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Broken Birdie

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Hallo ihr,
mal so zur allgemeinen Info: Das achte Kapitel wird in zwei Wochen kommen, aber wie und wann es danach weitergeht, kann ich derzeit nicht abschätzen, da ich kürzlich leider die schlechte Nachricht bekommen habe, dass eine meiner Miezen schlimm krank ist, was für mich absolute Priorität hat. Komplett anzeigen

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Feuer auf Eis

Das erste Mal seit Wochen strahlte die Sonne von einem wolkenlos blauen Himmel und stach Sakura in die Augen. Ihre Kopfschmerzen waren brutal, ebenso wie ihre Augenringe, die sie hinter einer dunkel getönten Sonnenbrille versteckte. Sie konnte sich nicht erinnern, Alkohol getrunken zu haben, und möglichenfalls fing da das Problem an, denn sie konnte sich generell lediglich bruchstückhaft an den vergangenen Abend erinnern. Sie hatte auch nicht die geringste Ahnung, weshalb sie in Sasukes Jacke eingewickelt aufgewacht war – und bei allen Kami, daran wollte sie sich liebend gern erinnern.

Obwohl ihr Brummschädel nicht gerade zum angestrengten Nachdenken einlud. Der Schmerz war derart heftig, dass sie davon erwacht war, das Bettzeug bis auf die Matratze durchgeschwitzt, die Decke wie eine Beinklammer um ihre untere Körperhälfte verschlungen, erschöpft und zerschlagen. Erst hatte sie geglaubt, dass sie sich erkältet haben musste, doch ihre Heilkräfte hatten ihr keine Linderung verschaffen können, und ihre zerbissenen, blutverschmierten Fingerkuppen deuteten sowieso mehr auf einen schlimmen Albtraum hin.

Derartige Träume hatten sie schon früher oft gequält, nachdem sie aus dem Reich der Wellen zurückgekehrt war, als sie sich nicht nur ihrer eigenen Vergänglichkeit bewusst geworden war, sondern auch realisiert hatte, dass nicht mal Sasuke unfehlbar war, dass er tatsächlich sterben konnte, und nachdem Sasuke das Dorf verlassen hatte. Sakura konnte sich zwar nicht erinnern, was und ob sie überhaupt geträumt hatte, doch die körperlichen Anzeichen sprachen dafür, denn auch damals hatten ihre nächtlichen Dämonen ihr im Schlaf sämtliche Kraft entzogen, sie schreien und weinen, sich das Gesicht zerkratzen und die Haare ausreißen lassen. Sie hoffte, dass es sich um eine einmalige Episode handelte, ein grauenhaftes Produkt ihres Unterbewusstseins, weil ihr Geist von zu viel Alkohol vernebelt und von Schuldgefühlen gepiesackt worden war.
 

Sakura schob die Sonnenbrille auf ihrem schmalen Nasenrücken zurecht, damit auch wirklich kein Lichtstrahl durch ihre empfindliche Netzhaut dringen und in ihrem Gehirn explodieren konnte, schleppte sich Richtung Haupttor und winkte den beiden Wächtern Kotetsu und Izumi im Vorbeigehen träge zu.
 

Der dichte Wald vor den Toren Konohas war in prächtige Herbstfarben gekleidet, leuchtete quittengelb, tangerinefarben und karminrot, der Boden war ein buntes Mosaik aus Laub. Die Luft war erfüllt vom Geruch herbstlicher Fäulnis, frisch und klar und ein bisschen melancholisch. Vögel zwitscherten fröhlich, sangen schadenfrohe Spottlieder auf ihren desolaten Zustand; zumindest kam es ihr so vor und sie wollte jeden einzelnen mit gezielten Schlägen zum Verstummen bringen. Ihre überreizten Sinne funktionierten ausgerechnet an diesem Tag scheinbar besonders gut und so hörte sie Narutos Gezeter bereits aus einiger Entfernung an ihre Ohren dringen.
 

In seinem grellorangenen Trainingsanzug war er ausnahmsweise einmal gut getarnt, wie er zwischen den Ästen eines stattlichen Ahornbaums hockte und diesen meckernd von Misteln befreite, nur sein auffällig blonder Haarschopf schimmerte dann und wann zwischen dem rubinroten Blattwerk hindurch. Mit einer Heckenschere bewaffnet, rückte er den parasitären Schmarotzern zu Leibe, ließ dabei keine Gelegenheit aus, seinem Frust lautstark Luft zu machen.
 

„Du musst die Wurzeln mit Chakra zerstören, ansonsten treiben die Misteln wieder aus“, instruierte Kakashi, der lesend am Baumstamm lehnte. Sakura hatte ihn bis zu diesem Augenblick gar nicht bemerkt. Ihr ehemaliger Sensei hatte schon immer die Gabe besessen, sich übersehen zu lassen, ohne sich dafür gezielt verbergen zu müssen, als wäre er ein natürlicher Bestandteil seiner Umgebung, den man nur unbewusst wahrnahm und sofort wieder vergaß.
 

„Dann machen Sie’s doch selbst. Ich bin viel zu überqualifiziert für so eine poplige D-Rang-Mission, echt jetzt“, maulte Naruto und fiel – ganz wie in alten Zeiten – beinahe von dem Ast, auf dem er stand, weil er sich nicht ausreichend auf das Chakra in seinen Füßen konzentrierte.
 

„Weniger reden, mehr arbeiten, Naruto. Aber ich bekenne mich überrascht, dass du ein Wort wie überqualifiziert überhaupt im Vokabular hast.“

Das alte Lied, ein neuer Tag; das Szenario war ihr derart vertraut, so normal, dass sie unweigerlich schmunzeln musste. Mit raschelnden Schritten näherte sie sich dem Jōnin, der seine Lektüre, ohne einmal in ihre Richtung geblickt zu haben, zuklappte und ihr schließlich den Kopf drehte. „Hallo Sakura, es ist schön, dich zu sehen. Wir hatten gestern gar keine Gelegenheit mehr, uns zu unterhalten.“
 

Kakashis Stimme war freundlich-neutral, vorwurfslos, und dennoch färbten sich ihre Wangen blassrosa, als sie sich fragte, was er wohl denken mochte. Sie bezweifelte nicht, dass er bestens im Bilde war, was in Narutos Wohnung vorgefallen war; vielleicht hatte Naruto selbst ihm davon erzählt, wahrscheinlich wusste er es aber einfach oder hatte wenigstens eine Ahnung, weil er immer alles zu wissen schien. Nur wie unzufrieden Sasuke gewesen war, das hatte er nicht bemerkt. Oder er hatte es schlichtweg ignoriert, weil er sich ungern in die Angelegenheiten anderer einmischte, sich zu oft aus ihren privaten sowie teaminternen Streitigkeiten und Schwierigkeiten herausgehalten hatte, weil er gewollt hatte, dass sie selbst nach Lösungen suchten, weil sie keine Kinder mehr waren, weil sie solche Dinge können mussten. Sakura wollte nicht behaupten, dass er gleichgültig gewesen wäre, doch manchmal hätte sie sich mehr Führung gewünscht.
 

