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Dein rettendes Lachen

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Lieder, die darin vorkommen:
Little Drummer Boy
Zum Lied: https://www.youtube.com/watch?v=NzEX3QMuVPM Komplett anzeigen

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Alltag

Wir fuhren von der Autobahn runter und langsam zogen die mir so bekannten Gebäude an meinem Fenster vorbei. Es waren wirklich lange drei Tage und ich war froh wieder nach Hause zu kommen. Kurz bevor wir in unserer Wohngegend angekommen waren, durchbrach mein Vater die Stille, die über uns lag. „Yusei, ich würde vorschlagen, du bleibst erstmal bei uns. Du kannst bei dir natürlich erst ein paar Sachen holen, aber dann fahren wir zu uns nach Hause.“ Ich fand den Vorschlag nicht überraschend, schließlich ist er letzte Nacht einfach verschwunden und mein Vater machte sich vermutlich einfach nur Sorgen um ihn. Genauso wie ich.
 

„Ich muss noch auf Arbeit“ sagte Yusei plötzlich. Ich sah ihn überrascht an. Mit einer Antwort hatte ich nicht gerechnet. Schon gar nicht mit der.
 

Meinem Vater schien es genauso zu gehen. „Bist du sicher?“ fragte er verwirrt. „Ich meine, du bist sicher müde und dein Chef würde das verstehen.“ Yuseis Blick war weiterhin aus dem Fenster gerichtet. „Ich fange dienstags um vier an. Sam wartet bestimmt schon auf mich.“ Ich musterte ihn noch immer verwirrt. Es war mir völlig unverständlich, warum er jetzt daran dachte. Er ist nach der Gerichtsverhandlung komplett traumatisiert gewesen, ist in der Nacht darauf verschwunden, und saß dann stundenlang allein in der Kälte am Grab seiner Mutter. Außerdem hat er seit fast zwei Tagen nichts gegessen, und jetzt fällt ihm ein, dass er noch arbeiten muss?
 

„Na gut, wenn du das willst“ sagte mein Vater. Was? Er stieg darauf ein?! Warum um alles in der Welt stimmte er da zu? Was, wenn Yusei wieder verschwindet? „Ich mache dir folgenden Vorschlag“ sprach er weiter. „Wir fahren zu dir, du packst ein paar Sachen für die Schule morgen ein, und dann fahre ich dich zur Arbeit und hole dich später wieder ab, einverstanden?“ Yusei sah weiterhin aus dem Fenster. „Okay.“ Was war hier los?!
 

Seinem Plan folgend, setzte mein Vater Yusei zu Hause ab, ließ ihn ein paar Sachen packen, und dann fuhren wir zur Werkstatt. Er bat mich im Auto zu warten und ging mit Yusei zusammen in das Gebäude. Ich frage mich wirklich, was er vorhat. Er kann doch nicht so tun, als wäre die ganze Sache von heute Morgen nicht passiert. Ein paar Minuten später kam er wieder raus und stieg ins Auto. „Kannst du mir mal deinen Plan verraten?“ fragte ich, als wir losfuhren. „Welcher Plan denn?“ fragte er verwirrt. Ich seufzte genervt. „Warum du ihn hier wirklich abgesetzt hast. Was, wenn er wieder verschwindet? Er verhält sich doch total seltsam!“ Er lächelte plötzlich. Warum auch immer. „Keine Angst, ich habe mit seinem Chef gesprochen und ihm die Situation grob erklärt. Er versteht das und hat ein Auge auf ihn. Außerdem ist es ein gutes Zeichen, wenn er an seinem Alltag anknüpft. Zumindest ist es doch besser als ein Rückzug, meinst du nicht?“ Gut, dagegen konnte ich nichts sagen.
 

Zu Hause angekommen, begrüßte uns erst Alexis, dann meine Mutter, die gerade aus dem Wohnzimmer kam. Mein Vater gab ihr einen flüchtigen Kuss und verstaute seine Tasche. „Na schön“ begann sie. „Du hast mir zwar gesagt, dass Yusei in der Nacht verschwunden ist, aber wo ist er denn jetzt? Habt ihr ihn etwa allein zu Hause abgesetzt?“ Sie hob eine Augenbraue und hatte die Arme verschränkt. Das war ihre Art zu sagen ‚Wenn du mir jetzt die falsche Antwort gibst, dann gibt es Ärger‘. Mein Vater lächelte ihr sanft entgegen. „Nein, natürlich nicht. Er wollte unbedingt seine Schicht in der Werkstatt antreten. Ich hole ihn um acht ab, dann hat er Schluss. Sein Chef weiß Bescheid und hat ein Auge auf ihn.“ Ich schnaubte. Wie kam er denn auf den Gedanken, jetzt noch zur Arbeit zu müssen? Das geht mir immer noch nicht in den Kopf!
 

