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Centuries

von

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Kapitel 11

„Was willst du von uns?“

 

„Was ich von dir will, wirst du noch früh genug herausfinden, und was ich mit deinem kleinen Dieb hier vorhabe … tja, Rache ist wohl das akkurateste Wort dafür. Und glaub mir, ich werde jede Sekunde seines Leidens in vollen Zügen genießen.“

 

„Mistkerl.“

 

„Hüte deine Zunge! Hast du etwa vergessen, dass du deinem Ehegatten ewige Treue und Gehorsam geschworen hast? Wenn ich dich erst einmal von dieser unpassenden Hülle befreit habe, wirst du endlich wieder mein sein.“

 

„Argh, lass mich, fass mich nicht an!“

 

‚Oh Himmel nein, der Fürst … das kann nicht wahr sein.‘

Zero erkannte diese schnarrende Stimme, die Ekel und Furcht in ihm hochsteigen ließ. Sein Schädel explodierte in einem Schauer aus Farben und Schmerzen, als er versuchte, seine Augen zu öffnen. Zu seiner Rechten klirrte und schabte es, als würden sich Ketten über Stein bewegen, und Karyus angewidertes Keuchen ließ seinen Magen rumoren.

„Nimm deine Griffel von ihm“, nuschelte er mit schwerer Zunge und konnte kaum den Kopf heben, noch wirklich erkennen, was sich direkt vor ihm abspielte. Generell hatte er Schwierigkeiten, zu verstehen, wo er sich befand und was überhaupt geschehen war. Oh Gott, sein Kopf; wenn er nur nicht so schmerzen würde, könnte er sicher einen klaren Gedanken fassen.

 

„Ah, endlich. Ich dachte schon, du würdest gar nicht mehr aufwachen und das Beste verpassen.“

 

„Zero!“

 

Er schluckte gegen die Galle an, die in seine Kehle stieg. Karyu klang so verzweifelt. Was war nur geschehen? Er erinnerte sich an die Gesichtslosen, die seine Liebe gepackt hatten, an das Portal, durch das er gefallen war und daran, dass Hizumi noch versucht hatte, ihnen hinterherzukommen. Und dann? Sein Handgelenk hatte geschmerzt, er hatte den Umriss eines Engels eingebrannt in seine Haut bemerkt und wollte sich auf den Weg machen, Karyu zu suchen, als …

‚Ich muss niedergeschlagen worden sein‘, vermutete er und ein stechender Schmerz am Hinterkopf bestätigte seine Theorie.

‚Wie lange war ich ohnmächtig?‘

Zero hatte so sehr gehofft, seine Träume vom Fürsten wären nichts weiter als eine Art Manifestation seiner Angst vor dem Ungewissen gewesen, das Karyu und ihn bedrohte, aber das war eine grobe Fehleinschätzung.

‚Oh Gott, was hat dieser rachsüchtige Albtraum Karyu angetan, während ich außer Gefecht gesetzt war?‘

Eines schwor er sich, wenn der Fürst seiner Liebe auch nur ein Haar gekrümmt hatte, würde er ihm das büßen.

 

„Zero, sag doch etwas.“

 

„Es ist alles gut“, murmelte er schwerfällig, untermalt vom hämischen Lachen des Fürsten.

 

„Wie rührend.“

 

Erneut blinzelte er angestrengt, bis seine Umgebung endlich in den Fokus seiner Wahrnehmung rückte. Er kniete auf einem Boden aus schwarz-weißen Marmorplatten, die ihn entfernt an ein überdimensioniertes Schachbrett erinnerten. Die Decke war so hoch, dass er ihr Ende nicht erkennen konnte, welches sich in dunkle Schatten hüllte. Als wären sie im Freien, aber der Geruch nach Feuchtigkeit und Moder ließ ihn eher an ein Kellergewölbe denken. Von seiner Position aus konnte er keine Fenster oder sonstige Lichtquellen ausmachen, trotzdem wurde der Raum von einem unheimlich gelblichgrünen Schein erhellt, der von den Wänden selbst zu kommen schien.

Auf einer erhöhten Plattform ruhte ein wuchtiger Block aus schwarzem Stein, der über und über mit Schriftzeichen und Symbolen verziert war. Zero erkannte ein Uroboros – eine Schlange, die sich selbst in den Schwanz biss – daneben ein Pentagramm, ein Kreuz, einen neunarmigen Leuchter, ein Sonnenrad und so vieles mehr, als hätte sich der Erschaffer dieses Altars an allen spirituellen Symbolen der Welt bedient. Trotz der zahllosen Dinge, die es auf dem Monolithen zu entdecken gab, hielt er sein Interesse nur für Sekunden, denn eine große, bullige Gestalt unweit davon ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Der Fürst. Tatsächlich, er war es. Zero schluckte, als er bemerkte, dass sich das verhasste Gesicht trotz der Jahrhunderte kein bisschen verändert hatte. Mit einem grausamen Grinsen auf den Lippen stand er dort und neben ihm …

 

„Karyu“, hauchte er und durch sein Herz schnitt ein so unerträglicher Schmerz, dass ihm erneut die Sinne zu schwinden drohten. Karyus Hände und Füße waren in dicken Schellen aus Metall gefangen, eine grobgliedrige Eisenkette erstreckte sich von ihnen ausgehend zu allen vier Ecken des Raumes. Zeros Schultern schmerzten allein bei dem Anblick, so unnatürlich überdehnt waren die Gliedmaßen seiner Liebe. Aber das Schlimmste waren Karyus Augen, die groß und angsterfüllt direkt auf ihn gerichtet waren.

 

„Bist du in Ordnung?“

 

„Ja“, wisperte er, die Stimme schwer vor Scham. Wie konnte Karyu nur fragen, ob er in Ordnung war? Ausgerechnet er, der schon wieder versagt hatte. Selbsthass riss an seinem Herz, ließ Übelkeit in ihm hochsteigen.

‚Karyu, es tut mir so leid.‘

 

Er versuchte, sich aufzurichten, aber ein unnachgiebiger Druck um Hals und Handgelenke verhinderte das. Auch er war mit dicken Metallschellen fixiert, von denen viel zu kurze Ketten zu einer Halterung im Boden führten, und ihn in einer demütigend knienden Position gefangen hielten. Wut schickte Hitze in seine Wangen und obwohl er wusste, dass es zwecklos sein würde, stemmte er sich mit aller Macht gegen seine Fesseln.

 

„Du verfluchter Dreckskerl“, rief er sich Angst, Verzweiflung und den letzten Rest Orientierungslosigkeit von der Seele, als sein schwankender Blick am Fürsten hängen blieb.