„Jah! Schade“, sagte sie gedehnt und errötete noch mehr, da sie selbst hörte, wie unaufrichtig ihre Worte klangen. „Wie geht es Ihnen?“
 

„Das wollte ich gerade dich fragen.“
 

„Gut“, behauptete sie, schob, während sie es sagte, jedoch ihre Sonnenbrille aus Gründen der Höflichkeit auf die Stirn, wodurch er ihre blutunterlaufenen Augen bemerken konnte.
 

Kakashi musterte sie prüfend, kniff dann aber nur sein Auge freundlich zusammen. „Das freut mich. Bist du hier, um Naruto zu helfen?“
 

Sakura nickte zustimmend, weil es einfacher war, als erklären zu müssen, dass sie gekommen war, um vor Naruto zu Kreuze zu kriechen. Besagter war in vielsagendes Schweigen verfallen, verrichtete seine Arbeit nun ohne Gemecker und obgleich sie vermied, zu ihm aufzusehen, spürte sie, dass er den Blick stoisch von ihr abgewandt hielt. Sie hatte gehofft, Naruto allein anzutreffen, allerdings war er noch immer ein Genin, die, gemäß der Vorschrift, nicht mal die simpelsten Missionen ohne Überwachung durch einen höherrangigen Shinobi ausführen durften. Dass ausgerechnet Kakashi Hatake diese Aufgabe zugeteilt worden war, war exorbitantes Pech.

„Wie… wie geht es ihm?“, fragte sie zaghaft.
 

„Unser Partylöwe hat gestern wohl ein bisschen übertrieben und hängt heute entsprechend durch. Tsunade bat mich, auf ihn aufzupassen, und da ich zufällig nichts anderes vorhatte, stimmte ich zu.“ Er seufzte verzagt. „Aber wenn er in diesem Tempo weiterarbeitet, braucht er wahrscheinlich den ganzen Tag, um die Bäume von den Misteln zu befreien. Deine Unterstützung kommt uns also beiden gelegen.“
 

„Das mache ich doch gern“, log sie, obgleich sie sich Schöneres vorstellen konnte, als sich körperlich oder geistig oder in sonst irgendeiner Form zu betätigen – in ihrem abgedunkelten Zimmer im Bett liegen zum Beispiel, mit einem Eisbeutel auf der Stirn.
 

Sie setzte einen Fuß auf den Baumstamm, als Kakashi sie unerwartet und mit vielsagendem Ton zurückhielt. „Ach, Sakura.“
 

„Hmm?“, brummte sie nervös, nahm den Fuß vom Stamm und sah zu ihrem ehemaligen Sensei auf.
 

„Ich finde nett, dass du Sasuke zu reintegrieren versuchst, aber“, er zögerte unmerklich, was ungewöhnlich für ihn war und Sakura die Stirn runzeln ließ, „pass auf dich auf.“
 

„Wie meinen Sie das?“, fragte sie sofort und wandte ihm ihren gesamten Körper zu.
 

Kakashi fasste sich in den Nacken, wie er seine Muskulatur mit dem Daumen massierte, verdeutliche ihr, dass ihm das Thema mindestens so unangenehm war wie ihr. „Sasuke hat dir und Naruto schon mal sehr wehgetan und ich kann mich nicht ausschließen, wenn ich sage, dass sein damaliges Verhalten auf mehreren Ebenen enttäuschend war.“ Er musste nicht aussprechen, wie sehr vor allem sie nach Sasukes Fortgang gelitten hatte, sie wusste auch so, dass er genau daran dachte, wie viel Gewicht sie in dieser Zeit verloren hatte, wie ihre Augenringe immer tiefer und dunkler geworden waren, wie sie ihr Haar in hilflosem Aktionismus kurzgeschnitten hatte, wie er sie im Regen heulend und gefährlich unterkühlt auf der Dorfmauer gefunden hatte, verzweifelt und starr in die Ferne blickend, hoffend, dass Sasukes Silhouette jeden Moment am Horizont auftauchen würde. „Manche Menschen verdienen keine zweite Chance, Sakura, besonders wenn sie gar keinen Wert darauflegen.“
 

„Woher wollen Sie das wissen?“, entgegnete sie schärfer, als sie sich jemals zuvor mit ihm zu sprechen gewagt hatte.
 

Er seufzte abermals, gab ihr das Gefühl, noch immer ein naives Mädchen zu sein. „Ich kenne genügend Ninja wie Sasuke. Die Art, die ausschließlich eigene Interessen verfolgt und dabei weder Freund noch Feind kennt. Ich... war mal so ähnlich.“
 

„Und jetzt sind Sie anders“, argumentierte sie trotzig.
 

„Weil ich teuer für diese Lektion bezahlt habe.“
 

Sie wollte nachhaken, doch sein Gesicht signalisierte, dass er sich nicht weiter erklären wollte, dass er bereits zu viel gesagt hatte. Zum ersten Mal, seit sie ihn kannte, zeichnete sich so etwas wie Schmerz auf seinen Zügen ab. „Sasuke ist mir das Risiko wert“, sagte sie leise und wich seinem Blick seitlich aus, weil ihr das Geständnis plötzlich zu intim vorkam.
 

