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Besser, ihr rennt! - Old version

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2 -9

Es klappte in der Tat alles, so, wie Lola gesagt hatte, zumindest, bis der Zeiger der altmodischen Wanduhr über der Eingangstür auf sieben Minuten nach elf sprang.

Die ersten Gäste waren um kurz nach halb sechs eingetroffen, und Lola hatte ihr Versprechen gehalten und Jonny geduldig erklärt, was er wie zu tun hatte, hatte sich nicht anmerken lassen, falls seine leichte, durch seine Nervosität bedingte Begriffsstutzigkeit sie genervt hatte, und war selbst dann freundlich geblieben, als Jonny sie zeitweise durch die zynischen Kommentare der Stimme in seinem Kopf überhaupt nicht mehr verstanden hatte.

Und es war wirklich erstaunlich schnell leichter geworden.

Die meisten Besucher an diesem Abend hatten an den Tischen Platz genommen, nur wenige saßen an der Bar, sodass Jonny kaum direkten Kontakt zu Fremden hatte. Die Gespräche, die er führte, waren kurz, gingen nicht über die Aufgabe der Bestellungen und ein, zwei Höflichkeitsfloskeln hinaus. Es war ungewohnt, und Jonny hätte auch nach fünf Stunden noch nicht behauptet, dass er sich wohlgefühlt hätte, aber es war kein Alptraum, er hatte keine Panikattacke bekommen, keine der Horrorszenarien, die er sich im Voraus ausgemalt hatte wie er es immer tat, wenn er einer unbekannten Situation gegenüberstand, war eingetreten.

Alles in allem konnte man sagen: Es war in Ordnung.

Und dann kam die Frau.

Zunächst beachtete sie niemand, als sie die Bar betrat, oder viel mehr hineinstolperte, als habe sie bereits das ein oder andere Glas Alkohol zu viel konsumiert. Von diesem leicht unbeholfenen Auftreten abgesehen war auf den ersten Blick nichts Ungewöhnliches an ihr zu erkennen, sie trug einen abgenutzten schwarzen Mantel dessen Kapuze sie sich tief ins Gesicht gezogen hatte, hielt eine Handtasche fest an ihre Brust gepresst und wandte sich mehrmals um, als vermute sie jemanden hinter sich, der sie keinesfalls einholen durfte.

Das alles nahm Jonny am Rande wahr, er stand gerade mehr oder weniger planlos herum und wartete darauf, dass jemand eine neue Bestellung aufgab, ließ dabei seinen Blick durch die Bar schweifen, wobei er auch kurz die eben erwähnte Frau musterte. Ein Gast, wie so viele andere, die im Laufe des Abends ein und aus gegangen waren, in ihrem Verhalten womöglich ein wenig sonderbar, im allgemeinen Vergleich jedoch nicht auffällig.

Aus den Augenwinkeln beobachtete Jonny, wie sie auf die Theke zuging, machte sich bereit, ihre Bestellung aufzunehmen, hoffte, dass sie nicht so undeutlich sprach wie es ihr schwankender Gang nahelegen konnte; es war so unangenehm ein oder gar mehrmals nachzufragen, weil er das Gesagte nicht richtig verstanden hatte…

Die Frau hatte etwa ein Drittel des Raumes durchquert, befand sich grade auf Höhe des an der Wand angebrachten Gemäldes, das man wohl als abstrakte Kunst einordnen konnte, als sie zusammenbrach.

Irgendjemand schrie auf, als sie auf dem Boden aufschlug, es war ein Schrei der Verblüffung und weniger des Schrecks. Er klang ebenso surreal wie des dumpfe Geräusch des auf den Dielen aufschlagenden Körpers, wobei Jonny im Nachhinein vermutete dass sein Unterbewusstsein diesen Klang bloß im Nachhinein hinzugedichtet hatte um das Bild des Geschehens zu vervollständigen, denn eigentlich war es viel zu laut in der Bar um etwas Derartiges aus dieser Entfernung wahrzunehmen.

