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Herz über Kopf

von

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Liebe unterm Regenbogen

Während ich inmitten der Menschenmenge voranschritt, die sich in einem schier endlosen Zug durch die Straßen von Hamburg wälzte, oder mich ab und an mit Benedikt an den Rand stellte, um noch mehr von dem ganzen Spektakel zu sehen zu bekommen, kamen meine Augen kaum hinterher, die unglaubliche Vielfalt zu erfassen, die um mich herum tanzte, feierte, lachte und sich von ihrer buntesten Seite zeigte.

 

Da gab es schillernde Dragqueens, die unsere Begegnung mit Bella B. mit Leichtigkeit in den Schatten stellten. Menschen in Verkleidungen aller Art vom nur mit einigen Federn bedeckten Paradiesvogel bis hin zum Ganzkörper-Lederoutfit inklusive Maske und Hundeleine. Es gab Kinder, die in ihren Buggys fleißig Regenbogenflaggen schwenkten, und gleich daneben eine ältere Dame mit einem Rollator, die sich mit einem großen, bunten Regenbogenschirm vor der Sonne schützte. Wir bewunderten junge Männer, die nichts trugen außer einem Bodypainting und einem mehr als knappen String, und schwarz vermummte Gothics, bei denen es mich wunderte, dass sie in ihren stoffgewaltigen Outfits bei der Hitze nicht umkippten.

 

Schwarze Engel wechselten sich mit guten Feen ab. Weitere Einhörner sprangen durch den Zug ebenso wie Schmetterlinge, Meerjungfrauen, Frösche und Froschprinzessinnen. Es gab Vertreter aus anderen Ländern, in denen Homosexualität immer noch gesetzlich verboten war, neben Menschen mit Pappschildern, auf denen sie Umarmungen für jedermann anboten. Wir trafen auf schwule und lesbische Fußballfans, Motorradfahrer, Skateboarder, Metalheads, Technojünger, Schlagerkönige und -königinnen und sie alle waren vereint unter den Farben des Regenbogens. Dazwischen fuhren immer wieder die großen Partytrucks, die ebenfalls voller bunt gekleideter Leute waren und einen Hit nach dem anderen in die feiernde Menge pumpten. Vor allem aber gab es tausende und abertausende ganz normale Menschen. Menschen, wie mich und Benedikt, die einfach nur hier hergekommen waren, um einen Tag lang für ein besseres und freieres Leben für alle zu demonstrieren.

 

In der großen Einkaufsstraße, in der sich Geschäft an Geschäft reihte, blieb der Zug stehen. An der Spitze hielt jemand eine Rede, deren Wortlaut per Megafon zwischen den Häusern widerhallte. Ich verstand zwar nur die Hälfte dessen, was gesagt wurde, aber als mir das gepiercte Mädel mit den grünen Haaren und dem schwarzen Lippenstift, das neben mir stand, mit einem breiten Lächeln die Hand reichte, ergriff ich sie einfach. An der anderen Seite hielt ich Benedikts Hand, der wiederum die eines bierbäuchigen Bartträgers mit einer Plastikblumenkette um den Hals erfasst hatte. Ich wusste, dass wir an einem anderen Tag oder an einem anderen Ort vermutlich nie ein Wort mit den beiden gewechselt hätten. Aber hier und heute waren wir alle Teil eines großen Ganzen. Teil von etwas, das nicht zu übersehen war, und das genau richtig war, so wie es war. Heute musste ich nichts erklären. Ich musste keine Angst haben. Ich musste mir keine Gedanken darüber machen, ob mein Gegenüber verstehen würde, wie es mir ging, oder ob mich derjenige komisch, abstoßend oder sonst irgendwas finden würde. Heute befand ich mich unter „meinesgleichen“ und das war so unheimlich befreiend, dass ich mir vorkam wie der eiserne Heinrich im Märchen, dem die Bande um sein Herz zersprangen, weil sein Herr endlich von dem bösen Fluch befreit worden war. Heute war alles möglich.