„Mach Karyu und mich los und dann stell dich mir, du Feigling!“

 

Der Fürst lachte höhnisch, zog sein Schwert aus der Scheide und kam langsam auf ihn zu.

„Du solltest dir eine neue Drohung einfallen lassen. Diese hier hat mich schon bei unserer letzten Begegnung nicht beeindruckt.“

Die Spitze des Schwertes bohrte sich in seine Wange, doch Zero verzog keine Miene, selbst als er die Wärme frischen Blutes auf der Haut spüren konnte.

 

„Zero!“, rief Karyu erneut. Der Fürst beachtete ihn nicht weiter und versperrte mit einem kleinen Schritt zur Seite auch noch Zeros Sicht auf ihn.

 

„Es ist alles okay, Karyu, alles gut.“

 

„Ach, wie herzzerreißend. Du bist noch genauso naiv und blind vor Liebe wie du es damals warst“, raunte der Fürst mit einem widerlich zufriedenen Funkeln in den Augen. „In wenigen Sekunden ist ein Millennium verstrichen und du hast noch immer nicht begriffen, dass ich mir nicht stehlen lasse, was mir gehört.“

Der Fürst ging auf ein Knie, um beinahe auf Augenhöhe mit ihm zu sein. Das Schwert klapperte metallen, als er es auf den Boden legte, um die kräftigen Finger um Zeros Kinn schließen zu können.

„Sieh selbst.“

 

Ein schmerzhafter Ruck riss seinen Kopf zur Seite und jetzt erst wurde ihm bewusst, dass er vorhin nicht das Schaben von Karyus Ketten gehört hatte, sondern das Geräusch einer riesigen Apparatur, die die gesamte Länge der Wand zu seiner Rechten einnahm.

 

„Ist sie nicht wunderschön?“

 

„Was …“, krächzte er gegen den Druck der Eisenschelle um seine Kehle, die ihm in dieser Haltung langsam aber sicher die Luft zum Atmen raubte.

 

„Sie ist die Schwester der Weltenuhr, die seit Anbeginn das Schicksal der Menschheit bestimmt. Sie ist ein Geschenk der Mächte, meine treue Begleiterin durch die Jahrhunderte. Du musst wissen, alles Unglück, jede Katastrophe ruht in ihr und es braucht nur eine kleine Drehung am richtigen Rädchen, um zu vernichten, was sich mir widersetzt.“

Der Fürst näherte sich, bis Zero seinen stinkenden Atem im Gesicht fühlen konnte.

„Mmmh, diesen Ausdruck wollte ich schon so lang in deinen Augen sehen. Endlich begreifst du, dass ihr nie eine Chance gegen mich hattet. Ihr habt das Unvermeidliche nur hinausgezögert.“

Der Fürst lachte schrill – ein Laut, der von Irrsinn sprach und tief in Zeros Seele schnitt.

 

Er konnte nicht mehr atmen, nicht mehr denken, nicht einmal mehr fühlen.

Als Hizumi ihm offenbart hatte, dass Karyu und er in den letzten Jahrhunderten nichts weiter als Marionetten zur Belustigung der Mächte waren, hatte er diese Ungerechtigkeit kaum ertragen können. Er hatte wahrhaftig nie eine Chance gehabt, Karyu zu retten, und nur das Wissen, dass ein einziger Mensch sich nicht gegen den Lauf der Geschichte oder Naturgewalten stellen konnte, hatte ihm so etwas wie Trost gespendet. Aber das hier? Wie hatten die Mächte es verantworten können, einem Wahnsinnigen die Herrschaft über Leben und Tod anzuvertrauen? Er konnte nicht fassen, dass der Hass eines einzigen Wesens so allumfassend sein konnte, dass er willentlich all diese Katastrophen verantwortet hatte. All die Kriege, die Bomben, die Feuer und Fluten – so viele ausgelöschte Leben. Und wofür das alles?

 

Zero schrie.

 

Seine Stimme klang so unmenschlich, dass er sich vor sich selbst gefürchtet hätte, wäre er noch zu einer anderen Emotion als Wut fähig. Der Fürst war lachend zur Seite ausgewichen, als er versucht hatte, ihn mit dem Kopf im Gesicht zu treffen, nahm sein Schwert wieder auf und schob es zurück in die Scheide.

 

„Was denn? Fehlen dir plötzlich die Worte?“

 

„Zero! Was ist?“

 

„Du Schwein! Du verfluchtes Schwein!“

Ein heftiger Schlag riss seinen Kopf erneut zur Seite, seine Lippe platzte auf und die Schelle schnitt in das weiche Fleisch seines Halses. Aber er begrüßte den körperlichen Schmerz – alles war besser, als die Qualen, die seine Seele in Stücke rissen.

 

„Nein, lass ihn in Ruhe!“

 

„Worauf wartest du denn noch? Beende es endlich. Töte mich, aber lass Karyu gehen!“

 

„Denkst du wirklich, ich würde so kurz vor dem Ziel einen so gewaltigen Fehler machen? Du wirst leiden, Dieb. Du wirst dabei zusehen, wie ich mir zurückhole, was mir gehört, und dann, erst dann, werde ich dich von deinem elenden Leben befreien.“

 

Wieder vernahm Zero das metallische Schaben und als er zu der Apparatur blickte, bewegte sich einer der großen Schwenkarme, drehten sich Zahnräder und veränderten die Winkel, in der kugelähnliche Gebilde zueinanderstanden.

 

„Was passiert hier? Zero?“

 

„Ich weiß es nicht“, hauchte er in plötzlicher Furcht, den Blick unverwandt auf die Mechanik gerichtet. Das bis eben noch vorherrschende Chaos schien sich zu ordnen, die Gebilde, die ihn nun entfernt an Planeten erinnerten, ihren vorbestimmten Platz zu finden, bis sie alle in einer Reihe standen.

 

„Endlich!“, rief der Fürst im selben Moment aus, als ein gleißendes Licht den Saal erhellte.

„Endlich hat mein Warten ein Ende!“

 

Hinter Zero erhoben sich gleichzeitig zahllose Stimmen zu einem flüsternden Singsang, der mit jeder weiteren Sekunde lauter wurde. Eine Gänsehaut ließ ihn erschaudern und seine Kehle trocken werden. Er verstand nicht, was die Unbekannten sagten, noch konnte er sich zu ihnen umdrehen, aber allein ihr Tonfall ließ plötzliche Hoffnungslosigkeit in ihm aufsteigen. Machtlos musste er dabei zusehen, wie der Fürst auf Karyu zuging. Das Licht war erneut schwächer geworden, sammelte sich in einem Wirbel aus Spektralfarben um Karyus Leib.