„Verstehe“ antwortete sie. Natürlich! SIE versteht das. Bin ich wirklich der Einzige, der das seltsam findet?! Aber auch meine Schwester schien verwirrt. „Also übernachtet er heute hier?“
 

„Ja“ antwortete mein Vater. „Zumindest so lange, bis es ihm wieder besser geht. Ich bin mir wegen seines Schlafplatzes aber noch recht unsicher.“ „Warum?“ fragte Alexis. „Ich meine damit nur, unsere Couch ist ziemlich bequem. Ich bin da doch auch schon oft drauf eingeschlafen.“
 

„Nein!“
 

Meine Eltern und Alexis sahen mich überrascht an. Das kann doch nicht wahr sein! Warum will denn keiner verstehen, dass er nicht allein sein sollte?! „Was, wenn er wieder verschwindet?“ fragte ich aufgebracht. „Er verhält sich doch im Moment total unberechenbar! Papa, du hast ihm doch den Vorschlag hier zu schlafen gemacht, damit jemand ein Auge auf ihn hat, oder?“ Ich sah meinen Vater entschlossen an. Er hat doch auch gemerkt, dass es eine schlechte Idee war, ihn unbeobachtet zu lassen.
 

„Jaden hat Recht.“ Überrascht sah ich zu meiner Mutter. „Wir haben doch noch das Klappbett auf dem Dachboden, Liebling. Dein Bruder hat sich damals auch nicht beschwert, dass es unbequem wäre, als er zu Besuch war.“
 

Mein Vater überlegte. „Ja, du hast schon Recht. Aber dann bleibt noch die Frage, wo er schläft.“ Er sah zu mir, doch er brauchte gar nicht erst fragen. Ich nickte. In meinem Zimmer war genug Platz.
 

Nachdem wir alles zurecht gemacht hatten, aßen wir Abendbrot. Ich wollte zwar warten, bis Yusei da wäre, aber meine Mutter sagte, es wäre vielleicht etwas zu viel für ihn. Ich wusste nicht, was sie damit meinte, aber ich stritt mich deswegen nicht mit ihr. Was so etwas angeht, hatte sie eigentlich meistens Recht. Kurz vor acht fuhr mein Vater los, um Yusei abzuholen. Meine Mutter bat mich oben in meinem Zimmer zu warten. Sie wollte noch einen Moment allein mit ihm sprechen.
 

Sie ließen sich wirklich Zeit. Nach einer halben Ewigkeit klopfte es an meiner Tür. „Ja?“ fragte ich zur Bestätigung, dass sie reinkommen können. Meine Mutter öffnete lächelnd die Tür und Yusei folgte ihr. Ich musterte ihn. Sein Blick war noch immer derselbe. Leer. Ausdruckslos. Er wirkte wahnsinnig erschöpft. „Das ist Jadens Zimmer“ begann meine Mutter. „Hier ist ein Bett für dich und zwei Türen weiter ist das Bad. Du kannst deine Tasche hier abstellen.“ Ich hatte keine Ahnung, ob Yusei ihr zugehört hatte, aber er nickte zaghaft und stellte seine Tasche auf das Klappbett. Dann verließ meine Mutter mein Zimmer mit den Worten: „Gute Nacht, ihr Beiden. Und du benimmst dich, mein Spatz.“ Was hat sie denn gedacht, was ich mache? Ihn ärgern?
 

Ich sah Yusei wieder an. Er kramte in seiner Tasche herum. „Ähm… du bist sicher müde, nicht?“ Er sah mich kurz an, antwortete aber nicht. Sein Blick war mir schon Antwort genug, denn er konnte die Augen kaum offen halten. Er holte eine kleine Tasche und Wechselsachen hervor und ging aus dem Zimmer. Kurze Zeit später kam er wieder rein, verstaute alles wieder in seiner Tasche und legte sich hin. „Gute Nacht“ sagte ich noch, ehe ich das Licht aus machte und selbst ins Bett ging. Auch ich war unglaublich müde. Aber statt gleich einzuschlafen, hörte ich seinem gleichmäßigen Atem zu. Ich wollte mich einfach vergewissern, dass er wirklich schlief. Wirklich einschlafen konnte ich selbst erst sehr spät. Immer wieder döste ich weg, schreckte aber schnell wieder hoch, um zu prüfen, ob er wirklich noch da war. Und jedes Mal stellte ich erleichtert fest, dass er friedlich neben mir schlief. Anscheinend hatte er zumindest keine Alpträume. Das war doch schon was. Aber irgendwann glitt auch ich in einen unruhigen Schlaf…
 