„Dann kann ich dich nicht aufhalten.“ Er vergrub die Hände in den Hosentaschen, sein Auge huschte zu Naruto. „Aber bedenke, dass es zwar deine Entscheidung ist, deren Auswirkungen jedoch nicht nur dich betreffen.“
 

Sakura wandte sich ab, zögerte, schluckte und knabberte überlegend an ihrer Unterlippe. „Sensei Kakashi?“ Sie drehte sich abermals zu ihm um, ihre Augen glänzten in fiebriger Entschlossenheit. Er sah sie aufmerksam an und sie atmete tief durch, um sich selbst Mut zu machen. „Haben Sie von den Gerüchten gehört?“
 

„Ich höre tagtäglich viele Gerüchte, die meisten interessieren mich nicht.“

Sie hielt seinem Blick stumm und abwartend stand, fühlte sich fast ein bisschen beleidigt, dass er sie offenbar für dumm zu verkaufen versuchte. Schließlich kniff er sich in die Nasenwurzel und gab nach. „Ja, ich habe davon gehört.“
 

„Was halten Sie davon?“, fragte sie möglichst neutral. Sie hielt für unwahrscheinlich, dass Kakashi nicht zu jenen gehörte, die über die Existenz dieser Rebellengruppe informiert waren, doch sie würde nicht den Fehler begehen, vertrauliche Informationen auszuplaudern, wenn sie nicht hundertprozentig sicher sein konnte.
 

„Ich nehme an, dich interessiert hauptsächlich Sasukes Verwicklung darin.“ Es war keine Frage. „Es gibt bisher nicht genügend Beweise...“
 

„Beweise“, schnaubte sie verärgert. „Ich frage nach Ihrer Meinung. Trauen Sie Sasuke so etwas zu?“
 

Er ließ sich Zeit mit seiner Antwort, betrachtete sie währenddessen stechend. Seine gesamte Aura schien sich schlagartig verändert zu haben und ihr wurde bewusst, dass sie nicht mehr Kakashi den Sensei, sondern Kakashi den Jōnin vor sich hatte. „Ich traue ihm zu, dass er das Vorgehen seiner Mannschaft bedenkenlos toleriert.“
 

Der Grauhaarige sprach also von den Gerüchten um die Uchiha-Polizei. Nun, ihr hätte klar sein müssen, dass er ihr sein Wissen nicht einfach auf die Nase band. Sie leckte sich über die Lippen und nickte zustimmend, denn zu einem vergleichbaren Ergebnis war sie ebenfalls gelangt, obgleich sie Sasuke weniger Willkür unterstellte. Vielmehr glaubte sie inzwischen, dass er zu sehr mit seinen eigenen Sorgen beschäftigt war, um die kriminellen Machenschaften seines Teams überhaupt mitzukriegen. „Und das andere?“, verlangte sie forsch zu wissen, reckte dabei das Kinn, in dem Versuch, eine gleichartig beeindruckende Erscheinung abzugeben.
 

„Was meinst du?“ Sein Tonfall war dunkler geworden und sie erschauderte unweigerlich, dennoch zwang sie sich, ihn anzusehen, bemühte sich, ihn zu lesen. Wollte er ihr nichts sagen, weil er dachte, dass sie bluffte? Wusste er womöglich wirklich nichts? Oder war es eine Warnung?
 

„Nicht so wichtig“, winkte sie dünn lächelnd ab, ahnend, dass aus dem Älteren vermutlich ohnehin keine brauchbaren Informationen herauszubekommen waren.

Leichtfüßig lief sie den Baum hinauf; ihre ausgezeichnete Chakrakontrolle war stets das Einzige gewesen, worin sie sowohl Sasuke als auch Naruto übertrumpft hatte, und mittlerweile musste sie sich für banale Tätigkeiten wie Bäume hinauflaufen nicht mal mehr konzentrieren. Kakashis Aufmerksamkeit lag noch immer auf ihr, sie spürte, wie sich sein Auge in ihren Rücken brannte, und sie presste die Lippen aufeinander. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, schlimmstenfalls hatte sie nicht nur sein Misstrauen erregt, sondern sein Misstrauen gegen sich erregt, und Kakashi Hatake wollte man nicht zum Feind haben, nicht mal, wenn man so etwas wie Welpenschutz genoss.
 

Sakura ließ sich auf einem der Äste nieder, konzentrierte ihr Chakra in den Händen und sandte es anschließend in die Mistel, tief genug, damit auch noch die letzte Wurzel, die dem Ahorn systematisch das Leben aussaugte, verfaulte. Sie wunderte sich, dass es sich hierbei um eine D-Rang-Mission handeln sollte, denn die Aufgabe an sich war nicht schwer, kostete jedoch immense Mengen an Energie, deren Verlust das Hämmern zwischen ihren Schläfen zunehmen ließ.
 

Eine Weile arbeiteten sie schweigend vor sich hin. Naruto schaute kein einziges Mal in ihre Richtung, nur die angespannte Haltung seiner Schultern verriet, dass er sich ihrer Gegenwart vollkommen bewusst – und stinksauer – war. Stück für Stück näherte sie sich seinem Ast, während sie überlegte, wie sie ihn, wäre sie bei ihm angekommen, ansprechen sollte. Normalerweise war sie diejenige, die wütend auf ihn war. Zwischenzeitlich warf sie dem Blonden verstohlene Blicke zu, der mit grimmiger Miene die Misteln stutzte. Ohne sein Dauergrinsen schien die Welt ein schlechterer Ort zu sein, doch sie drängte die aufwallenden Schulgefühle beiseite. Sie hatte doch keine Wahl gehabt, für einen von beiden hatte sie sich entscheiden müssen und sie hatte Sasuke gewählt, weil – sie schluckte hart – er sonst niemanden hatte. Gerade Naruto sollte das nachempfinden können. Das Blatt hatte sich gewendet. Früher war Sasuke der beliebteste Junge der Akademie gewesen und Naruto hatte keinen einzigen richtigen Freund gehabt, unterdessen war Naruto der Beliebte und Sasuke der einsame Außenseiter, obgleich er dieses Los sicherlich selbst gewählt hatte und nach außen hin gleichgültig ertrug.

Sakura wollte ihn anschreien, dass er sich nicht wie ein bockiges Kleinkind benehmen solle, dann wieder wollte sie sich einfach bei ihm entschuldigen. Der Zweispalt führte dazu, dass sie weder das eine noch das andere tat.
 