Allerdings wurde es nun ziemlich schnell ruhiger. Das Stimmengewirr, das den Raum zuvor erfüllt hatte ebbte ab, alle Blicke schienen nun auf die Frau gerichtet zu sein, zumindest für einige Sekunden, bevor die meisten sich wieder abwandten und weitermachten mit dem, was auch immer sie zuvor getan hatten. Einige wenige beobachteten weiterhin, wie die Frau versuchte, sich wiederaufzurichten, und schließlich brachte es eine Besucherin über sich, aufzustehen und sich neben der augenscheinlich stark geschwächten Person auf den Boden zu knien, sich vorzubeugen und in leisem Tonfall auf diese einzureden.

Das alles geschah in einem Zeitraum von kaum mehr als fünfzehn Sekunden, in denen Jonny dastand und die Szenerie beobachtete.

Er war nicht wirklich überrascht darüber, dass niemand dem Geschehen besondere Aufmerksamkeit widmete. In einer Gegend, in der es nichts Außergewöhnliches war, auf der Straße auf durch Prügeleien oder Schießereien verwundete Menschen zu treffen zuckte man bei so etwas irgendwann nicht einmal mehr mit der Wimper; man nahm es eben hin, wandte den Blick ab und hoffte, dass jemand anderes sich darum kümmerte, oder eben auch nicht, egal, Hauptsache, man selbst hatte seine Ruhe. Solch eine Denkweise hatte nichts Heroisches an sich, aber sie stellte zumindest sicher, dass man überlebte.

Diese Gedanken gingen Jonny durch den Kopf, während er zusah, wie die eine Frau der anderen aufhelfen wollte, die sich jedoch nicht einmal auf die Knie aufrichten konnte ohne einen schmerzerfüllten Schrei auszustoßen.

Und gleich darauf schrie die andere Frau.

„Oh, Scheiße! Ein Krankenwagen! Wir brauchen einen Krankenwagen!“

Wieder wandten die Leute sich ihr zu, wobei wenige von ihnen besorgt und der Großteil genervt wirkte. Als könnten sie es nicht fassen, dass man ihnen einen entspannten Abend durch derartiges Drama verdarb.

„Wieso, was ist denn?“, brüllte jemand über die Musik hinweg, und jemand anderes, der sich mutmaßlich nicht einmal in der Nähe der Frau befand, erwiderte in gleicher Lautstärke: „Hat wahrscheinlich zu viel gesoffen!“

Im nächsten Moment drehte irgendjemand die Musik leiser, was mit einem allgemeinen Murren quittiert wurde, sowie einem empörten: „Was soll der Scheiß?“

Jonny sah Lola, die gemeinsam mit einer weiteren Kellnerin den Raum durchquerte, bevor er sich abwandte und suchend den Bereich hinter der Theke inspizierte.

So, wie die Frau sich bewegt hatte, war sie keinesfalls betrunken gewesen, das wurde ihm rückblickend nun klar. Nein, sie hatte Schmerzen gehabt. Große Schmerzen, vermutlich war sie verletzt. Und wie zur Bestätigung eben dieser Vermutung brüllte nun jemand: „Oh Fuck, ist das viel Blut!“

Das Stimmengewirr schwoll wieder an, und diesmal wirkte es merklich unruhiger als zuvor, was wohl kaum verwunderlich war in Anbetracht der Tatsache, dass der bisher ganz normale Abend eine überraschende Wendung genommen hatte.

Es kam Jonny wie eine Ewigkeit vor, bis er endlich den Koffer entdeckte.

Er hing an der Wand neben dem Kühlschrank, sodass er von den meisten Orten der Bar aus nicht gesehen wurde, was wohl kaum der Sinn hinter einem Erste-Hilfe-Set sein konnte, aber Jonny hatte nicht vor, jetzt lange darüber nachzudenken. Er riss den roten Kasten von der Wand, hätte ihn dabei beinahe fallenlassen, drehte sich um und wäre fast in Mr. Fowler hineingelaufen, der ihm einen missbilligenden Blick zuwarf, sich ansonsten aber nicht in seiner Ruhe stören ließ. Das Geschehen schien ihn absolut kalt zu lassen.

Als Jonny, den Kasten fest umklammernd und versuchend, all die Anwesenden auszublenden und sich nicht von ihnen nervös machen zu lassen bei der auf dem Boden liegenden Frau ankam, hatten Lola und ihre Kollegin sie bereits auf den Rücken gedrehte, die Knöpfe ihres Mantels geöffnet und die Bluse ein Stück hochgeschoben, wodurch der Blick frei wurde auf ein dunkles Loch, das in der Bauchregion klaffte. Auch Robin war da, wie Jonny im Rande registrierte, während er sich zu Boden sinken ließ und den Koffer öffnete, was ihm erst beim zweiten Versuch gelang, so zittrig waren seine Hände.