 

„Nein!“ Zero schrie und wehrte sich verzweifelt gegen seine Fesseln, die jedoch keinen Millimeter nachgaben. „Nein, tu ihm nichts, bitte!“

 

Unbeeindruckt streckte der Fürst die Hand nach Karyu aus. Mit weit aufgerissenen Augen, den Mund zu einem anhaltenden Schrei geöffnet, musste Zero mitansehen, wie die Finger des Fürsten durch die Brust seiner Liebe stachen, als bestünde sie nicht aus Haut, Muskeln und Fleisch, sondern aus nachgiebigem Gelee. Karyu hatte keine Chance. Kein Laut entkam ihm, als jegliche Farbe aus seinem Gesicht wich und die schönen Augen stumpf wurden. Ohne einen Tropfen Blut zog der Fürst seine geballte Faust zurück. Goldenes Licht schimmerte durch seine geschlossenen Finger, während Karyu, äußerlich unverletzt und die Lider wie im Schlaf gesenkt, in seinen Ketten zusammensackte.

 

„Was hast du ihm angetan? Karyu! Liebster, bitte sag etwas, mach deine Augen auf! Karyu, bitte!“

Tränen strömten über Zeros Wangen, während seine flehenden Worte im lauten Lachen des Fürsten untergingen.

 

„Mein, endlich bist du wieder mein.“

 

Als sich die Finger des Fürsten teilten, schwebte eine leuchtende Blüte wenige Zentimeter über seiner Handfläche, stieg höher und blieb vor Karyus Brust hängen, als würde sie zurück in ihren Körper wollen, aber es nicht schaffen. Zero keuchte, geblendet von ihrer Schönheit und dem goldenen Glanz, der jeden Winkel des Raumes erstrahlen ließ. Sie erinnerte ihn an den üppigen Kopf einer Pfingstrose, und obwohl er sich nicht daran erinnern konnte, wusste er, dass er sie schon einmal gesehen hatte. In dem Augenblick, als er zum ersten Mal gestorben war, als er seiner Liebe geschworen hatte, sie in jedem Leben wiederzufinden.

 

In Zeros Ohren rauschte es, als der Schock sich endgültig seines Verstandes bemächtigte. Die Erkenntnis, was der Fürst Karyu angetan hatte, was er ihm wortwörtlich aus dem Leib gerissen hatte, war zu schrecklich, um sie auch nur zu denken. Dadurch bemerkte er das dünne, weißlich glimmende Band erst einen schmerzvollen Herzschlag später, dass sich von der Rose ausgehend bis zu seiner eigenen Brust zog. Es war hauchzart und wiegte sich in der Luft wie ein geisterhaftes Gespinst.

‚Unsere Verbindung‘, dachte er wie betäubt. Alles in ihm schrie danach, dieses fragile Band zu beschützen, es an sich zu nehmen, zu halten, genau wie Karyu. Wieder füllten sich seine Augen mit Tränen, doch diesmal riss ihn ein so erbarmungsloser Schmerz aus seiner Trauer, dass er nichts weiter tun konnte, als zu schreien. Der Fürst lachte triumphierend, den reich verzierten Dolch noch in der Hand, mit dem er ihre Seelen soeben für immer voneinander getrennt hatte.

 

„Nein! Nein, Karyu.“

Zero sackte in sich zusammen, als wäre ihre Verbindung der letzte Halt gewesen, der ihm inmitten all des Horrors noch Stärke verliehen hatte.

 

„Schweig! Du hast sie lange genug an dich gebunden, Dieb! Jetzt gehört sie wieder mir! Tritt vor, Gefäß.“

 

Hinter Zero schwoll der vielstimmige Chor zu einem ohrenbetäubenden Crescendo an, bevor er verstummte. Urplötzlich war es totenstill im Saal. Zwei schmerzvolle Herzschläge lang geschah nichts, dann war das leise Geräusch nackter Füße auf Stein zu hören. Eine junge Frau, fast noch ein Kind, trat vor den Fürsten und ging in die Knie. Ihr Leib war dünn, nur bedeckt von ihrem schwarzen Haar, das ihr weit bis über die schmalen Hüften reichte. Ihr Blick war abwesend, wie betäubt, und dennoch reagierte sie sofort, als ihr der Fürst ein kaum zu erkennendes Handzeichen gab. Geschmeidig erhob sie sich, wischte sich die langen Strähnen hinter die Schultern, gänzlich unbeeindruckt von ihrer Nacktheit.

 

Zero hätte nicht geglaubt, dass sich sein Entsetzen nach all dem, was bereits geschehen war, noch steigern konnte. Er ahnte, was kommen würde, und war dennoch unvorbereitet, als sich die Hand des Fürsten auch in den Leib der jungen Frau bohrte, als wäre dies das Normalste der Welt. Sein Mund öffnete sich, aber kein Laut kam ihm über die Lippen … und eine weitere Seele fiel der unbändigen Gier dieses Monsters zum Opfer. Das Licht der Kleinen glomm silbrig, schwächer als Karyus, und sein Aussehen erinnerte entfernt an das fragile Kristallgeflecht einer Schneeflocke.

 

„Hör auf, bitte hör auf“, bat Zero verzweifelt mit tränenerstickter Stimme.

 

Der Fürst scherte sich nicht um sein Flehen und ebenso wenig schenkte er dem Kristall in seiner Hand Beachtung. Nicht einmal einen Blick hatte er für die Seele der jungen Frau übrig, als er die Finger in einer ruckartigen Bewegung um das zarte Gebilde schloss und es pulverisierte. Glitzernder Staub fiel herab und löste sich auf, kaum hatte er den Boden berührt.

 

„Nein! Du Monster! Wie konntest du ihr das antun?“, rief Zero, die Stimme heiser vor Ekel und Furcht vor dem, was nun folgen würde.

 

Das grausame Lachen des Fürsten hallte von den Wänden wider, als er sich zu dem in sich zusammengesunkenen Körper der jungen Frau beugte, ihn mit Leichtigkeit auf die Arme nahm und auf dem Steinaltar niederlegte.

