Miakos Tod hatte er es doch aufgegeben, und ich hatte es damals ohne Nachfrage zur Kenntnis genommen. Ich konnte ihn verstehen. Seitdem stand das Klavier unangetastet in dem freien Raum im Obergeschoss. Warum hat er mir nichts davon erzählt? Und die nicht weniger interessante Frage war, warum ich scheinbar für Kazuko den Platz freihalten sollte. Anscheinend hatte er sich das ausgedacht, damit ich gezwungen war, den ganzen Abend neben ihr zu sitzen. Tja, der Plan geht wohl auf, aber darüber würde ich später noch mit ihm sprechen müssen. Auch wenn er sich noch so oft wünscht, Kazuko und ich würden miteinander auskommen können, muss ich ihn da wohl enttäuschen. Ich hatte es widerwillig hingenommen, dass er sie vor zwei Wochen über das Wochenende besucht hatte. Aufhalten konnte ich ihn nicht. Aber wenn er mich wieder überzeugen wollte mitzukommen, oder sie zu uns einzuladen, hatte ich mehr als deutlich klar gemacht, dass ich an diesen Treffen kein Interesse hatte. Und es machte mich schlichtweg wütend, dass er es wieder versuchte.
 

„Jetzt setz nicht so ein Gesicht auf“ holte mich eine leise Stimme wieder in die Realität und ich neigte meinen Kopf wieder zu Kazuko. Schlimm genug, dass ich gezwungen war in ihrer Nähe zu sein, wollte ich zumindest kein weiteres Gespräch mit ihr führen. „Yusei hat uns anscheinend beide nicht eingeweiht, aber sieh ihn dir mal an.“ Was meint sie? Wieder sah ich zu meinem Sohn. Es dauerte einen Augenblick, ehe ich wusste, was sie meinte. Yusei wirkte nervös. Er versuchte es zu verstecken, aber er warf mir immer wieder einen unauffälligen Seitenblick zu und wenn man ganz genau hinsah, konnte man erkennen, dass seine Finger mit dem Saum der Jacke seiner Schuluniform spielten. Es sah ihm nicht ähnlich auf der Bühne nervös zu sein. Schließlich war das bei weitem nicht sein erster Auftritt und er war dabei stets sehr souverän. Warum also wirkte er jetzt so verunsichert? Da erst spürte ich, wie meine Finger sich förmlich an den Stuhllehnen festklammerten. Wie sich mein Kiefer verspannte. Vielleicht war das der Grund, warum er so verunsichert wirkte. Ich seufzte lautlos und schloss die Augen. Ihm zuliebe sollte ich meine Abneigung gegenüber Kazuko zumindest heute runterschlucken und den Abend genießen. Immerhin freute ich mich wirklich, dass Yusei diesen wichtigen Teil seines Lebens nicht aufgegeben hatte. Vermutlich hatte er mir nichts davon erzählt, um mich zu überraschen. Das war ihm gelungen. In mehrerlei Hinsicht.
 

Die Zuschauer applaudierten und ich versuchte auszumachen warum, während ich automatisch ebenso in die Hände klatschte. Ich hatte nicht mehr auf das Geschehen auf der Bühne geachtet. Was war passiert? Die Frau steckte das Mikrofon in die dafür vorgesehene Halteeinrichtung und stieg zwei der Stufen, die von der Bühne zu den Zuschauern führten, hinunter, hinter einen Notenständer, drehte sich zu ihren Schülern und hob einen Taktstock an. Der Applaus erstarb und auch ich ließ meine Hände wieder sinken. Die Kinder machten sich bereit und das erste Stück begann.
 

Es war so schön zu sehen, wie Yusei von der ersten Note an wieder ganz in der Musik versank. Es waren nur Begleitakkorde, nichts Kompliziertes, aber es klang wundervoll und er wirkte wieder so entspannt. Friedlich. So sah ich ihn seit dem Umzug nur selten. Ich schmunzelte. Er war wieder ganz wie früher, wenn er spielte. Mir wurde ganz warm ums Herz. „Er ist ihr wirklich ähnlich“ hörte ich wieder Kazukos leise Stimme. Ich hatte Mühe sie durch die Musik zu verstehen und warf ihr einen kurzen Seitenblick zu. Ihre Augen waren auf die Bühne gerichtet. Ich nickte, auch wenn ich das Gefühl hatte, als würde sie eher mit sich selbst sprechen. In diesem Punkt musste ich ihr tatsächlich zustimmen. Er hatte viel von seiner Mutter.
 

„Deine Tochter hat eine wirklich schöne Stimme“ richtete ich mich in der Pause an Naomi.