Vielleicht ist genau das der Grund, dass er es so persönlich nimmt, fuhr ihr plötzlich durch den Kopf. Sakura knabberte an ihrer Unterlippe. Ja, vielleicht. Aus Narutos Perspektive musste ihr Verhalten hochgradig unfair erscheinen. Sie hatte immer zu Sasuke gehalten, sich an ihn gehalten, während Naruto sie nicht gekümmert hatte. Sie konnte sich nicht einmal zugutehalten, je auch nur das winzigste Fünkchen Mitleid empfunden zu haben; seine Einsamkeit, die Strafen, sein Scheitern, all das war ihr stets gerechtfertigt vorgekommen, weil sie Naruto einfach nicht hatte leiden können, weil er nichts ernst genommen hatte und sie sich, in all ihren Mühen und Anstrengungen eine gute Kunoichi zu werden, verspottet vorgekommen war. Aber Naruto musste doch verstehen, dass sie nicht mehr dieses Mädchen war, dass sie sich heute, hätte sie die Chance, anders verhalten würde, dass sie den kleinen Jungen, der allein auf der Schaukel saß und von allen geschnitten wurde, nicht ignorieren würde. Im Umkehrschluss bedeutete das aber nun mal auch, dass sie Sasuke nicht im Stich lassen konnte.
 

Wiiirklich?, flötete die andere Sakura gehässig.
 

„Ach, sei doch still“, fauchte Sakura, ehe ihr gewahr wurde, dass sie ihren Gedanken laut ausgesprochen hatte.
 

Knallrot blickte sie zu Naruto, der sie verwirrt ansah. „Hast du was gesagt?“
 

„Nur laut gedacht“, grinste sie verlegen.
 

Der Blonde runzelte die Stirn. „Alles okay bei dir?“
 

„Ja, ich… Oh!“, entfuhr es ihr, als sie just in diesem Moment den Gestank von verbranntem Holz wahrnahm. Sie unterbrach eilig den Chakrafluss, der den Ast zu verkohlen begonnen hatte. Ungläubig blickte sie auf ihre Hände. So etwas war ihr noch nie passiert; sie konnte von Glück sagen, dass sie keinen Patienten vor sich hatte. In letzter Zeit hatte sie zunehmend das Gefühl, dass sie sich in ihren Fähigkeiten zurückentwickelte, sie war unkonzentriert, regelrecht unzurechnungsfähig, dabei predigte sie Sasuke ständig, dass er sich besser konzentrieren müsse.
 

„Geht es dir gut? Du hast schon mal besser ausgesehen.“
 

„Musst du gerade sagen“, meinte sie, auf seinen grünlichen Teint und die dunklen Augenringe anspielend. Dann ließ sie sich neben ihn fallen, der Ast knarrte, trug jedoch glücklicherweise ihrer beider Gewicht. „Bist du mir noch böse?“, fragte sie mit gesenkten Lidern und spielte schüchtern mit ihren Fingern.
 

„Ich bin nicht böse...“, entgegnete er. Aber enttäuscht, er musste es gar nicht aussprechen, denn sein Tonfall sagte mehr als genug. Etwas in Sakura verkrampfte sich schmerzhaft. „Ich verstehe, warum du das gemacht hast, ich verstehe nur nicht, was du dir dabei gedacht hast.“ Er fuhr sich seufzend durchs Haar. Die Ernsthaftigkeit stand ihm überraschend gut.
 

„Ich habe gar nicht nachgedacht, das war das Problem“, gestand sie kleinlaut ein, leise genug, damit Kakashi sie nicht belauschen konnte, wenigstens nicht ohne sich ein bisschen anzustrengen.

Naruto sah sie mit seinen strahlend azurblauen Augen an. Er schien abzuwarten; offenbar musste sie sich mehr Mühe mit ihrer Entschuldigung geben. „Ich habe gedacht, keine Ahnung, dass es ihm guttun würde, mal wieder unter Menschen zu kommen. Er wirkt so abgegrenzt von uns allen, seit er wieder da ist, und dann auch noch die ganzen schlimmen Gerüchte über ihn und seinen Clan... Du kennst ihn, er frisst sowas in sich rein. Ich dachte einfach...“, sie atmete tief ein, als sie endlich die richtigen Worte gefunden hatte, „dass er seine Freunde braucht. Sasuke ist doch noch dein Freund?“ Es war eine grausame Frage und Naruto richtete bestürzt den Blick in die Ferne. Sie konnte es ihm nicht verdenken, ihr ginge es nicht anders.
 

„Schätze schon... Weiß nicht. Er hat sich nicht gerade wie ein Freund verhalten.“
 

„Das stimmt, aber einen guten Freund zeichnet auch aus, dass er sich in die Lage des anderen hineinzuversetzen und ihn zu verstehen versucht, anstatt ihm seine Fehler vorzuwerfen.“ Sie piekte ihren Indexfinger gegen seine Brust, auf die Stelle unter der sein Herz pochte. „Ich wollte eine gute Freundin für Sasuke sein und war dabei keine gute Freundin für dich, und das tut mir aufrichtig leid, Naruto.“
 

Ihre Augen fanden sich erneut. Er umfasste ihre Hand, seine Haut war kühl und trocken und ließ dennoch eine angenehme Wärme durch ihren Körper fluten. Sie entwand ihm ihre Finger, bevor sie gezwungen war, darüber nachzudenken.
 

Naruto grinste sie lausbübisch an und deutete mit dem Zeigfinger aufwärts. Sie folgte der angezeigten Richtung und bemerkte eine blühende Mistel, die genau über ihren Köpfen hing. Sein breites Feixen sowie der funkelnde Ausdruck seiner Augen erinnerte sie an den nervtötenden Akademieschüler von damals und im Normalfall würde sie ihm nun eine verpassen, doch dieses Mal beließ sie es dabei, die Augen dramatisch zu verdrehen. „Ein Mistelzweig, schön. Davon gibt es hier mehr als genug.“
 

„Du weißt, dass es Glück bringen soll, wenn man sich unter einem küsst, echt jetzt.“ Er ließ die Brauen hüpfen.
 

„Das gilt nur für Brautpaare... echt jetzt“, konterte sie und spürte ihre Wangen vor Wut und Peinlichkeit rot werden.
 

