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Centuries

von

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Kapitel 1

Zeros Augen waren weit geöffnet, suchten zwischen den Schatten, die sich über die Zimmerdecke zogen, einen Punkt, an dem er sich festhalten konnte. Die Bettdecke lag irgendwo zu seinen Füßen, kalter Schweiß klebte an seinem Körper und ließ ihn frösteln. Die Paralyse, die ihn nach jedem dieser Träume packte, war altbekannt und brachte trotzdem immer eine kaum zu ertragende Panik mit sich. Nur quälend langsam begannen ihm seine Glieder wieder zu gehorchen, was von unangenehmem Kribbeln begleitet wurde. Er ächzte unterdrückt, ließ die Prozedur ansonsten jedoch stumm über sich ergehen, bis er sich endlich aufsetzen und seine verschwitzten Rasterzöpfe aus dem Gesicht wischen konnte.

 

„Fuck“, nuschelte er, die Beine nah an die Brust gezogen und mit einer Hand wie automatisch die Zigarettenschachtel umklammert, die neben seinem Futon auf dem Boden lag. Mit fest aufeinandergepressten Zähnen rappelte er sich hoch, die Knochen schmerzend, als wäre er bereits ein alter Mann. Für einen Sekundenbruchteil huschte ein bitteres Lächeln über sein Gesicht, während sich eine berechtigte Frage in seine Hirnwindungen schlich. Woher wollte ausgerechnet er wissen, wie sich ein alter Mensch fühlte? Seine Leben endeten immer zu früh, als dass er diese Erfahrung schon einmal hätte machen können.

 

Mit schlurfenden Schritten suchte er sich seinen Weg durch das dunkle Zimmer, erneut fröstelnd, als seine bloßen Füße die isolierenden Tatamimatten hinter sich ließen und auf die kalten Fliesen traten, mit denen die Kochnische ausgelegt war. Der kupferne Geruch von Blut hing noch immer in seiner Nase, genau wie der Schlachtenlärm in seinen Ohren nachhallte. Die Erinnerungen waren so frisch und roh, als wären sie eben erst entstanden; kein Schleier des Vergessens, der sich dämpfend über sie legte. In Nächten wie dieser wünschte er sich, nicht länger in diesem winzigen Rattenloch hausen zu müssen oder wenigstens einen Balkon zu besitzen, auf den er sich nun würde flüchten können. Derartiger Luxus war ihm jedoch noch nicht vergönnt, auch wenn er mit Hochdruck daran arbeitete. Also blieb ihm wie so oft nichts anderes übrig, als das klemmende Fenster über dem hüfthohen Kühlschrank aufzustemmen, sich ungelenk auf das Gerät zu ziehen und sich halb in die Fensteröffnung zu setzen, um so ein wenig der kühlen Nachtluft abzubekommen. Ein Gutes, das dieser alte, heruntergekommene Wohnblock für sich hatte, waren die Fenster, die man bis in sein Stockwerk problemlos öffnen konnte. Wer beschlossen hatte, dass ein Sturz aus Stockwerk vier und darunter ungefährlicher war als aus denen darüber, war ihm zwar ein komplettes Rätsel, aber beschweren würde er sich sicherlich nicht. Das Ratschen seines Feuerzeugs war über den Straßenlärm kaum zu hören, der in dieser Gegend nicht einmal in den frühen Morgenstunden nachließ, und auch die Luft war deutlich weniger sauber und angenehm, als er es sich gerne vormachen würde. Aber wenigstens der Rauch seiner Zigarette brannte auf wohltuende Weise in seinem Hals und bereits der erste Zug brachte eine gewisse Ruhe mit sich, die er gerade mehr als nötig hatte.

 

Er versuchte, nicht weiter über diese Erinnerung nachzudenken, sich mit nichtigen Überlegungen abzulenken, aber wirklich gelingen wollte es ihm nicht. Also richtete er seinen Blick weg von den nächtlichen Lichtern der Stadt ins dunkle Innere seines Zimmers. In der Spüle stapelte sich noch immer schmutziges Geschirr, das er heute Abend endlich hätte spülen sollen, bevor er die nächsten Tage unterwegs sein würde. Und auch der Wasserhahn war schon wieder undicht, tropfte munter vor sich hin und würde seine Wasserrechnung bis Ende des Monats gehörig in die Höhe treiben. Er seufzte lang gezogen und schloss für einen Moment die Augen. Immer diese mondänen Aufgaben, um die er sich schon längst hätte kümmern sollen. Man mochte meinen, dass einen Klempner anzurufen und Geschirr abzuwaschen keine unlösbaren Herausforderungen sein konnten, aber natürlich hatte er nichts dergleichen getan. Wie so oft. Doch sich nun darüber zu ärgern, war ebenso sinnlos wie so vieles in diesem Leben.

 

„Shit.“ Zero schnalzte unwillig mit der Zunge und presste energisch Daumen und Zeigefinger gegen seine geschlossenen Lider, bis bunte Punkte vor seinen Augen tanzten. Er musste aufhören, diese selbstzerstörerischen Gedanken zuzulassen. Er hatte ein Ziel, einen Sinn in diesem Leben und nur das zählte. Noch hatte er eine Chance, alles richtig zu machen. Er durfte es nicht vermasseln. Nicht schon wieder, verdammt.

 
 

~*~

 

Die Mittagssonne versteckte sich hinter tief hängenden Regenwolken, als Zero vollkommen übermüdet im Schneckentempo den Gehsteig entlangschlurfte, obwohl er schon viel zu spät dran war. Die Nacht hatte keinen Schlaf mehr für ihn bereitgehalten und ihm fehlte jeglicher Elan, sich zu beeilen. Ob sie nun fünf Minuten früher oder später aufbrechen würden, würde auch keinen Unterschied machen. Karyu bestand ohnehin immer darauf, sich so zeitig zu treffen, dass sie meist überpünktlich zu ihren Terminen erschienen. Die Reisetasche über seiner Schulter wurde mit jedem Schritt schwerer, sodass er sie am liebsten einfach abgestellt und vergessen hätte. Ach, was sagte er da? Wäre es nach ihm gegangen, hätte er sich nach der Frühschicht im kleinen Gemüseladen unweit seines Wohnblocks gar nicht erst auf den Weg in die Stadt gemacht, sondern sich stattdessen wieder in seinem Zimmer verkrochen. Aber wie so oft ging es auch heute nicht danach, was er wollte, sondern was ihr Management für sie vorgesehen hatte, und das würde diesmal eben eine Tour sein.