Es war wirklich viel Blut. Die Bluse der Frau war vollkommen damit durchtränkt, es lief ihr aus dem Mund und bildete eine Lache auf dem Boden, was darauf hindeutete, dass sie nicht bloß am Bauch, sondern auch am Rücken verletzt war.

Eine Schusswunde, dachte Jonny, nahm eine Bandage in die Hand und machte sich daran, sie aus der Plastikverpackung zu befreien. Jemand hat auf sie geschossen und die Kugel ist am Rücken wieder ausgetreten… zu weit an der Seite, um die Wirbelsäule zu verletzen, sonst hätte sie kaum mehr so gut laufen können. Und zu tief um die Lunge zu verletzen, was ebenfalls gut ist, weil so immerhin die Lunge nicht kollabieren wird.

Diese Gedanken kamen ihm ganz automatisch, liefen auf einer hinteren Ebene seines Verstandes ab während er primär damit beschäftigt war, die Bandage auf die Wunde zu drücken. Wortfetzen erreichten ihn, die darauf hindeuteten, dass jemand am Telefon mit dem Notruf sprach, und auch das war gut, denn mehr als die Blutung so gut wie möglich zu verringern konnte Jonny nicht tun. In Anbetracht der mutmaßlichen Austrittswunde am Rücken war diese Maßnahme womöglich auch bloß bedingt erfolgreich.

Es dauerte bloß wenige Sekunden, bis die Bandage von Blut rot getränkt war. Die Frau wimmerte, schien Schmerzen zu haben, mehr als verständlich in ihrer Lage, doch darauf konnte Jonny momentan keine Rücksicht nehmen. Einfach weiter Druck ausüben, hoffen, dass die Blutung nachließ, sich nicht irritieren lassen von dem schmerzverzerrten Gesicht und den unwillkürlichen Muskelzuckungen, die den Körper durchfuhren…

„Kann ich dir helfen?“

Lolas Stimme überraschte Jonny, er wandte sich ihr zu ohne seinen Kraftaufwand auf die Wunde zu verringern und sah, dass sie eine weitere Bandage ausgepackt hatte und ihm hinhielt. Hinter ihr stand Robin, damit beschäftigt, die unbeteiligten Gäste davon abzuhalten, die Szenerie zu begaffen oder gar Aufnahmen davon mit ihren Handys zu machen. Auch das kam Jonny in diesem Augenblick weit entfernt vor.

„Danke“, erwiderte er, die Worte kamen ganz automatisch, ohne dass er darüber nachdachte, ebenso wie seine Bewegungen, mit denen er Lola die Bandage abnahm und die mit Blut vollgesogene beiseitelegte. Alles wirkte surreal in diesem Moment.

Er nahm wahr, wie Lola an ihm vorbei ging und sich neben den Kopf der Frau kniete, sich vorbeugte und mit ihr sprach.

Gut. Jonny hatte nicht den Eindruck, dass er selbst in diesem Moment dazu in der Lage gewesen wäre, wenngleich Kommunikation mit der verletzten Person äußerst wichtig in solchen Situationen war. Er hatte kein Problem damit, die Wunde abzudrücken, wobei seine Hände bereits blutverschmiert waren; es war nicht das erste Mal, dass er so etwas tat. Doch mit der Frau zu sprechen überforderte ihn alleine beim Gedanken daran vollkommen.

„Der Krankenwagen ist auf dem Weg!“, rief jemand – vermutlich die Frau, die der Verletzten zuerst zur Hilfe gekommen war – was dafür sorgte, dass Jonny ein Gefühl der Erleichterung verspürte. Er hatte nicht wirklich darüber nachgedacht, was er tat, bereits von dem Moment an nicht als er sich auf die Suche nach dem Erste-Hilfe-Kasten gemacht hatte, und mit Sicherheit hätte er die gleiche Entscheidung auch bewusst getroffen, würde es darauf ankommen… aber in diesem Moment, in dem er hier auf dem Boden hockte, versuchte, die starke Blutung zu stillen und die Frau so lange am Leben zu halten bis die Sanitäter eintrafen wünschte er sich, er hätte es nicht getan.