 

„Die perfekte Hülle für meine Gemahlin.“

 

„Nein! Ich werde nicht zulassen, dass du Karyu das antust!“ Auch ohne die Worte des Fürsten hatte Zero längst begriffen, was er vorhatte. Grenzenlose Wut gab ihm die Kraft, sich erneut mit aller Macht gegen seine Fesseln zu stemmen. Das Metall knirschte und ächzte, aber noch hielt es stand. Unbeeindruckt von seinem Rufen trat der Fürst auf Karyu zu, streckte seine gierigen Finger nach dem goldenen Seelenkristall aus …

 

»Mach dich bereit.«

 

Zero zuckte zusammen, als er mit einem Mal Hizumis Stimme direkt in seinen Gedanken hörte. Noch bevor er reagieren konnte, füllte sich der Saal von allen Ecken her mit schwarzem, undurchdringlichem Nebel. Binnen Sekunden hüllte er selbst das strahlende Leuchten der goldenen Rose ein, bis Zero nicht einmal mehr die eigene Hand vor Augen sehen konnte. Der Fürst brüllte wütend, bellte Befehle, die über das angsterfüllte Raunen und Rufen der Unbekannten jedoch kaum zu hören waren. Plötzlich spürte er den Druck um Hals und Handgelenke schwinden, als die Schellen aufschnappten. Blitzschnell richtete er sich auf und hätte beinahe aufgeschrien, als ihn von hinten jemand packte.

 

„Ruhig, ich bin es.“

 

„Hizumi? Oh Gott, du bist hier. Der Fürst … Karyu … er hat Karyu …“

 

„Schsch.“ Er wurde an den Schultern herumgedreht, bevor sich Arme um ihn legten und ihn harsch gegen einen vertrauten Körper zogen. Erst jetzt bemerkte er, wie sehr er zitterte. Tränen rannen unaufhaltsam über seine Wangen und er verkrallte sich in Hizumis Oberteil, verbarg sein Gesicht gegen die Brust des Engels.

„Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie schrecklich das alles für dich sein muss, aber du musst dich zusammenreißen, hörst du? Einen Nervenzusammenbruch kannst du später haben, aber jetzt bleibt keine Zeit dafür.“

 

„Aber er hat … Karyu, seine Seele … unsere Verbindung.“

 

„Hör mir zu.“ Hände legten sich an seine Wangen, drückten ihn auf Abstand und obwohl Zero noch immer nichts sehen konnte, war er sich sicher, dass Hizumis Augen die Finsternis durchdrangen.

„Meine Ablenkung wird nicht mehr lange halten. Du musst dich dem Fürsten stellen, du bist der Einzige, der das hier beenden kann.“

 

„Aber Karyu …“

 

„Zero, konzentrier dich! Nur du kannst ihn retten, noch ist es nicht zu spät.“

 

Etwas Kühles presste sich gegen seine rechte Handfläche und reflexartig griff er zu. Er fühlte sich, als würde ihn eine Sturmflut von den Füßen reißen, als mit einem Mal die Erinnerungen aus all seinen Leben in nie gekannter Klarheit zu ihm zurückkehrten. Sie brachten Erfahrung und Selbstsicherheit mit sich, gaben ihm Kraft und Mut, als sich seine Finger um den vertrauten Griff des Schwertes legten, mit dem er in der Vergangenheit so viele Schlachten geschlagen hatte.

 

„Woher hast du das?“

 

„Ich erkläre dir alles, wenn wir das hier überstanden haben, okay?“

 

„Ich verstehe.“

 

„Du weißt, was zu tun ist. Kämpfe gegen ihn, rette Karyu, nur du kannst das Schicksal für dich entscheiden.“

 

„Das werde ich.“

 

Kaum war seine letzte Silbe verklungen, kehrte das Licht zurück. Erst langsam, wie der Beginn eines neuen Morgens, dann so hell, dass er für eine Sekunde geblendet die Augen schließen musste. Als er blinzelnd die Lider erneut hob, hatte sich seine Umgebung auf frappierende Weise verändert. Rings um ihn herum rannten Menschen in wilder Panik auf Ausgänge zu, die ihm bis eben nicht aufgefallen waren. Zwischen ihnen erkannte er Gesichtslose, Dutzende von ihnen und Hizumi in all seiner überirdischen Pracht. Mit gespreizten Flügeln fegte er über ihre Gegner hinweg, als wäre er ein Racheengel und nicht die Personifizierung von Schutz, für die Zero ihn immer gehalten hatte.

 

Energisch riss er sich von dem Anblick los, drehte sich zu dem Fürsten herum, der trotz Hizumis Ablenkung und all des Tumults noch immer nicht von seinem perfiden Plan abgelassen hatte. Gerade streckte er seine widerlichen Finger nach Karyus Seelenkristall aus, als Zero mit einem markerschütternden Kampfschrei auf ihn zusprang. Der Mistkerl reagierte schnell, parierte seinen ersten Hieb und wich dem Zweiten aus.

 

Klirrend krachten ihre Schwerter aufeinander, Funken stoben, so hart prallte Metall auf Metall. Zeros Arme schmerzten von der ungewohnten Belastung, doch obwohl er diese Art von Bewegungen noch nie in diesem Leben vollführt hatte, wusste sein Körper genau, was er tun musste.

 

„Du wirst mich nie besiegen können. Du bist schwach und ich nur noch eine Haaresbreite von meinem Ziel entfernt“, keifte der Fürst. Speichel und Schweiß flogen Zero entgegen. Angewidert verzog er die Lippen zu einem grimmig entschlossenen Grinsen. Nicht ein einziges Wort aus dem Mund dieses Scheusals würde seine Entschlossenheit ins Wanken bringen.

 

„Ich werde dich vernichten. Wer von uns ist schwach?“, rief er aus, als ein besonders harter Schlag die Klinge des Fürsten zum Schwingen brachte. „Du bist nur stark, wenn du dreckig spielst!“

 

Für einen Augenblick war Zero vom Geschehen um ihn herum abgelenkt, als er in der Menge der Gesichtslosen plötzlich Tsukasa zu erkennen glaubte. Oh Himmel, nein, was machte ihr Drummer hier? Hatte Hizumi den Verstand verloren? Wie hatte er Tsukasa nur in diese Sache mit hineinziehen können? Er wusste doch von nichts, wie konnte er ihn in eine solche Gefahr bringen?

 

Ein heißer Stich in der linken Schulter erinnerte ihn daran, dass er seinen Gegner im Auge hätte behalten sollen, statt die Zurechnungsfähigkeit seines Engelfreunds infrage zu stellen. Er schrie auf, vielmehr aus Wut auf seine eigene Nachlässigkeit denn vor tatsächlichem Schmerz. Verflucht, er würde nicht noch einmal zulassen, dass ihn das Schwert des Fürsten streifte. Vielmehr würde er dafür sorgen, dass ihm das höhnische Lachen im Hals stecken blieb!