„Ich weiß, und sie hat so viel Spaß dabei. Und Yusei spielt ganz wundervoll. Ich wusste zwar, dass er Klavier spielt, aber ich habe ihn vorher noch nie gehört.“

„Warst du eigentlich eingeweiht?“

Mit einem breiten Lächeln sah sie mich an. „Ja, er wollte dich überraschen. Deswegen habe ich dafür gesorgt, dass wir heute Abend beide Frei haben. Entschuldigst du mich kurz?“ Mit diesen Worten stand sie auf und schlängelte sich an mir vorbei, um die Aula zu verlassen.
 

Kurz sah ich ihr nach, doch mein Blick schweifte ungewollt zu Kazuko. Sie tippte auf ihrem Handy herum. Zu meiner linken unterhielten sich Makoto und Jaden angeregt miteinander. Unschlüssig saß ich auf meinem Platz und überlegte ebenfalls mein Telefon zur Hand zu nehmen, doch plötzlich hörte ich wieder Kazukos Stimme. „Ist dir das Ganze sehr unangenehm?“ Ich musterte sie überrascht. Ihr Blick war ernst. Dass sie das wirklich interessieren würde, hätte ich nicht gedacht. „Unangenehm trifft es nicht ganz. Ich war überrascht dich zu sehen. Aber selbst, wenn ich jetzt weiß, dass Yusei hier auftritt, hätte ich nicht gedacht, dass du deswegen extra aus Tokio kommst.“

„Hat er dir das nicht gesagt?“

Ich schüttelte den Kopf und sah wieder auf die geschlossenen Vorhänge der Bühne.

„Das ist nicht die erste Aufführung, die ich mir von ihm ansehe.“

Überrascht sah ich doch wieder zu ihr. „Was?“

„Hat dir Miako von den Briefen an mich erzählt?“

Ich nickte und betrachtete sie skeptisch.

„In einem schrieb sie von einem Wettbewerb, an dem Yusei teilnehmen wollte. Das war im letzten Jahr.“

„Du warst dabei?“

Sie nickte und lächelte zaghaft. „Die meisten Teilnehmer spielten ihre Stücke perfekt. Aber es waren ausnahmslos recht einfache, langweilige, eintönige Stücke, ohne Leidenschaft. Als ich Yusei spielen hörte, war ich ein wenig stolz. Er war einer der wenigen, die sich an etwas komplizierterem versuchten. Er hatte sich zwar einmal verspielt, aber es war meiner Ansicht nach dennoch der beste Auftritt des Abends. Nicht weil er technisch perfekt war, sondern weil Yusei Emotionen in dieses Stück legte. Leider reichte es nur für den zweiten Platz.“

„Er war sehr stolz auf seine Platzierung“ verbesserte ich sie. Immerhin traten an diesem Abend 30 Teilnehmer an, die im Vorfeld ausgewählt wurden.

„Ich sage ja nicht, dass es eine schlechte Leistung war. Wäre diese eine falsche Note nicht gewesen, hätte er an diesem Abend vermutlich das Stipendium für die Hochschule bekommen.“

„Das hat er doch“ sagte ich verwirrt. Hat Yusei gar nichts davon erzählt, als er bei ihr in Tokio war? Sie sah aus, als wolle sie etwas darauf erwidern, doch sie blieb still. „Ich bin überrascht, dass du da warst. Warum bist du nicht auf Miako zugegangen?“

Ihr Blick wurde wieder undurchdringlich. Sie straffte ihre Schultern. „Was hätte ich deiner Meinung nach sagen sollen? ‚Hallo Liebes, wir haben uns fast zwanzig Jahre lang nicht gesehen, wie geht es dir‘? Ich dachte einfach es war zu spät.“ Ihr Blick senkte sich. „Hätte ich gewusst, dass ich sie an diesem Tag zum letzten Mal sehe, hätte ich vielleicht anders gehandelt.“

Auch ich senkte den Blick, sah in die Ferne. Es hätte ihr viel bedeutet, wenn sie sich mit ihren Eltern hätte aussprechen können. „Du hättest schon früher auf sie zugehen können“ murmelte ich. „Schon vor dem Wettbewerb. Wären diese Briefe nicht, hättest du keine Ahnung gehabt, wie ihr Leben verlief.“ Ich sah wieder auf, musterte sie. „Warum hast du ihr nicht wenigstens geantwortet?“