Es war ein egoistischer Gedanke, und später, als er in einer ruhigen Minute daran zurückdachte, schämte er sich dafür. Möglicherweise hätte auch Lola oder sonst jemand das Gleiche getan wie er und das vorläufige Überleben der Frau gesichert, vielleicht auch nicht. Vielleicht wäre sie verblutet, während ein Haufen Leute um sie herumstand und gaffte, aber zumindest hätte Jonny nicht dort gesessen, vollgeschmiert mit Blut und bemüht, die Gedanken, die auf ihn zu drängten zurückzuhalten; die Erinnerungen, die schmerzhaften Gefühle, die sie auslösten, die damit verbundene Panik…

Er sah auf, weg von der Wunde, zu Lola, die noch immer mit der Verletzten sprach, die wiederum panisch nach Luft rang und pfeifend atmete – sie muss damit aufhören, sie muss sich beruhigen, schoss es Jonny durch den Kopf, obgleich ihm bewusst war dass das in ihrer Situation alles andere als einfach war – und als sein Blick auf das Gesicht der angeschossenen Frau fiel zuckte er heftig zusammen und wäre um ein Haar zurückgestolpert.

Das Gesicht war nicht mehr das der Person, die vor wenigen Minuten, die nun wie Stunden erschienen, die Bar betreten hatte. Die Züge hatten sich verändert, verformt, waren zu etwas geworden, das Jonny nur allzu bekannt vorkam und von dem er gehofft hatte, es niemals mehr sehen zu müssen…

Nein, nein, das stimmt nicht, das ist nicht wahr, das ist nur eine fremde Frau! Es ist nicht Anton! Nicht Anton! Nicht…

Die Worte hallten in Jonnys Kopf wider wie ein Mantra, schienen mit jeder Wiederholung an Bedeutung zu verlieren, nichts weiter zu sein als eine leere Phrase, die keinerlei Bedeutung innehatte. Natürlich. Es war eine fremde Frau, daran gab es logisch betrachtet keinen Zweifel, aber Logik spielte in diesem Augenblick für Jonny bloß eine untergeordnete Rolle. Er wollte aufspringen und zurückweichen, am besten wegrennen, weit weg, fort von dieser Person, deren Verletzung und Zustand so viel Ähnlichkeit mit dem hatte, was vor etwas über zwei Jahren passiert war, zu einer Zeit, die Jonny mittlerweile wie ein anderes Leben vorkam.

Die Nacht, in der er und Anton zusammengesessen hatten, sich unterhalten und getrunken hatten, bis plötzlich die Tür aufgerissen worden war und eine Person in den Raum gestürmt war, die Jonny noch nie zuvor gesehen hatte.

Der Schuss, der sich gelöst hatte, Antons schmerzerfüllter Aufschrei als er von der Wucht eines Bleigeschosses nach hinten gerissen wurde und auf dem Boden aufschlug, der röchelnde Atem, das Blut, das aus seinem Mund und der Wunde an seiner Brust gelaufen war.

Auch damals hatte Jonny instinktiv gehandelt, hatte das getan, was ihm aus dem Erste-Hilfe-Kurs damals in der Schule noch im Gedächtnis geblieben war, während die Person, die den Schuss abgegeben hatte, versucht hatte, so schnell zu verschwinden wie sie aufgetaucht war, was jedoch von einigen von Antons Angestellten verhindert worden war.

Er hatte Anton damals wohl das Leben gerettet, das hatten zumindest die eintreffenden Sanitäter ihm mitgeteilt. Und so lobenswert diese Handlung objektiv betrachtet auch gewesen sein mochte, so hatte es doch unzählige Momente in den nächsten Monaten gegeben, in denen Jonny sich gewünscht hatte, er hätte ihn sterben lassen.

Aber das spielte jetzt keine Rolle. Das hier war nicht Anton, auch, wenn sein verwirrter Verstand versuchte, ihm genau das einzureden, das hier war irgendeine Frau, die er noch nie zuvor gesehen und zu der er keinerlei Verbindung hatte, und so sehr diese beiden Situationen sich auch ähnelten, er durfte sich nicht davon abhalten lassen, weiter mit dem zu machen, was er eben gerade tat.