 

 

Als der Demonstrationszug schließlich am Jungfernstieg zu Ende ging und die Teilnehmer nach und nach begannen, sich in alle Richtungen zu verstreuen, fand ich mich mit Benedikt zusammen auf dem Straßenfest wieder. Rund um die Binnenalster warteten allerlei Stände auf zahlungswillige Kundschaft und auf verschiedenen Bühnen wurden große und kleine Showacts geboten. Wie es aussah, gab es hier nichts, was es nicht gab, von der einfachen Würstchenbude bis hin zum mobilen Tätowierstudio. Während ich noch dabei zusah, wie sich jemand das Logo des diesjährigen CSD auf dem linken Schulterblatt verewigen ließ, stieß mich Benedikt in die Seite.

 

„Hey, wie sieht's aus? Hast du Hunger?“

 

Seine Frage ließ mich zum ersten Mal seit Stunden wieder daran denken, dass es mehr gab als Zuschauen, Tanzen und Feiern.

 

„Nein, nicht wirklich. Aber was zu Trinken wäre vielleicht ganz gut.“

 

Ich spürte gerade zwar weder Hunger noch Durst, doch ich wusste, dass die kleine Flasche Wasser, die wir uns während der Demonstration geteilt hatten, bei Weitem nicht ausreichte, um uns über den Tag zu bringen. Wir steuerten also einen der Stände an, an denen Essen und Trinken unter das Regenbogenvolk gebracht wurden, und setzten uns eine ziemlich lange Wartezeit später jeder mit einem Becher in der Hand auf eine Bank. Eigentlich war es mehr ein langer Betonklotz, den irgendjemand an die Alster gesetzt hatte, aber da die behelfsmäßigen Sitzgelegenheiten auch von anderen fleißig benutzt wurden, befanden wir uns in guter Gesellschaft. Mit einem nicht sehr prunkvollen Klappern stießen wir unsere Trinkgefäße gegeneinander.

 

„Happy Pride!“, sagte Benedikt, bevor er einen großen Schluck nahm und mich danach angrinste. „Und? Bereust du es, mitgekommen zu sein?“

 

Ich antwortete nicht sofort, sondern ließ meinen Blick zunächst über die Alster wandern. Die berühmte Wasserfontäne spritzte vor dem Hintergrund der vielstöckigen, weißen Stadthäuser bestimmt fast hundert Meter hoch in die Luft, um uns herum redeten, lachten, aßen und tranken die Leute und der Wind wehte Musik von den verschiedenen Bühnen zu uns herüber. All das bildete im Hintergrund ein wuselndes und wimmelndes Geräuschmischmasch, das hier am Wasser jedoch eigenartig gedämpft erschien. Es war, als wäre man von der Bühne hinter die Kulissen geraten, wo nach einer gelungenen Premiere alle erst einmal verschnaufen mussten, bevor am Abend die zweite Vorstellung sattfinden würde. Es war die Ruhe nach oder vor dem Sturm, je nachdem wie man es betrachten wollte. Am Ende kehrte mein Blick zu Benedikt zurück, der mich immer noch erwartungsvoll ansah.

 

„Nein, gar nicht“, versprach ich mit einem Lächeln.

„Ganz sicher nicht?“

„Ganz sicher nicht.“

 

Er lächelte, bevor er sich zu mir rüberbeugte und mir einen Kuss auf die Wange hauchte. Es war nur eine kurze Berührung. Wesentlich weniger intensiv, als all die Schmatzer, die ich während der Parade bekommen hatte. Und doch war das hier viel intimer. Statt mich jedoch zurückzuziehen, wie ich es eigentlich im ersten Moment tun wollte, rückte ich ein Stück näher an ihn heran. Unsere Schultern berührten sich und ich lehnte meinen Kopf an seinen. Ich spürte, wie er erneut lächelte.

 

„Was denn? Bist du etwa kuschelig?“

„Keine Ahnung. Sag du es mir.“

 

Ich grinste, während ich das sagte, und hörte ihn im Gegenzug leise lachen.