Ihre Finger vergruben sich in das Leder ihrer kleinen Handtasche. „Ich kann die Vergangenheit nicht ändern“ sagte sie und sah mich ernst an. „Aber ich habe sie nie aus den Augen verloren. Wenn ich die Zeit hatte, war ich auf ihren Konzerten. Ich sah mir jeden noch so kleinen Artikel in der Zeitung über sie an. Verfolgte alle Interviews. Aber ich hatte Angst! Ich wusste einfach nicht, wie ich auf sie zugehen sollte!“
 

Das war der vermutlich erste Moment, in dem ich nicht das Gefühl hatte, dass sie mir etwas vorspielen würde. Ich traute ihr zwar noch immer nicht, aber ich glaubte ihr. Das Licht im Saal wurde wieder gedimmt. Verwundert sah ich mich um. Für einen Augenblick hatte ich ganz vergessen wo wir waren. Naomi schlüpfte wieder auf ihren Platz und sah mich an. „Habe ich was verpasst?“ Ich verneinte und sah wieder zur Bühne. Der Vorhang öffnete sich langsam. Die Gespräche um uns herum erstarben. Vielleicht hatte sie sich tatsächlich verändert. Wenn auch nur ein wenig. Auch wenn ich es nicht gutheiße, dass sie einfach in unserem Leben aufgetaucht war, konnte ich Yusei verstehen. Er sah sie als Teil der Familie. Aber… Wenn sie solche Angst vor dem Aufeinandertreffen mit ihrer Tochter hatte, warum dann der plötzliche Sinneswandel? Wegen Miakos Tod? Und warum ging sie auf Yusei in genau dem Moment zu, als er allein war? Wusste sie davon? Und wenn ja, woher?
 

Der Klang einer vertrauten Melodie riss mich aus meinen Gedanken. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor in der ich sie nicht gehört hatte. Es war wie ein Lied aus einem früheren Leben. Auf der Bühne sah ich nur Yusei am Klavier. Nur vage erkannte ich einige andere Schüler, die sich zu der Melodie bewegten. Wie lang hatte ich dieses Lied nicht mehr gehört? Ich schmunzelte. Bilder der Vergangenheit strömten auf mich ein. Mein kleiner Sohn, der fieberhaft versuchte dieses Lied zu lernen. Meine bezaubernde Frau, die ihn mit so viel Stolz beobachtete. So viele Abende, an denen wir einfach gemeinsam Zeit verbrachten, während sie etwas spielten. Ich konnte mich wirklich glücklich schätzen, ein so erfülltes Leben zu haben. Auch wenn du nicht mehr hier bist, mein Liebling, bist du wohl für immer bei uns. Unser Sohn hat das längst erkannt. Verzeih mir, dass ich es eine Weile vergessen habe.
 

Die letzten Klänge hallten durch den Raum und verebbten. In dem großen Saal herrschte eine geisterhafte Stille. Yusei öffnete seine Augen und sein Blick fiel auf meinen. Ein warmes Lächeln legte sich auf seine Lippen und plötzlich wurde die Stille von einem schallenden Applaus durchbrochen. Naomi stupste mich an und hielt mir ein Taschentuch hin. Kurz fragte ich mich nach dem Grund, als ich die vereinzelten Tränen in meinem Gesicht spürte. Ich nahm es dankend entgegen und sie lehnte sich ein kleines Stück zu mir. „Ihr habt während des Liedes übrigens beide den gleichen Gesichtsausdruck gehabt“ sagte sie schmunzelnd.
 

~*~
 

Nach der Aufführung lichteten sich die Reihen allmählig und wir warteten auf die Kinder, die hinter der Bühne noch mit den Aufräumarbeiten beschäftigt waren. Nach einiger Zeit tauchte Yusei auf, sah sich kurz um und kam sogleich auf uns zu, als er uns entdeckte. Auf halbem Weg wurde er allerdings von Jaden aufgehalten, der ihn freudig umarmte. Yusei sah immer so glücklich aus, wenn sie zusammen waren. Naomi lachte leise und auch ich musste grinsen. Langsam kam ich ihm entgegen und er sah mich an. „Das war großartig, mein Junge. Aber warum hast du mir in den letzten Wochen verheimlicht, dass du wieder angefangen hast zu spielen?“

„Ich wollte dich eben überraschen. Wärst du ins Gästezimmer gegangen, wäre allerdings alles aufgeflogen.“ Ich sah ihn fragend an. Sein Lächeln wurde breiter. „Ich hab doch gesagt, ich habe alles ausgepackt.“

„Hey!“ meldete sich Jaden zu Wort. „Papa meinte eben, wir könnten noch was Essen gehen. Wollt ihr auch mitkommen?“

Ich schmunzelte. „Sicher doch.“

„Bist du auch dabei?“ fragte Yusei und sah an mir vorbei. Schräg hinter mir stand Kazuko.