 

„Du wirst bluten, bluten und leiden, bis ich keine Verwendung mehr für dich habe.“

 

„Hochmut kommt vor dem Fall, Fürst“, zischte er, parierte den nächsten Schlag, holte in einem weiten Bogen aus und ließ seine Klinge auf die seines Gegners herabfahren. Die Vibration des Aufpralls fegte wie ein Donnerschlag durch seinen Körper, ließ für einen kurzen Moment selbst seine Finger taub werden. Aber sein Griff um den Schwertknauf lockerte sich nicht, ebenso wenig, wie die Intensität seines Angriffs nachließ. Seine Wut gab ihm Stärke, die Angst um Karyu ließ ihn durchhalten und über sich hinauswachsen. Ihr Kampf war ausgeglichen, keiner von ihnen gewann die Oberhand, doch Zero wusste, dass er das nicht ewig durchhalten würde.

 

Rings um ihn herum streckten elektrische Entladungen einen Gesichtslosen nach dem anderen nieder – Hizumis göttliche Macht, da war er sich sicher. Ihre Schreie hallten von den Wänden wider, machten Zero taub für den Strom an Beschimpfungen, den ihm der Fürst unaufhörlich entgegenschrie. Aus dem Augenwinkel erhaschte er eine Bewegung zu seiner Rechten, ein Lakai, der seinem Meister zu Hilfe eilen wollte. Sein Herz setzte einen Schlag aus, Adrenalin wie flüssige Lava in seinen Adern, während er versuchte, sich binnen Sekunden eine Strategie zu überlegen. Sollte er ausweichen? Parieren?

 

Ein ekelhaftes Krachen und Knacken war zu hören, während sich Zero unter einem erneuten Schwerthieb des Fürsten wegduckte, sich über die Schulter abrollte und wieder auf die Füße kam. Tsukasa hatte ihm die Entscheidung abgenommen. Der Drummer stand, einen Schlagstock wie einen Streitkolben schwingend, an der Stelle, an der sich Zero bis eben befunden hatte. Der Angreifer lag ihm blutend zu Füßen, ob er tot war oder nur bewusstlos, konnte er nicht mit Sicherheit sagen. Tsukasa schenkte ihm ein grimmiges Lächeln, als wäre es für ihn an der Tagesordnung, gegen gesichtslose Wesen zu kämpfen, bevor er sich schwungvoll umdrehte, um einem weiteren Feind entgegenzutreten.

 

„Ich werde dich vernichten“, brüllte der Fürst und walzte erneut auf ihn zu. Zero hatte Mühe, den Schlag abzuwehren, aber er war sich nicht zu schade, unfair zu spielen. Sein Ellenbogen schoss nach oben, genau in dem Moment, als sein Gegner zu einem erneuten Angriff ansetzen wollte, und traf ihn mitten im Gesicht. Aufheulend sprang der Fürst zurück, ruderte aus dem Gleichgewicht gekommen mit den Armen. Blut rann zwischen seinen Fingern hindurch, während er jaulte und jammerte, als hätte ihm Zero mehr als nur die Nase gebrochen.

 

Aber für den Moment bekam er davon nichts mit. In seinem Kopf herrschte das absolute Chaos, während er zu begreifen versuchte, was sein Freund und Bandkollege hier tat. Wie war Tsukasa überhaupt hierhergekommen und wie konnte er im Angesicht dieses übernatürlichen Schreckensszenarios so gelassen bleiben? Derart gefangen war er in seinen Überlegungen, dass er seine Chance verpasste, seinem Gegner einen empfindlichen Schlag zu versetzen. Doch ihm blieb keine Zeit, sich weitere Gedanken zu machen, denn der Fürst hatte seine Balance wiedergefunden und griff mit unverminderter Härte an.

 

Zeros Arme zitterten, seine Knie hielten ihn nur mit Mühe aufrecht und sein Kopf schmerzte so sehr, dass er kaum noch aus den Augen sehen konnte. Aber er würde nicht kapitulieren, nicht solange noch ein Funken Leben in seinem Körper war.

 

„Gib auf, du hast keine Chance“, zischte ihm sein Gegner genau in diesem Moment zu, als hätte er seine Gedanken gelesen.

 

„Niemals!“ Er spürte, wie sich seine Lippen zu einem erbarmungslosen Lächeln verzogen, denn Hizumi hatte es endlich geschafft, sich bis zu Karyu durchzukämpfen. Hoffnung durchströmte seinen Leib, brachte neue Kraft mit sich. „Du wirst niemals gewinnen!“

 

Zero schrie, ein Kampfschrei, der ihm Mut verlieh, der seinen nächsten Schlag noch härter, noch präziser auf den Fürsten herabfahren ließ. Nur noch ein bisschen, er musste ihn nur noch eine Weile hinhalten, bis Hizumi Karyu befreit hatte. Karyu. Wieder drosch er auf seinen Gegner ein, trieb ihn immer weiter nach hinten, zwang ihn in die Knie. Im Raum war es still geworden, die Gesichtslosen waren entweder besiegt oder geflohen, doch das bekam Zero nicht mit. Das Blut rauschte so laut in seinen Ohren, dass er nichts hörte, sein Blickfeld war auf einen kleinen Tunnel geschrumpft, dessen Zentrum das hassverzerrte Gesicht des Fürsten einnahm.

 

„Gib auf, du bist geschlagen“, zischte er schwer atmend, die Spitze seines Schwerts nur Millimeter von der Kehle des anderen entfernt. Er wusste, er sollte ihn töten, ihm war nicht zu trauen, aber alles in ihm sträubte sich dagegen, ein Leben zu nehmen. Selbst so ein von Hass Zerfressenes wie das des Fürsten. Er war kein Mörder, kein Krieger … nicht in diesem Leben.

 

„Du wirst mich nie besiegen. Selbst wenn du mich jetzt tötest, werde ich wiederkommen. Die Mächte sind auf meiner Seite.“

 

„Du tust mir leid. Nicht einmal jetzt, am Ende deiner unheiligen Existenz, erkennst du, dass du verloren hast.“ Zero hob den Arm, bereit sich gegen seinen inneren Widerstand zu stellen und zu beenden, was beendet werden musste. Für ihn selbst, für Karyu, für ihren Frieden.