 

„Keine Ahnung. Ist schon lange her, dass ich das herausfinden konnte. Und ehrlich gesagt erinnere ich mich nicht so wirklich, ob wir danach gekuschelt haben.“

 

Ich lächelte und schob die Erinnerung daran, wie dämlich ich mich am nächsten Tag benommen hatte, beiseite. Stattdessen griff ich wieder nach Benedikts Hand. Er verschränkte unsere Finger ineinander. Eine Weile lang saßen wir einfach nur da und sahen aufs Wasser hinaus. Ich merkte, wie ich immer ruhiger wurde. Es war wahnsinnig schön, hier mit ihm zu sitzen und der Zeit beim Verstreichen zuzusehen. Irgendwann drehte ich den Kopf und sah Benedikt an.

 

„Was?“, fragte er und lächelte dabei. Ich erwiderte es.

 

„Ich hab mich grad gefragt, ob eigentlich deine Ansage aus dem Zeltlager noch gilt.“

„Welche?“

„Dass ich dich nicht einfach küssen darf.“

 

Er blinzelte. Ich konnte sehen, wie er darüber nachdachte. Wir wussten beide, dass mehr hinter dieser Frage steckte. Ich war einen Schritt auf ihn zugekommen. Eigentlich sogar zwei. Jetzt war es an ihm, den nächsten zu machen. Er öffnete den Mund.

 

„Werde ich es bereuen, wenn ich es dir erlaube?“

 

Mein erster Impuls war es, einfach Nein zu sagen. Aber andererseits … ich wollte ihn. Nicht nur kurz. Ich wollte ihn ganz. Mit allem, was dazu gehörte. Das würden sicherlich nicht nur gute Zeiten werden. Wenn ich daran dachte, was zu Hause noch auf mich wartete, war mir klar, dass es nicht einfach werden würde. Dass uns der eine oder andere Kampf bevorstand. Gegen innere und äußere Dämonen. Aber andererseits war da dieser … Mann, Junge, was auch immer, der hier vor mir saß und von dem ich einfach wusste, dass er es war. Die Vorstellung machte mir Angst und war gleichzeitig so wunderbar, dass es mir den Atem nahm.

 

Ich versuchte ein Lächeln.

 

„Keine Ahnung“, gab ich zu. „Aber wenn wir es nicht versuchen, werden wir es nicht herausfinden.“

 

Ich sah, dass er immer noch zögerte. Also kam ich ein Stück näher und flüsterte ihm ins Ohr:

 

„Ich kann auch nochmal singen, wenn das hilft.“

 

Eine hauchzarte Gänsehaut kroch seinen Hals empor und seine Kiefermuskeln bewegten sich, als er erneut leise lachte.

 

„Du meinst wohl, dass du mich damit rumkriegst.“

 

Ich grinste ihn an.

 

„Weiß nicht. Funktioniert es?“

 

Er lehnte sich zurück, um mich anzusehen. In seinen Augen lag ein warmer Glanz.

 

„Ja, tut es“, sagte er leise. „Leider viel zu gut.“

 

Meine Augenbrauen zuckten. Wie meinte er das? Warum leider? Als ich ihn danach fragte, wurde sein Lächeln schmaler.

 

„Weil du … weil du jemand bist, den man nicht für sich allein haben kann. Da gibt es immer andere um dich herum, die dich bewundern, die dich anhimmeln. Und ich hab Angst, dass du … dass du mich irgendwann einfach ersetzt.“

 

Er sah jetzt traurig aus. Der Anblick schnürte mir das Herz ab.

 

„Aber wie kommst du darauf?“

 

Er seufzte.

 

„Erinnerst du dich noch an den Abend im Camp, als du für die drei L’s gesungen hast? Ich saß an dem Abend im Publikum und gab mir die ganze Zeit gewünscht, dass du dieses Lied für mich singst und nicht für irgendein Mädchen. Aber auf der anderen Seite war mir klar, dass …“

 

„Dass du ein riesengroßer Idiot bist?“, unterbrach ich ihn schnell.

 

Ich lachte, denn das war nun wirklich zu komisch. Benedikt sah mich verdattert an.