Ein bekanntes und nervtötendes Geräusch drang an mein Ohr. Mein Wecker. Nicht jetzt schon! Mein Gesicht hatte ich in mein Kissen vergraben und ich versuchte das verflixte Gerät blind auszustellen. Nur noch fünf Minuten! Endlich erwischte ich es und versuchte es auszustellen. Dabei zog ich es allerdings von meinem Nachttisch und im nächsten Moment spürte ich einen dumpfen Schmerz am Hinterkopf. „Argh! Verdammt!“ fluchte ich. Jetzt war ich wach. Und Yusei vermutlich auch. Den Kopf reibend, setzte ich mich auf und sah neben mich. Mein Herz setzte einen Schlag aus und ich riss die Augen erschrocken auf. Wann ist er denn aus meinem Zimmer verschwunden? Und vor allem wohin?!
 

Schnell schlug ich die Decke zur seine und rannte schon fast zu meiner Tür, um sie aufzureißen. Als ich jedoch auf den Gang lief, rannte ich gegen etwas. Oder besser gesagt jemanden. Ich wäre glatt vornübergekippt, hätte mein Gegenüber den Aufprall nicht abgefangen. Irgendjemand hielt mich an meinen Schultern fest. Als ich aufsah, blickte ich überrascht in diese tiefblauen Augen. Ihr Glanz war noch immer nicht wieder da, aber sie waren auch nicht mehr ganz so leer. Oder bildete ich mir das nur ein? „Yusei?“ Meine Wangen fingen wieder an zu glühen. Ich bin wirklich in ihn reingerannt. „Wo… Wo warst du denn?“ Er legte den Kopf ganz leicht schief, ehe er mir Antwortete. „Im Bad.“ Ich riss mich von dem Blau seiner Augen los und musterte ihn. Stimmt, er trug schon seine Schuluniform. Mit einem erleichterten Seufzen lehnte ich meinen Kopf gegen seine Brust. „Ich hab schon einen Schreck bekommen, als du weg warst.“
 

„Entschuldige.“
 

Wieder sah ich ihn an. Ging es ihm besser? Er ließ mich los und ging anschließend die Treppen nach unten. Ich sah ihm hinterher. Natürlich war er noch nicht wieder der Alte, aber das war doch schon ein Anfang, oder? Ich machte mich ebenfalls fertig und ging nach unten, wo mein Vater zusammen mit Yusei den Tisch deckte. Anscheinend sind sie eben fertig geworden. „Guten Morgen, Jaden“ begrüßte mich mein Vater zufrieden. „Setz dich, dann können wir anfangen. Deine Mutter ist schon zur Arbeit gefahren, aber Alexis kommt auch gleich.“
 

Ich nahm Platz und schielte zu Yusei, der sich neben mich setzte. Was auch immer ich vorhin in seinen Augen gesehen habe, jetzt war es wieder weg. Er saß nur stumm da und wartete. Auf was, das wusste ich nicht. Sein Blick war gesenkt und lag in der Ferne. Alexis setzte sich zu uns und wir fingen an zu essen. Bis auf Yusei. „Willst du nicht auch was essen?“ fragte ihn mein Vater. Er schien ihn schon wieder nicht zu hören, also stupste ich ihn kurz an. „Hm?“ Anscheinend riss ihn das aus seinen Gedanken. „Er hat gefragt, ob du nicht auch was essen willst, Yusei.“ Er nickte kurz und fing auch an, endlich etwas zu sich zu nehmen.
 

Nach dem Frühstück setzte mein Vater uns auf dem Weg zur Arbeit vor der Schule ab. Ich bat Alexis, ein Auge auf Yusei zu haben, schließlich wusste niemand, ob er nicht plötzlich wieder verschwinden würde. Es ging ihm noch immer nicht gut. Alexis sagte, ich solle mir keine Sorgen machen und lächelte. Normalerweise teilte ich ihren Optimismus, aber ich hatte das Gefühl noch nicht vergessen, als er plötzlich unauffindbar war. Diese Angst, ob ihm etwas passiert wäre.
 