„Komm schon, Sakura-chan, nur ein kleiner Versöhnungsschmatzer.“ Naruto spitze die Lippen und machte feucht klingende Kussgeräusche, was ziemlich das Abartigste war, was sie jemals gesehen oder gehört hatte. Selbst wenn sie ihn hätte küssen wollen, wäre es ihr dadurch vergangen. Sie ballte bereits die Faust – sollte er die knutschen, wenn er es so nötig hatte –, als sie zwischen den leuchtenden Blättern hindurch einen allzu vertrauten schwarzen Haarschopf erspähte.
 

„Sasuke?“

Naruto, unwissend, wie knapp er einem ihrer berühmt-berüchtigten Kinnhaken entgangen war, drehte den Kopf und entdeckte den Uchiha ebenfalls. Sein Blick verfinsterte sich und erwischte Sakura mit voller Härte, als er sie gleich darauf anklagend ansah.

„Ich schwöre, diesmal habe ich nichts damit zu tun“, verteidigte sie sich.
 

Sie starrte zu ihm herunter, unschlüssig, ob sie sich freuen oder fürchten sollte, traf seine unergründlich onyxfarbenen Augen, denen sie den Grund für sein Auftauchen nicht ablesen konnte. Naruto machte den Eindruck, als wollte er sich jede Sekunde vom Baum und auf Sasuke stürzen. Vielleicht war es die Angst, dass die beiden sich hier und jetzt miteinander prügeln würden, vielleicht war es Sasukes Blick, der ihr einen Schubs gab, doch sie lehnte sich zu Naruto herüber und drückte ihre Lippen auf seine Wange. Der Blondhaarige war derart perplex, dass er beinahe vom Ast fiel.
 

„Sakura.“ Seine Iriden waren vor Überraschung weit aufgerissen, sein zuvor leicht käsiger Teint machte plötzlich den Ahornblättern Konkurrenz. Er legte seine Fingerkuppen vorsichtig auf die Stelle, die sie mit dem Mund berührt hatte.
 

„Für ein bisschen Glück“, lächelte sie verlegen und unterdrückte den Impuls, sich über die Lippen zu wischen. „Wollen wir Hallo sagen?“
 

Naruto sagte gar nichts, starrte sie stattdessen weiterhin mit geweiteten Augen an, weswegen sie sich elegant von dem Ast gleiten ließ und vor Sasuke landete.
 

„Deine Eltern haben mir gesagt, dass du zu Tsunade gegangen bist, und die meinte, du wärst vermutlich hier“, eröffnete er ohne Begrüßung, während er Kakashi misstrauisch aus dem Augenwinkel heraus beobachtete, der wiederum auffällig unauffällig über den Rand seines Buches schielte. Er schien Sasuke aus irgendeinem Grund nervös zu machen, weshalb sie ihn zögerlich am Ellbogen berührte, um ihn ein Stückchen fortzuführen.

„Wie geht es dir?“, erkundigte er sich, nachdem sie ein paar Bäume zwischen sich und ihren ehemaligen Sensei gebracht hatten.
 

„Das fragen mich heute alle. Sehe ich wirklich so schlimm aus?“
 

„Um ehrlich zu sein, ja.“

In seiner Stimme lag kein Spott, nur uncharmante Aufrichtigkeit und er runzelte die Stirn, als er sie von Kopf bis Fuß musterte. „Ich wollte nach dir sehen, du warst gestern ziemlich neben der Spur.“
 

Ihre Kinnlade klappte vor Verblüffung auf und auf ihren Wangen entstand eine solche Hitze, dass es sie nicht wundern würde, wenn ihre Haut zu glühen und dampfen begann. Sie schaute auf den Boden, als könne er ihr glückliches Lächeln dadurch schlechter sehen. Er war hier, um nach ihr zu sehen?! Er war extra den ganzen Weg aus dem Dorf gekommen, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen?! Das war wirklich nett und wirklich aufmerksam und wirklich, wirklich nicht sasukehaft. Gut gemeint war selten gut gemacht, aber vielleicht hatte sie trotzdem etwas Gutes damit erreicht. Vielleicht hatte sie ihn doch irgendwie berührt.

„So fühle ich mich auch.“ Sie griff sich automatisch an den Kopf. „Dabei kann ich mich gar nicht erinnern, Alkohol getrunken zu haben.“
 

„Wahrscheinlich verträgst du nichts“, sagte er.
 

Sie stockte. Irgendetwas an seinem Ton störte sie, aber sie kam nicht darauf, was, also lächelte sie und bedankte sich.
 

„Wofür?“
 

Sakura kam sich albern vor, ihm erklären zu müssen, weshalb sie ihm gedankt hatte; für seine Nettigkeit, die unter Freunden eigentlich Selbstverständlichkeit sein sollte, es für Sasuke, dem zwischenmenschliche Konventionen manchmal fremd – oder egal – zu sein schienen, aber nun mal nicht war. Außerdem hatte sie das Gefühl, dass er ihren Dank dann als etwas Negatives auffassen würde, als hätte sie ihm Schwäche oder vielmehr mangelnde Härte vorgeworfen. Sie strich ihr Haar zurück und zuckte die Achseln, um ihm nicht antworten zu müssen, und sah verlegen zur Seite weg. „Ich habe doch nichts, naja, Blödes gemacht, oder?“ Sie wurde rot, als sie sich vorstellte, dass sie sturzbetrunken versucht haben könnte, sich an Sasuke ranzuschmeißen, immerhin war das ihr erster Absturz gewesen und sie hatte keine Ahnung, was zu viel Alkohol aus ihr machte, wusste jedoch dank Lady Tsunade, dass es übel werden konnte.
 

„Was meinst du?“
 

„Ja, was meinst du?“, mischte sich Naruto ein, der unvermittelt neben ihr stand, die Arme wie ein Bodyguard verschränkt hielt und Sasuke mit verkrampftem Kiefer böse anfunkelte. Sakura hatte ihn selten derart bedrohlich erlebt, eigentlich nur, wenn das Kyuubi in ihm durchkam. „Wenn du Sakura etwas getan hast, Sasuke, dann schwöre ich…“
 

„Was dann?“

Sasuke ließ sich nicht einschüchtern, zeigte nur dieses träge Halbschmunzeln, das Naruto so wunderbar in Rage versetzen konnte.
 