 

Idiot? Warum das denn?“

„Na weil das Lied für dich war. Hast du denn den Anfang der zweiten Strophe nicht erkannt? Die Stelle mit dem Sakura. Damit warst du gemeint. Weil du doch damals im Kunstunterricht diesen Kirschblütenzweig gemalt hast. Es war der Tag, an dem ich dich gefragt habe, ob du bei Holger im Laden arbeiten willst. Weißt du noch?“

 

Verstehen tröpfelte langsam auf Benedikts Gesicht und breitete sich darauf aus. Seine Mundwinkel zuckten.

 

„Im Ernst jetzt?“

„Ja!“

 

Er lachte leicht und sah zu Boden.

 

„Oh man“, machte er und schüttelte den Kopf, bevor er mich wieder ansah. Sein Gesicht schien von innen heraus zu leuchten. „Ich … ich hab es damals nicht ausgehalten und bin gegangen, bevor die Stelle kam.“

 

Jetzt war ich es, der dumm aus der Wäsche schaute.

 

„Du meinst, du hast das gar nicht gehört?“

„Nein.“

„Ohne Scheiß jetzt?“

„Ohne Scheiß.“

 

Ich sah ihn noch einen Augenblick lang an, bevor ich anfing zu lachen. Ich lachte und lachte, sodass mich die Leute schon komisch anguckten, aber das war mir egal. So was von herzlich egal.

 

Als unser gemeinsames Gelächter langsam abebbte und wir nur noch vereinzelt glucksten, zog Benedikt mich näher an sich heran.

 

„Also“, sagte er langsam und klang dabei seltsam feierlich, „hiermit erteile ich dir die Erlaubnis, mich zu küssen, wann und wo immer du es willst.“

 

Ich tat, als müsste ich überlegen.

 

„Auch mitten in der Nacht?“

„Ja.“

„Auch vor allen Leuten?“

„Ja.“

„Auch morgens nach einem Abend, an dem ich gesoffen und Döner mit extra viel Knoblauchsoße gegessen habe?“

 

Das Lächeln auf Benedikts Gesicht verschwand.

 

„Äh, na ja. Also wenn ich es mir recht überlege …“

 

Ich grinste. Auf diese Frage hatte ich gar kein Ja erwartet. Dafür war die nächste Frage umso wichtiger.

 

„Und jetzt?“, flüsterte ich fast unhörbar. „Darf ich dich jetzt küssen?“

 

Benedikt sagte nichts. Er zog mich nur an sich und legte seine Lippen auf meine. Für einen Moment verharrten wir so, bevor wir den Kuss wieder lösten. Ich spürte seinen Atem auf meiner Haut.

 

„Das war aber keine Antwort auf meine Frage“, sagte ich leise und lächelte, als er belustigt schnaubte.

 

„Nicht?“

„Nein.“

„Dann muss ich wohl noch etwas deutlicher werden.“

 

Mit diesen Worten zog er mich wieder näher und küsste mich. Dieses Mal mit mehr Gefühl und mehr Leidenschaft. Ich spürte seine Lippen, die meine einluden, mit ihnen zu spielen. Ein Kribbeln lief meine Wirbelsäule entlang und endete in einem Ziehen in meinem Unterleib. Mein Atem wurde schneller. Ganz automatisch öffnete ich den Mund und strich mit der Zungenspitze über seine Lippen. Er antwortete auf die gleiche Weise und als unsere Zungen sich das erste Mal berührten, jagte ein Blitzgewitter durch meine Adern. Ich unterdrückte ein Keuchen. Allein diese Küsse machten mich so an, dass ich mehr wollte. Viel mehr. Unendlich viel mehr.

 

Meine Hände begannen auf Wanderschaft zu gehen. Ich vergaß, wo wir waren. Vergaß alles um mich herum. Ich wollte nur noch eines: Ihm so nah wie möglich sein. So wie es schon bei unserem allerersten Kuss gewesen war. Die Magie des Augenblicks nahm mich gefangen und noch bevor ich wusste, was ich tat, war ich auf seinen Schoß gerutscht. Der harte Beton, auf dem er saß, drückte gegen meine Knie, aber das kümmerte mich nicht. Ich wollte ihn nur spüren.