Diese Frau konnte nichts für Antons missbräuchliches Verhalten. Für die Verletzungen, die Jonny ihm zu verdanken hatte, sowohl physischer als auch psychischer Natur – die Tatsache, dass er die Realität gerade derart wahnhaft verzerrt wahrnahm war ein gutes Beispiel dafür. Er musste das Bedürfnis unterdrücken, aufzuspringen und wegzulaufen, sich irgendwo zu verstecken, womöglich in flashbackartige Gedankengänge zu verfallen und starr dazuhocken bis es irgendwann vorüber war… nicht bloß für die Frau, die bestimmt von Lola oder jemand anderem weiterversorgt werden würde, sollte er wirklich fliehen.

Sondern vorrangig für sich selbst.

So sehr war Jonny in seinen Gedanken versunken, damit beschäftigt, sich nicht von Panik überwältigen zu lassen, dass er zunächst nicht wahrnahm, wie die Verletzte sich plötzlich etwas aufrichtete, dabei ein gurgelndes Röcheln ausstieß und weiteres Blut aushustete. Er hob erst den Blick als er Lolas Bewegung wahrnahm, die sich vorbeugte, versuchte, die Frau, deren Gesichtszüge nun nicht mehr denen von Anton glichen, sanft zurückzudrücken, dabei sagte: „Legen Sie sich wieder hin. Es wird alles gut, der Krankenwagen ist gleich da! Es wird alles gut!“

Jonny widersprach nicht, warum auch, auch wenn er nicht glaubte, dass es stimmte; vielleicht kam wirklich jeden Moment Hilfe, aber selbst dann wäre es fraglich, dass die Frau es wirklich schaffen würde, zu überleben. Auch wenn ihre Lunge nicht verletzt zu sein schien, so hatte sie doch eine Menge Blut verloren, womöglich hatte sie eine ziemlich weite Strecke zurückgelegt, bis sie schließlich hier angekommen war…

Aber natürlich sagte man so etwas einer verletzten Person nicht.

Falls die Frau verstand, was Lola zu ihr sagte, so ignorierte sie es jedoch. Richtete sich noch etwas weiter auf, öffnete den Mund, woraufhin noch mehr Blut hinauslief, verzog das Gesicht vor Schmerz, was in Jonny das Bedürfnis aufkommen ließ, sie zurückzuschubsen damit sie verdammt noch mal liegen blieb. Er hatte das Gefühl, dass ein ganzer Schwall Blut aus der Wunde unter der Bandage strömte, bedingt durch die Bewegung des Oberkörpers, die in dem momentanen Zustand definitiv unterlassen werden sollte.

Das schien auch Lola so zu sehen, mit eindringlicher Stimme widerholte sie: „Bitte legen Sie sich hin! Sie sollten sich nicht bewegen, sonst…“

„Der Blutmond kommt!“

Jonny hatte tatsächlich erwartet, dass die Frau etwas sagen würde, das klang als würde es von Anton stammen; ein weiterer Streich, der ihm sein verdrehter Verstand spielte um ihn zu verunsichern.

Diese Worte jedoch, gurgelnd und nach Luft ringend hervorgebracht, ergaben keinerlei Sinn, weder für ihn noch anscheinend für Lola, die vollkommen irritiert aussah und sich ein wenig weiter herabbeugte, als sie nachhakte: „Was meinen Sie?“, gefolgt von einem schnell hinterhergeschobenen: „Oh, Sie sollten jetzt nicht reden! Sparen Sie Ihre Kraft…“

„Der Blutmond… bald… bald ist er…“

Husten, gefolgt von einem pfeifenden Aufatmen. Jonny und Lola tauschten einen kurzen Blick, bevor Lola sich wieder der Verletzten zuwandte, versuchend, sie dazu zu bringen, sich zu schonen: „Der Krankenwagen ist gleich da. Den Ärzten können Sie dann alles erzählen, aber erst mal ist es wichtig, dass Sie…“

„Keine Zeit! Ich werde… sie werden…“

Wieder Husten. Ein Röcheln.