„Naruto!“, versuchte sie ihn zu beschwichtigen und blickte hilflos von einem zum anderen. Es war doch nichts passiert, wieso musste Sasuke ihn also anstacheln?
 

„Gestern war noch alles okay und heute geht es dir so schlecht. Du siehst aus, als wärst du… als hätte er…“ Er knurrte, weil er keinen guten Vergleich fand. „Was hast du mit ihr gemacht?“, schleuderte er Sasuke entgegen.
 

„Eifersüchtig?“, fragte der Schwarzhaarige provozierend.
 

Der Kontrast zwischen ihnen konnte kaum offensichtlicher sein, als würde Feuer auf Eis brennen. Der chaotische, temperamentvolle Naruto, mit seinem unordentlichen Haarschopf und dem knittrigen, teilweise verdreckten Trainingsanzug, der seine Emotionen kaum unter Kontrolle halten konnte, der vor Wut bebte und die Zähne fletschte und zu oft handelte, bevor er nachdachte. Und der stets kontrollierte Sasuke, mit seinen tadellos sitzenden Kleidern, die Ruhe in Person, dessen einzige Reaktion eine hochgezogene Augenbraue war.
 

Naruto brüllte und ging mit geballter Faust auf Sasuke los.

Sakura war nicht schnell genug, um die Attacke zu verhindern, doch Sasuke wich dem Frontalangriff mühelos aus, indem er sich lässig zur Seite wegdrehte. Sein Haar wehte im Wind, den Narutos Faust verursachte.
 

„Netter Versuch“, spöttelte er. „Willst du das noch mal probieren? Trau dich.“

Naruto traf abermals ins Leere. „Kannst du das nicht besser? Aller guten Dinge sind drei, sagt man.“
 

„Hört auf damit.“ Sakura schaffte es endlich, zwischen sie zu gelangen, und legte jedem jeweils eine Hand auf die Brust. Sasuke war vollkommen ruhig. Narutos Herz hämmerte gegen ihre Handfläche. Sie fühlte sich klein und schmächtig, wie sie eingeklemmt zwischen ihnen stand und sich die beiden einfach über ihren Kopf hinweg mit Blicken erwürgten.
 

„Was ist hier los?“ Kakashi kam mit hängenden Schultern, die Hände in den Hosentaschen vergraben, angeschlendert, hatte allerdings sein Buch weggesteckt. Offenbar war er der Meinung, dass die Situation seiner ungeteilten Aufmerksamkeit bedurfte.
 

„Sasuke hat irgendwas mit Sakura gemacht“, spie Naruto und reckte Besagtem anklagend seinen Zeigefinger entgegen, als wollte er ihn damit aufspießen.
 

„Das stimmt nicht“, korrigierte sie, während ausgerechnet Sasuke es nicht für nötig hielt, sich dazu zu äußern.
 

„Was ist dann mit dir passiert?“, blaffte Naruto sie an, obzwar seine Aggressivität freilich nicht ihr galt.
 

„Gar nichts, ich habe gestern eben auch ein bisschen übertrieben.“
 

„Du warst nüchtern, als du gegangen bist, und außerdem trinkst du doch gar nicht“, knurrte Naruto und wollte schon wieder auf ihn losgehen. Sakura benötigte beide Hände, um ihn zurückzuhalten, wurde aber trotzdem mit dem Rücken gegen Sasukes Brust gedrückt. In einem anderen Leben wäre sie vor Verlegenheit vermutlich wie ein heißer Wachsklumpen in sich zusammengebrochen, doch gerade hatte sie keinen Kopf für die körperliche Nähe zu Sasuke.
 

Sie ließ Chakra in ihre Handballen fließen und stieß Naruto mit einem wütenden Aufschrei zurück. Er taumelte mehrere Schritte nach hinten, in seinem Brustkorb hatte etwas geknackt und er hielt sich instinktiv die Rippen, aber sie wusste, dass sie ihm nicht mehr als ein saftiges Hämatom verpasst hatte.

„Ehrlich, Jungs, reißt euch zusammen“, fauchte sie. „Naruto, du schmeißt mit völlig haltlosen Beschuldigungen um dich. Wenn ich sage, dass Sasuke mir nichts getan hat, hat er mir nichts getan. Ist das klar? Und du…“ Sie wirbelte auf dem Absatz herum, ihr Herz hatte den obligatorischen Aussetzer, weil sie ihm so nahe war. „Wieso stellst du die Dinge nicht einfach richtig? Wieso suchst du unnötig Streit? Ich dachte…“ Erst der brüchige Klang ihrer eigenen Stimme verriet ihr, wie nahe sie den Tränen schon wieder war. Sie zog die Nase hoch und wischte sich vorsichtshalber über die Augen.
 

Kakashi überbrückte die aufkommende Stille, indem er sagte: „Es sähe dir tatsächlich nicht ähnlich, dich zu betrinken.“ Das stimmte, aber es gab eben immer ein erstes Mal und ihre Symptome, der Filmriss, die Kopfschmerzen, die latente Übelkeit, die in ihrem Magen rumorte, waren eins a Indizien für einen Hangover. Sie feuerte einen giftigen Blick auf ihn ab, der ihn versöhnlich die Hände heben ließ. „Was ich damit sagen will, ist, dass wir nicht wissen, was zwischen Zeitpunkt A und Zeitpunkt B vorgefallen ist.“ Er sah sie fragend an, aber Sakura konnte natürlich nicht darauf antworten.
 

Überlegend kniff sie die Augen zusammen. Sie erinnerte sich noch, dass sie Sasuke nachgelaufen war, an die stechende Oktoberkälte, ihr schlechtes Gewissen, die Scham, die Angst, aber ihre Erinnerungen waren wie die Fragmente eines Stummfilms, sie sah ein paar Bilder vor sich, hörte jedoch keinen Ton und je mehr sie sich zu erinnern versuchte, desto mehr schienen sie ihr zu entgleiten. Nun, da sie sich die Ereignisse der vergangenen Nacht vergeblich mit aller Macht ins Gedächtnis zu rufen versuchte, bekam sie es wahrlich mit der Angst zu tun. War es möglich, dass ihr das, dass ihr etwas angetan worden war? Körperlich fühlte sie sich unversehrt, aber das hatte freilich nichts zu bedeuten. Die Ungewissheit ließ ihre Knie weich werden.