 

Unsere Münder nie mehr als Sekundenbruchteile voneinander getrennt, küssten wir uns wieder und wieder. Ich spürte ihn unter mir. An mir. Um mich herum. Seine Hände, die über meinen Rücken strichen und schließlich auf meinem Hintern landeten. Meine Hände, die ihn enger an mich pressten. Durch seine Haare fuhren. Die ein winziges Stück nackte Haut ertasteten an der Stelle, wo sein T-Shirt hochgerutscht war und dieses kostbare bisschen Mehr von ihm freigelegt hatte. Als ich jedoch begann, sein Shirt nach oben zu schieben, legte er seine Hand auf meine und löste den Kuss.

 

„Halt, nicht hier.“

„Wo dann?“

 

Er sah mich von unten herauf an. Seine Augen waren dunkel und spiegelten mein Gesicht vor dem hellen Sommerhimmel. Seine Lippen waren leicht gerötet und seine Frisur, wenn es denn eine gewesen war, war hinreichend zerstört. Ich hätte ihn umgebracht, wenn er das bei mir gemacht hätte. Gleichzeitig wollte ich nicht, dass er irgendwann wieder anders aussah oder mich anders ansah. Wenn ich gekonnt hätte, ich hätte diesen Moment eingefroren und ihn bis in alle Ewigkeit festgehalten.

 

„Ich … also …“ Er unterbrach sich, um einmal schwer aufzuatmen. Es kostete ihn sichtbar Überwindung, sich wieder aus der Situation zu lösen. „Ich denke, wir sollten vielleicht noch ein wenig den CSD auskosten. Der nächste ist schließlich erst wieder in einem Jahr. Bis dahin haben wir noch viel Zeit.“

 

Ich hätte jetzt enttäuscht sein können. Mich abwenden. Aber statt mich darauf zu konzentrieren, dass er mich gerade – berechtigterweise – abgewiesen hatte, sah ich ihm tief in die Augen.

 

„Viel Zeit?“, hakte ich nach. „Wie viel?“

„So lange du willst.“

 

Meine Antwort darauf bestand in einem langen Kuss. Einem der Klatschen und Pfiffe zur Folge hatte und uns irgendwann ein wenig verschämt aufsehen ließ. Die Gruppe anderer junger Männer, alle mit freiem Oberkörper, die uns lautstark applaudierten und uns anfeuerten, uns weiter auszuziehen. Ich sah Benedikt an. Er wirkte trotz des Publikums immer noch entspannt und … glücklich. Ich grinste und wandte mich wieder der Gruppe zu.

 

„Wenn wir uns ausziehen sollen, müsst ihr aber anfangen.“
 

Die Kerle johlten und einer von denen ließ doch tatsächlich die Shorts fallen. Herausfordernd streckte er das Kinn vor.

 

„Na los, jetzt du.“

 

Ich schluckte noch einmal, bevor ich nach unten griff und mir einfach mein Shirt über den Kopf zog. Lautes Jubelgeheul und Lachen schallte mir entgegen und einer von den Fünfen rief Benedikt zu, was er für ein Glück gehabt hätte, mich an Land gezogen zu haben. Danach trollten sich die Kerle wieder und ließen uns allein zurück. Ich sah auf Benedikt runter, auf dessen Schoß ich immer noch saß, jetzt mit freiem Oberkörper, das Shirt immer noch in der Hand. Sein Blick glitt an mir herab bis zum Hosenbund und ich glaubte, jeden einzelnen Wimpernschlag wie einen Gluthauch auf meiner Haut zu spüren. Ich atmete tief ein.
 

„Wollen wir … wollen wir noch weiter?“
 

Er räusperte sich.

 

„Unbedingt. Da hinten soll nachher noch eine Dragshow stattfinden. Das ist bestimmt toll. Und außerdem wollte ich mit dir noch woanders hin.“

 

Ich erhob mich von meinem Sitzplatz und bot Benedikt meine Hand an. Er ließ sich von mir in den Stand ziehen und zögerte auch nicht, mir dabei noch einmal tief in die Augen zu schauen. Wieder lief ein Schauer über meinen Rücken, aber ich verdrängte das Gefühl, indem ich mir wieder mein Shirt über den Kopf zog. Dafür würden wir später immer noch Zeit haben. Wenn nicht heute, dann an einem anderen Tag. Das sagen zu können, löste ein leises Kribbeln in meinem Magen aus, das auch noch anhielt, als wir uns bereits auf den Weg gemacht hatten.