 

Ja, richtig gehört. D’espairs Ray würden nach über einem Jahr erneut auf Tour gehen. Drei Konzerte in einer Woche und das Tourfinale in Tokyo würde sogar aufgezeichnet werden. Und noch einen signifikanten Unterschied gab es zu ihren bisherigen Auftritten – sie würden eigene Roadies und Techniker gestellt bekommen, die ihnen zur Hand gehen würden. Prinzipiell ja eine gute Sache und etwas, worüber er sich wirklich freuen sollte, wäre er nicht so unendlich müde. Seine notorische Schlaflosigkeit schien in den letzten Monaten immer schlimmer zu werden, diese elenden Träume suchten ihn fast jede Nacht heim und er befürchtete, dass ihm irgendwann einfach die Kraft fehlen würde, weiterzumachen.

Der Wind frischte auf, als er die nächste Hausecke hinter sich ließ und brachte neben dem würzigen Duft des sich bereits verfärbenden Laubs auch die Stimmen seiner Bandkollegen mit sich. Für eine lange Sekunde blieb er wie angewurzelt stehen, als sein erster Blick nur ihm galt. Sein Herz krampfte, wie immer wenn er ihn sah, bevor es mit doppelter Geschwindigkeit weiterschlug.

 

„Reiß dich zusammen“, knurrte er, verärgert über diese automatische Reaktion seines Körpers, gegen die er sich nie wehren konnte. Energisch drückte er die Tür im hohen Metallzaun auf, der das Gelände von Sweet Child Records umschloss und hinter dem Hizumi, Karyu und Tsukasa rauchend beisammenstanden. Ohne, dass er etwas dagegen hätte unternehmen können, sackten seine Schultern noch mehr herab, als sein Blick auf den weißen Minivan mit dem Logo des Labels an den Seiten fiel, der unweit des Grüppchens mit offenstehenden Seitentüren nur darauf wartete, beladen zu werden. „Wir können uns den Shinkansen also abschminken“, motzte er, kaum hatte er seine Kollegen erreicht und seufzte unhörbar. Achtlos ließ er seine Tasche fallen, zog sich die Mütze seines Hoodys tiefer ins Gesicht und zündete sich eine Zigarette an. Der Rauch war noch nicht einmal in seinen Lungen angekommen, da verpuffte die Verärgerung, die er eben noch empfunden hatte, und machte einer knochentiefen Erschöpfung Platz. Er hätte zu Hause bleiben sollen, das wäre für alle das Beste gewesen, was ihm die Worte ihres Sängers auch deutlich genug bestätigten.

 

„Himmel, Zero, hör auf dreinzuschauen, als wärest du kurz vor einem Massenmord. Karyu hat alles versucht, aber das Label hat uns nur die Wahl zwischen Zugtickets oder Einzelzimmern gegeben.“ Hizumis rechte Braue wanderte nach oben und Zero hatte keinerlei Mühe, an seinen Augen ablesen zu können, was er nicht aussprach. Der andere wusste haargenau, dass er seine Privatsphäre brauchte, denn allein bei dem Gedanken, einen dieser Träume im selben Zimmer wie einer seiner Bandkollegen durchleben zu müssen, wurde ihm übel. Unter diesen Umständen hatte er demnach froh zu sein, dass eine ruhige Zugfahrt alles war, worauf er verzichten musste.

 

‚Danke, Hizumi, ich hab den Wink mit dem Zaunpfahl verstanden‘, murrte er innerlich und öffnete den Mund, um das Thema zu wechseln, kam jedoch erst gar nicht dazu.

 

„Karyu kann auch für sich selbst sprechen“, meldete sich der Leader zu Wort und lenkte damit nicht nur Zeros Aufmerksamkeit auf sich. Karyu zog eine Grimasse, gerichtet an ihren Sänger, was dieser wiederum nur mit einem herzhaften Augenrollen kommentierte. Eine Geste, die Zero dem Kleinsten ihrer Runde am liebsten gleichgetan hätte, würde ihn das nicht auf dieselbe Entwicklungsstufe wie seine Kind gebliebenen Bandkollegen stellen. „Das Problem waren nämlich nicht nur die Einzelzimmer …“, redete der Gitarrist weiter, „sondern auch irgendwas, was das Label noch geplant hat. Sie wollten mir nicht mehr sagen, weil sie abwarten wollen, wie die Konzerte laufen, aber es scheint kostspielig zu sein. Zumindest war das ihre Begründung …“ Er zuckte mit den Schultern und meinte in einem Tonfall, der nun fast schmerzhaft fröhlich zu sein versuchte: „Wie dem auch sei … erst einmal hallo, Zero.“ Das Lächeln, welches ihm Karyu daraufhin schenkte, machte es ihm nicht gerade leicht, seine neutrale Miene beizubehalten.

 

„Ja, ja, hallo zusammen“, nuschelte er also nur betont desinteressiert und ging gar nicht weiter auf Karyu und seine Erklärungen ein. Zero war bewusst, wie schäbig er sich ihrem Leader gegenüber verhielt und genauso fühlte er sich auch, aber was sein musste, musste eben sein. Daran konnte er nichts ändern. Unhörbar seufzend widmete er sich seiner Kippe, bevor er sich noch zu irgendeiner Dummheit hinreißen ließ. Prima. Fünf Stunden auf engstem Raum mit seinen Kollegen, die alle drei einen viel zu hyperaktiven Eindruck auf ihn machten, das konnte ja was werden.

 

„He, nun sei nicht schon wieder mies drauf.“ Tsukasa legte den Arm um seine Schultern und zog ihn mit erstaunlicher Kraft an seinen schlaksigen Körper. Der Nächste, der ihn aufzumuntern versuchte – prima.

 

„Ich bin nicht mies drauf, ich bin nur müde und hatte auf eine Mütze Schlaf im Zug gehofft, das ist alles.“

 

„Schlechte Nacht gehabt?“, wollte Karyu wissen, woraufhin er lediglich knapp nickte.