„Keine Ahnung“, erwiderte sie patzig, um die bohrende Unsicherheit zu überspielen.
 

Kakashis Blick schweifte zu Sasuke, der nonchalant die Schultern zuckte. „Sie war schon völlig durch, als sie bei mir ankam.“ Er fuhr sich durch die Haare und Sakura glaubte, den Anflug von Schuldbewusstsein auf seinem Gesicht zu erkennen, versteckt hinter verärgert zusammengezogenen Brauen. „Ich dachte halt, sie wäre betrunken, verdammt. Woher sollte ich denn wissen…“ Sein Kiefer spannte sich an.
 

„Klar, dich trifft mal wieder keine Schuld“, blaffte Naruto.
 

„Das hilft uns nicht weiter“, fuhr Kakashi scharf dazwischen. „Sasuke, du müsstest am besten eruieren können, wie groß das Zeitfenster ist, in dem Sakura allein war.“
 

„Fünfzehn Minuten, maximal.“
 

Er nickte verstehend und wandte sich an die Rosahaarige. „Gibt es jemanden, der es auf dich abgesehen haben könnte?“
 

„Hidan“, antwortete sie ohne langes Zögern. „Er hat mich schon mal angegriffen.“
 

Kakashi brummte leise, doch schien ihn nicht zu überraschen, dass sie ausgerechnet diesen Namen nannte. „Ich höre mich mal um, was er gestern getrieben hat.“ Abermals zögerte er, sein Blick glitt unmerklich an ihrem Körper herab, sezierte sie. „Sonst“, er räusperte sich, „geht es dir gut?“
 

Sakura biss sich fest auf die Unterlippe. Sie hasste, was Kakashi andeutete und wie er sie dabei ansah, und sie wollte dieses Thema nicht mit oder vor drei Männern diskutieren. Sie wollte überhaupt nicht über die bloße Möglichkeit nachdenken. In der Akademie hatten alle Mädchen Spezialunterricht erhalten, den größten Teil hatten Pflanzenkunde, Teezeremonien, Kalligrafie, Tanz und Ikebana ausgemacht, alles, was eine Kunoichi wissen musste, um sich als gute Gesellschafterin auszugeben, doch überdies waren sie auf die brutale Realität vorbereitet worden, dass Frauen Männern körperlich unterlegen waren, wie sie diesen Nachteil ausgleichen, wie sie sich vor Vergewaltigungen schützen konnten. Bisher war es für Sakura nur ein schlimmes, aber insgesamt unvorstellbares Wort gewesen, nun drehte es ihr den Magen um, ließ sie sich schmutzig fühlen. Und schwach.

„Ja“, sagte sie gepresst.

Sie schämte sich, gleichzeitig ärgerte sie sich maßlos, wie sichtlich erleichtert Kakashi war, nicht in die Rolle des Seelsorgers gedrängt zu werden. Sasuke interessierte sich plötzlich brennend für die Tautropfen auf seinen Schuhen. Lediglich Naruto sah irritiert zwischen ihnen hin und her und Sakura wollte ihn für so viel gutmütige Naivität gleich noch mal küssen.
 

„Es geht dir nicht gut“, beharrte Naruto. „Und das ist seine Schuld“, schrie er und schnitt mit dem Zeigefinger durch die Luft gen Sasuke. „Vielleicht hat er gestern wirklich nichts gemacht, aber angetan hat er dir trotzdem eine Menge.“

Sakura trat ihm heftig auf die Zehen, um ihn am Weitersprechen zu hindern. Es fehlte gerade noch, dass er Sasuke jeden ihrer Zusammenbrüche vorwarf, damit dieser sie endgültig für eine kleine Heulsuse hielt.

„Was denn, ich habe doch recht und ich finde, dass der unsensible Arsch sich das ruhig mal anhören kann, echt jetzt“, schmollte er beleidigt, während er auf einem Bein herumhüpfte und auf seine schmerzenden Zehen pustete.
 

„Naruto“, zischte sie ihm warnend zu.
 

„Ich denke, es ist besser, wenn du jetzt gehst“, wandte Kakashi sich an den Schwarzhaarigen. Naruto hörte schlagartig auf, herumzuhüpfen, und Sakura verschlug es für einen Moment den Atem. Die seichte Hoffnung, dass Team 7 eines Tages wieder existieren könnte, fiel wie ein Kartenhaus im Sturm in sich zusammen, denn der Jōnin hatte soeben klargestellt, dass Sasuke für ihn nicht mehr zu ihnen gehörte. Er vertraute ihm nicht und die Botschaft war überdeutlich bei allen angekommen.
 

Sasuke schnaubte spöttisch, sein kühler Blick ruhte alles andere als freundlich auf dem Grauhaarigen. „Ich wollte Sakura sowieso unter vier Augen sprechen.“ In seinem Tonfall lag automatisch etwas Herablassendes. Er drehte sich um und rief ihr über die Schulter zu: „Kommst du.“
 

„Sie ist doch kein Hund“, blaffte Naruto und hielt Sakura, die unweigerlich einen Schritt auf Sasuke zugegangen war, an der Schulter zurück.
 

Sie biss sich auf die Lippe, die sich bereits ganz wund anfühlte, so oft wie sie diese mit den Zähnen malträtiert hatte, und blickte unschlüssig auf ihre Schuhspitzen. Nein, sie war kein verdammter Hund und dennoch saß in ihrem Unterbewusstsein der unwillkürliche Impuls, ihm zu gehorchen – als hätte Sasuke jemals zu schätzen gewusst, dass sie es ihm stets recht zu machen versuchte –, alles in ihr schrie danach, mit ihm zu gehen. Narutos Finger gruben sich schmerzhaft in ihr Fleisch, seine Hand zitterte leicht und sein Kiefer war so fest zusammengebissen, dass die Sehnen an seinem Hals hervortraten. Sie erkannte, dass er verzweifelt versuchte, ihre Ehre zu verteidigen, weil er nicht daran glaubte, dass sie Sasuke jemals Kontra bieten würde. Von irgendwoher kratzte sie ein paar Krümel Stolz zusammen, sah Sasuke entschlossen an und schüttelte den Kopf. „Ich kann jetzt nicht, tut mir leid.“
 

Der Schwarzhaarige drehte ihr den Kopf zu, eine seiner schmalen Augenbrauen wanderte überrascht seine Stirn empor. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie sich ihm widersetzte, niemand hatte damit gerechnet, nicht mal sie selbst, schließlich hatte sie sich, bis auf einige wenige Momente, immer alles von ihm gefallen lassen.