 

 

Entschlossen drängten wir uns durch die Massen, die immer wieder stoppten, um an den verschiedenen Musikspots in ausgelassene Partystimmung auszubrechen. Im Grunde war gar kein Platz, um wirklich zu tanzen. Das Ganze erinnerte an eine riesige, vollkommen überfüllte Freiluftdisco. Trotzdem war die Stimmung ausgelassen und niemand beschwerte sich, wenn wir uns an ihm vorbeischlängelten. Im Gegenteil. Manchmal bekamen wir Umarmungen, Küsse oder sogar freie Shots angeboten. Meist lehnten wir ab, aber ab und an ließ sich Benedikt dazu überreden, sich in den Arm nehmen zu lassen. Ich folgte seinem Beispiel irgendwann und als mich eine dünne Blonde mit einem Käppi und einem übergroßen Pride-T-Shirt in den Arm schloss, fühlte ich wieder diese unglaubliche Verbundenheit. Allein zu wissen, dass auch sie vielleicht irgendwann die gleichen Gedanken gehabt hatte wie ich. Dass sie festgestellt hatte: „Hey, ich gehöre nicht dazu“, machte uns alle zum Teil eines großen Ganzen.
 

„Viel Spaß noch euch beiden“, rief sie und es war ihr anzusehen, dass sie es ehrlich meinte.
 

„Dir auch“, gab ich zurück und winkte zum Abschied. Ich wusste, ich würde sie nie wiedersehen, und doch hatten wir diesen Moment geteilt. Diesen Moment, der für uns beide besonders gewesen war.

 

 

Es kamen noch eine ganze Menge anderer Begegnungen dazu, aber als wir uns auf einen Stand zubewegten, an dem groß „Schüler für Toleranz und Vielfalt“ stand, wurde mir doch ein wenig anders. Auch Benedikt hatte wohl gemerkt, dass ich langsamer geworden war, als es das Gedränge ohnehin verlangte. Er blieb stehen und sah mich fragend an.
 

„Alles okay? Ich … Also wenn du nicht willst, müssen wir nicht.“

 

Ich schluckte. Das da vorn war irgendwie so … nah. Der Rest des Tages war zwar toll gewesen, aber eben auch etwas Einmaliges, Besonderes. Etwas, das weit weg von allem stattfand. Das dort war eine Verbindung zu dem Leben, das mich erwartete, wenn ich wieder in den Zug stieg und nach Hause zurückkehrte. Das da war anders.

 

Benedikt kam näher. Er lächelte leicht.
 

„Ich hatte beim ersten Mal auch Angst. Aber glaub mir, es wird dir gefallen. Die sind alle ganz locker drauf. Du musst nichts machen, was du nicht willst.“

 

Ich schluckte noch einmal, bevor ich wieder ein Lächeln aufsetzte. Ich hatte doch gesagt, dass ich das hier wollte, dann gehörte auch dieser Schritt dazu. Zumal wir immer noch weit weg von Zuhause waren. Die Gefahr, jemanden zu treffen, der mich kannte, war somit gleich Null. Ich würde das schaffen.
 

„Na los, gehen wir“, sagte ich mit mehr Zuversicht in der Stimme, als ich eigentlich hatte. Benedikt lächelte noch einmal und drückte meine Hand, bevor er mich endgültig in Richtung des bunt geschmückten Standes zog.

 

„Hey, willkommen. Wollt ihr bei unserer Umfrage mitmachen?“
 

Der Typ hinter dem Tresen war mit Sicherheit kein Schüler mehr. Mit Mitte bis Ende 40 schätzte ich ihn eher als Lehrer oder Sozialarbeiter ein. Er trug ein Vereins-Shirt und hielt einen kleinen Fragebogen hoch. Benedikt nahm einen der Zettel.