 

„Ach, im Van kannst du doch genauso schlafen. Hizumi nervt sowieso schon die ganze Zeit herum, dass er fahren will, da kannst du dich entspannt zurücklehnen. Und wenn alles gut geht, sind wir gegen fünf bereits in Osaka und können uns in Ruhe auf die Show vorbereiten, weil wir jetzt Leute haben, die für uns arbeiten!“ Die letzten Worte hatten den Mund des Drummers mit einem derart breiten Grinsen verlassen, dass man befürchten musste, Tsukasas Gesicht könnte jeden Moment in zwei Hälften zerbrechen.

 

„Erhoff dir da mal nicht zu viel“, nuschelte Zero, doch bevor dem tadelnden Blick des anderen auch ebensolche Worte folgen konnten, die ihn nur wieder daran erinnern sollten, dass gerade niemand seinen Pessimismus hören wollte, knurrte es unheilvoll neben ihnen.

 

„Wer nervt hier herum? Tsukatchi, du spielst mit deinem Leben.“

 

Im nächsten Moment verschwand Tsukasas Arm von seinen Schultern, als er vor ihrem Sänger die Flucht ergriff, der ihn lauthals gackernd über den Parkplatz jagte.

 

„Als würde ich schlafen können, wenn ausgerechnet Hizumi hinterm Steuer sitzt“, nuschelte Zero abwesend und hatte ganz verdrängt, dass Karyu noch neben ihm stand. Dementsprechend verspannten sich auch seine Schultern, als er ihn ansprach.

 

„Ich kann auch fahren, wenn …“

 

„Na, lass gut sein“, unterbrach er ihn forsch, warf seine nur halb aufgerauchte Zigarette auf den Boden und trat sie aus, bevor er seine Reisetasche anhob.

 

„Bist du sauer? Ich hab wirklich versucht, denen da oben das Geld für die Tickets aus den Rippen zu leiern, aber …“

 

„Karyu?“

 

„Ja?“

 

„Halt einfach die Klappe.“ Er hob den Kopf und blickte dem anderen heute zum ersten Mal direkt in die Augen, in denen ein derart zerknirschter Schimmer lag, dass das schlechte Gewissen einschlug wie eine Bombe. Statt sich jedoch für seine harschen Worte zu entschuldigen, hob er lediglich den rechten Mundwinkel in der Andeutung eines Lächelns und schüttelte den Kopf. „Ich bin nicht sauer, nur wirklich verdammt müde, okay? Und jetzt solltest du lieber mal die Kindsköpfe einsammeln, damit wir loskönnen. Manchmal bezweifle ich wirklich, dass die beiden älter sind als wir.“

 

„Ehm … okay.“ Karyus leises Lachen, das seinen gestotterten Worten folgte, klang wie immer eigenartig befangen in seiner Gegenwart, aber Zero würde den Teufel tun und mehr in diesen Umstand hineininterpretieren. Er musste aufhören, seine Wünsche und Hoffnungen auf den Gitarristen zu projizieren. Gefühle hatten ihnen noch nie geholfen, ganz im Gegenteil, sie waren es, weshalb er sich Leben um Leben in dieser Misere wiederfand.

 

Er konnte die Blicke ihres Leaders förmlich spüren, wie sie ein Loch in seinen Hinterkopf zu brennen versuchten, als er zum Van hinüberging. Aber er weigerte sich, sich etwas anmerken zu lassen, verstaute stattdessen seine Tasche im Inneren des Wagens und setzte sich auf die hinterste Sitzreihe ans Fenster, das nicht zum Innenhof zeigte. Das einzig Gute, was er diesem unfreiwilligen Road-Trip abgewinnen konnte, war die   Tatsache, dass sie den Van wenigstens nicht wie früher bis unters Dach mit ihren Instrumenten und Equipment vollpacken mussten und tatsächlich so etwas wie Beinfreiheit herrschte. Das war ebenso wie ihre Roadies und die Techniker ein Vorteil, seit sie bei Sweet Child unter Vertrag standen, wenn auch einer der wenigen.

 
 

~*~

 

„Ich muss pissen wie ‘n Elch!“, meinte Hizumi mit viel zu lauter Stimme, um auch ja über die Musik im Van zu hören zu sein, bog von der Schnellstraße ab und folgte den Schildern, die ihnen den Weg zu einem kleinen Rastplatz wiesen.

 

„Und wieder informiert uns Doktor Yoshida über Vorgänge seines Körpers, die die Welt nicht wissen muss.“ Zero kaute augenrollend auf seinem faden Kaugummi herum und verkniff sich das Schmunzeln, welches sich bei Karyus heiterem Gelächter auf seine Lippen schleichen wollte. Immer, wenn seine trockenen Kommentare nicht an den Gitarristen gerichtet waren, wussten diese ihn köstlich zu amüsieren. Er hätte es zwar nie vor sich selbst zugeben können, aber tief in seinem Inneren wusste er, dass dieser Umstand nicht unerheblich dafür verantwortlich war, dass er sich mit seinem Sarkasmus nur sehr selten zurückhielt. Er liebte Karyus Lachen und wenn der andere glücklich war, musste er sich zurückhalten, sich nicht von dieser Freude mitreißen zu lassen.

 

„Im Gegensatz zu dir spreche ich wenigstens mit meiner Umwelt.“ Der Sänger drehte sich zu ihm herum und schenkte ihm ein höhnisches Lächeln, kaum war der Minibus zum Stehen gekommen.

 

„Dann sprichst du ja genug für uns beide.“ Er erwiderte den Blick des anderen scharf, schnappte sich seine Zigaretten und folgte Karyu nach draußen, der fast fluchtartig den Wagen verlassen hatte. Zu verdenken war es ihm nicht. Hizumi murmelte noch irgendetwas vor sich hin, aber er beachtete ihn nicht weiter und stellte sich zu den beiden anderen, die bereits an ihren Kippen hingen. Tsukasa war noch immer so aufgekratzt wie vor über drei Stunden und langsam aber sicher erkannte er auch in ihrem Gitarristen die ersten Anzeichen von Nervosität. Karyus lange Finger spielten mit dem Zipper seines Parkas und gleichzeitig drehte er seine Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger der anderen Hand, wenn er nicht gerade an ihr zog. Mit dem Absatz seines Stiefels tippte er einen unruhigen Takt auf dem Asphalt, hielt inne und trat von einem Fuß auf den anderen, bevor das Spielchen von Neuem begann. Zero musste sich abwenden, um den Größten nicht wahlweise anzumotzen, dass er endlich stillhalten sollte oder ihn in eine Umarmung zu ziehen, um denselben Effekt zu erzielen. Er blickte sich auf dem Parkplatz um und beschloss, das Innere des Rasthofs näher in Augenschein zu nehmen. Ihm war noch immer übel von der Fahrt und vielleicht würde eine Cola seinen Magen beruhigen.