Sasuke starrte sie kalt an, dann Naruto und dann wieder sie. Sein Mund verbog sich träge zu einem hässlichen Grinsen. „Ach, so ist das.“ Er schnaubte abermals, ehe er sich endgültig abwandte, die Hände in seinen Hosentaschen verschwinden ließ und ging.
 

„Wie: so ist das? Was meint er mit: so ist das?“ Sakura bekam fast Schnappatmung. Dachte er jetzt etwa, dass sie und Naruto…? Sie hätte ihn, verdammt noch mal, nicht küssen dürfen. Wieso hatte sie das überhaupt gemacht? Und wieso betatschte Naruto sie eigentlich so dreist, als stünde ihm das irgendwie zu? Wütend fegte sie seine Hand von ihrer Schulter und knurrte: „Wir haben zu tun, also steh hier nicht faul rum.“

Dem Blonden war ihr abrupter Stimmungswandel natürlich nicht entgangen, sein Kehlkopf hüpfte, als er nervös schluckte.
 

„Was will Sasuke von dir?“, fragte er vorsichtig, während er einen kleinen Sicherheitsabstand zu ihr einnahm, seine Neugier jedoch offenbar nicht zügeln konnte.
 

„Ich kann keine Gedanken lesen“, fauchte sie patzig und atmete gleich darauf geräuschvoll durch die Nase aus. Er kotzte sie an, aber eigentlich kotzte sie sich selbst an und sie ließ es nur an ihm aus, dabei konnte sie ihn nicht für ihre Entscheidungen verantwortlich machen. Sie war eine richtige Zicke, schlimmer als Ino eine sein konnte, deswegen versuchte sie sich an einem versöhnlichen Lächeln, das, wenn sie Narutos Reaktion glauben durfte, völlig misslang. „Vermutlich geht es um gestern.“
 

„Auf mich machte er keinen aufrichtigen Eindruck“, sagte Kakashi nachdenklich. Sakura zuckte zusammen, als er plötzlich neben ihr lief.
 

Zorn flammte in ihr auf. Wieso hackten neuerdings eigentlich alle auf Sasuke herum? War er nicht immer Kakashis Goldjunge gewesen, sein Meisterschüler und heimlicher Favorit, dem er sogar, im Gegensatz zu Naruto und ihr, eine seiner eigenen Techniken beigebracht hatte? Wahrscheinlich war das verletztes Ego, weil Sasuke der Meinung gewesen war, von Shisui mehr lernen zu können.

„Ist Ihnen mal der Gedanke gekommen, dass er nur nett sein wollte?“
 

„Du meinst, weil Sasuke so empathisch ist…“
 

Sakura atmete angestrengt gegen die Wut an, bevor sie der Versuchung, Sensei Kakashi in den Hintern zu treten, erliegen konnte. „Ihr habt euch alle wie Kleinkinder benommen“, schimpfte sie. „Kein Wunder, dass Sasuke sich provoziert gefühlt hat.“
 

„Er hat angefangen“, moserte Naruto.
 

Sie knackte mit den Knöcheln. „Das ist ja wohl nicht dein Ernst. Wie alt bist du, sechs?“
 

„Du hast kein Recht, sauer auf mich zu sein. Du hast mir Sasuke auf den Hals gehetzt.“
 

„Er ist extra hergekommen, weil er sich Sorgen um mich gemacht hat“, spie Sakura ihm entgegen. „Ja, da guckst du dumm, was! Und Sie, Ihr ganzes Gerede über Zusammenhalt und Teamwork; es ist doch eindeutig, dass Sasuke Probleme hat. Er braucht unsere Hilfe.“
 

„Denkst du, dass ich heute zum ersten Mal mit ihm gesprochen habe, seit er wieder da ist?“

Sakura blieb wie angewurzelt stehen, als hätte Kakashi sie mit seinen Worten am Boden festgenagelt. „Ich habe ihm angeboten, sich uns wieder anzuschließen, aber Sasuke hat sehr deutlich gemacht, dass er sich längst nicht mehr als Mitglied von Team 7 betrachtet.“

Ihre Unterlippe begann, zu beben, als sie ihren ehemaligen Sensei mit wässrigen Augen ansah. Sie bot ein derart klägliches Bild, dass er nicht mal wütend auf sie war.
 

Naruto trat gegen einen Laubhaufen und schreckte dabei versehentlich einen kleinen Igel auf, der sich fiepsend zu einer stacheligen Kugel zusammenrollte. Sakura wusste genau, wie er sich fühlte.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Scorbion1984
2021-01-25T20:32:21+00:00 25.01.2021 21:32
Werden sie sich je wieder einig werden ?
Sasuke weiss genau wie er Naruto provozieren kann, leider fällt der auch immer darauf rein .
Was wollte er nun von Sakura ,wirklich nur fragen wie es ihr geht ?
Antwort von:  MyHeartInTheAttic
28.01.2021 21:48
Hallo Scorbion1984,

gute Frage; momentan sind die Fronten jedenfalls etwas unterkühlt und sollte sich herausstellen, dass Sasuke Sakura tatsächlich etwas angetan hat, würde Naruto ihm das sicherlich nicht ohne Weiteres verzeihen. Andererseits ist es auch nicht unbedingt nett von Naruto, Sasuke aus einem bloßen Verdacht heraus direkt verbal und physisch anzugreifen.
Findest du? Eigentlich ist es doch Naruto, der zu stänkern anfängt. ^^ Sakura hat schon recht, dass sich beide Jungs ziemlich kindisch verhalten, denke ich.
Tja, dafür müsste man wohl wissen, inwieweit sich Sasuke für Sakuras Befinden interessiert. Ansonsten könnte man an dieser Stelle sicherlich mehrere Möglichkeiten für sein Verhalten abwägen.
Lieben Dank mal wieder für dein Review.


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