 

„Worum geht es denn?“

„Wir machen eine Umfrage zum Thema 'Was würdet ihr euch an eurer Schule wünschen'. Also Sachen wie besseren Aufklärungsunterricht, Beratungsangebote vor Ort, Projekte zum Thema gleichgeschlechtliche Partnerschaften und so weiter.“

 

Benedikt nickte.
 

„Klingt cool. Ich mach mit. Theo?“

 

Ich zuckte ein wenig zusammen, bevor ich mir ebenfalls einen Fragebogen geben ließ. Ich überflog die Antworten und kreuzte zum Schluss zwei Sachen an, bevor ich den Zettel wieder zurückgab. Er wanderte in eine Box und wir bekamen noch eine Karte zugesteckt, auf der die Rufnummer der Hamburger Hilfe für homosexuelle Jugendliche stand. Als wir von dem Tresen zurücktraten, atmete ich auf.
 

„Immer noch Schiss?“, fragte Benedikt mit einem leichten Grinsen auf dem Gesicht.
 

„Ein bisschen“, gab ich zu.

 

Irgendwie konnte ich mir nicht wirklich vorstellen, mit einem unserer Biologielehrer über schwulen Sex zu reden und wenn es dabei dreimal vordergründig um die Vermeidung potenzieller Ansteckung mit sexuell übertragbaren Krankheiten ging. Gleichzeitig hatte die Vorstellung, dass niemand mehr auf dem Schulhof mit „schwule Sau“ beschimpft wurde, schon etwas für sich. Denn wie sollte man sich zu etwas „bekennen“, das von allen so offensichtlich mit einer negativen Bedeutung bedacht wurde. Allein die Vorstellung, mich offen schwul mit den anderen zusammen in einer Umkleidekabine umzuziehen, bereitete mir Magenschmerzen. Natürlich wusste ich, dass ich nichts von ihnen wollte, aber umgekehrt sah das leider ganz anders aus. Ich hatte so überhaupt keine Lust, mich ständig dafür rechtfertigen zu müssen. Der Gedanke hatte etwas durch und durch Falsches. Trotzdem folgte ich Benedikt zu der Gesprächsrunde, die sich gerade unter einem der großen Sonnenschirme gebildet hatte.

 

Ein ziemlich feminin wirkender Junge mit leicht näselndem Tonfall ereiferte sich gerade darüber, dass er dauernd wegen seiner Kleidung dumm angemacht wurde. Ein anderer lachte nur.

 

„Du bist ja auch ein wandelndes Klischee. Nicht falsch verstehen, wenn das für dich passt, ist mir das vollkommen recht. Aber viele Jungs, denen das nicht zusagt, fürchten sich nun mal, als genau das abgestempelt zu werden, wenn sie sich als schwul outen. Dabei gibt es doch gar nicht den Schwulen an sich. Es gibt einfach nur viele unterschiedliche Leute, von denen einige auf Männer und andere auf Frauen stehen. Ist doch nichts dabei. Und es ist einfach verdammt scheiße, nicht sagen zu können, dass man irgendjemanden gut findet, nur weil das nicht dem Bild entspricht, das sich jemand anderes von einem gemacht hat.“

 

Zustimmender Beifall wurde laut. Ein Mädchen protestierte jedoch.
 

„Ich find’s scheiße, dass man sich überhaupt outen muss. Die anderen sagen doch auch nicht, dass sie hetero sind. Warum also dieses ganze Theater?“

 

Ein Mann, der die Runde offenbar moderierte, mischte sich ein.
 

„Ich weiß, was du meinst. Aber ich habe oft Jugendliche, die zu mir kommen und sagen, dass es für sie total hilfreich war, wenn jemand anderer sich zu seiner Sexualität bekannt hat. Dass sie dann auch den Mut hatten zu sagen, auf was sie stehen, und dass es genau dadurch ein Stück weit normaler wurde. Natürlich wäre es wünschenswert, wenn das Denken schon so weit wäre, dass ein Outing nicht notwendig wäre. Aber solange noch vollkommen falsche Bilder in den Köpfen der Menschen vorliegen, kann es helfen, sich als Beispiel für ganz normale Schwule, Lesben oder Transpersonen anzubieten, um zu zeigen: Wir sind anders und trotzdem Teil des Teams.“

 

Ein Mädchen, das ein T-Shirt mit zwei ineinander verflochtenen Weiblichkeitssymbolen trug, nickte heftig dazu.