 

„Hey, wo gehst du hin?“, rief Tsukasa, kaum hatte er sich drei Schritte von den beiden entfernt.

 

„Ich hol was zu trinken.“ Ohne sich umzudrehen und vor allem, ohne anzubieten, den beiden etwas mitzubringen, ging er weiter. Soziale Interaktionen fielen ihm schon unter normalen Umständen nicht leicht, aber wenn er wie heute übermüdet war, waren sie ein Ding der Unmöglichkeit.

 

Als sich die automatischen Türen des Rasthofs für ihn öffneten, schlug ihm nach Kaffee duftende, aber vor allem warme Luft entgegen, die ihm erst bewusst machte, wie kalt es heute war. Obwohl sich die Sonne in den letzten Stunden durch die Wolken gekämpft hatte und es erst Ende September war, war das Thermometer schon seit Tagen beharrlich im einstelligen Bereich geblieben. Eigentlich viel zu kalt für diese Jahreszeit und doch irgendwie zu seiner miesen Stimmung passend.

Trotz allem schienen seine sozialen Fähigkeiten nicht so eingerostet zu sein, wie er angenommen hatte, denn statt nur eine Cola für sich zu kaufen, fand er sich Minuten später mit einer Zweiliterflasche der Brause und einer weiteren Kleinigkeit vor dem Kassier stehend wieder. Für einen Moment zögerte er, blickte auf die bunte Tüte in seiner Hand herab, bevor er sie nachdrücklich über die Theke schob und bezahlte.

 

„Wenn du schon entscheidest, euch beide leiden zu lassen, dann sende ihm wenigstens nicht immer gemischte Signale.“ Zero fuhr zusammen, als Hizumis Stimme plötzlich hinter ihm erklang und ihn aus seinen Gedanken riss.

 

„Ich sende niemandem gemischte Signale“, konterte er, schob seinen Geldbeutel zurück in die Hosentasche, klemmte sich die Cola unter den Arm und machte Anstalten, den Sänger erneut einfach stehenzulassen. Aber noch bevor er wieder ins Freie treten konnte, hatte ihn der andere eingeholt und hinderte ihn daran.

 

„Ach, nein?“ Hizumis Blick senkte sich vielsagend auf die Tüte mit sauren Gummitierchen, die Zero in der Hand hielt und von der sie beide wussten, dass er sie sicherlich nicht für sich selbst gekauft hatte. „In der einen Sekunde bist du kalt wie ein Fisch zu ihm, beachtest ihn kaum, nur um ihm im nächsten Moment Süßkram zu kaufen.“

 

„Du weißt, wie Karyu werden kann, wenn er nervös ist.“

 

„Und da dachte ich immer, Zucker verstärkt das nur.“

 

„Bei normalen Leuten vielleicht. Willst du behaupten, dass unser Großer normal ist?“ Diesmal ließ Zero das Lächeln zu, das an seinen Mundwinkeln zupfte und schaffte es damit, dass die Miene des anderen wieder etwas versöhnlicher wurde. Die Tüte mit den Gummitierchen verstaute er in der Bauchtasche seines Hoodys und zog sich die Kapuze über.

 

„Warum quälst du euch so?“ Hizumi seufzte kopfschüttelnd, nahm ihm die Flasche ab, um sich bei ihm unterzuhaken, und dirigierte ihn in Richtung ihres Vans. Tsukasa und Karyu mussten sich wieder ins Innere des Wagens zurückgezogen haben oder waren ebenso dem Ruf der Natur gefolgt wie der Sänger vorhin, denn von den beiden war weit und breit nichts zu sehen.

 

„Denkst du etwa, ich mach das, weil’s mir so viel Spaß macht?“ Hizumi erwiderte seinen giftigen Blick nur mit einer hochgezogenen Augenbraue und beobachtete ihn dabei, wie er sich eine Zigarette ansteckte. „Ich kann nicht riskieren, ihn wieder zu verlieren. Nicht noch einmal.“ Zero sog den Rauch tief in seine Lungen, hielt den Atem an, bis es brannte und entließ ihn nur langsam wieder. „Heute Nacht hab ich ihn erneut sterben sehen. Ich hatte ihn eben erst wiedergefunden und musste mitansehen, wie ein Pfeil sein Herz durchbohrt.“ Er presste Daumen und Zeigefinger gegen seine Nasenwurzel, die Verzweiflung so nah an der Oberfläche seines Bewusstseins, dass er sich kaum noch unter Kontrolle hatte. „Verstehst du nicht? Es gab unzählige Leben, in denen ich nicht den Hauch einer Chance hatte und selbst, wenn die Zeit einmal nicht gegen uns war, habe ich versagt. Diesen Fehler werde ich nicht noch einmal machen, nur weil ich blind vor Liebe unvorsichtig werde.“

 

„Ich versteh dich doch, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass dein Verhalten ihn früher oder später zerstören wird. Verdammt, Zero, er hat keine Ahnung, warum er sich so bedingungslos zu dir hingezogen fühlt, warum ihn die Sehnsucht nach dir schier auffrisst. Er begreift nicht, kann nicht begreifen, dass er dir ebenso wenig entfliehen kann wie du ihm.“ Zero blieb stumm, denn was hätte er darauf auch sagen sollen? Nichts von dem, was Hizumi ihm gerade an den Kopf geworfen hatte, war neu. Sie waren aneinander gebunden, Karyu und er, mit unsichtbaren Fesseln, die unzerstörbar die Jahrhunderte überdauerten, und es war seine Schuld. Alles war seine Schuld. Er zuckte zusammen, als er eine vorsichtige Berührung an seiner Schulter spürte. Den Kopf zur Seite drehend sah er genau in Hizumis durchdringende Augen, die nicht nur metaphorisch gesprochen bis auf den Grund seiner Seele blicken konnten.