 

„Zero, pass auf, hinter dir!“

 

Durch den Tumult in seinem Herzen verstand er die Worte nicht, aber er erkannte die Stimme. Diese über alles geliebte Stimme. Sein Kopf ruckte nach oben, weg von dem Fürsten und hin zu Karyu, denn seine Stimme war es, die er gehört hatte. Sein Liebster lebte. Gestützt von Tsukasa und Hizumi stand er unweit von ihm …

 

„Karyu“, flüsterte er in einer Mischung aus grenzenloser Freude und Fassungslosigkeit, denn genau in diesem Augenblick jagte ein unerträglicher Schmerz durch ihn.

„Karyu“, hauchte er erneut, gefangen im Blick aus schockgeweiteten Augen. Seine Knie gaben nach und er sackte zu Boden. Das irrsinnige Lachen des Fürsten begleitete seinen Fall, ihre Positionen nun vertauscht, während Zero zu begreifen versuchte, was passiert war. Er riss sich von Karyus schönen Augen los, blickte an sich herab, wo die Spitze eines Schwertes durch seine Bauchdecke ragte. Ein kleiner Teil in ihm summte verstehend, endlich machte etwas hier Sinn, der viel Größere jedoch füllte sich mit unendlicher Trauer.

‚Und wieder habe ich versagt.‘

 

„Du hättest mir glauben sollen, Dieb, du hattest nie eine Chance.“

Der Fürst hob sein Schwert an, bereit, ihm den Kopf von den Schultern zu schlagen. Doch so weit kam es nicht.

 

Plötzlich war da Tsukasa. Zero hätte gelacht, wäre es ihm möglich gewesen, so irreal fühlte sich alles um ihn herum an. Die Finger des Drummers hatten sich in den Schädel des Fürsten gebohrt, doch kein Blut war zu sehen. Nur schwarzer, ölig wirkender Dunst waberte an Tsukasas Fingern vorbei, seine Arme hinauf und verschwand in seinem Mund, der Nase, selbst den Augen. Zero sah den anderen erzittern, ob in Ekstase oder Schmerz hätte er nicht sagen können. Was geschah hier?

 

Der leblose Leib des Fürsten krachte im selben Moment auf den Boden, als hinter Zero jemand aufschrie. Erneut raste ein so unerträglicher Schmerz durch ihn, dass ihm die Sinne zu schwinden drohten. Das Schwert wurde aus seinem Leib gerissen, als ein Körper mit einem dumpfen Aufprall hinter ihm auf dem Boden aufschlug. Hizumi musste sich um den zweiten Angreifer gekümmert haben, aber das war zweitrangig. Wo war Karyu? Arme legten sich um ihn und mit einem Mal war er umgeben von Karyus Wärme, seinem Duft, seiner wundervollen Präsenz, die ihn sicher hielt, selbst als ihm die letzten Kräfte schwanden.

 

„Mein Karyu, es tut …“

Seine Lider schlossen sich und Kälte bemächtigte sich seiner Glieder. Er wusste, dass er starb, viel zu viele Male hatte er das schon miterlebt. Manchmal so schnell, dass es vorbei war, bevor er überhaupt etwas gespürt hatte, manchmal so langsam und qualvoll, dass er dem Tod mit offenen Armen entgegengesehnt hatte.

 

„Bleib bei mir“, hörte er Karyus tränenerstickte Stimme, fühlte die Nässe, die wie warmer Sommerregen auf sein Gesicht fiel.

 

‚Es tut mir so leid, ich war nicht stark genug.‘

 

„Tut doch etwas! Er stirbt!“

 

Die Welt um ihn herum wurde still, sein Körper taub für jeden Schmerz und jede Berührung, bis ein kleiner heller Punkt vor seinem Geist erschien, lockend, bittend. Er wusste, dort hätte er es gut, dort gab es keinen Schmerz, keine Sehnsucht, keine Furcht … keinen Karyu.

 

„Alle eintausend Jahre steht das Universum in perfektem Gleichgewicht, werden die Grenzen zwischen den Welten durchlässig.“, erklang plötzlich eine samtene Stimme, schien ihn von allen Seiten her einzuhüllen.

„Genau in diesem Moment durchbrechen Hunderte, vielleicht Tausende Seelen die Barrieren und Kehren zum Ursprung ihres Seins zurück.“

Durch Zeros Leib rann ein Zittern, als er den goldenen Glanz von Karyus Seele erneut zu sehen glaubte.

„Sie sind verwundbar, diese heimkehrenden Seelen. Sie können eingefangen werden oder verdorben.“

 

Das war er also, der Moment, auf den die Mächte gewartet hatten. Karyus und seine Unterhaltsamkeit hin oder her, ihr wahres Ziel war es, ihren Besitz wieder an sich zu bringen.

„Eintausend Jahre, Zero, verstehst du nicht, wie signifikant das ist?“

Nein, er hatte es nicht verstanden, aber jetzt, jetzt tat er es.

„Manche Einsätze sind wertvoller als andere.“

Sie hätten Karyus Seele eingefangen, wieder weggesperrt, wie einen Schatz, den niemand zu Gesicht bekommen durfte.

„Es gibt zwei Seiten, schwarz und weiß, hell und dunkel, wie die Figuren auf einem Schachbrett.“

Und die Gegenseite hatte genau dies verhindern wollen.

„Du hast sie lange genug an dich gebunden, Dieb, jetzt gehört sie wieder mir!“

Der Fürst war nichts weiter als ihre Marionette gewesen, ein Werkzeug, mit dem sie die Verbindung von Karyus und seiner Seele hatten trennen können.

 

Zeros Herz blutete, als sich die scharfen Kanten der Erkenntnis immer tiefer in den zuckenden Muskel gruben. War er wirklich so blind gewesen, dass er erst sterben musste, um die Wahrheit zu begreifen? Oder wäre der Ausgang immer derselbe gewesen, egal ob er klüger, schneller, stärker gewesen wäre? Er wusste es nicht; und mit einem Mal war er schrecklich müde.

 

„Du hast die Wahl“, sprach die Stimme erneut, diesmal direkt hinter ihm. Zero wirbelte herum. Plötzlich stand er auf einem schwarzen, spiegelnden Boden, um ihn nichts als Dunkelheit, und dennoch konnte er die Gestalt ohne Probleme ausmachen, die sich ihm langsam näherte. Die Schwingen des Engels raschelten, wie der Flügelschlag Hunderter Vögel, als er sie hinter seinem Rücken faltete und ihn anlächelte.