„Bald… bald…“

„Was ist ‚bald‘?“

Plötzlich hockte Sapphire neben Lola, betrachtete die verwundete Frau mit eindringlichem Blick, als hoffe sie, ihr so die nötige Kraft für eine Antwort zur Verfügung stellen zu können. Lola öffnete den Mund, vielleicht um zu protestieren, Sapphire zu sagen dass Anstrengung momentan vermieden werden sollte, doch die Angesprochene ließ ihr keine Zeit dazu; mit weit aufgerissenen Augen erwiderte sie Sapphires Blick, holte keuchend Luft, wobei ihr gesamter Körper sich verkrampfte.

Als sie schließlich sprach, klang ihre Stimme heiser und gurgelnd, Worte begleitet von weiterem Blut, das ihr aus dem Mund lief.

„Die Ernte. Blut…mondernte. Alles wird… brennen.“

Es war schwierig für Jonny, sie zu verstehen, und so fragte er sich im ersten Moment, ob es möglicherweise an ihm lag, dass das Gesagte keinen Sinn ergab, doch ein Blick auf Lola und Sapphire verriet, dass die beiden ebenso verwirrt waren.

„Was meinen Sie damit?“, hakte Sapphire nach, unbeeindruckt von Lolas ausgestrecktem Arm, mit dem sie sie davon abhalten wollte, sich weiter vorzubeugen.

Ein weiteres Mal schnappte die Frau nach Luft, verkrampfte sich erneut, um dann in einen gurgelnden Hustenanfall auszubrechen, der begleitet wurde von jaulenden Schmerzensschreien und Tränen, die ihr übers Gesicht liefen.

„Fuck“, hörte Jonny Lola zischen, was genau dem entsprach was ihm soeben durch den Kopf gegangen war.

Wahrscheinlich war bisher wirklich nicht allzu viel Zeit vergangen, seit die Frau die Bar betreten und der bisher so überraschend ruhig verlaufende Abend eine solch unerwartete Wendung genommen hatte – doch es fühlte sich an wie eine Ewigkeit.

Die Bandage war schon wieder vollkommen durchgeblutet, doch Jonny traute sich nicht, sich umzudrehen und eine neue aus dem Kasten zu nehmen. Wahrscheinlich machte es gar keinen großen Unterschied mehr, doch er wollte den Druck, den er auf die Wunde ausübte, nicht verringern. Und was machte es schon, dass seine Hände vollkommen rot verfärbt waren und aussahen, als habe er gerade jemanden ausgeweidet…

Er war wieder so sehr auf die Verletzung konzentriert, darauf, zumindest irgendetwas zu tun was dabei helfen konnte, dass die Frau am Leben blieb, dass er nicht wahrnahm wie sich die Tür zur Bar öffnete und zwei Sanitäter hineinkamen. Erst als einer von ihnen mit lauter Stimme „Lassen Sie uns zu der Verletzten durch!“, rief, registrierte Jonny ihre Anwesenheit – zu spät offensichtlich, wenn es nach dem Größeren der beiden ging.

„Aus dem Weg!“, blaffte der stämmige Mann, stieß Jonny zur Seite, womit dieser nicht gerechnet hatte; ungeschickt versuchte er, sich abzufangen, kam jedoch in derart verdrehter Haltung auf seinem Handgelenk auf, dass ein kurzer, stechender Schmerz hindurchzuckte.

Perplex starrte Jonny den Sanitäter an, kroch dann noch ein Stück weiter weg von der Verletzten, versuchte, die Nervosität zurückzudrängen, die die unerwartete Berührung in ihm ausgelöst hatte.

Für den Mann war das vermutlich nicht einmal eine bewusste Handlung gewesen, wahrscheinlich war er einfach bloß darauf fixiert gewesen seinen Job zu tun und sich um die Patientin zu kümmern.

Aber Jonny fühlte sich, als hätte man ihm ins Gesicht geschlagen. Nicht, was den Schmerz anging, der war bereits wieder verblasst – aber das Gefühl. Dieser Schrecken, der tief in seinen Knochen steckte und ihn zittern ließ, ihm ein weiteres Mal innerhalb kürzester Zeit das Gefühl gab, nicht in einer Bar, sondern zurück in dem Gebäude zu sein, in dem er Monate seines Lebens verbracht hatte, wo er Antons Launen ausgeliefert war und jeden Tag aufs Neue hoffen musste, nicht zusammenzubrechen. Es irgendwie zu schaffen, keine Schwäche zu zeigen. Zu verbergen, wie armselig er sich fühlte und wie verletzt er war von all den Dingen, die geschehen waren, zu denen Anton ihn gebracht hatte.