* Die Sicht von Alexis *
 

In der ersten Stunde hatten wir Musik. Wie jeden Mittwoch. Yusei setzte sich, wie immer, auf seinen Platz etwas abseits von den anderen Schülern. Direkt neben Aki, die augenscheinlich versuchte, ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Aber natürlich klappte das nicht, denn er war wieder in seiner eigenen Welt. Sensei Fontaine betrat den Raum und alle Schüler verstummten allmählig.
 

Die Weihnachtsaufführung rückte näher und wir sollten zu diesem Anlass fünf Musikstücke einstudieren und aufführen. Wir hatten uns in mehrere Gruppen aufgeteilt. Chorsänger, Streicher, Bläser und die Technik. Die Solisten übten mit Sensei Fontaine an ihrem Klavier. Und wie jeden Mittwoch hatte ich angenommen, dass Yusei nach der kurzen Anwesenheitsprüfung und der darauffolgenden Ansprache von Sensei Fontaine zu Mizuki und Daichi gehen würde, die für die Technik verantwortlich waren. Aber stattdessen beendete unsere Lehrerin ihre Ansprache mit dem Satz: „Ach, und noch etwas. Da ich während der Aufführung dirigieren muss, wird Fudo-kun mich am Klavier ablösen. Jetzt stellt euch für das erste Musikstück auf.“
 

Nicht nur ich sah unseren schwarzhaarigen Mitschüler überrascht an. Er spielt also wirklich noch? Wann hat er das denn mit Sensei Fontaine abgesprochen? Er ignorierte die neugierigen Blicke und starrte nur ins Leere. Ob er unsere Lehrerin überhaupt gehört hat? Was ist nur mit ihm los? Wir stellten uns alle für das erste Lied auf und im Augenwinkel konnte ich erkennen, dass Sensei Fontaine zu Yusei ging, um mit ihm zu reden. Kurz darauf ging er auf das Klavier zu. Als wir alle an unseren Plätzen waren, beobachteten einige Schüler ihn neugierig. Wir waren gespannt darauf, ob er wirklich spielen kann.
 

Ein Junge aus dem zweiten Jahrgang spielte das Lied ‚Little Drummer Boy‘ auf dem Schlagzeug an, dann stimmten die beiden Cellisten ein. Als nächstes folgten die Chorsänger und dann begann Yusei damit, sie auf dem Klavier zu begleiten. Tatsächlich. Er konnte noch immer spielen. Aki stand neben mir und beobachtete ihn verträumt. Ich stupste sie mit dem Ellbogen an, denn eigentlich sollte sie auch mitsingen. Schnell riss sie sich aus ihrem Tagtraum und stimmte mit ein. Ich versuchte mir ein Kichern zu verkneifen, dabei verpasste ich fast meinen Einsatz. Ich und Kurochi, ein Junge aus der 3B, waren die beiden Solisten in diesem Stück.
 

Nach dem Lied hatten wir eine kurze Pause und Aki huschte an mir vorbei, zu Yusei, der immer noch am Klavier saß. Regungslos. Ich seufzte und ging ebenfalls auf die beiden zu. „Das war toll, Yusei!“ sagte Aki ganz aufgeregt. „Ich wusste gar nicht, dass du immer noch Klavier spielst.“ Keine Reaktion. „Hallo, Erde an Yusei“ sagte sie während sie mit ihrer Hand vor seinem Gesicht rumwedelte. „Hm?“ Endlich reagierte er und sah Aki ausdruckslos an. „Kannst du noch etwas spielen?“ fragte sie dann mit einem Lächeln. Ich sah sie genervt an. „Jetzt bedräng ihn doch nicht so, schließlich-“ Aber weiter kam ich gar nicht. Yusei spielte tatsächlich ein Lied an. Irgendwoher kannte ich es, aber ich kam nicht drauf. Die Melodie war wunderschön und ich bekam eine leichte Gänsehaut. Die Geräusche um uns herum erstarben.
 

Plötzlich stoppte die Musik und Yusei hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den Kopf und stöhnte leise auf. „Was ist denn los?“ fragte ich besorgt. Er schüttelte nur den Kopf. Keine Ahnung ob er mir damit antworten wollte, oder ob er den Schmerz dadurch abzuschütteln versuchte. Langsam entspannte sich sein Gesicht wieder und er nahm die Hand herunter. „Das klang wirklich gut, wir könnten das Lied mit einbauen“ sagte Sensei Fontaine, die plötzlich hinter uns auftauchte und zufrieden lächelte. „Hast du die Noten dafür zu Hause?“ Yusei starrte wieder nur auf die Tasten. Es dauerte etwas, ehe er mit einem leisen „Ja“ antwortete. Sie nickte zufrieden und bat ihn, die Noten morgen mitzubringen.
 