 

„Hizumi“, hauchte er. „Wie meinst du das.“

 

„Es ist deine Entscheidung.“

Der Engel machte eine weitschweifende Armbewegung und mit einem Mal war der Boden unter Zeros Füßen kein Spiegel mehr, sondern ein Fenster, durch das er Karyu und sich selbst erkennen konnte. Über die Wangen seiner Liebe rannen unaufhörliche tränen, während er sich, Zeros leblosen Körper in den Armen haltend, vor und zurück wiegte.

 „Der Kreislauf deiner Wiedergeburt ist durchbrochen. Du kannst es hier und jetzt beenden und diese Welt für immer verlassen.“

Hinter Karyu erkannte er schattenhafte Wesen, die ihn mit Mitgefühl musterten. Manche von ihnen hatten ihre geisterhaften Hände auf Karyus Schulter, seinen Kopf, die Wange gelegt, als würden sie ihn trösten wollen, andere standen nur da, wirkten unentschlossen. Zero keuchte, er erkannte sie, natürlich tat er das. Seine Königin, sein Danna, sein Rebellenfürst, Akemi, sie alle waren hier, alle Leben, die Karyu je gelebt hatte, standen ihm bei.

„Du hast es verdient, endlich Frieden zu finden.“

Die Arme des Engels legten sich von hinten um ihn, gaben ihm den Halt, von dem Zero bis eben nicht gewusst hatte, dass er ihn so dringend brauchte. Auch über seine Wangen rannen nun Tränen, so verzweifelt und heiß, dass sie ihn zu versengen drohten. Der geisterhafte Schemen seiner Königin hob den Kopf, sah zu ihm auf, als könnte sie ihn tatsächlich sehen.

 

Zero konnte nicht hören, was sie sagte, aber er erkannte die Bewegungen ihrer Lippen, ein Mantra, das sie unaufhörlich wiederholte.

„Geh nicht, lass uns nicht allein.“

 

Er drehte sich weg, vergrub das Gesicht gegen Hizumis Brust und weinte. Er war des Lebens so müde, wollte seinen Frieden, wollte sich ausruhen. Der Engel hielt ihn fest, summte eine leise Melodie, die ihn ebenso wie das sanfte Streicheln über seinen Nacken nach und nach beruhigte. Zero hörte sein eigenes Herz hart und langsam schlagen, viel zu langsam, und wusste, dass ihm kaum noch Zeit blieb. Er atmete ein, atmete aus, wieder und wieder, bis sich die Wogen seiner schmerzenden Seele glätteten, die Ruhe brachten, nach der er sich so sehr sehnte.

 

Zögernd hob er den Kopf, sah in diese überirdisch blauen Augen, in denen ein Quell an Zuneigung ruhte, die er dem anderen gar nicht zugetraut hatte. Er hatte nie mit Sicherheit gewusst, was er für Hizumi war. Ob der Engel in ihm nur einen Auftrag sah, den er zu erfüllen hatte, oder ob die Distanz zwischen ihnen einzig und allein seine Schuld war, weil er ihn nie ganz an sich herangelassen hatte. Aber diese Dinge lagen nun in der Vergangenheit, waren unwichtig geworden.

Er sah es in Hizumis Blick, das Versprechen, dass er Karyus Seele für immer vor den Mächten beschützen würde, und gleichzeitig erkannte er die Trauer, die der Engel trotz seiner Worte nicht verbergen konnte. Hizumi würde ihn vermissen, würde er nun gehen. Genau wie Tsukasa es tun würde und …

 

„Karyu“, wisperte er und sah zu Boden, wo sein Liebster noch immer so qualvoll um ihn trauerte. „Bring mich zurück zu ihm. Lass mich ein letztes Leben mit ihm leben.“

 

Auf Hizumis Gesicht hatte sich ein wunderschönes Lächeln gelegt, als Zero sich ihm wieder zuwandte. Der Engel nickte und küsste seine Stirn.

„Ich bin froh, dass du dich so entschieden hast“, murmelte er gegen seine Haut, dann wurde es schwarz um ihn.

 

Zero stöhnte, als er ruckartig in seinem Körper erwachte. Die Leichtigkeit seiner geisterhaften Existenz war verschwunden und hatte Platz für unendlichen Schmerz gemacht.

 

„Zero!“ Karyus Stimme klang erschrocken und hektisch gleichermaßen. „Zero, oh Gott, du lebst.“ Er blinzelte, die Welt um ihn herum ein chaotisches Kaleidoskop aus Formen und Farben, die sich hinter dichtem Nebel verbargen.

 

„Hast du ihn geheilt?“ Tsukasas Stimme, auf seiner anderen Seite, dann Hizumis über ihm, der verneinte.

 

„Du weißt, dass das nicht in meiner Macht liegt. Ich habe den Fluss der Zeit um seine Verletzung herum verlangsamt, aber er muss schleunigst in ein Krankenhaus.“

 

„Du hast was?“ Wieder Karyu. „Nein vergiss es, erklär es mir später. Tsukasa, hilf mir, schaffen wir ihn hier weg.“

Zero keuchte schmerzerfüllt auf, als er bewegt wurde. Wieder wurde ihm schwarz vor Augen, diesmal jedoch nur kurz, bevor die Welt um ihn herum endlich wieder in den Fokus rückte.

„Es tut mir leid“, wimmerte Karyu, streichelte über seine Wange. „Du hast es gleich geschafft, versprochen.“

 

„Schon gut.“ Er versuchte zu lächeln, bevor sein trüber Blick den des Engels fand.

„Hizumi“, flüsterte er kaum vernehmlich, doch der andere hatte ihn gehört und beugte sich zu ihm. „Das Mädchen.“

 

Die blauen Augen verdunkelten sich und Schmerz lag unverkennbar in ihnen, als Hizumi langsam den Kopf schüttelte.

„Wir können nichts mehr für sie tun.“

 

Zero schloss die Augen, nickte. Er hatte es gewusst, niemand konnte ohne Seele leben, und doch hatte er gehofft. Als er die Lider wieder hob, vollführte der Engel eine komplizierte Handbewegung in der Luft, bevor sich mit einem Reißen, als hätte er das Gefüge des Universums selbst durchtrennt, ein leuchtender Spalt vor ihm öffnete.

 

Im selben Moment begann die Halle wie unter Dutzenden Donnerschlägen zu erbeben. Steinbrocken groß wie Autos krachten von der Decke und die mystische Apparatur gab ein klägliches Knarren und Knirschen von sich.

 

„Uns bleibt keine Zeit mehr, hier bricht gleich alles zusammen!“, schrie Hizumi und scheuchte sie hektisch in Richtung des Portals.