 

„Es ist egal, was ich fühle, Hizumi, und sein angebliches Interesse an mir ist nichts weiter als eine seiner typisch substanzlosen Schwärmereien.“

 

„Du machst dir was vor und du weißt es.“

 

Zero hätte am liebsten laut aufgelacht, als Hizumi genau das aussprach, was ihm auch gerade durch den Kopf gegangen war. Aber er musste sich einfach einreden, dass Karyus Verhalten ihm gegenüber nichts zu bedeuten hatte. Dass ihr Gitarrist noch immer der oberflächliche Mensch war, der kein Interesse an ernsthaften Gefühlen hatte, so wie er ihn kennengelernt hatte. Würde er die positive Veränderung des Jüngsten in den letzten Jahren anerkennen, könnte er es noch weniger ertragen, seine Distanz wahren zu müssen. Er schüttelte den Kopf und meinte mit einem resignierten Seufzen auf den Lippen: „Und wenn schon. Er muss leben, das ist das Einzige, was zählt.“

 

„Du vergisst dabei nur, dass du dieses Mal nicht allein bist.“ Aus weiter Ferne hörte Zero ein Rauschen wie von zahllosen Flügelschlägen und hinter Hizumis lang gezogenem Schatten, den die tief stehende Nachmittagssonne auf den Asphalt warf, schienen Schwingen aus seinem Rücken zu brechen. Aber als er den Blick wieder auf seinen Freund richtete, hatte sich an seinem Äußeren nichts verändert.

 

„Angeber.“

 

„Ich hab keine Ahnung, was du meinst.“ Hizumi lächelte ein durch und durch selbstzufriedenes Lächeln und drückte die Schultern durch. Die geflügelte Schattengestalt zu seinen Füßen tat es ihm gleich, mit dem geringfügigen Unterschied, dass sie die Bewegung weitaus imposanter aussehen ließ.

 

„Ich hätte einfach verschwinden sollen, als die Erinnerungen zurückkamen.“

 

„Du weißt besser als ich, dass das keine Entscheidung war, die du treffen konntest. Du hättest Karyu nie alleinlassen können, hast es nie gekonnt.“

 

„Ich weiß.“ Zeros Schultern sackten herab und für einen Moment schloss er geschlagen die Lider. Ja, zum Teufel, ihm war bewusst, dass er in der Sekunde, als er in Karyus Augen geblickt hatte, sein Schicksal besiegelt hatte. „Aber wenn du nicht gewesen wärst, hätte ich es wenigstens versucht.“

 
 

~*~

 

In dieser verhängnisvollen Nacht vor über fünf Jahren war ein wahrer Gewittersturm über die Stadt hereingebrochen. Zero glaubte fast, das Donnergrollen erneut hören und den Regen spüren zu können, der sein knappes Bühnenoutfit binnen Sekunden durchnässt hatte. Bis zu dem Moment, als der große Kerl und seine beiden Anhängsel an ihren Tisch gekommen waren, war der Abend prima verlaufen. Na ja, zumindest so gut wie Abende in der Gesellschaft seiner damaligen Band eben sein konnten. Ihr Minikonzert in der hiesigen Musikkneipe hatten sie reibungslos über die Bühne gebracht und obwohl nicht viele der Anwesenden ihre Demo-Tapes gekauft hatten, war er sich sicher gewesen, dass sie bei dem ein oder anderen einen bleibenden Eindruck hinterlassen hatten. Von daher hatte er sich auch nicht viel dabei gedacht, als ihnen die drei Gestalten zu ihrer Show gratuliert und ihm einen Drink hatten spendieren wollen. Aus dem ersten Bier waren schnell weitere geworden und, bis er sich versehen hatte, hatte sich der Rest seiner Band nach und nach verabschiedet, bis er nur noch mit Hizumi, Tsukasa und Karyu, seinen drei neuen Alkoholbekanntschaften, am Tisch gesessen war. Mit einem Mal hatte sich die Stimmung verändert, als Karyu seine lockere und zeitweise etwas stumpfsinnige Art abgeschüttelt hatte, als wäre sie ein schlecht sitzendes Kostüm, und ernst geworden war. Zero hatte seinen Ohren nicht getraut, als er ihm nahezu feierlich eröffnet hatte, dass sie ihn als Bassisten für ihre Band wollten. Vermutlich wäre er damals aufgestanden und gegangen, hätte er nicht schon so viel getrunken gehabt, denn obwohl er sich in seiner Band schon lange nicht mehr wohlgefühlt hatte, hätte er sich rein schon aus Prinzip niemals von diesen komischen Gestalten abwerben lassen. Doch der Alkohol hatte seine Neugierde geschürt und das, was ihm die drei berichtet hatten, hatte ihn in ihren Bann geschlagen. Je mehr Karyu erzählt hatte, desto faszinierter war er von seiner Vision und, ja, auch von ihm als Person gewesen. Er hatte förmlich an seinen Lippen gehangen, hatte die anderen beiden ebenso wie die laute Musik und das Stimmengewirr um sie herum längst verdrängt, bis er den Fehler gemacht und direkt in diese ausdrucksstarken Augen gesehen hatte. Ihr Blickkontakt war wie ein Blitzschlag gewesen, der ihn beinahe von seinem Stuhl gerissen hatte, hätte sich nicht ein Arm stützend um seine Mitte gelegt. Bilder hatten seinen Geist geflutet, begleitet von rohen, so unendlich schmerzvollen Emotionen, dass er nicht mehr hatte atmen können.

 

Er wusste auch jetzt Jahre später nicht, wie er auf dem Flachdach des Klubs gelandet war, nur, dass ihn der peitschende Regen wie aus einer Trance geholt hatte. Wie ein Ertrinkender hatte er nach Atem gerungen, war über den Kies gewankt, bis ihn nur noch eine Fußbreite vom Rand des Daches getrennt hatte. Das Fehlen eines Sicherheitszauns war wie ein Omen gewesen, eine Chance, diesem Irrsinn zu entfliehen, der sich wie ein Krebsgeschwür in seinem Geist ausgebreitet hatte.