Nach dem Pausenklingeln unterhielt ich mich noch mit Aki und Mizuki, die wissen wollten, was denn mit Yusei los sei. Aber ich wusste es doch auch nicht wirklich. Meine Mutter hatte mir zwar von dem Unfall und der Verhandlung erzählt, weswegen er zusammen mit meinem Vater und meinem Bruder nach Osaka gefahren ist, aber mehr wusste ich auch nicht. Und das konnte und wollte ich ihnen auch nicht sagen.
 

„Mal was anderes“ sagte Aki. „Das Lied, was er vorhin gespielt hat. War das nicht das aus dem Video?“ Ich sah sie verwirrt an. Ganz folgen konnte ich ihr nicht. „Hm? Welches Video?“ Sie rollte mit den Augen. „Wie viele Videos kennen wir beide denn, in denen er Klavier spielt?“ Ach darauf wollte sie hinaus. Stimmt, jetzt wo ich darüber nachdenke. Es war wirklich dasselbe Lied.
 

„Wo steckt er eigentlich?“ fragte Mizuki plötzlich. „Was?“ ich sah mich um. Eben war er doch noch hier. Oh nein! Jaden sagte doch, ich soll ein Auge auf ihn haben, weil er in Osaka auch plötzlich verschwunden ist! Wo zum Teufel steckt er denn?! Ganz ruhig, Alexis. Denk nach. Wir haben jetzt eine Freistunde. Wo ist er denn sonst immer so? Am Spielfeld.
 

Die frische Herbstluft wehte unangenehm kalt die Blätter von den Bäumen, aber der Himmel war ganz klar. Nach einer halben Stunde hatte ich sowohl die Tribünen, als auch den Rest des Außengeländes abgesucht. Von Yusei war keine Spur. Wo könnte er denn sonst noch stecken? Er hatte doch Kopfschmerzen. Vielleicht ist er auf die Krankenstation gegangen. Ich setzte mich in Bewegung. Als ich angekommen war, fragte ich Martha ob sie Yusei gesehen hätte. „Nein, tut mir leid. Hier ist er nicht. Ich habe nur ein Mädchen mit einem Schwindelanfall da hinten im Bett liegen, sonst habe ich heute noch niemanden gesehen.“ Ich seufzte verzweifelt und bedankte mich. Ziellos schlenderte ich durch die Gänge. Wo könnte er denn sonst noch stecken? Nicht, dass er vielleicht doch wieder irgendwo hin verschwunden ist.
 

Meine Beine trugen mich durch das Schulhaus, während ich überlegte, wo er stecken könnte und schließlich stand ich vor der Bibliothek. Stimmt. Hier hielt er sich auch manchmal auf. Ich ging an den Regalreihen mit den zahllosen Büchern vorbei und hielt nach ihm Ausschau. Schließlich entdeckte ich ihn bei den Tischen im hinteren Teil. Er brütete über einem Blatt Papier und schien etwas zu schreiben. Erleichtert atmete ich auf. Ich glaube, Jaden hätte mir den Kopf abgerissen, wenn er wieder verschwunden wäre. Jetzt, wo ich so darüber nachdenke… Er macht sich wirklich verdammt viele Sorgen um ihn. Normalerweise ist er eher gelassen und zuversichtlich. Das ist oft ziemlich nervig. Aber bei Yusei verhält er sich anders. Naja, hat vermutlich einfach mit dem Chaos von gestern zu tun.
 

„Hey, ich habe dich schon gesucht. Warst du die ganze Zeit hier?“ fragte ich, als ich bei ihm angekommen war. Keine Reaktion. Warum ignoriert er mich eigentlich schon den ganzen Tag? Genervt stützte ich mir die Hände in die Hüfte. „Yusei? Ich rede mit dir!“ Wieder keine Antwort. Also ehrlich! Ich will ihm doch auch nur helfen. Schließlich mache ich mir genauso Sorgen.
 

Dann sah ich auf den Zettel auf dem Tisch, der anscheinend seine gesamte Aufmerksamkeit einnahm. Verwundert stützte ich mich am Tisch ab und sah das Blatt Papier genauer an. Er schrieb fein säuberlich einige Noten auf. Neben ihm lag bereits ein kleiner Stapel beschriebener Blätter. Plötzlich zog er die Augenbrauen zusammen, spannte seinen Kiefer an und rieb sich mit den Fingern seiner linken Hand seine Nasenwurzel. Die Augen hatte er zusammengekniffen. Es sah aus, als hätte er wieder schmerzen. „Alles in Ordnung? Vielleicht solltest du mal auf die Krankenstation.“ Wieder schüttelte er langsam den Kopf. Es war wie im Musikunterricht. Nach kurzer Zeit entspannte sich sein Gesicht wieder, und er sah komplett ausdruckslos aus. Dann widmete er sich wieder den Blättern vor ihm. Hat er überhaupt mitbekommen, dass ich neben ihm stehe?
 