 

Gerade als Tsukasa und Karyu mit ihm den Spalt durchschreiten wollten, ertönte eine donnernde, körperlose Stimme, brachte die Welt um sie herum noch mehr zum Erbeben.

 

„Hizumi! Du hast dich unserem Willen zum letzten Mal widersetzt!“

 

Zero sah mit Entsetzen, wie der Körper des Engels von einer Feuersäule verschlungen wurde, hörte Tsukasas Aufschrei, als der Drummer aus dem Spalt sprang und zu ihm eilte.

 

„Tsukasa!“, schrie Karyu entsetzt auf, bevor sie das wirbelnde Portal fortriss. „Oh mein Gott“, hörte er seine Liebe noch wispern, dann gab sein Körper den Kampf gegen seine Verletzungen endgültig auf und stürzte ihn in undurchdringliche Dunkelheit.

 

 
 

~*~

'Cause we could be immortals, immortals

Just not for long, for long

Live with me forever now

Pull the blackout curtains down

Just not for long, for long

We could be immortals

Immortals

~*~
 



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Ryo-ki
2023-02-16T03:24:35+00:00 16.02.2023 04:24
O hell, das fängt ja schon mal richtig mies an.
Ich habe ein bisschen gebraucht, mich zu orientieren. Eigentlich mag ich das nicht, aber zugleich spiegelt es sehr gut wider, was Zero gerade erlebt, denn auch er braucht ja ein bisschen.
Schön, dass du das Schachbrett wieder aufgreifst. Wobei ich mich noch immer frage - und eigentlich schon im letzten Kapitel gefragt habe -, ob der Traum so etwas wie Foreshadowing war - nur halt in der Realität. Zugleich wird es ja jetzt doch noch ein bisschen anders.
Gut, Hizumis Aussage wegen der Jahrhunderte und dem Millenium wird nun ein bisschen klarer. Allerdings war es schon ein bisschen viel von ihm verlangt, dass Zero das damals hätte allein erkennen sollen. Aber es sei Hizumi vergeben, immerhin ist es gar nicht so einfach, sich noch in die Vorstellung einzudenken, die diejenigen haben, die über weniger Wissen verfügen als eins selbst.

Ich habe schon mal gesagt, dass der Fürst echt krass drauf ist, und die Vorgehensweise hier zeigt das auch. Gleichzeitig war mein erster Gedanke, wie dieser das einfach so machen kann, denn bis dahin war ich zumindest davon ausgegangen, dass auch der Fürst ein einfacher Mensch ist, so wie eben Karyu und Zero grundlegend auch. Aber die Art, wie er Karyu tötet, hat so gar nichts Menschliches. Genauso wie die Trennung danach, die noch weit mehr davon abweicht. Wovon ich mich frage, warum Zero sie nicht sofort wieder aufbaut. Wenn ihm das einmal gelungen ist, muss es doch wieder möglich sein. Aber der Gedanke scheint ihm nicht mal zu kommen in all dem Schmerz und der Trauer.
Dieser Fürst kennt echt gar keine Grenzen. Und irgendwie scheint die Mächte auch nichts zu interessieren. War da nicht etwas mit zwei Seiten gewesen? Davon ist gar nichts zu sehen.

Hizumi! Endlich ist er da und kann Zero unterstützen. Selbst wenn es unerklärlich scheint, wie Zero gegen diesen übermächtigen Fürsten bestehen soll.
Und ich verstehe noch immer nicht, was genau Hizumi nun eigentlich ist.

Wie Zero noch immer nicht einmal die Vermutung hat, dass Tsukasa genauso mit drinhängt wie Hizumi, obwohl er die Unterhaltung zwischen beiden zumindest in Fetzen mitbekommen hatte.
Und er lässt sich ziemlich leicht ablenken, immerhin spielt der Fürst mit einem Schwert. Und dieser beschwert sich vorhin noch, dass Zeros immer gleiche Aussagen wegen Karyu langweilig werden? Das ist mit seinen aber auch nicht anders, vor allem in dem Zusammenhang, dass Zeros Position jetzt eindeutig besser ist als vorhin.

Zero ist einfach zu gut, wie er sogar noch zögert, den Fürsten zu töten. Immerhin könnte ihn das jeden Augenblick später sein eigenes Leben kosten.
Was hat Karyu denn da gesehen, wovor er Zero warnen will? Das verwirrt mich gerade.
Und nein, armer Zero.
Wo kommt Tsukasa her? Nicht dass Zero das hätte mitbekommen müssen, es ist nur gut, dass er da ist. Und das scheint ein Stück von Tsukasas Fähigkeit zu sein.

Okay, das mit den beiden Seiten verstehe ich jetzt, denke ich. Im Grunde ist die Gegenseite auch schon da, hat sich bislang nur nicht gezeigt gehabt (halt, bis Hizumi eingegriffen hat).

Und ich bin noch verwirrter.
Heißt das, Karyu und er hatten so oft sterben müssen, damit sie überhaupt bis in dieses Leben kommen, damit Karyu jetzt stirbt und sie somit seine Seele bekommen können? Aber hätten die beiden dann die anderen Leben nicht gemeinsam zubringen, ganz regulär sterben und wiedergeboren werden können?
Wieso war der Fürst ebenfalls eine Marionette? Ihn gab es doch schon, bevor Zero Karyus Seele an sich gebunden hat. Und er war schon davor so grausam zu den beiden gewesen. Da bin ich mal gespannt, ob das noch genauer aufgeklärt wird. Ich hoffe jedenfalls, dass das noch möglich sein wird.

"Er war des Lebens so müde, wollte seinen Frieden, wollte sich ausruhen." Dieser Satz berührt mich besonders.
Genauso wie es Zeros Entscheidung tut. Wobei ich mir keine andere hätte vorstellen können. Nicht nach all den Kämpfen in der Vergangenheit.

Jetzt sind sie der Meinung, dass Hizumi zu viel getan hat? Ehrlich, jetzt könnt ihr die vier auch ziehen lassen, nachdem ihr Hizumi und Tsukasa habt machen lassen.
Ich hoffe so sehr, dass sie alle vier durchkommen. Und dass Zero schnell Hilfe bekommt. Wie auch immer sie die Verletzung erklären wollen.

Nun heißt es also erstmal eine Weile abwarten, bis es weiter geht. Neugierig bin ich auf jeden Fall. Und ich habe gesehen, du hast den Verlauf von 75 auf 85 % hochgesetzt. Das bedeutet, es dauert nicht mehr ganz so lange bis die Geschichte beendet ist.


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