Diese Gedanken fühlten sich furchtbar an, und noch schlimmer war irgendwie die Tatsache, dass ein kleiner Schubser eines Sanitäters, der einfach bloß seine Arbeit erledigen wollte, ihn dermaßen aus dem Konzept brachte.

„Hey, ist alles okay?“

Robins Stimme, die neben ihm erklang, überraschte Jonny ebenso wie sein vorheriger Sturz, allerdings auf eine weitaus weniger negative Weise. Er spürte eine Hand, die sich auf seine Schulter legte – eine leichte Berührung, kaum mehr als ein Lufthauch, der ihn dennoch zusammenzucken ließ.

Er wandte den Kopf, sah Robin an, der seinerseits den Blick erwiderte, und in seinen Augen glaubte Jonny ehrliche Besorgnis zu erkennen. Schnell nickte er.

„Ja, alles gut…“

Wahrscheinlich sah er nicht wirklich so aus, als würde das der Wahrheit entsprechen, allein schon wegen des Blutes, das an seinen Händen und seiner Kleidung klebte und den Eindruck vermitteln konnte, er sei entweder selbst ziemlich schwer verletzt oder hätte gerade jemanden abgestochen.

Wieder solch ein Anblick, der drohte, ihn in eine Art Flashback zurückzureißen.

Er wollte noch etwas sagen, etwas, das ein wenig überzeugender klang als diese zuvor hervorgebrachte Floskel, aber bevor er auch nur darüber nachdenken konnte was das sein sollte stieß die verwundete Frau, die bisher seit dem Eintreffen der Sanitäter ruhig gewesen war, einen gellenden Schrei aus. Das Geräusch zog sich in die Länge, wurde lauter und schriller, bis sich schließlich aus dem simplen Ton Worte formten, die Jonny bereits bekannt waren, aber trotzdem für ihn keinerlei Sinn ergaben:

„Blutmond! Es wird brennen! Alles! Ihr alle! Der Blutmond, und die Ernte, und…“

Dann brach ihr die Stimme weg, sie verfiel in ein rasselndes Husten, krümmte sich auf dem Boden zusammen, während die Sanitäter versuchten, sie zu beruhigen.

Das Geschrei hatte Jonny ein weiteres Mal zusammenzucken lassen – er hasste es, wenn Leute schrien, das war ein weiterer, schmerzhafter Trigger - aber nicht nur das; ohne es zu bemerken war er weiter zurückgewichen, weg von der Frau und ihrem ohrenbetäubenden Kreischen, näher zu Robin, der seinerseits ebenfalls erschrocken den Griff um Jonnys Schulter etwas verstärkt hatte.

Er war wirklich nah, näher, als es Jonny irgendjemand in den letzten Monaten gewesen war.

Auch das konnte ein Trigger sein, war es bereits oft genug gewesen, bereits vor Anton, aber danach noch weitaus stärker. In diesem Moment jedoch fühlte Jonny nichts Schlechtes dabei. Wahrscheinlich war alles andere bereits zu viel, womöglich hatte seine Psyche bereits damit begonnen, alles abzublocken – „Das klingt so negativ!“, murmelte die Stimme, „Willst du denn nicht, dass ich aufpasse, dass du nicht zusammenbrichst?“ – sodass Robins Berührung, die Nähe, nichts weiter war als eine unbedeutende Vorstellung. Nichts, was dazu bereit war die scharfen Krallen in seinen Verstand zu schlagen und das Trauma hervorzuzerren, das er so sorgfältig zu vergraben versucht hatte.

Dennoch rückte Jonny schnell wieder etwas von Robin weg, starrte dabei verlegen zu Boden, und war gleichzeitig überraschenderweise froh darüber, dass Robin seine Hand nicht von seiner Schulter zurückzog, sondern bloß den Griff wieder etwas lockerte.

Wann hatte er eine Berührung das letzte Mal als etwas Positives wahrgenommen? Er konnte sich nicht erinnern. Diese Berührung jedoch hatte etwas Beruhigendes an sich, etwas, das ihm half, nicht in einen dunklen Abgrund aus Panik und Schrecken zu verfallen, ausgelöst durch die überfordernde, surreale Wendung, die der Abend in den letzten Minuten genommen hatte.