Die Schulklingel läutete zum Ende unserer Freistunde und Yusei packte seine Sachen zusammen. Als er aufstand, sah er mich an. Verdutzt erwiderte ich seinen Blick. Ich glaube, das war das erste Mal, seit er wieder zurück ist, dass er mich direkt ansah. Doch dann ging er einfach an mir vorbei, Richtung Klassenzimmer, und ließ mich hier stehen.
 

Als ich selbst das Zimmer betrat, sah ich ihn auf seinem Platz am Fenster. Er starrte nur hinaus und ignorierte auch den Rest unserer Mitschüler. Crow fragte mich schon, was mit ihm los sei, aber ich schüttelte lediglich den Kopf. Ich hatte doch auch keine Ahnung. Mein Platz war in der ersten Reihe, recht nah an der Wand. Im Unterricht drehte ich ab und zu meinen Kopf leicht zu ihm. Es sah nicht wirklich so aus, als würde er dem Unterricht folgen. Die meiste Zeit war sein Blick aus dem Fenster gerichtet. Aber als Sensei Flannigan ihn im Physikunterricht aufrief, weil er wieder aus dem Fenster sah, konnte er ihre Frage beantworten. Etwas ähnliches passierte auch in Geschichte bei Sensei Banner. Ich hätte schwören können, er würde gar nicht zuhören, aber er konnte jede Frage beantworten, die ihm gestellt wurde.
 

Als es endlich zur Mittagspause klingelte, gingen wir, wie üblich, zu unserem Platz auf den Tribünen. Yusei folgte uns wortlos.
 

* Die Sicht von Jaden *
 

In meiner Klasse wurde ich von Jim und Daichi gefragt, ob es mir wieder besser gehen würde. Im ersten Moment war ich etwas verwirrt, aber Alexis muss ihnen gesagt haben, ich wäre in den letzten zwei Tagen krank gewesen. Ich bestätigte ihnen einfach, dass ich wieder topfit wäre. Der Unterricht war wirklich unsagbar langweilig, so wie immer. Ich sehnte nur das Klingeln zur Mittagspause herbei und lief dann zu unserem üblichen Treffpunkt.
 

Ich war der letzte, der dazu kam. Jack, Crow, Alexis und Yusei waren schon da, und Carly und Aki kamen kurz vor mir an. Als ich dazu stieß, begrüßten mich alle und fragten ebenfalls, ob ich wieder fit wäre. Alexis lächelte nur leicht. Ob sie sich wohl auch eine Ausrede für Yusei einfallen lassen hat? „Hey Yusei, wie war es eigentlich in Osaka? Was hast du da überhaupt gemacht?“ fragte Crow plötzlich. Mein Herz sackte mir in die Hose. Ich sah Alexis scharf an, aber sie wich meinem Blick aus. Hat sie ihnen ernsthaft die Wahrheit gesagt?! „Ich habe ein paar alte Freunde besucht“ antwortete Yusei nur und holte sein Mittagessen aus der Tasche. „Krass. Und dafür haben dich deine Eltern zwei Tage von der Schule befreit?“ Oh je, ich sollte das Thema schnell wechseln!
 

„Hey Jungs, am Sonntag ist übrigens das nächste Spiel. Wir sollten uns ranhalten. Wir haben bis dahin nur noch zwei Trainingseinheiten!“

Crow sah mich mürrisch an. „Ja, ja, schon gut. Wir sind in verdammt guter Form, Jaden. Das wird schon klappen.“

„Mit der Einstellung können wir gleich aufgeben“ sagte Jack und sah seinen Freund herausfordernd an.

„Ts. Ach komm schon! Natürlich strenge ich mich bei Training an, aber ich hab doch recht!“

„Das ist eure letzte Chance, um in die Regionalmeisterschaft aufgenommen zu werden, oder?“ fragte Carly.

Jack nickte.

„Ihr schafft das schon. Ihr habt euch so angestrengt!“ sagte Aki fröhlich.