 

„Das würde ich an deiner Stelle nicht tun. Wir sind hier nur im sechsten Stock, wenn du Pech hast, fühlst du den Aufprall noch, bevor du stirbst.“

 

„Was?“ Er war so schnell herumgewirbelt, dass er sich auf die Knie hatte fallen lassen müssen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Ein zynischer Teil in ihm hatte später, viel später festgestellt, dass selbst in diesem Moment der grenzenlosen Verzweiflung und Verwirrung auf seinen Überlebensinstinkt Verlass gewesen war. Eine Gestalt war auf ihn zugekommen, war jedoch stets in den Schatten verborgen geblieben, sodass er lediglich Umrisse hatte erkennen können.

 

„Du solltest wieder mit rein kommen, bevor du dir hier noch den Tod holst.“

 

„Wer?“ Er war noch immer so schrecklich verwirrt gewesen, die Angst wie eine stählerne Faust um sein Herz, dass sein Hirn sich geweigert hatte, vollständige Sätze zu bilden.

 

„Und da dachte ich, ich hätte mich eben schon vorgestellt. Hizumi, zu deinen Diensten.“ Die Gestalt hatte sich in einer fließenden Bewegung vor ihm verbeugt und obwohl er seine Gesichtszüge noch immer nicht hatte erkennen können, war er sich sicher gewesen, das zynische Lächeln aus der tiefen Stimme heraushören zu können. Doch schon im nächsten Moment war ein Blitz gleißend hell über den Nachthimmel gezuckt und hatte beleuchtet, was die Schatten bis dahin versteckt gehalten hatten. Ein schlanker Körper, schwarzes Haar, das in nassen Strähnen das schmale Gesicht mit den unnatürlich blauen Augen umrahmt hatte, und strahlend weiße Flügel, die hinter Hizumi schier endlos in die Höhe zu ragen schienen. Ein hohes Pfeifen hatte mit einem Mal nicht nur das tosende Unwetter, sondern auch den Lärm in Zeros Kopf übertönt, als er zu begreifen versucht hatte, was er zu sehen glaubte.

 

„Was bist du?“, formten seine Lippen eine Frage, von der er nicht gewusst hatte, ob er sie tatsächlich laut ausgesprochen hatte. Aber sein Gegenüber schien ihn verstanden zu haben, war weiter auf ihn zugekommen, bis er direkt vor ihm auf die Knie gegangen war. Die Hände, die sich in einer schützenden Geste an seine Wangen gelegt hatten, waren erstaunlich warm gewesen und schienen das Einzige zu sein, das ihn noch in dieser Welt hatte halten können.

 

„Ich bin, was immer du brauchst. Ein Schutzengel, ein Wächter, ein … Dämon?“ Das Grinsen, das Hizumi ihm daraufhin geschenkt hatte, war gleichermaßen beruhigend wie erschreckend gewesen. „Vielleicht kann ich aber auch einfach nur ein Freund sein, der dir zur Seite steht.“

 

„Was geschieht mit mir?“

 

„Du hast in den Abgrund deines Schicksals geblickt … und er hat zurückgesehen.“

 
 

~*~

 

„Zero? Zero!“ Wie aus weiter Ferne drang Hizumis Stimme an seine Ohren und holte ihn aus Erinnerungen, die für einmal nicht mit unerträglichen Schmerzen und Trauer verbunden waren.

 

„Mh?“ Hizumi war erneut ernst geworden und als Zero seine Aufmerksamkeit wieder auf ihn richtete, erkannte er eine steile Sorgenfalte zwischen seinen Brauen.

 

„Du musst das hier nicht allein durchstehen, wann begreifst du das endlich?“

 

„Mh, lass mich überlegen, vielleicht, wenn du mir versicherst, dass du eingreifen wirst, bevor …“

 

„Du weißt, dass mir das verboten ist.“

 

„Ja, verdammt, das weiß ich. Also was nutzt es mir schon, dass du hier bist? Wenn es darauf ankommt, bin ich doch wieder auf mich alleingestellt.“ Für einen Sekundenbruchteil glaubte Zero, einen verletzten Zug um Hizumis Mund erkennen zu können, aber im nächsten Moment blickte er ihm wieder mit vollkommen neutraler Miene entgegen.

 

„Dein Kampf über die Jahrhunderte und deine Beharrlichkeit haben, wenn schon nicht ihr Mitgefühl, dann aber zumindest das Interesse höherer Mächte geweckt, zählt das denn nicht?“

 

„Ich will weder ihr Mitleid, noch bin ich eine Zirkusattraktion, die sie bestaunen können. Alles, was ich will, ist Karyus Sicherheit. Er soll sein Leben endlich leben dürfen.“ Zero machte sich los, schnippte den Stummel seiner größtenteils verdampften Zigarette auf den Boden und gab ihr mit dem Absatz seines Schuhs den Todesstoß. „Friede, Hizumi, ist alles, was ich jemals von ihnen annehmen würde.“

 

Gerade wollte er sich in Bewegung setzen, als Tsukasa und Karyu hinter dem Gebäude des Rasthofs auftauchten und in einiger Entfernung an ihnen vorbeigingen. Die beiden bemerkten sie nicht einmal, so vertieft waren sie in ihr Gespräch. Der Gitarrist hatte den Arm um die Schultern des kleineren Mannes gelegt und redete mit der anderen Hand wild gestikulierend auf ihn ein, bis Tsukasa plötzlich in schallendes Gelächter ausbrach. Auch Karyu lachte, klopfte seinem hustenden und prustenden Freund auf den Rücken, bevor sie sich, einander wie die kleinen Jungs schubsend, wieder auf den Weg in Richtung Van machten.

 

„Das könntest du an Tsukasas Stelle sein.“ Wieder riss ihn Hizumis Stimme aus seinen Gedanken und erst jetzt bemerkte er, wie intensiv er die beiden gemustert hatte.

 

„Ja, in einer perfekten Welt vielleicht.“ Er ließ den Sänger stehen und ging ebenfalls auf den Minibus zu, Hizumis gemurmeltes „Sturer Esel“ nach außen hin ignorierend. Innerlich brodelte es jedoch in ihm, schienen sich die Worte des Sängers wieder und wieder im Kreis zu drehen, bis sie drohten, ihn einem Strudel gleich mit sich in die Tiefe zu ziehen.