Robins Hand lag noch immer auf seiner Schulter, als die Sanitäter schließlich die Bar wieder verließen, die Frau auf einer Trage zwischen sich rollend. Wie viel Zeit vergangen war, bis die Frau so weit stabilisiert worden war, dass sie transportiert werden konnte, vermochte Jonny nicht zu sagen, alles fühlte sich verzerrt an, unwirklich; es hätten genau so gut Minuten wie auch Stunden sein können.

Und während er das alles beobachtet hatte, wobei er immer wieder kurz den Blick gesenkt und seine eigenen rot verfärbten Hände betrachtet hatte, waren diese Worte in seinem Kopf widergehallt wie ein Echo in den Bergen, ohne dabei mehr Sinn als zuvor zu ergeben:

„Blutmond. Die Blutmondernte. Es wird brennen. Brennen.“

Vielleicht sollte man dem keine große Bedeutung beimessen. Die Frau hatte wahrscheinlich unter Schock gestanden, hatte viel Blut verloren. Es war nicht überraschend, wenn in solch einem Zustand Dinge von sich gegeben wurden, die keinerlei Sinn in sich hatten und die nicht mehr waren als zufällige Gedanken, die aus welchem Grund auch immer plötzlich auftauchten…

Ja, wahrscheinlich war es das. Bloß das, und nichts weiter.

Doch dieser Ausdruck in den Augen der Frau, der Nachdruck in ihrer Stimme, ihr gesamtes Verhalten, das wirkte, als sei es ihr unfassbar wichtig, das hervorzubringen was vermutlich keiner der Anwesenden verstanden hatte, all das machte es Jonny schwer, die Worte einfach bloß als Unsinn abzutun.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Drachenprinz
2021-01-07T23:28:52+00:00 08.01.2021 00:28
Yay, ich hab es endlich geschafft, das Kapitel zu Ende zu lesen! XD Irgendwie bin ich auch grad Matsche und mein Hirn macht nicht mit... Ich hatte vorhin schon mit Lesen angefangen und das dann einfach VERGESSEN, bis mir irgendwann wieder eingefallen ist "Ach ja, ich wollte ja das Kapitel lesen!". Yo.

Ich hoffe, ich kann einen irgendwie sinnvollen Kommentar formulieren, aber ich versuch's mal. xD
Ich fand das Kapitel auf jeden Fall wieder sehr toll und spannend! Anton... Das war das erste Mal, dass man den Namen erfahren hat, oder? Ich war mir ja erst nicht sicher, ob damit der Typ gemeint ist, vor dem Jonny so Angst hat, als da stand, dass er mit diesem Anton zusammengesessen und ihm dann das Leben gerettet hat. Das klang erst mal, als wäre das einfach ein Freund von ihm gewesen, mit dem alles in Ordnung war. Aber offensichtlich ja nicht... :x
Dass Jonny da solche Flashbacks hat und sich wünscht, sich nicht um die Frau gekümmert zu haben, wenn das solche Sachen in ihm auslöst, finde ich sehr, sehr verständlich. Und mich hätte das auch mega aus der Bahn geworfen, von so einem Sanitäter weggeschubst zu werden. :'D Also, echt... Könnte ich auch so GAR NICHT mit umgehen! Ich versteh dich, Jonny, ich bin auch ein Wrack. X'D
Das mit diesem Blutmond und so... hmm. Klingt nach irgendeiner Verschwörung, oder vielleicht ein Serienkiller, der immer beim Blutmond zuschlägt. Das erinnert mich wieder an 'Roter Drache'. :D Und es gab ja auch diese Sache mit dem Mord an der Familie... Wie hieß die Tochter nochmal? Leah...? Mein Namensgedächtnis ist nicht so geil. XD
Aber diese leichte Nähe zwischen Jonny und Robin, und wie Jonny darüber nachdenkt und feststellt, dass ihn das nicht triggert... naawwww. <3 Feels und so. Mal wieder. x'D
Ich bin weiterhin sehr gespannt auf alles! Auch was das jetzt mit dieser Frau auf sich hat und so. °-°


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