„Es ist schon recht spät“ setzte sie an, doch Jaden fiel ihr ins Wort.

„Ach bitte! Hier um die Ecke gibt es einen Italiener. Dort gibt’s die beste Pasta der Stadt!“

Ein dezentes Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. „Danke für die Einladung, aber ich sollte wirklich langsam gehen.“
 

„Hey, Yusei!“ hörten wir die Stimme von Alexis, die auf uns zu kam. „Sensei Fontaine will nochmal kurz mit dir reden.“ Fragend sah er sie an, nickte aber. Dann richtete er sich wieder an Kazuko. „Schade, dass du schon wieder losmusst. Sehen wir uns zum Neujahr?“

Ihr Blick wanderte zu mir. „Wenn du nichts dagegen hast?“

Auch Yusei sah mich hoffnungsvoll an. Ablehnen konnte ich schlecht, also seufzte ich innerlich und stimmte zu. Yuseis Gesicht erhellte sich.

„Wir gehen schonmal zum Auto“ schlug Naomi vor. „Wir treffen uns draußen. Jetzt solltest du aber wirklich langsam zu eurer Lehrerin, meinst du nicht, Yusei?“

„Oh, stimmt. Bis gleich“ sagte er mit einem Lächeln und verschwand.

„Haben wir noch was vor?“ fragte Alexis verwundert.

„Wir wollten noch essen gehen. Ist alles in Ordnung? Du bist ganz blass“ sagte Naomi und legte eine Hand an die Stirn ihrer Tochter.

Sie schob sie beiseite. „Ja, schon gut. Ich hab nur Kopfschmerzen.“

Kazuko trat einen Schritt auf sie zu. „Wenn du willst, habe ich eine Tablette dabei.“

„Das wäre wirklich nett.“
 

Kazuko nickte und kramte in ihrer Handtasche nach den Tabletten, während sie auf Alexis zuging. Als sie sie herausholte, fiel eine kleine Plastikdose zu Boden. Ich konnte das Etikett nicht sehen, aber darin befanden sich ebenfalls Tabletten. Naomi hob sie auf und betrachtete sie einen Augenblick lang. „Schilddrüse“ sagte Kazuko schnell und griff sich das Döschen. „In meinem Alter hat man schonmal das ein oder andere Wehwehchen.“ Naomi musterte sie unschlüssig und nickte. „Jetzt kommt schon“ drängte Jaden. „Ich hab riesen Hunger!“ Naomi seufzte und folgte ihrem Sohn.

„Jaden, benimm dich.“
 

Auf dem Weg zum Parkplatz sah ich zu Kazuko. Wir liefen am Ende unserer kleinen Gruppe. „Eine Frage hätte ich noch“ sagte ich. Sie musterte mich aufmerksam. „Warum jetzt?“

Fragend zog sie eine Augenbraue nach oben. „Was meinst du?“

„Nach all den Jahren. Warum tauchst du ausgerechnet jetzt auf?“

Sie richtete ihren Blick wieder nach vorn und schwieg einen Augenblick. „Ihr wart nicht die Einzigen, die um sie getrauert haben“ sagte sie schließlich und sah wieder zu mir. „Ich habe innerhalb kürzester Zeit meinen Mann und mein einziges Kind verloren. Dann kam mir der Gedanke, dass ich schon zu viel Zeit verschwendet habe. Wenn ich das Verhältnis zu meiner Tochter schon nicht wieder aufbauen konnte, wollte ich zumindest meinen Enkelsohn kennenlernen.“ Wir waren am Parkplatz angekommen. Zielgerichtet ging Kazuko auf ihr Fahrzeug zu, das nahe am Eingang parkte. „Warte“ sagte ich. Sie drehte sich noch einmal zu mir. „Woher hast du gewusst wo wir jetzt leben? Die neue Adresse hatte ich zu diesem Zeitpunkt nicht einmal meinen Freunden gegeben. Woher hattest du sie?“

Wieder legte sie ein kleines Lächeln auf. „Ich dachte du hättest nur noch eine Frage.“ Ich warf ihr einen finsteren Blick zu, doch sie ignorierte es. „Ich habe meine Mittel“ sagte sie und öffnete die Tür ihres Wagens. Als sie einstieg hatte sie noch immer dieses Lächeln im Gesicht. „Bis nächste Woche.“ Mit diesen Worten schlug sie die Tür ihres Wagens zu und fuhr davon. Ich sah ihr noch einen Augenblick nach. Was soll das bedeuten, sie hätte ihre Mittel?



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