 

‚Das könntest du an Tsukasas Stelle sein.‘

‚Warum quälst du euch so?‘

‚Sturer Esel.‘

‚Er begreift nicht, kann nicht begreifen, dass er dir ebenso wenig entfliehen kann wie du ihm.‘

‚Du vergisst dabei nur, dass du dieses Mal nicht allein bist.‘

 

Himmel, wie sehr er Hizumis Worten Glauben schenken wollte. Wie sehr er sich wünschte, diese Last nicht allein tragen zu müssen und endlich diesem unbändigen Verlangen in ihm nachgeben zu können. Seine Augen klebten förmlich an der hochgewachsenen Gestalt ihres Jüngsten, der gerade im Begriff war, einzusteigen. Aber beinahe so, als hätte Karyu seine Blicke bemerkt, hielt er in jeder Bewegung inne und drehte sich herum.

 

„Hey, Zero, da bist du ja.“

 

Statt etwas auf diese überschwängliche Begrüßung zu erwidern, zog er die Tüte aus der Bauchtasche seines Hoodys und hielt sie seinem Kollegen unter die Nase.

 

„Hab dir Nervennahrung mitgebracht, du sahst vorhin so aus, als hättest du die dringend nötig.“

 

„Uh, sogar die Sauren, die mag ich am liebsten. Danke, lieb von dir.“

 

Zero versuchte, das strahlende Lächeln und die ehrliche Freude, mit der Karyu diese banale Kleinigkeit entgegennahm, zu ignorieren, was ihm diesmal sogar einigermaßen gelang, da sich Tsukasa entrüstet zu Wort meldete.

 

„Und was krieg ich?“

 

„Mach das mit Karyu aus, vielleicht teilt er ja.“ Zero drehte sich herum und richtete seine Aufmerksamkeit auf Hizumi, der gerade zu ihnen aufgeholt hatte. Der Drummer versuchte derweilen, Karyu mit Engelszungen einige der Gummitiere abspenstig zu machen, der sich jedoch unnachgiebig weigerte. ‚Wie die Kinder‘, dachte er nicht zum ersten Mal und streckte auffordernd die Hand aus. „Gib mir mal die Schlüssel, ich fahre.“

 

„Du?“ Hizumis Stirn legte sich in Falten, während er ihn ungläubig musterte.

 

„Ja, ich. Mir ist übel und ihr wollt sicherlich nicht, dass ein Unglück geschieht, oder? Also, die Schlüssel, bitte.“

 

„Wenn du auch nur halb so übermüdet bist, wie du aussiehst, kommen wir eher am nächsten Straßenschild als in Osaka an.“ Trotz seiner Worte hielt er ihm den Wagenschlüssel entgegen, aber noch bevor Zero danach greifen konnte, schob sich ein langer Arm in sein Blickfeld und schnappte ihm den Bund vor der Nase weg.

 

„Dann fahre eben ich und du setzt dich nach vorn, dann sollte das mit der Übelkeit auch besser werden, okay?“

 

„Von mir aus“, brummte er, zog Hizumi die Cola aus der Hand und stapfte auf die Beifahrerseite.

 

„Hört, hört, der Leader hat gesprochen.“

 

„Halt die Klappe, Tsukatchi.“

 

„Selber. Krieg ich jetzt was von dem Gummizeug?“

 

„Na~hain!“

 

„Bitte!“

 

„Nö.“

 

Zero rollte mit den Augen, konnte jedoch nicht verhindern, dass sich ein feines Lächeln auf seine Lippen legte, kaum hatte er sich weggedreht und war zur Beifahrerseite hinübergegangen. Sie waren schon ein seltsamer Haufen und manchmal, so wie jetzt, konnte er für einen Augenblick alles vergessen, was so schwer auf seiner Seele lag und einfach nur diesen Umstand genießen.

 

„So, alle da?“, fragte Karyu einige Momente später und startete den Motor.

 

„Alle da“, antwortete Tsukasa pflichtbewusst für den Rest ihrer Truppe und kaute zufrieden auf einem Gummitier herum, das er Karyu doch noch hatte aus den Rippen leiern können. Karyu grinste, fuhr an und lenkte den Van langsam vom Parkplatz.

 

„Stört es dich?“, erkundigte er sich, nachdem er das Fenster auf seiner Seite einen kleinen Spalt nach unten gekurbelt hatte, um die kühle Herbstluft ins Innere des Fahrzeugs zu lassen.

 

„Nein, nein, mach nur.“

 

Zero lehnte sich gegen die Kopfstütze und blickte nach draußen, während die Welt immer schneller an ihnen vorbeizog. Vielleicht hatte Hizumi recht damit, wenn er sagte, dass er mit seinem Verhalten Karyu mehr schadete, als dass er ihm half. Aber verdammt, er hatte solche Angst. Wieder schob sich das Bild des Rebellenfürsten vor seine Augen, zog der Moment, als das Leben seinen Körper verließ, wie eine Nebelschwade an ihm vorbei. Er durfte ihn nicht noch einmal verlieren.

 
 

~*~

 

Zero schreckte hoch und starrte mit weit geöffneten Augen aus der Windschutzscheibe. Sein Herz raste, obwohl er nicht hätte sagen können, was ihn so erschreckt hatte.

 

„Na, wieder wach?“

 

Wach? Er? Wieso? Er schüttelte sacht den Kopf und rieb sich über die verkrusteten Augen, bevor er sich zur Seite drehte, um Karyu neben ihm anzusehen.

 

„Bin ich echt eingeschlafen?“, fragte er überflüssigerweise, was sein Gegenüber zu einem breiten Lächeln veranlasste.

 

„Sieht fast so aus. Geht es dir besser?“ Er nickte automatisch und stellte erstaunt fest, dass seine Antwort tatsächlich der Wahrheit entsprach. Was ein wenig Schlaf nicht alles ausmachen konnte. Träge blinzelte er, lehnte sich in seinem Sitz zurück und schaute wieder nach draußen. Von hinter ihm konnte er das Murmeln eines Gesprächs hören, aber Hizumi und Tsukasa redeten zu leise, als das er hätte verstehen können, was sie sagten. Im Radio lief gerade Endless Rain von X und wie immer, wenn er dieses Lied hörte, zog sich eine feine Gänsehaut über seine Unterarme. „Wir sind auch gleich da“, sprach Karyu weiter und fuhr an, als die Ampel, an der sie bis jetzt gewartet hatten, auf Grün umsprang.