 

„So ging es mir. Ich hab mich auch nie getraut zu sagen, dass ich auf Mädchen stehe. Es war nicht so, dass ich Angst hatte, dass mich dann jemand fertigmacht, aber … es war niemand an der ganzen Schule queer. Das war total strange. Ich hab gedacht, ich wäre dann ganz allein und dass niemand mehr mit mir sprechen würde. Dann bekamen wir eine Lehrerin, die von Anfang an ganz offen damit umging, dass sie mit einer Frau zusammenlebt. Als ich das mitgekriegt habe, hab ich mich hingestellt und gesagt: Das will ich auch. Und es war total okay für alle. Danach haben sich gleich noch zwei weitere Leute aus meiner Klasse geoutet und seit dem ist das wirklich lockerer geworden. Einfach weil man darüber reden kann.“

 

„Ja, das Schweigen ist das Schlimmste“, sagte ein anderer, dunkelhaariger Junge, den ich im Leben nicht als schwul eingeordnet hätte. „Als mir bewusst wurde, dass ich schwul bin, war ich das erste Mal so richtig verknallt. Ich wollte das so gern mit jemandem teilen, aber das ging nicht, weil alle gleich an irgendwelche perversen Spielchen gedacht hätten. Dabei geht es doch gar nicht nur darum, wen man nun heiß findet und auf was man im Bett steht. Es geht doch um Liebe.“
 

Wieder nickten alle dazu und auch auf meinem Gesicht breitete sich ein leises Lächeln aus. Denn gerade dem letzten Satz konnte ich einfach nur zustimmen. Es ging um die Liebe.
 

„Siehst du“, flüsterte Benedikt mir ins Ohr. „Genau deswegen wollte ich mit dir hierher.“

 

Er lächelte und seine Augen leuchteten wieder in diesem warmen Glanz. In diesem Moment musste ich wieder an das Mädchen mit dem Käppi und den Sommersprossen denken und ich drehte mich zu ihm um und nahm ihn einfach in den Arm.

 

„Danke“, sagte ich leise, während ich ihn an mich drückte, und ich wusste, dass er mich verstand. Einfach weil er der war, der er war.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Snowprinces
2020-12-29T20:37:34+00:00 29.12.2020 21:37
Hi
und wie süß die beiden sind 😄

mehrrrrrr

liebe grüße
Antwort von:  Maginisha
30.12.2020 11:00
Hey Snowprinces!

Ich find sie auch ziemlich knuffig. ;D

Zauberhafte Grüße
Mag
Von:  Ryosae
2020-12-29T19:10:45+00:00 29.12.2020 20:10
Hey Mag,
wieder so ein wunderschönes Kapitel! Du betreibst damit auch so schöne Aufklärungsarbeit. Warst du selbst mal dort? 😃

Es ist so schön wie Theo und Benedikt zusammen harmonieren können. Hoffentlich wirft das "nach Hause kommen" die Beiden nicht zurück.
Ohhh ich will, dass das funktioniert!! 😍
Die Küsse lassen hoffen! Freue mich auf nächstes Mal. 🥰

Liebe Grüße
Ryo
Antwort von:  Maginisha
30.12.2020 10:59
Hey Ryosae!

Ich war, wie ich zugeben muss, noch nie auf einem CSD. Ich war mal vor urigen Zeiten auf der Loveparade und kenne mich natürlich ein bisschen in Hamburg aus. Dazu habe ich mir jede Menge Videos und Erfahrungsberichte durchgelesen und daraus was Entsprechendes gebastelt. :)

Die beiden können in der Tat gut zusammen, wenn Theo denn mal sein wahres Ich rauslässt. Wobei sie halt doch unterschiedlich sind und sich in einigen dann wiederum gut ergänzen. Ich bin aber auch guter Hoffnung, dass die beiden das jetzt alles zusammen hinkriegen. :)

Zauberhafte Grüße
Mag


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