Crow fühlte sich eindeutig bestätigt und verschränkte grinsend die Arme vor der Brust. „Mein Reden!“
 

Die restliche Pause unterhielten wir uns über das kommende Spiel und den Unterricht. Yusei saß nur teilnahmslos dabei. Als es Zeit wurde in das Schulgebäude zurück zu gehen, nahm ich Alexis kurz beiseite, sodass wir mit etwas Abstand hinter den anderen liefen. „Ist das dein Ernst?“ fragte ich leise, aber aufgebracht. „Du hast ihnen erzählt, dass er in Osaka war?“ Sie funkelte mich wütend an. „Ja, aber ich habe nur gesagt, dass er dort einen Termin in seiner alten Schule hätte. Fändest du es nicht etwas auffällig, wenn ihr zur selben Zeit krank geworden und genesen wärt?!“ Damit nahm sie mir etwas den Wind aus den Segeln. Ich wusste, sie hatte recht, aber hätte sie sich nicht irgendetwas anderes ausdenken können?
 

Der restliche Unterricht zog sich wie Kaugummi und ich freute mich schon wahnsinnig auf das Training. Ich war nicht sicher, wie Yusei spielen würde. Oder wie er es schaffen sollte die anderen zu trainieren, wenn er so drauf war. Man hatte noch immer den Eindruck, als würde er vollkommen apathisch durch den Tag wandern. Jack und Crow hatten schon aufgegeben mit Yusei darüber sprechen zu wollen. Stattdessen fragten sie mich aus. Ich erzählte ihnen aber, dass es nicht meine Entscheidung wäre es ihnen anzuvertrauen. Und, dass es ihm bestimmt bald besser gehen würde. In Gedanken fügte ich allerdings ein ‚Hoffentlich‘ hinzu.
 

Erstaunlicherweise lief das Training relativ normal ab. Klar, Yusei zeigte noch immer keine Gefühlsregung, aber er trainierte unsere Mannschaft, ließ uns einige Übungen durchlaufen, und spielte auch beim Übungsspiel mit. Und das wirklich gut.
 

Zuhause angekommen, machte ich mich frisch und setzte mich anschließend an meine Hausaufgaben. Dieses Mal im Esszimmer, denn Alexis wollte mir in Mathematik helfen. Wir hatten ein neues Thema angefangen, aber ganz dahinter gestiegen bin ich noch nicht. „Wo ist eigentlich Yusei? Der hat doch auch mehr als genug Hausaufgaben auf“ fragte sie.
 

„Der duscht noch. Er hat gesagt, er kommt nach. Aber sag mal… Hat er sich heute ungewöhnlich verhalten?“

Sie zog eine Augenbraue nach oben. „Du meinst ungewöhnlicher, als sonst auch in letzter Zeit? Nein. Obwohl…“ sie dachte nach und ich wartete gespannt. „Wusstest du, dass er Klavier spielt?“

Ich blinzelte sie überrascht an. „Ja, warum?“

„Naja, Sensei Fontaine meinte, er würde sie für die Weihnachtsaufführung am Klavier ablösen.“

„Das ist doch toll!“ sagte ich fröhlich. Irgendwie hatte ich Angst, er würde es wieder aufgeben wollen. Ich hatte das Gefühl, als wolle sie noch etwas sagen, aber sie beließ es dabei und wir widmeten uns wieder den Matheaufgaben. Meine Mutter betrat den Raum, begrüßte uns herzlich und wuselte dann in der angrenzenden Küche herum.
 

Yusei kam zu uns, mit zwei Heften, einem Geschichtsbuch und einigen Stiften beladen, setzte sich neben mich und schlug still seine Geschichtshausaufgaben auf. Ich widmete mich wieder meinen Matheaufgaben. Ich hatte ja in etwa verstanden, was mir Alexis eben erklärt hatte, aber die Lösung wollte trotzdem nicht hinhauen! Ich gab ein leises Knurren von mir und suchte nach irgendeinem Fehler, den ich gemacht haben könnte, aber ich fand einfach keinen. Ich hatte doch alles so gemacht, wie Alexis gesagt hatte!
 

„Du hast einen Umrechnungsfehler gemacht“ sagte Yusei neben mir plötzlich leise. Überrascht sah ich ihn an. Er hatte das Buch geschlossen und sah meine Aufgaben durch. Ist er schon fertig mit Geschichte? Alexis hing doch auch immer noch dran, und sie hat eher angefangen als er. Sein Finger zeigte zu der Stelle, an dem ich den Fehler anscheinend gemacht habe. „Du musst hier in Millimetern rechnen, nicht Zentimetern, sonst verfälschst du das Ergebnis.“ Hm. Ergibt Sinn. Das hatte ich gar nicht bemerkt. „Danke“ sagte ich grinsend.
 