 

„Zeit wirds, ich fühl mich schon richtig zusammengestaucht vom langen Sitzen.“ Gerade, als er sich so drehte, dass er an die Cola herankommen würde, die er in die Mittelkonsole gestellt hatte, erkannte er aus dem Augenwinkel etwas, was ihm jegliches Blut aus den Wangen trieb. „Brems!“, hörte er sich rufen, während grenzenlose Panik seinen Körper erstarren ließ, als der Lkw von rechts auf ihren Van zugeschossen kam.

 
 

~*~

They say we are what we are

But we don't have to be

I'm bad behavior but I do it in the best way

I'll be the watcher

Of the eternal flame

I'll be the guard dog of all your fever dreams

 

I am the sand in the bottom half of the hourglass, glass

I try to picture me without you but I can't

 

'Cause we could be immortals, immortals

Just not for long, for long

Live with me forever now

Pull the blackout curtains down

Just not for long, for long

 

We could be immortals, immortals

~*~
 



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Ryo-ki
2023-02-07T03:46:53+00:00 07.02.2023 04:46
Ein spannender Wechsel des Settings nach dem Prolog.
Und yeah, meine Wunschvorstellung ist aufgegangen.

Was ich erstaunlich finde, ist Zeros Umgang mit den anderen. Er erklärt sich im Laufe des Kapitels ein wenig und bleibt ja auch nicht ausschließlich so, aber zu Beginn war mein Gedanke, wie die Band funktionieren kann, wenn er die ganze Zeit so unfreundlich und desinteressiert rüberkommt, denn mein Eindruck war, dass er regelmäßig so ist. Es war schön zu sehen, dass er doch auch anders reagiert. Wie dem auch sei, ich mag seinen Sarkasmus trotzdem, denn Sarkasmus ist was Feines, naja, da wo er angebracht ist.

Ich wünschte mir, er würde sich das Leben nicht selbst so schwer machen, denn ich befürchte, er hat keine Schuld und ähnlich wie Hizumi es sagt, könnte er es für sie beide - und damit vermutlich für sie alle vier - weit angenehmer machen.

Apropos Hizumi, die Wendung, dass dieser Bescheid weiß, hat mir besonders gut gefallen. Anfangs hat Zero völlig allein gewirkt, nicht nur dahingehend, das allein durchstehen zu müssen, was ja anscheinend der Fall ist, sondern zumindest darüber reden zu können. Zero macht mir zwar noch nicht den Eindruck, dass er das viel nutzen möchte, aber ich glaube, es tut ihm dennoch gut. Und zugleich frage ich mich, welche Rolle Hizumi noch spielen wird. "Ein Schutzengel, ein Wächter, ein … Dämon?" Die ersten beiden Begriffe sind sehr positiv besetzt, der letzte für gewöhnlich eher nicht. Abhängig davon, wie er hier gemeint ist, bin ich sehr gespannt, ob Hizumi wirklich die positive Unterstützung ist oder sich alles noch in eine andere Richtung entwickelt.

Und dann ist da Hizumis Andeutung darauf, dass sich das Schicksal ändern und somit das Blatt wenden könnte. Ich bin noch skeptisch, aber ich wünsche es beiden so sehr.

Was für ein gemeiner Cliffhanger, der schon wieder nur viele Fragen aufwirft. Wenigstens habe ich die Geschichte erst jetzt entdeckt und das nächste Kapitel steht schon da (wobei ich deswegen ja am liebsten abgeschlossene Geschichten lese, Geduld ist so gar nicht meine Stärke).
Antwort von:  yamimaru
07.02.2023 20:03
Hallöchen,
na, wusste ich es doch, dass ich dir mit dem Erzähler deinen Wunsch erfüllen kann. *yay*
Schön, dass der Wechsel zwischen der Art, wie der Prolog geschrieben ist, zu dem Setting hier schon mal zusagt.

Zero kann definitiv auch anders, was sich im Laufe der Geschichte sehr schnell zeigt und was vorher auch schon der Fall war. Am Anfang des Kapitels ist er besonders in sich gekehrt und nach außen hin mürrisch, weil ihn der Traum aus der Bahn geworfen hat und weil er komplett übermüdet ist. Aber es stimmt schon, der beste Umgang ist er sehr oft nicht, nur gut, dass seine Kollegen ihn so zu nehmen wissen, wie er eben ist.
Guter Sarkasmus ist Klasse ... nur bringen ihn die wenigsten wirklich gut und nicht verletzend rüber. XD

Ja, Zero könnte es für sich und die anderen wirklich leichter machen. *seufzt* Aber er hat auch gute Gründe, es nicht zu tun. U_U

Hizumi ist enorm wichtig für die Story und für zero auch, obwohl man wirklich den Eindruck bekommen kann, dass er seine Hilfe nicht zu schätzen weiß oder sie nicht annehmen will. Aber die Story steht noch am Anfang und es bleibt abzuwarten, wie er sich entwickelt. ^^
Tja ... ob Hizumi das mit dem Dämon nur gesagt hat, weil er sich einen Spaß erlaubt hat oder ob mehr dahintersteckt? ;D
und auch zu seinen Beweggründen will ich hier noch nichts sagen, die werden bald klarer. ^^

Es freut mich so, dass du so mit den beiden mitfühlen kannst.
Ich bin ganz deiner Meinung, dass Zero es verdient hätte, die Geschehnisse zu seinen und Karyus Gunsten zu beeinflussen. Wir werden sehen. ^^

Ehrlich gesagt bin ich auch froh, dass du die Geschichte erst jetzt entdeckt hast. Als ich das neuste Kapitel hochgeladen habe, bin ich aus allen Wolken gefallen, dass mein letztes Update hier über ein Jahr her war. Diese Geschichte hat mir so lange Kopfzerbrechen bereitet, aber jetzt scheint es, als wäre der Knoten geplatzt und ich könnte sie endlich beenden. Viel fehlt ja nicht mehr. ^^
und hey, wie du schon sagst, du kannst weiterlesen, also ist der Cliffhanger doch gar nicht mehr so wild, ne? XD

Vielen lieben Dank für deinen Kommentar, ich hab mich wirklich sehr darüber gefreut.
LG
Yami


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