Er deutete ein Nicken an und schlug das nächste Heft vor ihm auf. Aus diesem holte er einige Zettel und begann irgendwas zu schreiben. Ich lächelte vor mich hin. So ganz abgeschottet hatte er sich nicht, wie ich anfangs noch dachte. Das beruhigte mich. Eine Weile arbeiteten wir still vor uns hin. Alexis war auch irgendwann fertig mit ihren Aufgaben und half mir wieder, doch jetzt verstand ich alles. Ein leiser Schmerzenslaut ließ mich aufblicken. Yusei hielt sich die Hände an die Schläfen und massierte sie. Sein Gesicht konnte ich nicht sehen. „Hast du wieder Kopfschmerzen?“ fragte Alexis besorgt. Was, wieder? Hatte er das heute schonmal?
 

„Alles in Ordnung?“ fragte meine Mutter, die gerade aus der Küche kam.

Alexis drehte sich zu ihr. „Das ist heute schon das dritte Mal, dass er plötzlich solche Kopfschmerzen bekommt.“

„Und wann war das immer?“ fragte meine Mutter nach. Auch sie schien besorgt zu sein.

„Hm. Das erste Mal im Musikunterricht, als er Klavier gespielt hat, dann in der Bibliothek, als er irgendwelche Noten geschrieben hat.“ Alexis sah zu Yusei, der noch immer regungslos dasaß, und dann zu den Blättern vor ihm. „Genau die“ fügte sie hinzu und deutete auf die Zettel vor Yusei.
 

Auch mein Blick wanderte zu ihnen. Es waren Notenblätter. Das hatte er wohl gerade die ganze Zeit geschrieben. „Verstehe“ sagte meine Mutter und musterte Yusei besorgt. Doch er schien sich wieder gefangen zu haben, denn er ließ die Hände wieder sinken. Sein Blick war wieder so leer. Was hat das zu bedeuten? „Was schreibst du da eigentlich auf?“ fragte ich und versuchte ihn so aus seiner Trance zu holen. Es schien geklappt zu haben. Zumindest sah er mich wieder an, aber ganz gehört hatte er meine Frage wohl nicht. „Was sind das für Noten?“ fragte ich ihn deshalb noch einmal.
 

Er sah zu dem kleinen Papierstapel vor ihm. „Das ist das Lied von meiner Mutter“ sagte er leise. „Sensei Fontaine wollte die Noten dafür haben, aber ich will ihr die Originale nicht mitgeben.“
 

„Und da hast du sie nochmal von Hand geschrieben?“ fragte Alexis erstaunt. „Hast du das aus dem Kopf gemacht?“ Yusei nickte und schob die Blätter ordentlich zusammen, um sie in seinem Heft zu verstauen. „Ich lege mich kurz hin“ sagte er und stand auf. Als er nach oben ging, rief Alexis ihm noch „Gute Besserung“ hinterher und verschwand dann ebenfalls in ihrem Zimmer.
 

Ich sah besorgt auf mein Heft. Ob diese Kopfschmerzen etwas mit dem Lied zu tun hatten? Oder war das nur ein Zufall und er hatte einfach Migräne*? Meine Mutter riss mich aus meinen Gedanken und wuschelte mir durch die Haare. „Mach dir keine Sorgen, mein Spatz. Nur wegen Kopfschmerzen, würde ich mir keine Gedanken machen. Vielleicht ist es nur das Wetter.“ Ich sah sie an, doch ich wusste, auch sie machte sich Sorgen.
 

In den nächsten Tagen besserte Yuseis Zustand sich nicht wirklich. Zumindest sein Seelischer. Er schlief in den Nächten normal und hatte, soweit ich das mitbekommen hatte, auch keine Alpträume mehr. Zu den Mahlzeiten aß er normal, manchmal auch erst nach Aufforderung, und so wie mir Alexis erzählt hatte, verfolgte er auch den Unterricht. Alles in allem wäre das nicht besorgniserregend, aber er verhielt sich irgendwie wie eine Maschine. Er sprach nur, wenn man ihm eine Frage stellte, sonst war er still und sein Blick lag die meiste Zeit des Tages in der Ferne.
 

Ich weiß nicht wie ich es beschreiben sollte. Er funktionierte einfach nur noch.


Nachwort zu diesem Kapitel:
* Ich weise noch mal darauf hin, dass Yusei das mit der Migräne ganz am Anfang nur erfunden hat und Jaden das wirklich immer noch glaubt :D Komplett anzeigen

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